Ollies Hände

Die Julinacht war heiß. Die Luft, die Ollies Handflächen streifte, ließ ihn erahnen, wie sehr die Einwohner der Großstadt unter dieser Hitze litten: Millionen Menschen, die den Winter herbeisehnten.

Doch sogar bei grimmigster Kälte, sogar in einer eisigen, windigen Nacht im Januar würden Ollies Hände weich, feucht und warm sein - und höchst empfindsam. Seine schmalen Finger verjüngten sich auf ungewöhnliche Weise. Wenn er etwas anfaßte, schienen sie mit der Oberfläche des Gegenstands zu verschmelzen; und wenn er diesen Gegenstand losließ, hörte es sich wie ein Seufzer an.

Jede Nacht, unabhängig von der Jahreszeit, begab Ollie sich in die unbeleuchtete Gasse hinter Stazniks Restaurant, wo er in den drei großen randvollen Mülltonnen nach versehentlich weggeworfenen Messern, Gabeln und Löffeln suchte. Weil Staznik für erstklassige Qualität entsprechend hohe Preise verlangte, waren auch die Bestecke so teuer, daß Ollies würdeloses Herumwühlen in den Abfällen sich durchaus lohnte. Innerhalb von zwei Wochen spürte er immer genügend Teile auf, um in einem der vielen Secondhandshops ein komplettes Besteck verkaufen zu können, und auf diese Weise hatte er immer genügend Geld für Wein.

Die im Müll gefundenen Bestecke wagen nicht seine einzige Einnahmequelle. Ollie war auf seine besondere Art ein sehr cleverer Mann.

In dieser Dienstagnacht Anfang Juli wurde seine Klugheit allerdings auf eine harte Probe gestellt. Als er sich in die Gasse begab, um wie immer Messer, Gabeln und Löffel aufzuspüren, fand er statt dessen das bewußtlose Mädchen.

Sie lag da, an die letzte Mülltonne gelehnt, das Gesicht zur Ziegelmauer gewandt, mit geschlossenen Augen, die Arme über den kleinen Brüsten verschränkt, so als wäre sie ein schlafendes Kind. Das billige enge und sehr kurze Kleid enthüllte jedoch, daß sie kein Kind mehr war. Ihre helle Haut schimmerte wie eine Flamme, die man durch Rauchglas betrachtet. Ansonsten konnte Ollie nicht viel erkennen.

»Miß?« murmelte er, über sie gebeugt.

Sie gab keine Antwort, rührte sich nicht.

Er kniete neben ihr nieder, schüttelte sie, konnte sie aber nicht aufwecken. Als er sie auf den Rücken drehte, um ihr Gesicht sehen zu können, klapperte etwas. Er zündete ein Streichholz an und stellte fest, daß sie das Zubehör eines Junkies auf dem Schoß gehabt hatte: die Spritze, den verrußten Löffel, den Metallbecher, eine halbe Kerze sowie mehrere Plastiktütchen mit einem weißen Pulver, die zusätzlich in Folie gewickelt waren.

Vielleicht hätte er sie einfach liegengelassen und seine Suche nach Löffeln fortgesetzt - er selbst hielt sich ausschließlich an Alkohol und hatte für Drogensüchtige weder Verständnis noch Sympathien -, wenn die Streichholzflamme nicht auch ihr Gesicht erhellt hätte. Sie hatte eine breite Stirn, schön geformte Augen, eine mit Sommersprossen getupfte Stupsnase und volle Lippen, die erotischen Genuß versprachen und doch zugleich etwas kindlich Unschuldiges an sich hatten. Als das Streichholz erlosch und die Dunkelheit wieder regierte, wußte Ollie, daß er sie nicht einfach liegenlassen konnte, denn sie war das schönste Geschöpf, das er je gesehen hatte.

»Miß?«

Er schüttelte sie wieder an der Schulter.

Sie reagierte nicht.

Ollie vergewisserte sich, daß weit und breit kein Mensch zu sehen war, der seine Absichten mißverstehen könnte. Beruhigt beugte er sich nun dicht über sie, stellte fest, daß ihr Herz schwach schlug, hielt sicherheitshalber auch noch seine feuchte Hand an ihre Nase und registrierte kaum merkliche warme Atemzüge. Sie lebte noch!

Er stand auf, wischte sich die Hände an seiner zerknitterten und schmutzigen Hose ab, warf einen bedauernden Blick auf die nicht durchsuchten Mülltonnen und hob die junge Frau vom Boden auf. Sie wog nicht viel, und er hielt sie in seinen Armen, so als wäre er ein Bräutigam, der seine Braut über die Schwelle des gemeinsamen Heimes trägt, obwohl Ollie an den physischen Aspekt dieses Rituals keinen Gedanken verschwendete. Er bekam Herzklopfen von der ungewohnten Anstrengung, aber er trug sie die Gasse entlang, überquerte hastig die hell beleuchtete, aber um diese Zeit glücklicherweise kaum befahrene Avenue und tauchte in einer dunklen Seitenstraße unter.

Zehn Minuten später schloß er die Tür seines Souterrainzimmers auf, trug sie hinein, legte sie aufs Bett, verschieß die Tür und schaltete die Nachttischlampe vom Trödelmarkt ein, die mit einer schwachen Glühbirne ausgestattet und mit einer Zeitung anstelle eines Lampenschirms verhängt war. Die Frau atmete noch.

Er betrachtete sie und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Bisher hatte er entschlossen gehandelt, doch jetzt war er verwirrt.

Frustriert darüber, daß er nicht klar denken konnte, verließ er sein Zimmer wieder, schloß hinter sich ab und kehrte zu der Gasse hinter dem Restaurant zurück. Er fand ihre Tasche und legte die Spritze, die Drogen und da übrige Zubehör hinein. Erfüllt von einer seltsamen Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, eilte er wieder in sein Souterrainzimmer.

Stazniks Mülltonnen hatte er völlig vergessen.

