Wir Drei

1

Jonathan, Jessica und ich rollten unseren Vater durch das Eßzimmer und durch die Küche im altenglischen Landhausstil. Wir hatten Mühe, Vater durch die Hintertür zu bekommen, weil er furchtbar steif war. Damit meine ich nicht sein Benehmen oder Temperament, obwohl er verdammt kaltschnäuzig sein konnte, wenn er wollte. Jetzt war er einfach deshalb steif, weil die Totenstarre schon eingesetzt hatte. Das störte uns aber nicht weiter. Wir versetzten ihm einfach ein paar kräftige Tritte, bis er in der Mitte zusammenklappte und durch den Türrahmen kippte.

Dann schleiften wir ihn über die Veranda und die sechs Stufen zum Rasen hinunter.

»Der wiegt ja eine Tonne!« keuchte Jonathan und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Keine Tonne«, widersprach Jessica. »Nicht einmal zweihundert Pfund.«

Obwohl wir Drillinge sind und uns in vieler Hinsicht sehr ähneln, gibt es doch auch eine ganze Reihe kleiner Unterschiede. Beispielsweise ist Jessica bei weitem die Pragmatischste von uns, während Jonathan zu Übertreibungen neigt, sehr viel Phantasie besitzt und Tagträumen nachhängt. Ich liege irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Ein pragmatischer Tagträumer?

»Und nun?« fragte Jonathan und verzog angewidert das Gesicht, während er auf den Leichnam im Gras deutete.

»Verbrennen!« erklärte Jessica resolut und preßte ihre hübschen Lippen vor Ungeduld zusammen. Ihr langes gelbes Haar schimmerte in der Morgensonne. Es war ein vollkommener Tag, und sie war der schönste Teil davon.

»Einfach verbrennen!«

»Sollen wir Mutter nicht auch rausholen? Dann könnten wir beide zusammen verbrennen«, schlug Jonathan vor. »Das würde Zeit und Mühe sparen.«

»Wenn der Scheiterhaufen zu groß wird, schlagen die Flammen zu hoch«, widersprach Jessica. »Und wir wollen doch nicht, daß Funken versehentlich das ganze Haus in Brand setzen.«

»Wir haben freie Auswahl unter allen Häusern der Welt!« Jonathan breitete die Arme aus, als wollte er demonstrieren, daß nicht nur der ganze Küstenstreifen uns gehörte, sondern auch ganz Massachusetts und jenseits der Staatsgrenzen ganz Amerika - und die ganze Welt.

Jessica starrte ihn nur an.

»Habe ich nicht recht, Jerry?« fragte Jonathan mich. »Steht uns nicht die ganze Welt zur Verfügung? Ist es da nicht albern, sich wegen dieses alten Hauses Gedanken zu machen?«

»Du hast recht«, sagte ich.

»Aber ich mag dieses Haus«, erklärte Jessica.

Und weil Jessica dieses Haus mochte, stellten wir uns etwa fünf Meter von dem steifen Leichnam entfernt auf, starrten ihn an, dachten an Flammen und entzündeten ihn auf diese Weise im Nu. Feuer schoß aus dem Nichts empor und hüllte Vater in ein orangerotes Tuch. Er brannte gut, knallte und zischte, verkohlte und zerfiel zu Asche.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, als müßte ich jetzt traurig sein«, murmelte Jonathan.

Jessica schnitt eine Grimasse.

»Na ja, immerhin war er ja unser Vater«, sagte Jonathan.

»Über billige Sentimentalitäten sind wir heraus.« Jessica starrte uns beide eindringlich an, um uns davon zu überzeugen. »Wir sind eine neue Rasse mit neuen Emotionen und neuen Verhaltensweisen.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Doch Jonathan hörte sich etwas zweifelnd an.

»So, und jetzt holen wir Mutter!« sagte Jessica.

Obwohl sie erst zehn Jahre alt ist - sechs Minuten jünger als Jonathan und drei Minuten jünger als ich -, setzt Jessica meistens ihren Kopf durch, weil sie die Stärkste von uns dreien ist.

Wir gingen ins Haus und holten Mutter.

2

Die Regierung hatte ein Kontingent von zwölf Marineinfanteristen und acht Detektiven in Zivil zu unserem Haus geschickt. Angeblich sollten diese Männer auf uns aufpassen und uns beschützen. In Wirklichkeit waren sie aber unsere Gefangenenwärter. Als wir mit Mutter fertig waren, schleppten wir auch diese Leichen auf den Rasen und äscherten sie ein, eine nach der anderen.

