Kapitel 32

Pins Tagebuch

Was ist dieser Aluph für ein faszinierender Mann! Heute Abend hat er mir in seinem Zimmer eine sehr interessante Idee vorgestellt, nämlich: Wenn sich der Charakter eines Menschen aus den Erhöhungen und Vertiefungen in seinem Schädel erkennen ließe, könnte man seinen Lebensweg vielleicht positiv beeinflussen. Im Prinzip fand ich diese Vorstellung ganz großartig, nur gab ich zu bedenken, dass sich der Betreffende möglicherweise gar nicht von seiner schiefen Bahn abbringen lassen wolle, dass er es vielleicht sogar vorziehe, ein Verbrecher zu sein. Darüber dachte Aluph eine Weile nach und gab dann anstandslos zu, dass seine Theorie durchaus nicht ohne Widersprüche sei. In einem solchen Fall, stellte er abschließend fest, müsse der Betreffende auf der Stelle eingesperrt werden, zu seinem eigenen Wohl und dem der anderen. Ich muss sagen, falls Aluphs Behauptung richtig wäre, würde Urbs Umida ein insgesamt besserer Ort werden – obwohl dann vielleicht mehr Gefängnisse nötig wären.

Aluph scheint schon immer unzufrieden mit der Art, wie er seine Tage zubringt, und jetzt verstehe ich auch, warum: Diese ganze »Schädelleserei« bei irgendwelchen vergnügungssüchtigen Damen langweilt ihn. Denn eigentlich würde er sich viel lieber mit seinen wissenschaftlichen Theorien befassen. Aber wir müssen alle unser Geld verdienen. Ich habe ihm versichert, dass er diesen feinen Dämchen genau das gibt, was sie sich wünschen. Was konnte falsch daran sein? Aber Aluphs Schädelsammlung war noch nicht der interessanteste Teil des Abends. Er zeigte mir außerdem eine höchst sonderbare Anzeige aus dem »Chronicle«, in der es um eine neue Erfindung ging, den sogenannten Funkenstock. Und dann, als ich dachte, nun könnte mich wirklich nichts mehr überraschen, holte er einen solchen Stock aus dem Schrank!

»Ich habe ihn erst vor Kurzem gekauft, und zwar aus mehreren Gründen«, erzählte er. »Unter anderem dachte ich, er könnte mir vielleicht einen gewissen Schutz auf der Straße bieten, jetzt, wo draußen dieser Mörder herumläuft.«

Dieser Stock war wirklich ein beeindruckender Gegenstand. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein Spazierstock mit Metallspitze, vielleicht Messing. Am anderen Ende aber hatte er etliche ineinandergreifende kleine Zahnräder. An diesen Rädchen war ein Griff befestigt, und es schien, als würde er, wenn man ihn drehte, ein kleines Glasplättchen ins Rotieren bringen. Als Aluph den Griff bewegte, setzte ein so unheilvolles Schwirren ein, dass mir das Blut in den Adern gefror.

»Das ist genau das Geräusch, das ich gehört habe!«, sagte ich. »Unmittelbar bevor mich der Silberapfel-Mörder gestoßen hat.«

Wir sahen zu, wie sich die Räder schneller und schneller drehten und allmählich Funken stoben.

»Dieses Schwirren verursacht eine Art Kraftfeld«, erklärte Aluph. »Man kann es nicht sehen, aber wenn man gleichzeitig in Kontakt mit der Metallspitze kommt … Nun, du weißt ja, was dann passiert.«

Das wusste ich allerdings, ich hatte noch immer ein Brandmal als Beweis auf der Brust.

»Die Kraft ist erstaunlich stark«, sagte Aluph, »sogar schon nach wenigen Umdrehungen.«

Für eine ganze Weile schwiegen wir. Wir wussten jetzt, wie der Mörder seine Verbrechen beging, aber wer er war und warum er das tat, wussten wir immer noch nicht. Ich musste an den Augenblick denken, als der Fremde aus dem Nebel getreten und mir zu Hilfe gekommen war. Als ich damals seinen Stock gesehen hatte, war mir das als ein Zeichen von Schwäche erschienen. Was für ein Irrtum!