Ollie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und durchsuchte ihre Handtasche. Er warf die Spritze und die Kerze in seinen Mülleimer. Er riß die Heroinpäckchen auf, schüttete das Zeug in die Toilette und spülte es hinunter. Den Metallbecher hatte sie dazu benutzt, die Kerze zu halten, über der sie den Stoff erhitzte. Er legte den Becher auf den Boden und zertrampelte ihn. Dann wusch er sich die Hände, trocknete sie an einem alten Hotelhandtuch ab und fühlte sich wesentlich wohler.

Die Atemzüge der jungen Frau waren flacher und unregelmäßiger geworden. Ihr Gesicht war grau, und Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. Ollie begriff, daß sie im Sterben lag, und er fürchtete sich.

Er verschränkte die Arme über der Brust und vergrub seine Hände in den Achselhöhlen. Seine fleischigen Fingerkuppen waren besonders feucht. Natürlich wußte er im Grunde, daß seine Hände nützlichere Aufgaben vollbringen konnten als Bestecke in Mülltonnen aufzustöbern, aber er wollte sich nicht eingestehen, wozu sie imstande waren, denn das wäre gefährlich ...

Er holte seinen Wein aus dem wackeligen Pappkleiderschrank und trank direkt aus der Flasche. Der Alkohol schmeckte wie Wasser.

Ollie wußte, daß der Wein ihm kein Vergessen bescheren würde - nicht, während die junge Frau auf seinem Bett lag. Nicht, während seine Hände so stark zitterten.

Er stellte die Weinflasche beiseite.

Ollie haßte es, seine Hände zu anderen Zwecken als zum Broterwerb - besser gesagt, zum Erwerb von Wein -einzusetzen, doch jetzt blieb ihm keine andere Wahl. Es waren ganz elementare Gründe, die ihn zum Handeln zwangen. Das Mädchen war schön. Die glatten, klaren Gesichtszüge waren so regelmäßig, daß nicht einmal die Sucht ihnen etwas anhaben konntet. Diese Schönheit zog ihn in ihren Bann wie ein feines Spinnennetz, aus dem es kein Entrinnen gab. Er folgte seinen Händen zum Bett, so als wäre er blind und müßte in einem unbekannten Raum Hindernisse ertasten.

Damit seine Hände perfekte Arbeit leisten konnten, müßte er die junge Frau entkleiden. Sie trug keine Unterwäsche. Ihre Brüste waren klein, straff, wohlgeformt; ihre Taille war viel zu schmal, und die Hüftknochen traten scharf hervor, aber nicht einmal die unverkennbare Unterernährung konnte die Schönheit ihrer Beine beeinträchtigen. Ollie bewunderte sie nur wie ein Kunstwerk, nicht als mögliches Objekt körperlicher Befriedigung. Er hatte noch nie eine Frau besessen. Bis jetzt hatte er in einer Welt ohne Sex gelebt, und daran waren seine Hände schuld, deren magische Kräfte jede Geliebte unweigerlich wahrgenommen hätte.

Ollie legte seine Hände auf ihre Schläfen, strich ihr übers Haar, ließ seine fleischigen Fingerspitzen über ihre Stirn, über ihre Wangen und ihr Kinn gleiten. Er spürte den Puls an ihrer Halsschlagader, berührte sanft ihre Brüste, ihren Bauch und ihre Beine, um die Ursache ihres Zustands zu ergründen. Gleich darauf wußte er, daß sie sich eine Überdosis Heroin gespritzt hatte. Und obwohl er es nicht glauben wollte, erkannte er, daß sie es absichtlich getan hatte.

Seine Hände schmerzten.

Er berührte sie wieder, bewegte seine Handflächen kreisförmig über ihren Körper, bis er nicht mehr sicher war, wo seine Hände endeten und ihre helle Haut begann, bis sie förmlich miteinander verschmolzen, so als vermischten sich zwei Rauchwolken.

Eine halbe Stunde später lag sie nicht mehr im Koma, sondern schlief friedlich.

Er drehte sie behutsam auf den Bauch und setzte sein Werk fort, indem er mit seinen Händen über ihre Schultern, über den Rücken, das Gesäß und die Schenkel strich. Seine Fingerspitzen glitten an ihrer Wirbelsäule entlang, massierten ihre Kopfhaut. Er verdrängte jeden Gedanken an ihre Schönheit, damit seine Kraft ohne jede Ablenkung in sie einströmen konnte.

Nach einer weiteren Viertelstunde hatte sich nicht nur ihr noch vor kurzem so kritischer Zustand völlig normalisiert, sondern er hatte sie auch anhaltend von ihrer Drogensucht kuriert. Wenn sie in Zukunft auch nur daran dachte, sich einen Schuß zu setzen, würde ihr übel werden. Dafür hatte er gesorgt. Mit seinen Händen.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schlief ein.

Eine Stunde später schreckte er auf, von Alpträumen gequält, an die er sich schon nicht mehr erinnern konnte. Er eilte zur Tür, vergewisserte sich, daß sie noch verschlossen war, und spähte durch die Vorhänge. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn jemand dort draußen gelauert hätte, aber er sah nur unberührte Dunkelheit. Niemand hatte beobachtet, daß seine Hände im Einsatz gewesen waren.

Die junge Frau schlief immer noch.

Während er sie mit einem Laken zudeckte, fiel ihm ein, daß er nicht einmal ihren Namen kannte. In ihrer Tasche fand er einen Ausweis: Annie Grice, 26 Jahre alt, ledig. Das war alles. Keine Adresse, keine Angaben über Verwandte.

Er nahm eine Glasperlenkette zur Hand, aber die kleinen glatten Kugeln waren nichtssagend, und er legte sie beiseite. Wahrscheinlich hatte sie das billige Schmuckstück erst vor kurzem gekauft, so daß es noch nicht von ihrer Aura durchtränkt war.