Jonathan war erschöpft. Er setzte sich zwischen zwei schwelende Skelette und wischte sich Schweiß und Asche aus dem Gesicht. »Vielleicht haben wir einen großen Fehler gemacht.«

»Einen Fehler?« Jessica ging sofort in Abwehrstellung.

»Vielleicht hätten wir nicht alle töten sollen«, sagte Jonathan.

Jessica stampfte mit dem Fuß auf. Ihre goldenen Locken wippten reizvoll. »Du bist ein blöder Hund, Jonathan! Du weißt doch, was sie mit uns machen wollten. Als sie gemerkt hatten, über welche enormen Kräfte wir verfügen und wie schnell wir neue dazugewinnen, begriffen sie endlich, welche Gefahr wir darstellen, und sie wollten uns umbringen.«

»Es hätte doch genügt, wenn wir nur ein paar von ihnen getötet hätten, um unsere Macht zu demonstrieren«, sagte Jonathan. »Mußten wir wirklich alle beseitigen?«

Jessica seufzte. »Sieh mal, im Vergleich zu uns waren das doch die reinsten Neandertaler. Wir sind eine neue Rasse mit neuen Kräften, neuen Emotionen, neuen Verhaltensweisen. Wir sind die frühreifsten Kinder aller Zeiten - aber diese Typen verfügten über eine Art roher Gewalt, oder hast du das schon vergessen? Es war unsere einzige Chance, ohne Vorwarnung loszuschlagen. Und das haben wir getan.«

Jonathan betrachtete die schwarzen Flecken im Gras. »Aber es macht so wahnsinnig viel Arbeit! Wir haben den ganzen Vormittag gebraucht, um die paar loszuwerden. Die ganze Welt, das schaffen wir nie.«

»Bald werden wir gelernt haben, wie man Leichen schweben laßt«, sagte Jessica.

»Ein bißchen von dieser Kraft spüre ich schon in mir. Vielleicht lernen wir sogar, wie man sie von einem Ort zum anderen transportieren kann. Dann wird alles viel leichter sein. Aber wir wollen ja auch gar nicht die ganze Welt säubern - nur jene Teile, die wir in den nächsten Jahren benutzen wollen. Den Rest der Arbeit werden die Ratten und das Wetter für uns erledigen.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, gab Jonathan zu.

Aber ich wußte, daß er noch Zweifel hatte, und auch ich hatte welche. Gewiß, wir drei stehen auf der Evolutionsleiter höher als alle vor uns. Wir können Gedanken lesen, die Zukunft voraussehen und außerkörperliche Erfahrungen machen, wann immer wir wollen. Wir beherrschen diesen hübschen Trick mit dem Feuer: Mittels Gedankenenergie können wir riesige Brände erzeugen. Jonathan kann kleine Wasserströme umlenken, und dieses Talent findet er besonders amüsant, wenn ich pinkeln muß. Obwohl er zur neuen Rasse gehört, hat er seltsamerweise an solchen kindischen Späßen immer noch seine Freude. Jessica kann das Wetter exakt vorhersagen. Und ich kann besonders gut mit Tieren umgehen: Hunde kommen zu mir, auch Katzen und Vögel und alle möglichen niederen Kreaturen. Und natürlich können wir dem Leben jeder Pflanze und jedes Tieres ein Ende bereiten, indem wir es einfach totdenken. Genauso, wie wir die ganze Menschheit totgedacht haben. Darwins Theorien zufolge waren wir vielleicht dazu bestimmt, diese neuen Neandertaler auszumerzen, sobald wir uns unserer Fähigkeiten bewußt wurden. Trotzdem nagen immer noch Zweifel an mir. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir für die Vernichtung der alten Rasse bestraft werden.

»Das ist eine völlig veraltete Denkweise«, tadelte Jessica, die meine Gedanken natürlich gelesen hatte. Ihre telepathischen Kräfte sind viel stärker als die von Jonathan und mir. »Der Tod all dieser Leute war völlig bedeutungslos. Gewissensbisse wären völlig fehl am Platz. Wir sind die neue Rasse, mit neuen Emotionen und neuen Hoffnungen und neuen Träumen und neuen Gesetzen.«

»Natürlich«, sagte ich. »Du hast völlig recht.«

3

Am Mittwoch gingen wir an den Strand und verbrannten die Leichen der Leute, die dort ein Sonnenbad genommen hatten. Wir lieben das Meer, und wir brauchen sauberen Sand. Verwesende Leichen verpesten die Luft und vergällen einem die Freude am Baden.

