Kapitel 21
Eine Geschichte und ein Handel
Der Grund für den Mord an Onkel Fabian liegt in der Vergangenheit. Damals, als meine Mutter erklärte, sie wolle einen Mann aus der Südstadt heiraten, gab es schrecklichen Ärger und es kam zum Bruch in der Familie Merdegrave. Großvater sagte, er wolle sie nie mehr sehen, und enterbte sie. Großmutter hatte im Grunde genommen nichts gegen die Heirat einzuwenden, wollte sich aber nicht dem Willen ihres Mannes widersetzen. In den Jahren, als Großmutter noch lebte, hat Mutter sie heimlich besucht und mich oft mitgenommen. Großmutter hat uns Geld und Kleinigkeiten geschenkt und einzelne Stücke von Mutters Schmuck aus dem Haus geschmuggelt. Immer hat meine Mutter gehofft, ihr Vater würde eines Tages nachgeben und der Zwist wäre begraben.
Trotz alledem waren wir glücklich. Vater war ein geschickter Tischler und brachte mir sein Handwerk bei; Mutter kochte und verkaufte ihre Speisen auf dem Markt. Abends hat sie mich lesen und schreiben gelehrt, weil ich es einmal zu etwas bringen sollte im Leben. Meine Bildung und die Liebe zum Lernen unterschieden mich von den anderen Kindern auf der Straße. Aber wenn ich mich deshalb beschwerte, sagte meine Mutter, ich hätte die Wahl: Ich könne entweder meinen eigenen Weg gehen oder mit den Wölfen heulen. Ihr größter Wunsch war es, dass ich einmal etwas aus mir machen würde, und ich weiß, sie hätte es gern gesehen, wenn ich die Stadt verließe. Manchmal erzählte sie mir von ihrer Kindheit auf der anderen Flussseite: von dem schönen Haus, in dem sie aufgewachsen war und in dem es so viele Zimmer gab, dass sie sie nicht zählen konnte, von den Dienstboten, die für jede Bequemlichkeit sorgten, und von ihren herrlichen Spielsachen. Ich wunderte mich, dass sie dieses Paradies verlassen hatte, aber sie sagte immer, Leben bedeute mehr als nur Besitztümer anhäufen. Und die kostbarsten Dinge ließen sich eben nicht in der Hand halten. Damals verstand ich das nicht, aber ich glaube, allmählich komme ich dahinter, was sie gemeint hat.
Die Schwierigkeiten fingen an, als Fabian, der Bruder meiner Mutter, hinter die heimlichen Besuche bei Großmutter kam. Er war ein Trinker, ein Spieler, und kein Wetteinsatz im Flinken Finger war ihm zu hoch. Dauernd war er in Geldnöten, weil er bei allen möglichen Leuten Schulden hatte. Als Jeremiah Ratchet, ein reicher Mann von außerhalb der Stadt, ein paar brutale Kerle anheuerte, um sich von ihnen seine Schulden eintreiben zu lassen, verlor Großvater die Geduld und verweigerte Fabian jede weitere Geldsumme. Da kam er zu uns und drohte, er werde die Sache mit den heimlichen Besuchen erzählen. Das hätte aber Großmutter in eine schlimme Lage gebracht, und so schenkte mein Vater Onkel Fabian, was er konnte, weil Mutter ihn darum bat. Nur den Schmuck gab er nicht heraus, den versteckte er.
Kurz darauf starb Großmutter und wir dachten, Fabian würde uns nun in Ruhe lassen. Wir suchten uns eine billigere Unterkunft und sahen meinen Onkel lange nicht mehr. Wir dachten, wir könnten wieder unser friedliches Leben führen, doch es dauerte nicht lange, da wurde meine Mutter krank und konnte nicht mehr arbeiten. Vater verkaufte den ganzen Schmuck, um die Medikamente bezahlen zu können, aber nichts half. Als sie starb, befiel ihn eine lähmende Mutlosigkeit und er verlor jedes Interesse am Leben und an der Arbeit. Ich tat mein Bestes, um seine Verpflichtungen zu erfüllen, aber mein Geschick als Tischler reichte noch längst nicht an seines heran, und so kam es, dass die Aufträge immer weniger und unsere Schulden immer mehr wurden.