Von ihrer abgewetzten Geldbörse empfing er hingegen Bilder und Botschaften in Hülle und Fülle. Die letzten Jahre von Annies Leben sogen wie im Zeitraffer an ihm vorüber: ihr erster Kontakt mit Kokain, die nachfolgende Abhängigkeit, die ersten Erfahrungen mit Heroin, Abhängigkeit, Sucht, Diebstähle, um sich die Drogen leisten zu können, Jobs in drittklassigen Bars mit zuviel Alkohol, Prostitution, die sie beschönigend anders nannte, um ihr Gewissen zu beschwichtigen, Prostitution, die sie als Prostitution anerkannte, und schließlich eine unwiderrufliche Abkehr vom Leben und von der Gesellschaft, eine totale Einsamkeit, die den Tod als willkommene Erlösung erscheinen ließ.

Ollie legte die Geldbörse beiseite.

Er schwitzte am ganzen Leibe.

Ihn verlangte nach Wein, aber er wußte, daß das nichts nützen würde. Diesmal nicht.

Außerdem war seine Neugier immer noch nicht befriedigt. Wie war Annie Grice zu jener Frau geworden, die ihre sieben Jahre alte Geldbörse widerspiegelte?

Er fand in ihrer Handtasche einen alten Ring - ein Familienerbstück? -, hielt ihn in den Händen und ließ die Bilder auf sich einwirken. Zunächst hatten sie nichts mit Annie zu tun. Als Ollie sah, daß er Eindrücke aus dem Leben der früheren Besitzer des Rings empfing, ließ er in seinem Geist die Zeit weiterlaufen, bis Annie auftauchte. Sie war sieben Jahre alt; die Leiterin des Waisenhauses hatte ihr soeben die wenigen Erbstücke übergeben, die nicht dem Feuer zum Opfer gefallen waren, das ein halbes Jahr zuvor ihr Elternhaus in Schutt und Asche gelegt hatte. Bei dem Brand waren ihre Eltern ums Leben gekommen, und von dieser Zeit an reihte sich ein deprimierendes Ereignis ans andere: Sie war schüchtern und wurde von gehässigen Kindern gehänselt; diese Schüchternheit verurteilte sie zur Einsamkeit; sie hatte in der Pubertät keine Freundinnen, und ihre erste Liebesaffäre war eine Katastrophe; seitdem hatte sie noch mehr Angst vor menschlichen Kontakten. Für ein College hatte sie kein Geld, und deshalb nahm sie verschiedene Jobs als Verkäuferin an, blieb aber unglücklich und allein. Irgendwann versuchte sie dann, ihre Schüchternheit durch forsches Auftreten und Aggressivität zu kaschieren, aber das führte nur dazu, daß sie die Bekanntschaft eines moralisch verkommenen jungen Mannes namens Benny machte, mit dem sie ein Jahre zusammenlebte. Er verleitete sie dazu, Kokain zu nehmen, und nach der Trennung von ihm führte ihre Drogensucht - ein verzweifelter Versuch, vor der Einsamkeit und Lieblosigkeit zu flüchten - sie immer mehr auf die schiefe Bahn, zu jenen schrecklichen Bildern, die Ollie vor sich gesehen hatte, als er ihre abgewetzte Geldbörse in den Händen hielt.

Er legte den Ring beiseite, griff nach der Weinflasche und trank, bis der Rausch ihm die Gnade des Vergessens bescherte. Nicht etwa sein eigenes, sondern Annies auswegloses Leben war ihm schlichtweg unerträglich.

Sie weckte ihn einige Stunden später. Aufrecht im Bett sitzend, hatte sie erschrocken aufgeschrien, als sie ihn auf dem Stuhl schlafen sah, an die Wand gelehnt.

Ollie stand auf und torkelte blinzelnd auf sie zu, schläfrig und betrunken.

»Was mache ich hier?« fragte sie angsterfüllt. »Was haben Sie mir angetan?«

Ollie erwiderte nichts darauf. Im Schweigen lag sein Heil. Es war ihm unmöglich, mit jemandem zu sprechen, fast so, als wäre er stumm oder fürchtete sich vor Worten. Seine Hände, rosig und feucht, zitterten heftig. Er schüttelte den Kopf und lächelte nervös: Hoffentlich würde sie verstehen, daß er ihr nur helfen wollte.

Offenbar begriff sie, daß er keine schlechten Absichten hatte, denn sie blickte nicht mehr so verängstigt drein. Mit gerunzelter Stirn zog sie das Laken bis zum Kinn hoch, um ihre Blöße zu verbergen. »Ich bin nicht tot, obwohl ich mir eine Überdosis gespritzt habe«, murmelte sie.

Ollie nickte lächelnd und wischte sich die Hände am Hemd ab.

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie ihre zerstochenen Arme betrachtete. Ihr graute vor dem Leben, und jetzt war sie verzweifelt, weil ihr Selbstmordversuch mißlungen war. Den Kopf nach hinten geworfen, das weite Gesicht von den goldenen Haaren umrahmt, begann sie zu wimmern und zu schluchzen.

Ollie streckte rasch den Arm aus, berührte sie und versetzte sie wieder in Schlaf. Selbst nun völlig nüchtern, ging er zur Tür, spähte ins frühe Morgenlicht hinaus, das auf die abgetretenen Betonstufen fiel, und ließ die Vorhänge wieder zufallen, glücklich darüber, daß niemand ihre Schreie gehört hatte.

Im Bad wusch er sein Gesicht mit viel kaltem Wasser und überlegte, was er jetzt tun sollte. Er dachte sogar daran, sie in die Gasse zurückzubringen, wo er sie gefunden hatte, und sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Aber das brachte er nicht übers Herz. Er versuchte erst gar nicht zu ergründen, warum er es nicht fertigbrachte - weil er Angst vor der Antwort hatte.

Während er sein Gesicht mit einem schmutzigen Handtuch abtrocknete, stellte Ollie fest, daß er einen schrecklichen Anblick bot. Er badete, rasierte sich und zog saubere Kleidungsstücke an. Wie ein Vagabund sah er auch jetzt noch aus, aber immerhin wie ein Vagabund aus freien Stücken und nicht aus Not: ein desillusionierter Künstler vielleicht oder -wie in manchen alten Filmen - ein reicher Mann, der seinen langweiligen Verpflichtungen entfliehen wollte.

Sein plötzlicher Phantasiereichtum wunderte ihn. Normalerweise hielt er sich für einen nüchternen und sachlichen Mann.

