Miß Attila die Hunnin

1

Jahrhundertelang hatte das Wesen bei Frost und Tauwetter, bei Regen und Dürre im Waldboden ausgeharrt und auf eine Chance gewartet, zu neuem Leben zu erwachen. Nicht daß es tot gewesen wäre. Es war lebendig und bei Bewußtsein, und es registrierte jeden Warmblüter, der in seiner Nähe den dichten Wald durchstreifte. Aber es benötigte nur einen kleinen Teil seines Geistes, um Tiere auf ihre Tauglichkeit als Wirte zu prüfen, und so war es größtenteils damit beschäftigt, von seinen früheren Leben in anderen Welten zu träumen.

Hirsche, Bären, Dachse, Eichhörnchen, Hasen, Beutelratten, Wölfe, Mäuse, Füchse, Waschbären, Pumas und Wachteln, die sich von den Feldern hierher verirrt hatten, aber auch Hunde, Kröten, Chamäleons, Schlangen, Würmer, Käfer, Spinnen und Tausendfüßler waren so nahe an dem Wesen vorbeigekommen, daß es sich ihrer ohne weiteres hätte bemächtigen können, wenn sie geeignet gewesen wären. Teilweise waren das natürlich keine Warmblüter, und damit schieden sie als Wirte von vornherein aus. Und die Säugetiere und Vögel hatten zwar warmes Blut, erfüllten aber die zweite wichtige Voraussetzung nicht: eine höhere Intelligenz.

Das Wesen wurde dennoch nie ungeduldig. Es hatte in Millionen und Abermillionen von Jahren immer wieder Wirte der einen oder anderen Art gefunden, und es war zuversichtlich, daß sich ihm irgendwann die Gelegenheit bieten würde, aus seinen kalten Träumen zu erwachen und diese neue Welt zu erforschen, so wie es schon viele Welten erforscht -und erobert - hatte.

2

Jamie Watley war in Mrs. Caswell verliebt. Er hatte beachtliches künstlerisches Talent, und deshalb füllte er ein Heft mit Zeichnungen von seiner Traumfrau: Mrs. Caswell, die auf einem wilden Pferd ritt; Mrs. Caswell, die einen Löwen zähmte; Mrs. Caswell, die ein angreifendes Rhinozeros von der Größe eines Lastwagens erschoß; Mrs. Caswell als Freiheitsstatue, mit einer Fackel in der Hand. Er hatte sie nie auf einem wilden Pferd reiten, einen Löwen zähmen oder ein Rhinozeros erschießen sehen, und er hatte nie gehört, daß sie auch nur eine dieser Heldentaten vollbracht hatte. Der Freiheitsstatue sah sie eigentlich gar nicht ähnlich - sie war viel hübscher -, aber Jamie hatte trotzdem den Eindruck, daß seine Bilder die wirkliche Mrs. Caswell widerspiegelten.

Er wollte sie bitten, ihn zu heiraten, obwohl er sich keine großen Hoffnungen machte, daß sie ja sagen würde. Zum einen war sie sehr gebildet, und das war er nicht. Sie war schön, und er war unansehnlich. Sie war amüsant und kontaktfreudig, und er war schüchtern. Sie war so selbstsicher und hatte jede Situation fest im Griff - als im September in der Schule ein Feuer ausgebrochen war, hatte sie ganz allein verhindert, daß das Gebäude bis auf die Grundmauern abbrannte -, während es Jamie schwerfiel, auch nur ganz kleine Krisen zu bewältigen. Außerdem war sie verheiratet, und Jamie hatte Schuldgefühle, weil er ihrem Mann den Tod wünschte. Doch das allergrößte Hindernis, das es irgendwie zu überwinden galt, wenn er nicht jede Hoffnung auf eine Ehe mit Mrs. Caswell aufgeben wollte, war der Altersunterschied: Die war siebzehn Jahre älter als Jamie, der erst elf war.

An diesem Sonntagabend Ende Oktober saß Jamie an dem aus Brettern zusammengezimmerten behelfsmäßigen Schreibtisch in seinem kleinen Zimmer und fertigte eine neue Bleistiftzeichnung von Mrs. Caswell an, seiner Lehrerin in der sechsten Klasse. Sie stand im Klassenzimmer neben ihrem Pult, weiß gekleidet wie ein Engel. Ein wundervolles Licht ging von ihr aus, und alle Kinder - Jamies Klassenkameraden -lächelten ihr zu. Jamie zeichnete auch sich selbst - zweite Reihe von der Tür aus, vorderste Bank -, überlegte kurz und umgab seinen Kopf auf dem Bild mit vielen kleinen Herzen, die emporstiegen wie der Dampf von einem Block Trockeneis.

Jamie Watley, dessen Mutter eine schlampige Alkoholikerin und dessen Vater - ein häufig arbeitsloser Mechaniker -ebenfalls alkoholsüchtig war, hatte sich nie viel aus der Schule gemacht, bis er in diesem Schuljahr dem Zauber von Laura Caswell verfallen war. Seitdem zog sich der Sonntagabend für ihn immer unerträglich in die Länge, weil er es kaum erwarten konnte, am Montagmorgen in die Schule zu kommen.

Im Erdgeschoß stritt sein übellauniger betrunkener Vater mit seiner genauso betrunkenen Mutter. Es ging diesmal um Geld, aber ebenso gut hätten sie auch über das ungenießbare Abendessen streiten können, das sie gekocht hatte, oder über sein Interesse an anderen Frauen, über ihr schlampiges Aussehen, über seine Verluste beim Pokern, über ihr ständiges Jammern, über den Mangel an Knabberzeug oder über das Fernsehprogramm. Die lauten Stimmen drangen fast ungedämpft durch die dünnen Wände des baufälligen Hauses, aber Jamie hatte gelernt, sie zu überhören.

Er begann eine neue Zeichnung. Diesmal stand Mrs. Caswell, futuristisch gekleidet, inmitten einer felsigen Landschaft und kämpfte mit einem Laserschwert gegen ein außerirdisches Monster.

3

Im Morgengrauen fuhr Teel Pleever mit seinem schäbigen und schmutzigen acht Jahre alten Jeep-Kombi ins hügelige Umland. Er parkte tief im Wald auf einem kaum noch benutzten Holzweg. Bei Sonnenaufgang brach er mit seinem Jagdgewehr

- einer Winchester 70 aus bestem europäischem Walnußholz -zu Fuß auf.

Teel liebte die Wälder im Morgengrauen: die samtweichen Schatten, das erste klare Licht, das durch die Äste fiel, und die Gerüche von nächtlicher Kühle und Feuchtigkeit. Mit seinem Gewehr in der Hand auf die Jagd zu gehen, war eine aufregende und sehr befriedigende Sache, aber am meisten genoß er das Wildern.

Obwohl er der erfolgreichste Immobilienmakler im ganzen Bezirk war, ein geachteter und reicher Mann, haßte Teel es, einen Dollar auszugeben, wenn er den gleichen Gegenstand anderswo für 98 Cent bekommen konnte, und er war nicht bereit, auch nur einen Cent auszugeben, wenn er etwas umsonst haben konnte. Er hatte eine Farm am nordöstlichen Rand der Bezirkshauptstadt Pineridge besessen, und als der Staat beschlossen hatte, dort die neue gebührenpflichtige Autobahn zu bauen, hatte er mehr als 600 000 Dollar verdient, indem er sein Land nach und nach an Motels und Fast-Food-Ketten verkaufte. Doch auch ohne diesen großen Deal wäre er aufgrund seiner Geschäftstüchtigkeit ein reicher Mann gewesen. Trotzdem kaufte er nur alle zehn Jahre einen neuen Jeep, besaß einen einzigen Anzug und war im Pineridge’s Acme Supermarket dafür bekannt, daß er beim Einkaufen drei Stunden lang sämtliche Preise verglich, nur um achtzig oder neunzig Cent sparen zu können.