Kurz bevor Fabian umgebracht wurde, hatte er unseren Aufenthaltsort herausgefunden und forderte wieder Geld. Erbost schickte mein Vater ihn weg, aber Fabian kam zurück, als ich allein war, und fragte nach dem Schmuck meiner Mutter. Ich sagte ihm die Wahrheit, nämlich, dass wir alles verpfändet hatten, bis auf ein einziges Stück, ein silbernes Medaillon, das nach dem Brauch mit ihr begraben worden war. Er schien mir zu glauben und ich war heilfroh, als er ging. Ich dachte wirklich, wir wären ihn endgültig los.
Als Vater von Fabians Besuch erfuhr, packte ihn eine fürchterliche Wut. ›Diese Ratte! Dieser gemeine Schuft!‹, wetterte er. ›Er hat dich für seine schmutzigen Absichten benutzt, dich, einen Jungen!‹ Er zog seinen Mantel an. ›Ich kann mir denken, wo er ist‹, sagte er. ›Ich muss zu ihm, bevor es zu spät ist.‹
Ich verstand nicht, was er meinte, und wartete stundenlang auf ihn. Irgendwann zog ich los, um ihn zu suchen, aber es war so dunkel und kalt, und die Straßen sind nachts so unheimlich, dass ich bald aufgab. Als ich nach Hause kam, fand ich Fabian tot auf dem Boden liegen, erwürgt.
Seither habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen.
Alle denken, dass er Fabian umgebracht hat. Ich kann schwer glauben, dass er so ein Verbrechen begehen könnte, nur, wenn er’s nicht getan hat, warum ist er dann fortgegangen? Ich habe mir immer gewünscht, er käme zurück, und ich habe nach ihm gesucht, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
Pin blickte in die Runde und erkannte in den Mienen der anderen, dass sie genauso im Zweifel waren wie er selbst.
»Wenigstens hast du jetzt Arbeit und ein Zuhause«, sagte Mrs Hoadswood freundlich. »Vielleicht solltest du die Vergangenheit besser ruhen lassen.«
»Das würde ich auch«, sagte Pin. »Wenn Deodonatus Snoad dasselbe täte.«
Nach dem Essen ging Pin in Junos Zimmer. Sie erwartete ihn schon.
»Das war ja eine Geschichte!«, sagte sie, während sie zusammen am Feuer saßen und die Kräuterdämpfe aus dem Tiegel einatmeten. »Das Leben in dieser Stadt ist schon schwer genug ohne solche Probleme.«
Pin zuckte nur mit den Schultern. Er mochte nicht mehr darüber sprechen. Außerdem wollte er ihr heute Abend etwas vorschlagen. Die wachsende Freundschaft zwischen ihnen ließ ihn hoffen, dass sie wenigstens über seine Idee nachdenken würde.
»Du kommst doch aber ganz gut über die Runden«, begann er. »Zusammen mit deinem Onkel.«
»Stimmt. Aber das geht nicht mehr lange.«
»Oh?«
Sie schlang die Arme um ihre Knie und starrte in die Flammen. »Nächste Woche geben wir im Flinken Finger unsere letzte Vorstellung.«
Sie hatten nicht mehr von ihren jeweiligen Plänen gesprochen seit jenem ersten Abend, an dem sie ihm von ihrer Suche außerhalb der Stadt erzählt hatte. Nun ergriff Pin die Gelegenheit beim Schopf, sie daran zu erinnern.
»Du weißt, dass auch ich hier wegwill.« Er machte eine Pause. »Vielleicht …«
»Vielleicht?«
»Vielleicht könnten wir uns zusammentun.«
»Ich weiß nicht«, sagte Juno zögernd.