Bestürzt wandte er seinem Gesicht im Spiegel den Rücken zu und kehrte ins Zimmer zurück. Annie schlief, und im Schlaf sah sie unschuldig und heiter aus. Er würde sie noch eine Weile schlafen lassen.

Drei Stunden später, nachdem er die beiden kleinen Räume geputzt hatte, wechselte Ollie die Bettwäsche, ohne sie zu wecken, und obwohl er wußte, daß das unmöglich war, spielte er mit dem Gedanken, sie jahrelang schlafen zu lassen und zu pflegen, so als wäre sie eine komatöse Patientin. Ihn würde das glücklich machen - wahrscheinlich glücklicher, als er je zuvor im Leben gewesen war.

Doch jetzt hatte er Hunger, und er wußte, daß auch sie Hunger haben würde, wenn sie aufwachte. Er schloß die Tür hinter sich ab und kaufte zwei Blocks entfernt in einem kleinen Geschäft so viele Lebensmittel auf einmal ein wie nie zuvor.

»38 Dollar und 12 Cents«, sagte der Kassierer, ohne seine Verachtung zu verbergen, weil er ahnte, daß Ollie die Rechnung nicht bezahlen konnte.

Ollie hob eine Hand, berührte seine Stirn und starrte den Kassierer an.

Der Mann blinzelte, lächelte zögernd und griff nach leerer Luft. »Vierzig Dollar«, murmelte er, legte die nicht existierenden Geldscheine in die Kasse, gab Ollie korrekt heraus und packte die Lebensmittel in eine Tüte.

Auf dem Heimweg fühlte Ollie sich unbehaglich, denn er hatte seine Kräfte noch nie eingesetzt, um jemanden zu betrügen. Hätte er nicht das Mädchen gesehen, hätte er vergangene Nacht in den Mülltonnen vielleicht die ihm noch fehlenden Teile für ein weiteres komplettes Besteck gefunden, und tagsüber hätte er sich anderen Aufgaben gewidmet und ein paar Dollar eingenommen, indem er mit seinen Händen in den U-Bahn-Stationen verlorene Münzen aufspürte. Im Grunde trug also nicht er allein die Verantwortung für diesen Betrug. Trotzdem quälten ihn Gewissensbisse.

Zu Hause bereitete er das Essen zu - Eintopf, Salat und frisches Obst -, bevor er Annie weckte. Sie starrte ihn wortlos an, als er auf den gedeckten Tisch deutete, und er spürte ihre Angst, eine rote Blume, deren Knospe aufsprang und sich zu einer riesigen Blüte entfaltete. Mit einer Handbewegung machte er sie darauf aufmerksam, daß sein Zimmer jetzt sauber und ordentlich war, und er lächelte aufmunternd.

Annie setzte sich auf, und ihr Alptraum fiel ihr wieder ein -der grausame Alptraum, noch am Leben zu sein. Sie schrie gepeinigt auf.

Ollie hob beschwörend die Hände, versuchte zu sprechen, brachte jedoch kein Wort hervor.

Ihr Gesicht lief rot an, als sie tief Luft holte und aufzustehen versuchte.

Ollie war gezwungen, ihr seine Hände aufzulegen und sie wieder in Schlaf zu versetzen.

Während er sie zudeckte, begriff er, daß es naiv von ihm gewesen war zu glauben, daß sie ein anderer Mensch mit weniger Ängsten und mehr Gemütsruhe sein würde, nur weil er gebadet, sich rasiert, die Wohnung geputzt und ein Essen zubereitet hatte. Sie würde nur ein anderer Mensch werden, wenn er ihr dabei half, und das würde Zeit, harte Arbeit und ein großes Opfer seinerseits erfordern.

Er warf das Essen weg. Er hatte keinen Hunger mehr.

Die ganze lange Nacht hindurch saß er am Bett, die Ellbogen auf seine Knie gestützt, den Kopf in den Händen vergraben. Seine Fingerspitzen schienen mit den Schläfen zu verschmelzen, während seine Handflächen auf den Wangen ruhten. Mit seinen ungewöhnlichen Sensoren spürte er Annies Verzweiflung auf, ihre Hoffnungen und Träume, ihren Ehrgeiz, ihre Grenzen, ihre Freuden, ihr schmerzhaft erworbenes Wissen, ihre ständigen Fehlurteile und ihre seltenen Momente intellektueller Klarheit. Er verweilte im Zentrum ihrer Seele, die abwechselnd in voller Blüte stand und dahinwelkte.

Am Morgen ging er ins Bad, trank selbst zwei Glas Wasser und half Annie, im Halbschlaf etwas zu trinken. Dann versetzte er sich wieder in die kontrastreiche Welt ihres Geistes und hielt sich, abgesehen von einigen kurzen Ruhepausen, den ganzen Tag und die folgende Nacht dort auf, erforschte ihre Psyche und nahm vorsichtige Korrekturen vor.

Er überlegte nicht, warum er diesen Aufwand an Zeit, Energie und Emotionen auf sich nahm - vielleicht weil er befürchtete, dann erkennen zu müssen, daß seine Einsamkeit das wichtigste Motiv war. Er verschmolz geistig mit ihr, berührte sie, veränderte sie und verschwendete keinen Gedanken an die Konsequenzen. Im Morgengrauen des nächsten Tages war sein Werk vollbracht.

Im Halbschlaf brachte er sie wieder dazu, etwas zu trinken, damit sie nicht an Flüssigkeitsmangel litt. Dann versetzte er sie in Tiefschlaf, legte sich neben sie auf das Bett und griff nach ihrer Hand. Erschöpft schlief er ein und träumte, daß er in einem unermeßlichen Ozean dahintrieb, als winziges Etwas, das von einem schwimmenden prähistorischen Wesen im dunklen Wasser unter ihm verschlungen zu werden drohte. Seltsamerweise ängstigte dieser Traum ihn nicht. Sein ganzes sorgenvolles Leben lang hatte er damit gerechnet, von irgend etwas überwältigt zu werden.