Er kaufte nie Rindfleisch. Warum sollte er für Fleisch bezahlen, wenn er es in den Wäldern, wo es von Wild wimmelte, umsonst zu haben war? Teel war jetzt dreiundfünfzig, und obwohl er seit seinem siebzehnten Lebensjahr wilderte, war er noch nie erwischt worden. Eine besondere Vorliebe für Wildbret hatte er nie gehabt, und nachdem er in den letzten sechsunddreißig Jahren Tausende Kilo Wildfleisch gegessen hatte, freute er sich oft gar nicht so besonders auf seine Mahlzeiten, doch er bekam jedesmal wieder Appetit, wenn er daran dachte, wieviel Geld er auf diese Weise gespart hatte - Geld, das andernfalls in den Taschen von Viehzüchtern und Metzgern verschwunden wäre.

Nachdem er die dicht bewaldeten Hügel vierzig Minuten durchstreift hatte, ohne auf Wildspuren zu stoßen, beschloß Teel, auf einem großen flachen Felsen zwischen zwei Kiefern Rast zu machen. Er legte sein Gewehr beiseite und setzte sich mit gespreizten Beinen bequem hin. Zwischen seinen Stiefeln fiel ihm plötzlich etwas Seltsames ins Auge.

Der Gegenstand war in der weichen, feuchten schwarzen Erde halb vergraben und teilweise von braunen Kiefernadeln bedeckt, die Teel mit der Hand wegfegte. Das Ding hatte die Form eines Footballs, schien aber etwa doppelt so groß zu sein. Die Oberfläche glänzte wie glasierte Keramik, und Teel schloß daraus, daß es ein von Menschenhand geschaffener Gegenstand sein mußte, denn Wind und Wetter konnten niemals eine so perfekte Politur erzeugen. Blau, schwarz und grün gesprenkelt, war das Ding von eigenartiger Schönheit.

Teel wollte sich gerade hinknien, um den mysteriösen Gegenstand auszugraben, als dessen Oberfläche an mehreren Stellen aufbrach. Glänzend schwarze Ranken schossen auf ihn zu. Einige schlangen sich um seinen Kopf und Hals, andere um seine Arme und Beine. Drei Sekunden später war er gefesselt.

Ein gigantisches Samenkorn, dachte er verängstigt. Irgendein völlig neuartiger gottverdammter Keim!

Er kämpfte verzweifelt, konnte sich aber nicht von den schwarzen Ranken befreien oder sie zerreißen. Er konnte nicht einmal von dem Felsen aufstehen oder sich auch nur einen Zentimeter zur Seite bewegen.

Er versuchte zu schreien, stellte aber fest, daß er den Mund nicht mehr öffnen konnte.

Weil Teel immer noch auf das alptraumhafte Ding zwischen seinen Füßen hinabstarrte, sah er, wie sich in der Mitte ein neues, größeres Loch auftat. Eine viel dickere Ranke - eher ein Stengel - wuchs rasch aus der Öffnung hervor und schoß auf sein Gesicht zu, wie eine Kobra, die sich aus dem Korb eines Schlangenbeschwörers emporwindet. Dieser schwarze Stengel mit dunkelblauen unregelmäßigen Tupfen wurde nach oben hin schmäler und endete in neun dünnen gewundenen Ranken. Diese Fühler tasteten nun sanft sein Gesicht ab, und Teel schauderte vor Ekel, so als würde eine große Spinne über seine Haut laufen. Dann entfernte sich der Stengel von seinem Gesicht und bog sich seiner Brust entgegen. Entsetzt spürte er, wie das monströse Ding sich durch seine Kleider, durch seine Haut und durch seine Rippen fraß, wie die neun Ranken sich in seinem Körper ausbreiteten. Nahe daran, verrückt zu werden, verlor er gnädigerweise das Bewußtsein.

4

In dieser Welt hieß es also KEIM. Jedenfalls hatte sein erster Wirt, in dessen Geist es jetzt lesen konnte, es so bezeichnet. In Wirklichkeit war es keine Pflanze - auch kein Tier -, aber es akzeptierte den Namen, den Teel Pleever ihm gegeben hatte.

Keim schlüpfte nun vollständig aus der Hülse hervor, in der er jahrhundertelang geduldig gewartet hatte, und tauchte im Körper seines Wirts unter. Dann schloß er die unblutigen Wunden, durch die er in Pleever eingedrungen war.

Er brauchte ganze zehn Minuten, um mehr über die menschliche Physiologie zu erfahren, als die Menschen selbst wußten. Offenbar hatten sie keine Ahnung davon, daß sie die Fähigkeit besaßen, sich selbst zu heilen und dem Alterungsprozeß entgegenzuwirken. Ihr Leben war sehr kurz, weil sie sich seltsamerweise nicht bewußt waren, daß sie das Potential zur Unsterblichkeit hatten. Irgendwann während der Evolution dieser Spezies mußte etwas schiefgegangen sein: Zwischen Körper und Geist war eine Barriere entstanden, die sie daran hinderte, ihre Physis bewußt zu kontrollieren.

Merkwürdig!

Im Körper von Teel Pleever auf dem Felsen zwischen den Kiefern sitzend, benötigte Keim weitere achtzehn Minuten, um die Funktionsweise des menschlichen Geistes von Grund auf zu verstehen. Dieser Geist war zweifellos einer der interessantesten, denen Keim bisher im Universum begegnet war: komplex und mächtig - entschieden psychotisch.

Das würde eine faszinierende Inkarnation sein.

Keim stand auf, griff nach dem Gewehr, das seinem Wirt gehörte, und ging die bewaldeten Hügel hinab, zu dem Holzweg, wo Teel Pleever seinen Jeep abgestellt hatte. Am Wildern hatte Keim kein Interesse.

5

Jack Caswell saß am Küchentisch und betrachtete seine Frau, die an diesem Montagmorgen gerade aufbrach, um zur Schule zu fahren. Er zweifelte keinen Moment daran, daß er der glücklichste Mann der Welt war. Laura war so schön, so schlank, langbeinig und wohlgeformt, daß Jack manchmal das Gefühl hatte, als träumte er dieses Leben nur, denn im wirklichen Leben hätte er eine Frau wie Laura niemals verdient.

Sie nahm ihren karierten braunen Schal von einem der Haken neben der Hintertür, wickelte ihn um den Hals und kreuzte die gefransten Enden über ihren Brüsten. Durch das leicht beschlagene Türfenster warf sie einen Blick auf das große Thermometer, das auf der Veranda hing. »Nur drei Grad Celsius, und dabei haben wir erst Ende Oktober!«

Ihr dichtes, weiches, glänzendes kastanienbraunes Haar umrahmte ein perfekt proportioniertes Gesicht, das an den früheren Filmstar Veronica Lake erinnerte. Sie hatte riesige dunkelbraune - fast schwarze - Augen, die ausdrucksvollsten und strahlendsten Augen, die Jack je gesehen hatte. Er bezweifelte, daß jemand in diese klaren Augen blicken und dabei lügen könnte - und er konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Mann diese Augen sah, ohne sich sofort in die Frau zu verlieben.

Während sie ihren alten braunen Stoffmantel von einem anderen Haken nahm, ihn anzog und zuknöpfte, sagte sie: »Wetten, daß es dieses Jahr schon vor dem Thanksgiving Day schneien wird? Es wird weiße Weihnachten geben, und im Januar werden wir eingeschneit sein.«

»Ich hätte gar nichts dagegen, mit dir zusammen sechs oder auch acht Monate eingeschneit zu sein«, antwortete er. »Nur wir zwei, Schnee bis zum Dach, so daß wir uns im Bett unter den Decken verkriechen und aneinander wärmen müßten, um zu überleben.«

Grinsend kam sie auf ihn zu, bückte sich und küßte ihn auf die Wange. »Jackson« - das war der Kosename, den sie ihm gegeben hatte -, »bei dem Feuer, das du in mir entfachst, würden wir vermutlich so viel Körperwärme erzeugen, daß der Schnee sogar einen Kilometer hoch auf dem Dach liegen könnte, ohne daß es uns etwas ausmachen würde. Denn auch wenn es draußen noch so kalt wäre - hier im Haus hätten wir Temperaturen von über vierzig Grad und eine so hohe Luftfeuchtigkeit, daß Dschungelpflanzen aus dem Boden schießen und sich an den Wänden emporranken würden, und in allen Ecken würden tropische Schimmelpilze gedeihen.«

Sie ging ins Wohnzimmer, um ihre Mappe zu holen, die auf dem Schreibtisch lag, wo sie ihren Unterricht vorbereitete.