»Ungeachtet möglicher Folgen«, meinte Aluph schließlich, »finde ich, dass wir diese Information an Wachtmeister Coggley weitergeben müssen. Ich habe heute Abend schon einen anderen Termin, aber auf dem Heimweg werde ich unserem lieben Wachtmeister einen Besuch abstatten.«

Danach wünschte ich Aluph eine gute Nacht und verließ sein Zimmer, schaudernd vor Erregung. Ich ging direkt zu Juno, weil ich ihr unbedingt erzählen wollte, was ich gesehen und erfahren hatte. Aber niemand öffnete, und so stieg ich in meine Kammer hinauf, in der Hoffnung, sie käme zurück, bevor ich aufbrechen müsste.

Der Abend verstrich langsam. Tief in Gedanken saß ich am Feuer und ließ mir die Ereignisse der letzten Tage durch den Kopf gehen. Meine verhängnisvolle Begegnung mit dem Silberapfel-Mörder stand dabei immer noch an erster Stelle, aber auch wenn ich bei der Erinnerung daran fröstelte – ein Gutes hatte die Sache doch gehabt: Ich wusste jetzt mit Sicherheit, dass der Silberapfel-Mörder nicht mein Vater war. Abgesehen von der Tatsache, dass es undenkbar für ihn wäre, mich, seinen eigenen Sohn, zu töten, war da auch noch seine Größe: Der Silberapfel-Mörder war um mindestens zwanzig Zentimeter kleiner als mein Vater! Außerdem grübelte ich noch über meinen Einbruch in Junos Koffer und die verstörende Wirkung ihrer Mittelchen. Ich beschloss am Ende, nie wieder an ihren Fläschchen zu schnüffeln.

In der Wärme des Zimmers fielen mir allmählich die Augen zu und ich versank wehrlos in einem Traum voller grinsender Totenköpfe und tiefem Schnee, mit Gräbern und Flaschen und Stöcken mit kleinen Zahnrädern.

Ruckartig fuhr ich auf. Wie lange hatte ich geschlafen? Der Geruch, der in mein Zimmer drang, sagte mir, dass Juno zurück war. Ich nahm Mantel und Mütze und ging hinunter.

»Juno«, flüsterte ich und klopfte an ihre Tür. »Ich weiß, dass du da bist. Lass mich rein, es ist wichtig.«

Lange blieb es still, doch dann wurde langsam die Tür geöffnet und Juno sah verschlafen heraus.

»Ach, du bist’s.« Sie wich zurück und ich trat ein. Dichter Nebel hing in ihrem Zimmer und mit einem Schlag stand mir wieder vor Augen, was ich heute Nachmittag hier getan hatte. Aber für Geständnisse war jetzt nicht die Zeit.

»Teufel auch! Was ist denn bei dir los?«, fragte ich hustend und mit den Armen wedelnd. »Ich kann ja kaum was sehen.« Ich ging zum Fenster und machte es auf. Kalte Luft drückte ins Zimmer und der dicke Qualm trieb hinaus in die Nacht.

»Das kann doch nicht gut für dich sein«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Ich kann so furchtbar schlecht schlafen«, murmelte Juno.

Als ich mich nach ihr umdrehte, glänzte plötzlich ihre Oberlippe, und da ahnte ich, dass sie gerade Salbe daraufgestrichen haben musste. Sofort wurde ihr Blick klarer und ihre Wangen röteten sich. Sie schloss fröstelnd das Fenster. »Was willst du eigentlich? Es ist schon spät.« Da sie sich auf einmal so lautstark empörte, als ob nichts geschehen wäre, kam mir sofort der Gedanke, ob nicht die Anwendung der Salbe etwas mit Junos plötzlich zurückgekehrter Lebhaftigkeit zu tun haben könnte. Wenn das der Fall wäre, dann hätte ich heute Nachmittag gut etwas davon gebrauchen können.

»Ich muss dir etwas über den Silberapfel-Mörder erzählen. Er benutzt einen Funkenstock!«

»Funkenstock?«

»Einen Stock, der Reibungsenergie erzeugt, und zwar genug, um jemanden zu versengen und umzuwerfen.« Ich platzte fast, weil ich ihr die Sache gern ausführlich erzählen wollte, aber gerade schlug draußen die Uhr.

»Hör zu«, sagte ich, »ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich muss zur ›Cella Moribundi‹.«

»Dann begleite ich dich«, sagte Juno spontan. »Ich leiste dir Gesellschaft.« Und damit warf sie sich ihren Umhang um die Schultern und verließ den Raum, wie immer in der Erwartung, dass ich ihr folgen werde.

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