Zwölf Stunden später wachte Ollie auf, duschte, rasierte sich, zog sich an und bereitete wieder ein Essen zu. Als er Annie weckte, setzte sie sich bestürzt auf, aber diesmal schrie sie nicht, sondern fragte nur: »Wo bin ich?«

Ollie bewegte seine trockenen Lippen, sofort wieder verunsichert, aber es gelang ihm, ihr mit einer ausladenden Handbewegung das Zimmer zu zeigen, das ihr inzwischen halbwegs vertraut sein mußte.

Sie wirkte neugierig und erfüllt von einem gewissen Unbehagen, aber sie war befreit von ihrer lähmenden Lebensangst. Er hatte sie davon kuriert.

»Ja, Sie haben es hier sehr gemütlich«, murmelte sie. »Aber wie bin ich hierhergekommen?«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, suchte nach Worten, fand keine, deutete auf sich und lächelte.

»Können Sie nicht sprechen?« fragte sie. »Sind Sie stumm?«

Er überlegte kurz, akzeptierte den Ausweg, den sie ihm bot, und nickte.

»Das tut mir leid«, murmelte sie. Dann starrte sie ihren zerstochenen Arm an. Zweifellos erinnerte sie sich daran, daß sie sich zuletzt absichtlich eine Überdosis gespritzt hatte.

Ollie räusperte sich und deutete auf den gedeckten Tisch.

Sie bat ihn, sich kurz abzuwenden, sprang aus dem Bett und wickelte das Laken wie eine Toga um ihren Körper. Während sie am Tisch Platz nahm, grinste sie ihm zu. »Ich bin am Verhungern.«

Dieses heimatlose Geschöpf verfügte über die Gabe, ihn mühelos zu verzaubern. Er erwiderte ihr Lächeln. Sie hatten den schwierigsten Augenblick hinter sich gebracht, ohne daß es zu einer Katastrophe gekommen war. Er stellte das Essen auf den Tisch und machte eine entschuldigende Geste, die ausdrücken sollte, daß er kein Spitzenkoch war.

»Alles sieht köstlich aus«, versicherte sie, häufte sich Eintopf auf ihren Teller und aß mit Heißhunger, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Nach dem Essen wollte sie ihm beim Geschirrspülen helfen, ermüdete aber sehr schnell und mußte sich ins Bett begeben. Als er mit der Arbeit fertig war und sich neben sie auf den Stuhl setzte, fragte sie: »Was machen Sie?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich meine - womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

Er dachte an seine Hände, aber selbst wenn er imstande gewesen wäre zu sprechen, hätte er ihr diese Sache nicht erklären können. Deshalb zuckte er wieder die Achseln, so als wollte er sagen: Ich tu nicht viel.

Sie sah sich in dem schäbigen Zimmer um. »Sind Sie ein Penner?« Als er auf diese Frage nicht reagierte, glaubte sie, den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. »Wie lange kann ich hierbleiben?«

Durch Mimik und Gestik machte Ollie ihr klar, daß sie hierbleiben konnte, solange sie wollte.

Sie betrachtete ihn lange und murmelte schließlich: »Könnten Sie vielleicht das Licht dämpfen?«

Er stand auf und schaltete zwei der drei Lampen aus. Als er sich ihr wieder zuwandte, lag sie nackt auf dem Bett, die Beine einladend gespreizt.

»Hör zu«, erklärte sie ihm, »ich weiß, daß du mich nicht für nichts und wieder nichts hergebracht und aufgepäppelt hast. Du erwartest natürlich eine Belohnung, und du hast durchaus ein Recht darauf.«

Verwirrt und frustriert holte er frische Laken aus einem Eckregal und wechselte ihre Bettwäsche, ohne sie auch nur zu berühren. Ihr Angebot ignorierte er einfach. Sie starrte ihn ungläubig an, und als er fertig war, sagte sie, daß sie nicht schlafen wolle. Er berührte ihre Stirn, und gleich darauf schlummerte sie tief und fest.

Am nächsten Morgen frühstückte sie mit dem gleichen Heißhunger, den sie beim Abendessen an den Tag gelegt hatte. Kein Krümel blieb übrig. Dann fragte sie, ob sie ein Bad nehmen dürfe. Er spülte das Geschirr und lauschte dabei ihrer weichen Stimme aus dem Bad. Sie sang irgendein hübsches melodisches Lied, das er noch nie gehört hatte.

Frisch gewaschen, hatte ihr Haar die Farbe von dunklem Honig. Sie stand nackt neben dem Bett und winkte ihn zu sich heran. Obwohl sie immer noch viel zu mager war, sah sie schon wesentlich gesünder aus als in der Nacht ihres Selbstmordversuchs.

»Ich war gestern abend so töricht«, sagte sie. »Meine Haare waren schmutzig, und ich muß so gestunken haben, daß sogar ein Stier die Flucht ergriffen hätte. Jetzt rieche ich nach Seife.«

Ollie kehrte ihr den Rücken zu und starrte das wenige Geschirr an, das er noch abtrocknen mußte.

»Was ist los?« fragte sie.

Er gab keine Antwort.

»Willst du mich nicht?«

Er schüttelte den Kopf - nein.

Sie zog scharf die Luft ein.

Etwas traf ihn schmerzhaft an der Hüfte, und als Ollie sich umdrehte, sah er, daß sie einen schweren Glasaschenbecher in der Hand hatte. Sie fauchte mit gebleckten Zähnen, so als wäre sie eine wütende Katze. Der Aschenbecher traf jetzt seine Schultern, und gleichzeitig schlug sie mit ihrer kleinen geballten Faust zu, trat nach ihm und kreischte. Dann entglitt der Aschenbecher ihrer Hand, und sie sank erschöpft und weinend an seine Brust.

Ollie legte einen Arm um ihre Schultern, um sie zu trösten, aber sie riß sich los, versuchte das Bett zu erreichen, stolperte, fiel hin und wurde ohnmächtig.

Er hob sie auf, legte sie ins Bett, deckte sie zu und wartete auf seinem Stuhl darauf, daß sie wieder zu sich kam.