Jack stand auf. Er war an diesem Morgen etwas steifer als gewöhnlich, konnte sich aber immerhin ohne Stock fortbewegen. Während er das schmutzige Frühstücksgeschirr aufeinanderstapelte, dachte er immer noch darüber nach, was für ein Glückspilz er doch war.

Sie hätte jeden Mann haben können, den sie wollte, und doch hatte sie ihn genommen, obwohl er bestenfalls durchschnittlich aussah und zwei kaputte Beine hatte, die ihn nur trugen, wenn er sie jeden Morgen in Metallschienen zwängte. Mit ihrer Schönheit, Intelligenz und Persönlichkeit hätte sie reich heiraten oder aber in die Großstadt ziehen und Karriere machen können. Stattdessen hatte sie sich mit dem bescheidenen Lebensstil einer Lehrerin und Ehefrau eines wenig erfolgreichen Schriftstellers begnügt, nannte anstelle einer Villa nur dieses kleine Haus am Waldrand ihr eigen und fuhr keine schicke Limousine, sondern einen drei Jahre alten Toyota.

Als sie mit ihrer Mappe in der Hand wieder in die Küche kam, stellte Jack das Geschirr in die Spüle. »Vermißt du die Limousinen?«

Sie blinzelte verwirrt. »Wovon redest du?«

Seufzend lehnte er sich an die Spüle. »Manchmal bereitet es mir Sorgen, daß du ...«

Sie trat zu ihm. »Daß ich - was?«

»Na ja, daß du nicht viel vom Leben hast, jedenfalls nicht so viel, wie du eigentlich haben müßtest. Laura, du bist für Limousinen mit Chauffeur geboren, für Villen und Skiurlaub im eigenen Chalet in der Schweiz. Du verdienst das alles.«

Sie lächelte. »Du bist ein süßer Dummkopf! Ich würde mich in einer Limousine mit Chauffeur langweilen. Ich sitze gern am Steuer. Autofahren macht mir Spaß. In einer Villa käme ich mir so verloren vor wie eine Erbse in einem großen Fass. Ich liebe gemütliche Häuser. Nachdem ich nicht Ski laufe, habe ich für ein Chalet keine Verwendung, und obwohl ich Schweizer Uhren und Schokolade mag, würde ihr ständiges Jodeln mir schrecklich auf die Nerven gehen.«

Er legte ihr seine Hände auf die Schultern. »Bist du wirklich glücklich?«

Sie blickte ihm tief in die Augen. »Es ist dir ernst, stimmt’s?«

»Es bedrückt mich, daß ich dir nicht genug bieten kann.«

»Hör zu, Jackson, du liebst mich von ganzem Herzen, das weiß ich. Ich spüre es tagaus, tagein. Den meisten Frauen wird eine solche Liebe nie zuteil. Ich bin mit dir glücklicher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und ich liebe auch meine Arbeit. Wenn man sich wirklich Mühe gibt, den kleinen Teufeln Wissen zu vermitteln, ist Unterrichten sehr befriedigend. Außerdem wirst du eines Tages berühmt sein, der berühmteste Autor von Kriminalromanen seit Raymond Chandler, das weiß ich genau. Und wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, dich so töricht aufzuführen, werde ich noch zu spät kommen.«

Sie küßte ihn wieder, ging zur Tür, warf ihm noch eine Kußhand zu, lief die Verandastufen hinab und stieg in den Toyota, der auf der Kiesauffahrt stand.

Jack griff nach seinem Stock, der über einer Stuhllehne hing, um schneller zur Tür zu kommen, als es ihm nur mit den Metall schienen möglich gewesen wäre. Er wischte die beschlagene Scheibe ab und beobachtete, wie Laura den Motor anließ, der sich erst erwärmen mußte, bevor er zu stottern aufhörte. Dampfwolken kamen aus dem Auspuffrohr hervor. Sie fuhr auf die Landstraße hinaus, und Jack blieb am Fenster stehen, bis der weiße Toyota nur noch ein kleiner Punkt war.

Obwohl die Volksschule nur knapp fünf Kilometer entfernt war, und obwohl Laura der stärkste und selbstsicherste Mensch war, den Jack je gekannt hatte, machte er sich Sorgen um sie.

Die Welt war hart und hielt eine Unmenge schrecklicher Überraschungen bereit, sogar im friedlichen ländlichen Pine County. Und sogar die zähesten Menschen konnten plötzlich von den Rädern des Schicksals erfaßt und im Bruchteil einer Sekunde zermalmt werden.

»Paß gut auf dich auf«, sagte er leise vor sich hin. »Paß gut auf dich auf und komm zurück zu mir!«

6

Keim fuhr mit Teel Pleevers altem Jeep den früheren Holzweg entlang und bog nach rechts auf eine schmale geteerte Straße ein. Nach anderthalb Kilometern gingen die Hügel in Flachland über, und anstelle von Wald säumten jetzt Felder die Straße.

Beim ersten Haus hielt Keim an und stieg aus dem Jeep. Da ihm der Wissensschatz seines Wirts unbegrenzt zur Verfügung stand, wußte er, daß hier eine Familie Halliwell wohnte. Keim klopfte laut an die Haustür.

Mrs. Halliwell, eine Frau Anfang dreißig mit freundlichem Gesicht, öffnete und wischte sich die Hände an ihrer blauweißkarierten Schürze ab. »Nanu, Mr. Pleever!«

Keim ließ Ranken aus den Fingerspitzen seines Wirts hervorwachsen. Die schwarzen Gebilde peitschten blitzschnell um die Frau herum, umschlangen und fesselten sie. Während Mrs. Halliwell entsetzt aufschrie, schoß ein dicker Stengel aus Pleevers offenem Mund, durchbohrte ihre Brust, ohne daß es blutete, und verschmolz sofort mit ihrem Fleisch.

Sie konnte nicht einmal ihren ersten Schrei vollenden. In Sekunden ergriff Keim von ihr Besitz. Die Ranken und Stengel, die beide Wirte verbanden, teilten sich in der Mitte, und die glänzende, blaugesprenkelte schwarze Substanz strömte zur Hälfte in Teel Pleever zurück, zur Hälfte in Jane Halliwell.

Keim wuchs.

Er zapfte Jane Halliwells Geist an und erfuhr, daß ihre beiden Kinder in der Schule waren, und daß ihr Mann nach Pineridge gefahren war, um im Eisenwarengeschäft verschiedene Einkäufe zu machen. Sie war allein im Haus gewesen.

Begierig darauf, neue Wirte zu finden und sein Imperium auszubauen, führte Keim Jane Halliwell und Teel Pleever zum Jeep und fuhr mit ihnen auf der Landstraße in Richtung Pineridge.

7

Mrs. Caswell begann den Vormittag immer mit einer Geschichtsstunde. Bevor er in ihrer sechsten Klasse gelandet war, hatte Jamie Watley gedacht, daß Geschichte ein langweiliges Fach sei. Doch bei Mrs. Caswell war der Geschichtsunterricht nicht nur interessant, sondern er machte auch viel Spaß.