Als wir das erledigt hatten, waren Jonathan und ich ziemlich müde. Aber Jessica wollte Sex.

»Kinder in unserem Alter sollten so was eigentlich noch nicht können«, sagte Jonathan.

»Aber wir können es«, entgegnete Jessica. »Wir sind so beschaffen. Und ich will es. Jetzt!«

Also besorgten wir es ihr. Zuerst Jonathan, dann ich. Danach hatte sie noch immer nicht genug, aber wir erteilten ihr eine Abfuhr.

Jessica rekelte sich gemütlich. Ihr schlanker weißer Körper hob sich kaum vom weißen Sand ab. »Dann warten wir eben«, sagte sie.

»Worauf?« fragte Jonathan.

»Bis ihr zwei wieder soweit seid.«

4

Vier Wochen nach dem Ende der Welt waren Jonathan und ich allein am Strand und sonnten uns. Er war eine ganze Weile ungewöhnlich schweigsam, so als fürchtete er sich davor zu sprechen.

Endlich fragte er aber: »Findest du es normal, daß ein Mädchen ihres Alters so . so unersättlich ist? Neue Rasse hin oder her.«

»Nein.«

»Sie kommt mir geradezu besessen vor.«

»Ja.«

»Das hat irgendeinen Zweck, den wir nicht begreifen.«

Er hatte recht. Ich spürte es auch.

»Probleme«, murmelte er.

»Vielleicht.«

»Es wird große Probleme geben.«

»Vielleicht. Aber was für Probleme kann es nach dem Ende der Welt geben?«

5

Zwei Monate nach dem Ende der Welt und dem Verbrennen unserer Eltern, als Jonathan und ich das alte Haus satt hatten und exotischere Orte aufsuchen wollten, teilte Jessica uns die große Neuigkeit mit. »Im Augenblick können wir nicht weg von hier.« Ihre Stimme war besonders eindringlich. »In den nächsten Monaten können wir nicht weg. Ich bin schwanger.«

6

Im fünften Monat von Jessicas Schwangerschaft machte sich das vierte Bewußtsein bemerkbar. Mitten in der Nacht wachten wir alle auf, in Schweiß gebadet, von Brechreiz geplagt: Wir spürten das neue Wesen.

»Es ist das Baby«, sagte Jonathan. »Ein Junge.«

»Ja.« Auch ich spürte die psychische Wucht des werdenden Lebens. »Und obwohl er noch in dir lebt, Jessica, hat er schon ein Bewußtsein. Noch ungeboren, hat er schon ein ausgeprägtes Bewußtsein.«

Jessica wand sich vor Schmerzen. Sie wimmerte hilflos.

7

»Das Baby wird uns ebenbürtig sein, aber es wird uns nicht überlegen sein«, behauptete Jessica. »Und jetzt will ich nichts mehr von diesem Blödsinn hören, Jonathan!«

Sie war selbst noch ein Kind, und doch erwartete sie ein Kind, das ihren Leib grotesk aufblähte, von Tag zu Tag mehr.

»Woher willst du wissen, daß er uns nicht überlegen ist?« beharrte Jonathan. »Keiner von uns kann seine Gedanken lesen. Keiner von uns kann ...«

»Eine neue Spezies entwickelt sich nicht so schnell«, fiel sie ihm ins Wort.

»Und was ist mit uns

»Außerdem ist er ungefährlich - schließlich stammt er ja von uns ab«, argumentierte Jessica. Offenbar glaubte sie, Jonathans Theorie damit ad absurdum führen zu können.