Als sie eine halbe Stunde später aufwachte, war sie zitterig und benommen. Er beruhigte sie, strich ihr das Haar aus dem Gesicht, wischte ihr die Tränen von den Wangen, legte kalte Kompressen auf ihre Stirn.

Etwas später, als sie wieder sprechen konnte, fragte sie: »Bist du vielleicht impotent?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum willst du mich dann nicht? Ich wollte mich auf diese Weise revanchieren. Das mache ich bei Männern immer so. Etwas anderes habe ich ja nicht zu bieten.«

Ollie legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit seiner ungeschickten Mimik und Gestik versuchte er ihr klarzumachen, daß sie sehr viel zu bieten hatte, daß sie ihm sehr viel gab, einfach indem sie hier war. Einfach indem sie bei ihm war.

An diesem Nachmittag kaufte er für sie einen Pyjama, einige Kleidungsstücke und eine Zeitung. Sie amüsierte sich über den keuschen Flanellschlafanzug mit langen Ärmeln und langer Hose, zog ihn aber gleich an und las ihm dann die Zeitung vor - die Comics und Klatschgeschichten. Offenbar dachte sie, daß er nicht lesen konnte, und er ließ sie in diesem Glauben, weil das angebliche Analphabetentum gut zu seiner Tarnung paßte: Penner sammelten keine Bücher.

Außerdem hörte er sie gern vorlesen. Sie hatte eine so schöne weiche Stimme.

Am nächsten Morgen zog Annie ihre neuen Sachen -Bluejeans und Pullover - an und begleitete Ollie zum Lebensmittelhändler, obwohl er sie davon abzubringen versuchte. Als er dem Kassierer einen imaginären ZwanzigDollar-Schein gab und das Wechselgeld einsteckte, glaubte er, daß Annie in eine andere Richtung schaute, doch auf dem Nachhauseweg fragte sie ihn: »Wie hast du das gemacht?«

Er stellte sich dumm. Was gemacht?

»Versuch nicht, Annie zum Narren zu halten«, warnte sie ihn. »Ich fand es zum Schreien, wie er nach einer Handvoll Luft griff und dir herausgab.«

Ollie schwieg.

»Hypnotisierst du die Leute?« bedrängte sie ihn.

Erleichtert nickte er. Ja.

»Das mußt du mir beibringen.«

Er gab keine Antwort.

Aber sie ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Du mußt mir zeigen, wie du diesen Kerl getäuscht hast. Wenn ich diesen Trick beherrschen würde, brauchte ich meinen Körper nicht mehr zu verkaufen, verstehst du? Mein Gott, er hat diese Handvoll Luft angelächelt! Wie machst du das? Wie? Bring es mir bei! Du mußt es mir beibringen!«

Als sie in Ollies Zimmer waren, konnte er ihre unaufhörlichen Bitten einfach nicht mehr ertragen, vor allem, weil er befürchtete, daß er töricht genug sein könnte, ihr von seinen Händen zu erzählen. Deshalb stieß er sie plötzlich von sich. Sie prallte mit den Kniekehlen gegen die Bettkante und landete auf dem Bett, erstaunt über seinen jähen Zorn.

Sie sagte nichts mehr, und ihre Beziehung wurde scheinbar wieder unkomplizierter. Doch alles hafte sich verändert.

Weil sie sich nicht mehr traute, ihn wegen des Tricks beim Bezahlen zu löchern, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken. Spät am Abend sagte sie: »Es ist Tage her, daß ich mir die letzte Spritze gesetzt habe, aber ich habe gar kein Bedürfnis nach Drogen. Seit mindestens fünf Jahren war ich nicht mehr so lange clean.«

Ollie machte mit seinen schuldigen Händen eine unbeholfene Geste, die seine eigene Überraschung zum Ausdruck bringen sollte.

»Hast du meine Spritze und alles andere weggeworfen?«

Er nickte.

Etwas später fragte sie: »Hast du etwas damit zu tun, daß ich keinen Stoff mehr brauche? Hast du mich hypnotisiert?« Als er wieder nickte, fuhr sie fort: »Und auf die gleiche Weise hast du den Kassierer dazu gebracht, den Zwanzig-Dollar-Schein zu sehen, stimmt’s?«

Ollie gab ihr recht, indem er komisch gestikulierte und einen Bühnenhypnotiseur imitierte, der sein Publikum zu manipulieren versteht.

»Nein, du wendest keine Hypnose an«, erklärte sie entschieden, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie durchschaute seine Fassade, was seit Jahren niemandem gelungen war. »Außersinnliche Wahrnehmung?«

Was ist das? fragte er mit Gesten.

»Du weißt es genau«, sagte Annie. »Du weißt es viel besser als ich.«

Sie war eine scharfe Beobachterin, und sie war viel intelligenter, als er gedacht hatte.

Wieder machte sie ihm die Hölle heiß, aber jetzt ging es nicht mehr um den Zwanzig-Dollar-Trick. »Na komm schon, wie ist das, wenn man diese Gabe besitzt? Wie lange besitzt du sie schon? Du hast doch überhaupt keinen Grund, dich zu schämen! Es ist doch wundervoll, so mächtig zu sein! Du solltest stolz darauf sein! Die ganze Welt könnte dir zu Füßen liegen!«

Und so weiter und so fort.

Irgendwann während dieser langen Nacht - später konnte Ollie sich nicht mehr daran erinnern, mit welchen Argumenten sie ihn mürbe gemacht hatte - erklärte er sich bereit, ihr zu zeigen, was er alles konnte. Er war nervös und wischte seine magischen Hände am Hemd ab. Doch obwohl er so aufgeregt wie ein Teenager war, der seine erste Freundin beeindrucken möchte, hatte er zugleich Angst vor den Konsequenzen.