Manchmal ließ sie ihre Schüler wichtige historische Ereignisse nachspielen, und jeder bekam eine ulkige Kopfbedeckung, die zu der jeweiligen Rolle paßte. Mrs. Caswell besaß eine unglaubliche Sammlung verschiedener Hüte, Mützen und sonstiger Kopfbedeckungen. Um ihrer Klasse die Wikinger nahezubringen, hatte sie eines Morgens einen seltsamen Helm mit Hörnern getragen, und alle hatten schallend gelacht, als sie in diesem Aufzug das Zimmer betreten hatte. Jamie fühlte sich zunächst peinlich berührt; schließlich war sie seine Mrs. Caswell, die Frau, die er liebte, und er konnte es nicht ertragen, daß sie sich lächerlich machte. Doch dann zeigte sie ihnen Bilder von Wikingerschiffen: mit kunstvoll geschnitzten Drachenköpfen am Bug. Sie erzählte ihnen vom heldenhaften Leben der Wikinger, die sich zu einer Zeit, als es noch keine Landkarten gab, aufs unbekannte stürmische Meer hinauswagten, obwohl sie damit rechnen mußten, lebendigen Drachen zu begegnen oder sogar vom Rand der Erde ins Nichts zu stürzen - damals wußten die Menschen noch nicht, daß die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist. Und während Mrs. Caswell erzählte, wurde ihre Stimme immer leiser, bis alle Schüler wie gebannt an ihren Lippen hingen und sich auf ein kleines Schiff versetzt glaubten, das in Wind und Regen von hohen Wellen hin und her geschleudert wurde, während in der Ferne aus dem Nebel ein geheimnisvolles dunkles Gestade auftauchte. Jetzt besaß Jamie zehn Zeichnungen von Mrs. Caswell als Wikingerin, und sie gehörten zu den Lieblingsbildern seiner geheimen Galerie.

Vergangene Woche hatte ein Mann vom Kultusministerium, ein gewisser Mr. Enright, Mrs. Caswells Klasse visitiert. Er war klein und sehr korrekt gekleidet: dunkler Anzug, weißes Hemd und rote Krawatte. Nach der Geschichtsstunde, in der es um das Leben im Mittelalter ging, wollte Mr. Enright den Schülern Fragen stellen, um zu sehen, ob sie den Stoff auch verstanden hatten. Jamie und alle anderen antworteten begierig, und Enright war beeindruckt. »Aber eigentlich ist das nicht der Lehrplan der sechsten Klasse, Mrs. Caswell«, sagte er. »Mir kommt es fast so vor, als würden Sie schon den Stoff der achten Klasse durchnehmen.«

Normalerweise hätten die Schüler das als großes Kompliment aufgefaßt, sich stolz in die Brust geworfen und zufrieden gegrinst. Aber sie hatten für eine solche Situation bestimmte Instruktionen erhalten, und deshalb sackten alle auf ihren Stühlen zusammen und bemühten sich, erschöpft auszusehen.

»Was Mr. Enright damit sagen will«, erläuterte Mrs. Caswell ihrer Klasse, »ist, daß er befürchtet, ich könnte euch überfordern. Aber ihr findet doch nicht, daß ich zuviel von euch verlange, oder?«

Die ganze Klasse rief wie aus einem Munde: »Doch!«

Mrs. Caswell tat so, als wäre sie sehr bestürzt. »Aber nein, ich überfordere euch doch nicht ...«

Melissa Fedder, die über die beneidenswerte Fähigkeit verfügte, nach Wunsch weinen zu können, brach in Tränen aus, so als wäre die Anstrengung, Mrs. Caswells Schülerin zu sein, einfach zuviel für sie.

Jamie stand auf, tat so, als würde er vor Angst am ganzen Leibe zittern, und stammelte seinen einstudierten Text: »Mr. En-Enright, wir k-k-können es einfach n-nicht mehr ertragen. Sie sch-sch-schikaniert uns so! Immer! W-Wir nennen sie Miß Attila die Hunnin!«

Nun trugen auch andere Kinder Mr. Enright ihre Klagen vor:

». gönnt uns nie eine Ruhepause .«

». jeden Tag vier Stunden Hausaufgaben .«

». viel zuviel .«

». erst Sechstkläßler .«

Mr. Enright war entsetzt.

Mrs. Caswell machte mit finsterer Miene einige Schritte auf ihre Schüler zu und gebot ihnen mit einer Handbewegung Schweigen.

Alle verstummten sofort, so als hätten sie Angst vor ihr. Melissa Fedder schluchzte immer noch, und Jamie gab sich größte Mühe, seine Unterlippe zittern zu lassen.

»Mrs. Caswell«, murmelte Mr. Enright verstört, »äh . vielleicht sollten Sie sich in Zukunft doch etwas mehr an den Lehrplan für die sechste Klasse halten. Dieser Streß .«

»Oh!« fiel Mrs. Caswell ihm erschrocken ins Wort. »Ich befürchte, daß es schon zu spät ist, Mr. Enright. Schauen Sie sich die armen Kleinen an! Offenbar habe ich sie umgebracht!«

Bei diesem Stichwort ließen alle Kinder sich auf die Tische fallen, so als wären sie plötzlich tot zusammengebrochen.

Mr. Enright stand einen Augenblick wie gelähmt da, doch dann brach er in lautes Gelächter aus, und alle Kinder lachten mit, und er sagte: »Mrs. Caswell, Sie haben mich hereingelegt! Das war einstudiert.«

»Ich gestehe«, antwortete Mrs. Caswell, und die Kinder lachten noch lauter.

»Aber woher wußten Sie denn, daß ich befürchten könnte, Sie würden Ihre Schüler überfordern?«

»Weil Kinder immer unterschätzt werden«, sagte Mrs. Caswell. »Der offizielle Lehrplan fordert sie nie heraus. Alle sind so besorgt, daß der psychologische Streß zu groß sein könnte, und alle reden über die Probleme überforderter Kinder, und das Resultat ist, daß die Kinder in Wirklichkeit unterfordert sind. Aber ich kenne mich mit Kindern aus, Mr. Enright, und ich kann Ihnen versichern, daß sie viel intelligenter und zäher sind, als die meisten Leute glauben. Stimmt’s?«

Die ganze Klasse versicherte lautstark, daß sie recht hatte.

Mr. Enright ließ seinen Blick über die Gesichter der Schüler gleiten, und zum erstenmal an diesem Morgen schaute er sie wirklich aufmerksam an. Dann lächelte er. »Mrs. Caswell, Sie leisten wirklich großartige Arbeit.«

»Danke.«

Mr. Enright schüttelte den Kopf, lächelte noch breiter und murmelte augenzwinkernd: »Fürwahr Miß Attila die Hunnin!«

In diesem Augenblick war Jamie so stolz auf Mrs. Caswell, und er liebte sie so sehr, daß er nur mühsam seine Tränen zurückhalten konnte, die viel echter gewesen wären als die von Melissa Fedder.

Und nun, an diesem letzten Montagmorgen im Oktober, lauschte Jamie hingerissen, während Miß Attila der Klasse erzählte, wie primitiv die Medizin im Mittelalter gewesen war, daß es aber auch eine verrückt-faszinierende Wissenschaft namens Alchimie gegeben hatte, wobei die Menschen versuchten, Blei in Gold zu verwandeln. Nach einer Weile glaubte er fast, daß ihm nicht mehr der Geruch nach Kreide in die Nase stieg, sondern der übelkeitserregende Gestank der mit Abfällen übersäten Straßen im mittelalterlichen Europa.

8

In seinem winzigen Arbeitszimmer auf der Vorderseite des Hauses saß Jack Caswell an dem alten Schreibtisch aus Fichtenholz, trank von Zeit zu Zeit einen Schluck Kaffee und las noch einmal das Kapitel durch, das er am Vortag geschrieben hatte. Er machte viele Bleistiftkorrekturen und schaltete dann seinen Computer ein, um diese Änderungen zu speichern.

Nach seinem schweren Unfall vor drei Jahren, der ihn daran hinderte, seinen Beruf als Wildhüter des Forstministeriums weiter auszuüben, hatte er versucht, seinen alten Traum zu verwirklichen und Schriftsteller zu werden. (In seinen Träumen sah er manchmal immer noch, wie der große Lastwagen auf der vereisten Straße ins Schleudern kam, wie er selbst auf die Bremse trat und dadurch ebenfalls die Kontrolle über sein Auto verlor, wie er im grellen Scheinwerferlicht des LKWs das Steuer herumriß, die Katastrophe aber nicht mehr abwenden konnte. Es war schon zu spät. Sogar in seinen Alpträumen war es immer zu spät.)