»Wir stammten auch von unseren Eltern ab«, sagte Jonathan. »Und wo sind sie jetzt? Angenommen, wir sind gar nicht die neue Rasse? Angenommen, wir sind nur eine kurze Zwischenstufe - so wie Puppen das Zwischenstadium von Raupen und Schmetterlingen sind? Vielleicht ist das Baby ...«

»Wir haben von dem Baby nichts zu befürchten.« Jessica strich mit beiden Händen über ihren schmerzenden Bauch. »Sogar wenn alles, was du sagst, stimmen sollte - es braucht uns doch. Zur Fortpflanzung.«

»Er braucht dich«, bemerkte Jonathan ganz richtig. »Uns beide braucht er nicht.«

Ich saß einfach da, hörte mir ihren Streit an und wußte nicht so recht, was ich glauben sollte. Ehrlich gesagt, fand ich es sogar ein bißchen amüsant, obwohl es mir durchaus Angst machte. Ich wollte ihnen die Komik an der ganzen Geschichte klarmachen. »Vielleicht sehen wir das alles falsch, vielleicht ist das Baby jene Wiederkunft, die Yeats in seinem Poem beschrieben hat - die Bestie auf dem Weg nach Bethlehem, wo sie geboren werden möchte.«

Die beiden fanden das gar nicht komisch.

»Ich konnte Yeats nie ausstehen«, sagte Jonathan.

»Er war ein trübsinniges Arschloch«, stimmte Jessica ihm zu. »Und außerdem sind wir über solchen Aberglauben weit hinaus. Wir sind die neue Rasse mit neuen Emotionen, neuen Träumen, neuen Hoffnungen und neuen Gesetzen.«

»Das ist eine ernsthafte Bedrohung, Jerry«, tadelte mich Jonathan. »Darüber sollte man keine Witze reißen.«

Und schon fing der Streit zwischen den beiden wieder an -sie brüllten genauso, wie Vater und Mutter es getan hatten, wenn das Haushaltsgeld nicht reichte. Manche Dinge ändern sich eben nie.

8

Das Baby weckte uns jede Nacht mehrere Male, so als machte es ihm Spaß, uns aus dem Schlaf zu reißen. Im siebten Monat von Jessicas Schwangerschaft wachten wir alle im Morgengrauen auf, aufgeschreckt von einem Donnerschlag voller Gedankenenergie, der von dem Ungeborenen im Schoß seiner Mutter ausging.

»Ich glaube, ich habe mich geirrt«, sagte Jonathan.

»Inwiefern?« fragte ich. Ich konnte ihn im dunklen Schlafzimmer kaum sehen.

»Es ist ein Mädchen, kein Junge.«

Ich lenkte meine ganze geistige Energie auf das Wesen in Jessicas Bauch und versuchte, mir ein Bild von ihm zu machen. Es widersetzte sich mir erfolgreich, genauso wie es sich Jonathans und Jessicas psychischen Sondierungen widersetzte. Aber immerhin glaubte ich zu spüren, daß es männlich und nicht weiblich war. Das sagte ich auch.

Jessica setzte sich im Bett auf, beide Hände auf ihren zuckenden Leib gepreßt. »Ihr irrt euch beide. Ich glaube, es ist ein Junge und ein Mädchen. Oder keines von beidem.«

Jonathan knipste in dem Haus am Meer die Nachttischlampe an und fragte: »Was willst du damit sagen?«

Sie bäumte sich auf, als das Kind ihr einen kräftigen Tritt gegen die Bauchwand versetzte. »Ich habe engeren Kontakt zu ihm als ihr beide. Ich kann in das Baby hineinspüren. Es ist nicht wie wir.«

»Dann hatte ich also recht«, sagte Jonathan.

Jessica schwieg.

»Wenn es ein Hermaphrodit oder geschlechtslos ist, braucht es keinen von uns«, stellte Jonathan düster fest. Dann machte er das Licht aus. Was blieb uns auch anderes übrig?

»Vielleicht könnten wir es töten«, schlug ich trotzdem vor.

»Das geht nicht«, sagte Jessica. »Dazu ist es zu mächtig.«

»O Gott!« stöhnte Jonathan. »Wir können nicht einmal seine Gedanken lesen. Wenn es uns drei so abblocken kann, kann es sich bestimmt auch selbst beschützen. O Gott!«

Die Beschwörung hallte durch das dunkle Schlafzimmer. Dann tadelte Jessica: »Nimm dieses Wort nicht in den Mund, Jonathan! Das ist unter unserer Würde. Wir stehen über diesem alten Aberglauben. Wir sind die neue Rasse. Wir haben neue Emotionen, neue Gesetze, einen neuen Glauben.«

»Noch etwa einen Monat lang«, flüsterte ich vor mich hin.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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