Zuerst überreichte er ihr einen nicht vorhandenen ZwanzigDollar-Schein, sorgte dafür, daß sie ihn sah, und ließ ihn verschwinden. Anschließend stellte er mit einer dramatischen Geste seine Levitationskünste unter Beweis: Er brachte eine leere Kaffeetasse, eine volle Kaffeetasse, den Stuhl, eine Lampe, das Bett - ohne und mit Annie - zum Schweben, und schließlich hob er sich selbst vom Boden in die Luft empor, so als wäre er ein indischer Fakir. Annie jauchzte vor Begeisterung und klatschte in die Hände. Sie überredete ihn, sie auf einem imaginären Besenstiel durchs Zimmer fliegen zu lassen. Sie umarmte und küßte ihn, wollte immer neue Tricks sehen. Er drehte für sie den Wasserhahn im Spülbecken auf, ohne ihn zu berühren, und teilte den Wasserstrahl in zwei Hälften. Er füllte eine Tasse mit Wasser und bedeutete ihr, es ihm ins Gesicht zu spritzen, und im letzten Moment teilte er es in hundert dünne Strahlen auf und blieb völlig trocken.

»He!« rief sie aufgeregt und mit geröteten Wangen. »Von nun an wird nie mehr jemand auf uns herumtrampeln! Kein Mensch!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er grinste so breit, daß seine Kiefermuskeln schmerzten, als sie rief: »Du bist einfach phantastisch!«

Erfüllt von süßer Vorfreude und schrecklicher Angst, war Ollie sich bewußt, daß sie bald soweit sein würden, das Bett zu teilen. Schon sehr bald. Von diesem Moment an würde sich sein Leben verändern. Sie begriff immer noch nicht richtig, was sein Talent bedeutete, begriff nicht, daß seine Hände in absehbarer Zeit zu einem unüberwindlichen Hindernis zwischen ihnen werden könnten.

»Ich verstehe nicht, warum du deine ... deine Begabung verbirgst.«

Ihm lag sehr viel daran, daß sie ihn verstand, und deshalb beschwor er jene schlimmen Erinnerungen herauf, die er so lange verdrängt hatte. Weil er immer noch kein Wort hervorbringen konnte, versuchte er ihr mit Gesten zu erklären, warum er seine Fähigkeiten geheimhielt.

Irgendwie begriff sie den Kernpunkt. »Man hat dich verletzt.«

Er nickte. Ja, sehr.

Die Gabe war ohne Vorwarnung über ihn gekommen, als er zwölf Jahre alt gewesen war, so als wäre sie ein sekundäres Geschlechtsmerkmal, das in der Pubertät auftritt. Anfangs manifestierte sie sich noch bescheiden, doch sie wurde rasch übermächtig. Ollie wußte, daß das eine Sache war, die man keinem Erwachsenen anvertrauen durfte, und monatelang verheimlichte er sie sogar vor seinen Freunden, weil die Macht, die von seinen Händen ausging, ihn selbst zutiefst bestürzte und ängstigte. Doch mit der Zeit offenbarte er sich anderen Kindern, zeigte ihnen seine Zauberkünste und genoß ihre Bewunderung, die jedoch bald in Ablehnung umschlug: Anfangs zogen sie sich nur von ihm zurück, doch dann wurden sie gewalttätig, schlugen und traten ihn, stießen ihn in den Dreck und zwangen ihn, schmutziges Wasser aus Pfützen zu trinken - alles nur wegen seiner übernatürlichen Gabe. Er hätte sie einsetzen können, um sich gegen einen oder vielleicht sogar gegen zwei Angreifer zu wehren, aber gegen eine ganze Horde war sogar er machtlos. Eine Zeitlang verbarg er seine besonderen Fähigkeiten wieder, sogar vor sich selbst. Im Laufe der Jahre stellte er jedoch fest, daß er sein Talent nicht verleugnen konnte, ohne sich selbst physischen und psychischen Schaden zuzufügen. Der Drang, seine Kräfte einzusetzen, war stärker als sein Verlangen nach Essen, Sex oder sonstigen Genüssen. Wenn er sich zur Abstinenz zwang, kam das einer Verweigerung des Lebens gleich: Er nahm ab, wurde nervös und krank. Ihm blieb deshalb nichts anderes übrig, als seine Gabe zu nützen, aber er stellte sie nicht mehr vor anderen zur Schau. Er begriff allmählich, daß er immer allein sein würde, solange er diese übersinnlichen Kräfte besaß - nicht aus freier Wahl, sondern gezwungenermaßen. Sie ließen sich in Gesellschaft genauso wenig verbergen wie athletisches Geschick oder Wortgewandtheit: Sie traten unerwartet zutage und bestürzten seine Freunde, die sich daraufhin unweigerlich von ihm zurückzogen, was gefährliche Konsequenzen haben konnte. Der einzige Ausweg war, das Leben eines Einsiedlers zu führen. In der Großstadt konnte er sich mühelos als Penner tarnen, konnte im Betondschungel untertauchen - unbemerkt, ohne Freunde, in Sicherheit.

»Ich kann ja verstehen, daß Leute auf dich neidisch sind oder Angst vor dir haben«, sagte Annie. »Manche Leute ... aber bestimmt nicht alle. Ich finde dich jedenfalls ganz toll!«

Mit Gesten erklärte er ihr, was er alles vermochte. Zweimal versuchte er, Worte zu finden, brachte aber nur Grunzlaute zustande.

»Du kannst also sogar Gedanken lesen«, formulierte sie an seiner Stelle. »Na und? Gewiß, jeder Mensch hat irgendwelche Geheimnisse, aber daß man dich deswegen ablehnt oder gar schlecht behandelt ...« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Na ja, von nun an brauchst du dich jedenfalls nie mehr zu verstecken. Gemeinsam können wir deine Talente in einen Segen verwandeln. Wir beide gegen den Rest der Welt.«

Er nickte, aber insgeheim bedauerte er zutiefst, falsche Hoffnungen in ihr geweckt zu haben, denn in diesem Moment entstand das Netz. Einfach so: klick! Und er wußte, daß es auch diesmal nicht anders als früher sein würde. Sobald sie erkannte, daß sie in diesem Netz gefangen war, würde sie in Panik geraten.

Bisher hatte es immer erster Intimitäten mit einer Frau bedürft, damit es passierte. Doch Annie war eine Ausnahme, und diesmal war das Netz entstanden, noch bevor sie auch nur den ersten Kuß getauscht hatten.