In den letzten drei Jahren hatte er vier Kriminalromane mit viel Action geschrieben, und zwei davon waren sogar von New Yorker Verlagen veröffentlicht worden; außerdem waren acht seiner Kurzgeschichten in Zeitschriften erschienen.

Bevor er Laura kennenlernte, hatte seine Liebe der Natur und Büchern gehört. Vor dem Unfall war er oft im Gebirge gewandert, in einsamen ruhigen Gegenden, und immer war sein Rucksack zur Hälfte mit Lebensmitteln, zur Hälfte mit Taschenbüchern vollgepackt gewesen. Abgesehen von seinen Vorräten, hatte er sich von Beeren, Nüssen und eßbaren Wurzeln ernährt, und er war tagelang in der Wildnis geblieben, um die Tiere zu beobachten und ungestört zu lesen. Er war ein Naturmensch, aber er hatte auch ausgeprägte kulturelle Interessen, und während es schwierig war, in einer Stadt naturverbunden zu leben, konnte man die Kultur in Form von Büchern relativ mühelos an jeden Ort mitnehmen, und wenn Jack sich irgendwo in den dichten Wäldern aufhielt, konnte er beiden Seiten seiner gespaltenen Seele gerecht werden.

Nun, da seine Beine ihn nie mehr ins Gebirge tragen würden, mußte er sich mit den Freuden der Kultur begnügen -und, verdammt, er mußte es bald schaffen, mit seiner Schreiberei mehr zu verdienen als bisher. Mit dem Verkauf von acht Geschichten und zwei Romanen, die recht gute Kritiken erhalten hatten, hatte er in den vergangenen drei Jahren nicht einmal ein Drittel von Lauras bescheidenem Lehrerinnengehalt verdient. Von den Bestsellerlisten war er noch weit entfernt, und das Leben am unteren Ende der Erfolgsleiter war alles andere als glanzvoll. Ohne die kleine Invalidenpension vom Forstministerium hätten Laura und er große Mühe gehabt, auch nur ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Beim Gedanken an den abgetragenen braunen Stoffmantel, in dem Laura heute morgen zur Schule gefahren war, wurde er traurig, doch zugleich bestärkte ihn das nur in seinem Entschloß, den Durchbruch als Autor zu schaffen und ein Vermögen zu verdienen, damit er Laura all den Luxus bieten konnte, der ihr zustand.

Seltsamerweise hätte er Laura nie kennengelernt, wenn der Unfall nicht gewesen wäre. Sie hatte im Krankenhaus einen ihrer Schüler besucht, und als sie gehen wollte, sah sie Jack, der in einem Rollstuhl saß und mit finsterer Miene durch die Korridore fuhr. Laura brachte es einfach nicht fertig, an einem sichtlich deprimierten Mann im Rollstuhl vorbeizugehen, ohne den Versuch zu machen, ihn ein wenig aufzuheitern. Von Selbstmitleid und Zorn erfüllt, erteilte er ihr eine scharfe Abfuhr, mit dem Resultat, daß sie es sich nun erst recht in den Kopf setzte, ihm zu helfen. Er wußte damals noch nicht, wie hartnäckig sie sein konnte, aber er bekam es bald zu spüren. Als sie zwei Tage später wieder ihren Schüler besuchte, schaute sie auch bei Jack vorbei, und, bald kam sie jeden Tag, nur um ihn zu besuchen. Er selbst hatte schon resigniert und sah sich ein Leben lang im Rollstuhl sitzen, aber Laura gab keine Ruhe, bis er zustimmte, länger und intensiver als bisher mit einem Therapeuten zu arbeiten und wenigstens zu versuchen, mit Metallschienen und Stock gehen zu lernen. Als nach einiger Zeit nur geringe Erfolge festzustellen waren, rollte sie ihn trotz seiner Proteste jeden Tag in den Behandlungsraum und ließ ihn alle Übungen ein zweites Mal machen. Es dauerte nicht lange, bis Jack von ihrem unerschütterlichen Optimismus und von ihrer phänomenalen Ausdauer angesteckt wurde. Er faßte den Entschluß, wieder gehen zu lernen, und er schaffte es. Und irgendwie führte das alles schließlich zu Liebe und Heirat. Das Schlimmste, was ihm jemals zugestoßen war - der Unfall, bei dem seine Beine zertrümmert worden waren -, hatte ihn mit Laura zusammengebracht, und sie war mit Abstand das Beste, was ihm jemals widerfahren war.

Bizarr! Das Leben war wirklich bizarr!

In dem neuen Roman, an dem er arbeitete, ging es um diese Bizarrerie: wie schlimme Ereignisse sich letztlich segensreich auswirken konnten, während Glücksfälle in Tragödien endeten. Diese Beobachtung sollte sich wie ein roter Faden durch seinen Kriminalroman ziehen, und wenn es ihm gelang, tiefgründige Überlegungen mit einer spannenden Handlung zu kombinieren, könnte er mit diesem Buch vielleicht nicht nur viel Geld verdienen, sondern auch stolz darauf sein, es geschrieben zu haben.

Er schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein und wollte gerade ein neues Kapitel beginnen, als er zufällig einen Blick aus dem Fenster links von seinem Schreibtisch warf und einen schmutzigen, verbeulten Jeep sah, der von der Straße in seine Auffahrt abbog.

Während er überlegte, wer das sein könnte, stemmte er sich schon aus dem Stuhl hoch und griff nach seinem Stock. Er brauchte eine ganze Weile, um zur Haustür zu kommen, und er haßte es, Leute warten zu lassen.

Der Jeep hielt vor dem Haus. Beide Türen flogen auf, und ein Mann und eine Frau stiegen aus.

Jack kannte Teel Pleever flüchtig. Im ganzen Fine County war der Immobilienmakler bekannt, aber Jack glaubte, daß kaum jemand den Mann wirklich kannte.

Auch die Frau hatte er irgendwo schon einmal gesehen. Sie war um die dreißig und recht attraktiv. Vielleicht hatte sie ein Kind in Lauras Klasse, und er war ihr bei irgendeinem Schulfest begegnet. In Hauskleid und Schürze war sie für diesen kalten Oktobermorgen viel zu leicht angezogen.

Jack hatte noch nicht einmal die Schwelle seines Arbeitszimmers erreicht, als seine unerwarteten Besucher bereits an der Haustür klopften.

9

Keim war von der Straße abgebogen, sobald er das nächste Haus erblickt hatte. Nach Jahrhunderten eines mit Träumen verbrachten Halblebens war er begierig, sich in weiteren Wirten auszubreiten. Von Pleever wußte er, daß fünftausend Menschen in der Kleinstadt Pineridge lebten, wo Keim gegen Mittag anzukommen hoffte. Innerhalb von zwei, höchstens drei

- Tagen würden sämtliche Einwohner unter seiner Kontrolle sein, und dann würde er den übrigen Bezirk erobern, bis Körper und Geist aller zwanzigtausend Personen im ländlichen Pine County versklavt sein würden.

Auf viele Wirte verteilt, blieb Keim dennoch stets ein Wesen mit einem Bewußtsein. Er konnte in Millionen oder Milliarden Augen, Milliarden Ohren, Milliarden Nasen, Mündern und Händen empfangen und verarbeiten, ohne Überlastung oder Verwirrung befürchten zu müssen. In all den unzähligen Millionen von Jahren, seit Keim schon durch die Galaxien reiste, hatte er auf keinem der über hundert Planeten, die er erobert hatte, irgendein Wesen gefunden, das seine eigene einmalige Fähigkeit zu physischer Sinnesspaltung besessen hätte.

Jetzt ließ Keim seine beiden Gefangenen aussteigen und führte sie über den Rasen zur Veranda des kleinen weiten Hauses.

Von Pine County aus würde er seine Wirte in alle Himmelsrichtungen schicken, in alle Länder und Kontinente, bis jeder Mensch auf der ganzen Erde unterjocht war. Während dieser Zeit würde er weder den Geist noch die individuelle Persönlichkeit seiner Wirte zerstören, sondern sich ihrer Körper und ihres Wissens bedienen, um die Welt leichter erobern zu können. Teel Pleever, Jane Halliwell und all die anderen würden in den Monaten ihrer totalen Versklavung bei vollem Bewußtsein sein: Sie würden sich in unerträglicher Weise bewußt sein, welche Greueltaten sie begingen, und sie würden sich ständig bewußt sein, daß Keim in ihnen nistete.