Pin hatte schon damit gerechnet, dass Juno nicht so begeistert von dem Plan sein würde wie er selbst. Sie schien ein unabhängiges Mädchen zu sein und gewohnt, selbstständig für sich zu sorgen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass ihre Kräuter ihr mehr bedeuteten als jeder Mensch. Doch ausgerechnet diese Kräuter sollten heute seine Verbündeten sein. Unter ihrem Einfluss war sie immer gelöst und sorglos, das wusste er inzwischen. Er hatte sich alles sehr gründlich überlegt und zweifelte nicht an seiner Idee – er musste Juno nur überzeugen. Er wusste, dass sie mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, obwohl sie ihren Lebensunterhalt mit dem »Übernatürlichen« verdiente. Und das war in Urbs Umida dringend erforderlich. Er appellierte also an ihre praktische Seite.
»Ich könnte dir mit Madame de Bona helfen. Ich könnte Benedicts Rolle übernehmen.«
Juno lachte spitzbübisch. »Rolle? Das hört sich ja an, als redest du von einer Schau. Du vergisst wohl, dass man zum Leichenmagier geboren sein muss, das lässt sich nicht lernen. Glaub mir, ich weiß alles, was man über Leichenmagie wissen muss.«
»Und ich bin schnell im Lernen«, sagte Pin.
Dann spielte er seine Trumpfkarte aus.
»Ich mache dir ein Angebot«, sagte er und wusste sofort, dass er mit dieser Ankündigung ins Schwarze treffen würde. Einer solchen Versuchung konnte Juno unmöglich widerstehen. Ihre Augen leuchteten auf und er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Er holte tief Luft.
»Wenn ich herausfinde, wie du Madame de Bona zum Leben erweckst, musst du mich mitnehmen, sobald du aus Urbs Umida weggehst.«
Juno kaute auf ihrer Unterlippe. »Hmm. So einfach ist das nicht. Außerdem weiß ich noch gar nicht, ob ich Madame de Bona überhaupt mitnehme.«
»In jedem Fall wäre es aber sicherer, wenn wir zu zweit gingen.«
»Vermutlich ja.«
»Und mehr Spaß würde es auch machen.«
»Also gut«, sagte sie endlich mit einem leichten Lächeln und streckte mir die Hand hin. »Abgemacht.«
Und nun war es Pin, dem plötzlich Zweifel kamen. Was, wenn er das Geheimnis der Leichenmagie nicht würde aufdecken können?
Erst seit er Juno kennengelernt hatte, war ihm klar, wie einsam er war. Die Aussicht, dass sie aus Urbs Umida weggehen und er selbst hier bleiben würde, war nicht sehr verlockend. Doch jetzt gab es für ihn immerhin die Chance zu einem Neuanfang. Natürlich war da auch noch Mr Gaufridus, aber der war genau der Mensch, der Pin ermutigen würde, eigene Wege zu gehen.
»Eins ist mir noch schleierhaft«, sagte Pin. »Diese Totenerweckungen von Privatpersonen wie Sybil. Ich meine, ein Skelett in einer Schau ist das eine, aber echte Leichen …«
»Du hast Mr Belding gesehen«, sagte Juno. »Er und Sybil hatten einen schlimmen Streit gehabt. Er hat ihr vorgeworfen, sie liebe ihn nicht, und Minuten später lag sie von einem Pferdefuhrwerk überfahren auf der Straße. Er wünschte sich weiter nichts als die Möglichkeit, sich anständig von ihr zu verabschieden. Und diese Möglichkeit haben wir ihm verschafft.«
»Zumindest denkt er, ihr hättet sie ihm verschafft«, grübelte Pin. »Aber ich werde die Wahrheit herausfinden.«
Juno betrachtete Pin mit spöttischem Lächeln. »Du glaubst wirklich, dass du das kannst, wie?«
Er nickte. »Jedenfalls weiß ich, dass die ganze Geschichte nicht möglich sein kann. Wenn man tot ist, ist man tot, so wie ich die Welt verstehe.«
»Du solltest ein bisschen mehr Glauben in dir haben. Manchmal ist es nämlich ganz gut, an Magie zu glauben.«
»In dieser Stadt gibt es keine Magie«, sagte Pin.