Kapitel 3
Ein Todesfall in der Familie
Es war fast zwei Monate her, in den ersten Januartagen, doch Pin erinnerte sich an diesen Abend, als wäre es erst gestern gewesen. Als er damals nach Hause gekommen war, wusste er schon, während er die Treppe hinaufging, dass etwas nicht stimmte. Er konnte aufgeregte Stimmen hören, übertriebenes Schluchzen, und im oberen Flur sah er dann, dass sich eine kleine Menschenmenge vor seinem Zimmer versammelt hatte. Manche Gesichter erkannte er, die Frau von nebenan, den Schornsteinfeger von gegenüber, die Wäscherin aus dem Erdgeschoss. Als Pin in ihre Gesichter blickte, kroch kalte Angst in ihm hoch. Er drängte sich durch die Menge ins Zimmer, und da sah er die leblose Gestalt, die ausgestreckt vor dem kalten Kamin lag. Ein untersetzter Mann in dunkler Kleidung beugte sich gerade über den Körper.
»Vater?« Pins Stimme zitterte.
Der Mann sah auf und fragte in offiziellem Ton: »Bist du Pin Carpue?«
Pin nickte.
»Und das ist dein Vater?« Er trat zur Seite und das Gesicht des Toten wurde vollends sichtbar.
Pin schluckte schwer und zwang sich hinzusehen. »Nein«, sagte er, »das ist mein Onkel Fabian. Aber mit dem habe ich nichts zu tun.«
»Wie es aussieht, bist du da nicht der Einzige, der das behauptet«, sagte der Mann, während er sich zu voller Größe aufrichtete und vielsagend hüstelte. Er brachte ein kleines schwarzes Notizbuch und ein Stück Kohle zum Vorschein. Erst jetzt erkannte Pin in ihm Mr George Coggley, den örtlichen Wachtmeister.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Pin.
»Erdrosselt höchstwahrscheinlich«, sagte Coggley. »Die Augen treten ihm fast aus dem Kopf. Wo ist dein Vater, Junge?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Pin vorsichtig. Er ließ seinen Blick über die Leute wandern, die ihn alle anstarrten.
»Falls du es weißt, musst du es mir sagen, sonst wirst du Ärger bekommen.«
»Warum?«
»Weil wir nämlich denken, dass er’s gewesen is«, redete die Wäscherin dazwischen, und es klang fast schadenfroh. »Er is gesehen worden, wie er weggerannt is.« Sie hatte Pin und seinen Vater nie leiden können und fand es unerträglich, dass sie so taten, als wären sie etwas Besseres. Und erst die Mutter! Für wen hielt sie sich eigentlich – Gott sei ihrer Seele gnädig –, dass sie einfach so über die Brücke daherkam und hier wohnen wollte? Für Nordstädter war auf dieser Seite des Flusses kein Platz. Die passten nicht hierher.
»Flucht vom Ort des Verbrechens«, gab Wachtmeister Coggley zu bedenken. »Er muss der Mann sein, den wir suchen.«
»Ich hab immer gewusst, mit dem nimmt’s noch ’n schlimmes Ende«, murmelte einer aus der Menge. »Sinn’ doch alle gleich, diese Leute. Nix als Flausen im Kopf und wissen nich, wo sie hingehören. Das hat noch kei’m nich gutgetan.«
Sprachlos und verwirrt stand Pin im Mittelpunkt all des Getuschels und der Anschuldigungen. In diesem Augenblick hasste er sie alle, hasste ihre boshaften Blicke und abfälligen Bemerkungen. Er wusste, was sie von seinem Vater hielten. Das war so deutlich in ihren hässlichen Gesichtern zu sehen wie die krummen Nasen und schielenden Augen. Pin hatte schon früh gelernt, dass er anders war als sie. Die Kinder auf der Straße hatten ihn immer gehänselt, weil seine Mutter aus einer wohlhabenden Familie kam und er deshalb die Vokale weich aussprach wie die Leute aus dem Norden und nicht mit dem rauen Akzent der Südstädter. Was sie der Familie Carpue jedoch am meisten verübelten, war die Behauptung, sie seien so arm wie alle andern hier. Was für ein Geschwätz! Wie sollte eine Frau mit solchen Manieren und solchem Auftreten kein Geld besitzen? Welchen Grund sollte Oscar Carpue denn sonst gehabt haben, sie zu heiraten? Es war auch nicht hilfreich, dass Onkel Fabian immer wieder bei ihnen aufgetaucht war – fein gekleidet (aber mit leeren Taschen) – und dass Oscar ihn ein ums andere Mal weggeschickt hatte. »Wir haben nichts für dich«, hatte er zu ihm gesagt.
Nicht einmal nach dem Tod der Mutter im vergangenen Jahr hatten die Bosheiten ein Ende gefunden. Denn danach beschlossen die Leute, es Oscar Carpue anzulasten, dass er seine Erbschaft nicht mit ihnen teilte. »Es gibt keine Erbschaft«, erklärte er ihnen mehr als einmal. »Ich bin nichts weiter als ein Tischler. Wir besitzen keinen Penny.« Aber er konnte sie nie überzeugen, und nun, nachdem Fabian tot war, ermordet, wurde wieder mit Fingern auf Oscar Carpue gezeigt.
Pin verbrachte die darauffolgende Woche damit, dass er Tag und Nacht durch die Straßen lief und suchte, aber er fand keine Spur von seinem Vater. Die Woche danach musste Pin die Pension verlassen. Er konnte weder allein für die Miete aufkommen, noch war er dort gern gesehen. Zehn erbärmliche Tage lang suchte er nach Arbeit, dann wurde er endlich von Mr Gaufridus eingestellt. Dadurch war er in der Lage, sich ein Zimmer bei Barton Gumbroot zu mieten, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als von dort wegzukommen …
Pin zitterte vor Kälte, als er von einer großen Schneeflocke, die zwischen Hals und Mantelkragen gelandet war, in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Die Glocke schlug die Viertelstunde und er sprang auf.
»Ich muss jetzt gehen, Mutter«, sagte er. »Ich darf nicht zu spät zu Mr Gaufridus kommen, sonst sucht er sich einen anderen Jungen für meine Arbeit. Er sagt, es laufen genügend herum, die dazu bereit sind, und das glaube ich ihm. Die Leute in dieser Stadt tun für Geld alles. Aber ich verspreche dir, dass ich nicht wieder so viel Zeit vergehen lasse.«
Er strich sacht über das Kreuz, dann machte er kehrt und lief leichtfüßig und schnell zwischen den Gräbern hindurch aus dem Friedhof hinaus und rannte den ganzen Weg bis zur Melancholy Lane, wo er schließlich atemlos unter einem Schild stehen blieb, auf dem stand:
Goddfrey Gaufridus
Sargmacher und Bestattungsunternehmer
Meisterbetrieb