Er führte seine beiden Wirte die Verandastufen hinauf und veranlaßte Pleever, an die Haustür zu klopfen.

Wenn kein Mann, keine Frau und kein Kind auf der ganzen Erde mehr frei war, würde Keim zum nächsten Stadium übergehen, zum Tag der Freilassung, an dem er seinen Wirten plötzlich erlauben würde, wieder selbst die Kontrolle über ihre Körper auszuüben, obwohl in jedem von ihnen ein Partikel des Puppenspielers verbleiben würde, der auch weiterhin durch ihre Augen blicken und ihre Gedanken überwachen würde. Natürlich würde mindestens die Hälfte aller Wirte schon vor dem Tag der Freilassung wahnsinnig geworden sein. Andere, die noch bei Verstand waren, weil sie sich an die Hoffnung geklammert hatten, daß die Qual irgendwann ein Ende haben mußte, würden an der Erkenntnis zerbrechen, daß sie zwar die Kontrolle über ihre Körper zurückerlangt hatten, die kalte parasitäre Gegenwart des Eindringlings aber auch künftig erdulden mußten; auch sie würden langsam wahnsinnig werden. So lief es immer ab. Eine kleinere Gruppe würde unweigerlich Trost in der Religion suchen und einem zerstörerischen Kult mit Keim als Gottheit huldigen. Und die allerkleinste Gruppe - die zähesten Menschen - würde bei Verstand bleiben und sich entweder mit Keims Präsenz abfinden oder aber nach Wegen suchen, ihn zu vertreiben - ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.

Keim klopfte wieder an die Tür. Vielleicht war niemand zu Hause.

»Ich komme schon«, rief ein Mann von drinnen.

Ah, gut!

Nach dem Tag der Freilassung würde das Schicksal dieser erbärmlichen Welt dann nach dem üblichen Schema ablaufen: Massenselbstmorde, Millionen von Morden, verübt von Psychopathen, ein totaler blutiger Kollaps der Gesellschaft und das unaufhaltsame Abgleiten in Anarchie und Barbarei.

Chaos.

Chaos zu erzeugen, Chaos zu verbreiten, Chaos zu nähren, Chaos zu beobachten und zu genießen - das war Keims einziges Ziel. Er war während des Urknalls am Anfang der Zeit geboren worden. Davor, in der Zeit, bevor es eine Zeit gab, war er ein Teil des herrlichen Chaos in der superkondensierten Urmaterie gewesen. Als jener große undifferenzierte Ball explodierte, entstand das Universum; in den leeren Raum kam eine unglaubliche Ordnung, aber Keim war kein Teil dieser Ordnung. Er war ein Rest des Chaos vor der Schöpfung. Von einer unzerstörbaren Schale geschützt, flog er in die aufblühenden Galaxien, im Dienste der Unordnung.

Ein Mann öffnete die Tür. Er stützte sich schwer auf einen Stock. »Mr. Pleever, nicht wahr?« sagte er.

Keim ließ schwarze Ranken aus Jane Halliwell hervorwachsen.

Der Mann mit dem Stock schrie auf, als diese Gewächse ihn umschlangen.

Ein blaugesprenkelter schwarzer Stengel schob aus Jane Halliwells Mund hervor, durchbohrte die Brust des behinderten Mannes, und Sekunden später hatte Keim seinen dritten Wirt: Jack Caswell.

Die Beine des Mannes waren bei einem Unfall so schwer verletzt worden, daß er Metall schienen tragen mußte. Weil Keim nicht von einem verkrüppelten Wirt aufgehalten werden wollte, heilte er Caswells Körper und schüttelte die Schienen ab.

Aus Caswells Wissen schöpfend, erfuhr Keim, daß sonst niemand im Haus war. Er erfuhr auch, daß Caswells Frau an einer Schule unterrichtete, und daß diese Schule mit mindestens 160 Kindern und ihren Lehrern nur knapp fünf Kilometer entfernt war. Keim entschied, daß es effektiver war, nicht an jedem Haus auf der Strafe nach Pineridge haltzumachen, sondern direkt zur Schule zu fahren, dort jeden zu versklaven und dann mit all den vielen Wirten in verschiedene Richtungen auszuschwärmen.

Jack Caswell war zwar Keims Gefangener, aber weil sie sich nun das Gehirngewebe und die Nervenbahnen teilten, konnte er seinerseits die Gedanken seines außerirdischen Gebieters lesen. Und als er erfuhr, daß die Schule angegriffen werden sollte, lehnte sein gefesselter Geist sich auf und versuchte verzweifelt, die Ketten abzuschütteln.

Keim war erstaunt über die Kraft und Hartnäckigkeit, mit der dieser Mann Widerstand leistete. Ihm war schon bei Teel Pleever und Jane Halliwell aufgefallen, daß Menschen - wie die Spezies sich selbst nannte - einen viel stärkeren Willen besaßen als alle anderen Wesen, mit denen er je Kontakt gehabt hatte. Und jetzt zeigte sich, daß Caswell einen noch viel stärkeren Willen als die beiden anderen Wirte besaß. Dies war offensichtlich eine Spezies, die einen erbarmungslosen Kampf gegen das Chaos führte, die versuchte, dem Leben einen Sinn zu geben, die fest entschlossen war, durch reine Willenskraft der natürlichen Welt Ordnung aufzuzwingen. Um so mehr Vergnügen würde es Keim bereiten, die Menschheit in Chaos, Degeneration und Vernichtung zu stürzen.

Keim drängte den Geist des Mannes in eine noch kleinere und finsterere Ecke als anfangs und zog die Ketten noch fester an. Dann fuhr er in Gestalt seiner drei Wirte zur Schule.

10

Es war Jamie Watley peinlich, Mrs. Caswell um Erlaubnis zu bitten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Er wollte, daß sie ihn für einen besonderen Jungen hielt, daß er sich in ihren Augen von den anderen Kindern abhob, daß sie ihn genauso liebte, wie er sie liebte - aber wie sollte sie ihn für etwas Besonderes halten, wenn sie wußte, daß er pinkeln mußte wie jeder andere Junge auch? Er wußte, daß er sich töricht benahm. Man brauchte sich nicht zu schämen, wenn man auf die Toilette mußte. Jeder Mensch pinkelte. Sogar Mrs. Caswell ...

Nein! Daran wollte er nicht einmal denken. Unmöglich. Doch während der ganzen Geschichtsstunde mußte er daran denken, daß er dringend pinkeln mußte, und als sie mit Geschichte fertig waren und mitten in der Mathematik steckten, konnte er einfach nicht länger warten.

»Ja, Jamie?«

»Darf ich austreten, Mrs. Caswell?«

»Natürlich.«

Die Zettel, auf denen stand, dar ein Schüler die Toilette aufsuchen durfte, lagen am Rand ihres Pults, und deshalb mußte er dicht an ihr vorbeigehen. Er senkte den Kopf und hielt seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, damit sie nicht sah, daß sein Gesicht vor Verlegenheit glühte. Ohne hinzusehen, schnappte er sich einen Zettel vom Pult und hastete auf den Korridor hinaus.

Im Gegensatz zu anderen Jungen trödelte er nicht herum. Er wollte möglichst schnell ins Klassenzimmer zurück, um Mrs. Caswells melodischer Stimme lauschen und ihre anmutigen Bewegungen beobachten zu können.

Als er aus der Toilette kam, sah er am Ende des Korridors drei Personen, die die Schule soeben durch die Tür, die zum Parkplatz führte, betreten hatten: einen Mann in Jagdkleidung, einen zweiten in Khakihose und braunem Sweatshirt und eine Frau, die über ihrem Hauskleid eine Schürze trug. Sie bildeten ein seltsames Trio.