Am nächsten Tag schmiedete Annie stundenlang Pläne für ihre gemeinsame Zukunft, und Ollie hörte zu und kostete diese Stunden aus, denn er wußte, daß es bald keine gemeinsamen Freuden mehr geben würde, daß das Netz solche gemeinsamen Freuden unmöglich machen würde.

Als sie nach dem Abendessen Hand in Hand nebeneinander auf dem Bett lagen, begannen die Probleme, die er vorhergesehen hatte. Sie schwieg lange, und schließlich fragte sie: »Hast du heute meine Gedanken gelesen?«

Es wäre sinnlos zu lügen. Ollie nickte.

»Oft?«

Ja.

»Du weißt alles schon, bevor ich es sage?«

Er wartete ab - fröstelnd und angsterfüllt.

»Hast du den ganzen Tag über meine Gedanken gelesen?«

Er nickte.

Sie runzelte die Stirn und sagte energisch: »Ich möchte, daß du damit aufhörst! Hast du jetzt aufgehört?«

Ja.

Sie setzte sich auf, ließ seine Hand los und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Nein, du hast nicht aufgehört! Ich fühle direkt, daß du irgendwie in mir steckst und mich beobachtest.«

Ollie widersprach nicht.

Sie griff wieder nach seiner Hand. »Verstehst du denn nicht? Ich komme mir töricht vor, wenn ich über Dinge rede, die du vorher schon in reinem Kopf gesehen hast. Ich komme mir wie ein Vollidiot vor, der mit einem Genie zusammen ist.«

Ollie versuchte, sie zu beruhigen und das Thema zu wechseln. Er gab quakende Laute von sich, wie der Frosch im Märchen, der in Wirklichkeit ein Prinz ist, behalf sich dann aber doch wieder mit Gesten.

»Wenn wir alle beide diese Gabe hätten . Aber so ist das zu einseitig . ich fühle mich irgendwie . unzulänglich . noch schlimmer . und das gefällt mir nicht . « Sie verstummte, aber nach einer Weile fragte sie: »Hast du damit aufgehört?«

Ja.

»Du lügst, stimmt’s? Ich spüre dich ... ja ... ich bin mir sicher, das ich dich spüren kann .«

Endlich dämmerte ihr die schreckliche Erkenntnis, und sie rückte von ihm ab. »Kannst du überhaupt aufhören, meine Gedanken zu lesen?«

Er konnte ihr das Netz nicht erklären, das entstanden war, als er sie ins Herz geschlossen hatte. In diesem Moment hatte sein Geist sich auf irgendeine mystische Weise mit dem ihren verknüpft. Er verstand es selbst nicht ganz - obwohl es ihm schon früher widerfahren war. Er konnte ihr nicht erklären, das sie jetzt für immer fast so etwas wie ein Teil von ihm war. Er konnte nur die schreckliche Wahrheit bejahen: Ich kann nicht aufhören, deine Gedanken zu lesen, Annie. Sie fliegen mir einfach zu, genauso wie beim Atmen Luft in meine Lunge gelangt.

Nachdenklich murmelte sie: »Keine Geheimnisse, keine Überraschungen, nichts, was ich dir jemals vorenthalten könnte.«

Minuten vergingen.

Dann fragte sie: »Wirst du über mein ganzes Leben bestimmen, für mich Entscheidungen treffen, mich wie eine Schachfigur hin und her schieben, ohne daß ich es weiß? Oder hast du schon damit begonnen?«

Eine derartige totale Kontrolle ging über seine Kräfte, aber er würde sie nie davon überzeugen können. Ihr Atem ging schnell, und auch sie konnte sich der Angst nicht erwehren, die er schon oft bei anderen beobachtet hatte.

»Ich werde auf der Stelle gehen ... wenn du mich läßt.«

Traurig legte er eine zitternde Hand auf ihren Kopf und versetzte sie in tiefen Schlaf.

In dieser Nacht griff er noch einmal in ihren Geist und löschte bestimmte Erinnerungen. Die Weinflasche stand zu seinen Füßen, und er trank während der Arbeit. Bevor der Morgen graute, war sein Werk vollbracht.

Die Straßen waren öde und leer, als er Annie in die Gasse zurückbrachte, wo er sie gefunden hatte. Er lehnte sie an die Mauer und schob ihre Handtasche unter ihre Beine. Von ihrer Drogensucht war sie befreit, sie besaß ein neues Selbstbewußtsein und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Das waren seine Geschenke, und vielleicht würden sie Annie helfen, ein ganz neues Leben zu beginnen.

Ollie kehrte nach Hause zurück, ohne einen letzten Blick auf ihr so schönes und ebenmäßiges Gesicht geworfen zu haben.

Er öffnete eine Weinflasche. Stunden später, als er völlig betrunken war, fiel ihm ein, was ein angeblicher Freund gesagt hatte, als er ihm in der Pubertät zum erstenmal seine Fähigkeiten demonstrierte: »Ollie, du kannst die Welt regieren! Du bist ein Supermann!«

In der Erinnerung an diese Worte mußte er so laut lachen, daß er Wein ausspie. Die Welt regieren! Nicht einmal sich selbst hatte er unter Kontrolle. Ein Supermann! In einer Welt voll normaler Menschen war ein Supermann kein König, nicht einmal ein romantischer Exzentriker. Er war schlichtweg allein. Und allein konnte er nichts vollbringen.

Er dachte an Annie, an unerfüllbare Träume von Liebe und Glück, an seine Zukunft ohne jede Perspektive, und er trank immer weiter.

Nach Mitternacht begab er sich zu Stazniks Restaurant, um in den Mülltonnen nach versehentlich weggeworfenen Messern, Gabeln und Löffeln zu suchen. Jedenfalls hatte er das ursprünglich vor, doch statt dessen verbrachte er die Nacht damit, durch dunkle, verwinkelte Gassen und Hinterhöfe zu streifen, mit ausgestreckten Händen, wie ein Blinder, der sich seinen Weg ertasten muß. Annie würde sich nicht an ihn erinnern, dafür hatte er gesorgt. Für sie hatte er nie existiert.

Nie.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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