Jamie wollte sie vorbeilassen, denn sie schienen es schrecklich eilig zu haben und würden ihn möglicherweise einfach über den Haufen rennen, wenn er ihnen in den Weg kam. Außerdem vermutete er, daß sie fragen würden, wo sie den Direktor, die Schulschwester oder sonst eine wichtige Person finden könnten, und Jamie genoß es, Auskunft geben zu können. Als die drei näher kamen, wandten sie sich tatsächlich ihm zu.

Er wurde gefangengenommen.

11

Keim hatte sich jetzt schon in vier Menschen festgesetzt.

Bis zur Nacht würden es Tausende sein.

In seinen vier Teilen ging er den Korridor entlang, in Richtung auf Jamies Klassenzimmer.

In ein, zwei Jahren, wenn die gesamte Weltbevölkerung ein Teil von Keim geworden war, wenn nach dem Tag der Freilassung das große Chaos und Blutvergießen einsetzte, würde er sich als Ganzes nur noch einige Wochen auf diesem Planeten aufhalten, um den Beginn des menschlichen Abstiegs genußvoll zu beobachten. Dann würde er eine neue Hülse bilden, dieses Gefäß mit dem größten Teil seiner selbst füllen, die Erdanziehungskraft überwinden und sich ins Weltall zurückbegeben, um Zehntausende oder sogar Millionen von Jahren nach einer neuen vielversprechenden Welt zu suchen, wo er dann wieder geduldig auf den Kontakt mit einem Mitglied der dominierenden Spezies warten würde.

Während seiner langen Reise durch den Kosmos würde Keim jedoch ständig in Kontakt mit seinen Milliarden Teilchen bleiben, die auf der Erde zurückgeblieben waren, allerdings nur so lange, wie es Wirte gab, in denen diese Fragmente seiner selbst leben konnten. In gewisser Weise würde er diesen Planeten also nie wirklich verlassen, bis Jahrhunderte später auch der letzte Mensch in einer Apokalypse voll chaotischer Gewalt vernichtet sein würde. Zusammen mit diesem letzten Wirt würde dann auch das letzte erdgebundene Partikel von Keim sterben.

Er erreichte die Tür von Laura Caswells Klassenzimmer.

Jack Caswell und Jamie Watley gerieten vor Angst und Zorn außer sich, und Keim mußte einen Augenblick stehenbleiben, um sie zu beruhigen und ihren Geist wieder voll unter Kontrolle zu bekommen, denn sie versuchten verzweifelt, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Ihre Körper zuckten, und sie gaben gurgelnde Laute von sich, als sie eine Warnung schreien wollten. Keim war schockiert über diese Rebellion. Obwohl sie natürlich nicht die geringsten Erfolgschancen hatten, leisteten sie doch so erbitterten Widerstand, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.

Keim erforschte ihre Gedanken und lernte, daß ihr eindrucksvoller Eigensinn, der beachtliche Willenskraft verriet, nicht durch Angst um sich selbst ausgelöst worden war, sondern durch ihre Angst um Laura Caswell, die Lehrerin des einen und Ehefrau des anderen. Gewiß, sie ärgerten sich auch über ihre eigene Versklavung, aber viel wütender waren sie über die Möglichkeit, daß Laura ebenfalls in Besitz genommen werden könnte. Beide liebten diese Frau, und die Reinheit ihrer Liebe gab ihnen die Kraft, sich gegen den Schrecken aufzulehnen, dem sie ausgesetzt waren.

Interessant.

Keim war bei etwa der Hälfte der verschiedenen Spezies, die er auf anderen Welten vernichtet hatte, auf das Konzept der Liebe gestoßen, aber noch nirgendwo hatte er die Macht der Liebe so stark wahrgenommen wie in diesen beiden Menschen. Keim erkannte zum erstenmal, das der Wille eines intelligenten Wesens nicht die einzige Triebkraft bei der Durchsetzung einer universellen Ordnung war: Auch die Liebe erfüllte diese Funktion. Und in einer Spezies, die sowohl einen starken Willen als auch eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Liebe besaß, hatte Keim den mächtigsten Feind des Chaos gefunden.

Mächtig, aber natürlich nicht mächtig genug. Keim war nicht aufzuhalten. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würde schon ganz Pineridge unter seiner Kontrolle sein.

Er öffnete die Tür des Klassenzimmers. Zu viert gingen sie hinein.

12

Laura Caswell war überrascht, als ihr Mann zusammen mit Richie Halliwells Mutter, dem alten Gauner Teel Pleever und Jamie das Zimmer betrat. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die drei Erwachsenen hier zu suchen hatten. Dann fiel ihr auf, daß Jack ging, richtig ging, daß er sich nicht auf steifen Beinen in Metallschienen Schritt für Schritt vorwärtsschleppte, sondern sich so mühelos bewegte wie andere Menschen.

Bevor sie das Wunder von Jacks plötzlicher Genesung verdaut hatte, bevor sie ihn fragen konnte, was geschehen war, begann der Alptraum. Jamie Watley streckte seine Hände in Richtung seines Klassenkameraden Tommy Albertson aus. Abscheuliche schwarze wurmartige Ranken schossen aus seinen Fingerspitzen hervor und fesselten Tommy, und noch während der Junge aufschrie, trat ein ekelerregendes schlangenartiges Gebilde aus Jamies Brustkorb hervor und durchbohrte Tommys Brust, so daß die beiden Jungen für einige Sekunden wie durch eine obszöne Nabelschnur verbunden waren.

Die Kinder schrien, sprangen von ihren Bänken auf und versuchten zu fliehen, aber sie wurden mit phänomenaler Geschwindigkeit angegriffen und zum Schweigen gebracht. Glänzende Würmer und dickere Schlangen schossen nun auch aus Mrs. Halliwell, Pleever und Jack hervor. Von Lauras neunzehn Schülern wurden drei weitere gepackt. Gleich darauf beteiligten sich Tommy Albertson und die anderen infizierten Kinder an dem Angriff; Würmer und Schlangen brachen aus ihnen hervor und suchten neue Opfer.

Miß Garner, die Lehrerin im Nebenzimmer, kam angelaufen, als sie das Geschrei hörte. Sie wurde versklavt, bevor sie auch nur schreien konnte.

In einer einzigen Minute waren fast alle Kinder - bis auf vier - von dem alptraumhaften Organismus erobert worden. Die letzten vier - darunter Jane Halliwells Sohn Richie -scharten sich zu Tode geängstigt um Laura; zwei waren schreckensstarr, zwei weinten. Laura schob die Kinder hinter sich in eine Ecke neben der Tafel und stellte sich zwischen sie und das Monster, das es auf sie abgesehen hatte.

Fünfzehn besessene Kinder, Pleever, Mrs. Halliwell, Miß Garner und Jack versammelten sich um Laura herum und starrten sie aus einiger Entfernung mit raubtierartiger Intensität an. Einen Moment lang waren alle ganz still. In ihren Augen spiegelten sich nicht nur ihre gemarterten Seelen wider, sondern auch der unmenschliche Hunger des Wesens das sich in ihnen eingenistet und sie unterjocht hatte.

Der Gedanke, daß dieses glitzernde schwarze Etwas sich jetzt in ihrem Jack breitmachte, brach Laura fast das Herz, aber sie war weder verwirrt noch ungläubig, denn sie hatte viele jener Filme gesehen, die seit Jahrzehnten die Welt auf einen derartigen Alptraum vorbereitet hatten. Invasion vom Mars, Die Dämonischen, Kampf der Welten. Sie hatte sofort begriffen, daß etwas von jenseits der Sterne endlich die Erde gefunden hatte.

Die Frage war: konnte diesem Wesen Einhalt geboten werden - und wie?

Sie bemerkte erst jetzt, daß sie ihren Zeigestock wie ein mächtiges Zauberschwert umklammerte, so als könnte sie neunzehn besessene Personen mit dieser nutzlosen Waffe in Schach halten. Töricht! Trotzdem warf sie den Stock nicht beiseite, sondern hielt ihn herausfordernd dem Gegner entgegen.

Bestürzt stellte sie fest, daß ihre Hand zitterte. Sie hoffte inbrünstig, daß ihre Angst den vier hinter ihr kauernden Kindern nicht auffiel.

Drei Personen lösten sich aus der Gruppe der Besessenen und kamen langsam näher: Jane Halliwell, Jamie und Jack.

»Stehenbleiben!« warnte sie.

Sie machten noch einen Schritt vorwärts.

Ein Schweißtropfen lief über Lauras rechte Schläfe.

Mrs. Halliwell, Jamie und Jack kamen einen weiteren Schritt näher.

Plötzlich schienen sie jedoch nicht mehr so versklavt wie die anderen Opfer zu sein, denn sie begannen krampfhaft zu zucken. Jack brachte mit gepeinigter Stimme ein leises »Nein!« hervor, Jane Halliwell murmelte »Bitte, bitte« und schüttelte heftig den Kopf, so als widersetze sie sich den Befehlen, die sie erhalten hatte. Jamie zitterte wie Espenlaub und drückte seine Hände an den Kopf, so als versuchte er, das Ding oder Wesen aus sich herauszupressen.

Warum sollten ausgerechnet diese drei gezwungen werden, die Unterjochung in diesem Zimmer zu vollenden? Warum nicht andere?

Lauras Gehirn arbeitete fieberhaft, suchte nach einem Vorteil, war sich aber nicht sicher, ob sie diesen erkennen würde, selbst wenn sie ihn fand. Vielleicht wollte das Wesen in Jane Halliwell, daß sie ihren eigenen Sohn Richie infizierte, der sich hinter Lauras Rock versteckte, um seine Macht über die Frau zu testen. Und aus demselben Grund könnte es Jack der grauenhaften Erfahrung aussetzen wollen, die eigene Frau dieser Kolonie der Verdammten einzuverleiben. Was den armen Jamie betraf ... nun, Laura wußte, daß der Junge wahnsinnig in sie verliebt war, und deshalb sollte vielleicht auch bei ihm getestet werden, ob er die geliebte Person angreifen würde.

Doch wenn diese drei Personen auf die Probe gestellt werden mußten, war ihr Herr und Gebieter sich seiner Dominanz offenbar noch nicht ganz sicher. Und wenn er Zweifel hatte, bestand für seine Opfer vielleicht doch noch Hoffnung.

13

Keim war beeindruckt von dem Widerstand, den drei seiner Wirte leisteten, als sie die von ihnen geliebten Menschen angreifen sollten.

Bei dem Gedanken, ihren Sohn der Herde einverleiben zu müssen, kochte die Mutter vor Wut. Sie zerrte an den Fesseln, die ihren Geist lahmten, und bemühte sich nach Kräften, die Kontrolle über ihren Körper zurückzugewinnen. Es war nicht ganz einfach, sie zu zähmen, doch Keim preßte ihr Bewußtsein in einen noch engeren und dunkleren Ort als bei ihrer Gefangennahme. Er stieß ihren Geist in die Tiefe, so als werfe er sie in einen Teich, und aus dieser Tiefe gab es kein Entrinnen, ganz so, als hätte er schwere Steine auf sie gewälzt.

Auch Jamie Watley machte Probleme, motiviert durch seine unschuldige Liebe, die der eines Hündchens glich. Aber Keim bekam auch ihn wieder unter Kontrolle, machte dem Zittern und Zucken des Jungen ein Ende und zwang ihn, sich der Frau und den Kindern in der Ecke zu nähern.

Der Ehemann der Lehrerin, Jack Caswell, war der Schwierigste von den dreien, denn sein Wille war am stärksten und seine Liebe am größten. Er wütete gegen seine Versklavung, rüttelte an den Gitterstäben seines geistigen Kerkers, bog sie sogar auseinander und hätte sich mit Freuden selbst getötet, um Keim nicht zu Laura bringen zu müssen. Über eine Minute widersetzte er sich den Befehlen seines Herrn, und für den Bruchteil einer Sekunde war er bestürzend nahe daran, sich zu befreien, doch schließlich brachte Keim auch ihn zu einer totalen - wenngleich widerwilligen -Willfährigkeit.

Die vierzehn anderen eroberten Sechstkläßler waren leicht unter Kontrolle zu halten, obwohl es auch bei ihnen Anzeichen von Auflehnung gab. Als ihre Lehrerin immer mehr in die Ecke gedrängt wurde, während die drei auserwählten Wirte sich ihr näherten, ging eine heiße Welle ohnmächtigen Zorns durch jedes Kind, denn alle liebten Mrs. Caswell und konnten den Gedanken nicht ertragen, daß auch sie versklavt werden sollte. Keim übte auf alle gleichzeitig harten Druck aus, und ihre flüchtige Auflehnung erlosch wie ein Funke in arktischem Wind.

Wie eine Marionette trat Jack Caswell vor seine Frau, riß ihr den Zeigestock aus der Hand und warf ihn beiseite.

Keim schoß aus Jacks Fingerspitzen hervor, packte Laura und hielt sie fest, obwohl sie sich heftig wehrte und loszureißen versuchte. Durch den offenen Mund seines Wirts schickte Keim einen dicken Stengel aus, der die Brust der Frau durchbohrte, und triumphierend drang er in sie ein.

14

Nein!

Laura spürte, wie Keim durch ihr Nervensystem kroch und kalte Fühler nach ihrem Gehirn ausstreckte, und sie verweigerte sich ihm. Mit der eisernen Entschlossenheit, die sie an den Tag gelegt hatte, damit Jack wieder gehen lernte, mit der unerschöpflichen Geduld, die sie beim Unterrichten aufbrachte, mit ihrem unerschütterlichen Selbstwertgefühl und ihrer Persönlichkeit, die ihr auch im täglichen Leben zugute kamen, bekämpfte sie den Eindringling auf Schritt und Tritt. Als er ihren Geist in Ketten aus psychischer Energie zu legen versuchte, zerbrach sie diese Fesseln und schüttelte sie ab. Als er sie an einen dunklen Ort schleppen und dort unter psychischen Steinen begraben wollte, warf sie diese Gewichte von sich und stieg wieder an die Oberfläche empor. Sie spürte die Überraschung ihres Gegners, und sie nutzte seine Verwirrung aus, indem sie nun ihrerseits seinen Geist durchforschte und daraus ihre Lehren zog. Sie begriff, daß dieses außerirdische Wesen im Geist all seiner Wirte hauste, und deshalb versuchte sie, Jack zu erreichen. Sie spürte ihn auf

Ich liebe dich, Jack, ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, mehr als mein Leben.

- und riß an seinen geistigen Fesseln, mit dem gleichen Enthusiasmus, der sie einst bewogen hatte, ihm bei der Krankengymnastik zu helfen. Und dann benutzte sie erneut das psychische Netz, durch das Keim mit all seinen Wirten verknüpft war, und sie fand Jamie Watley -

Du bist ein süßer Junge, Jamie, der netteste, den ich kenne, und ich wollte dir schon immer sagen, daß es unwichtig ist, was für Menschen deine Eltern sind, daß du nichts dafür kannst, wenn sie egoistische und bösartige Alkoholiker sind. Wichtig ist nur, daß du die Fähigkeit besitzt, viel besser als sie zu sein. Du besitzt die Fähigkeit zu lieben und zu lernen, und du wirst einmal ein erfülltes, glückliches Leben führen können.

Keim stürzte sich auf Laura, versuchte, sie aus dem Geist seiner anderen Wirte zu zerren und sie in ihrem eigenen Körper unschädlich zu machen. Doch obwohl er in Milliarden Jahren viel Erfahrung gesammelt und bei den über hundert vernichteten Spezies ein enormes Wissen erworben hatte, war er dieser Aufgabe nicht gewachsen. Laura durchforschte seinen Geist und beurteilte ihn als minderwertig, weil er keine Liebe brauchte, keine Liebe geben konnte. Sein Wille war schwächer als der menschliche Wille, denn Menschen waren zur Liebe fähig, und diese Liebe veranlaßte sie, gegen das Chaos anzukämpfen und für die Menschen, die sie liebten, eine bessere Welt zu schaffen. Liebe stärkte den menschlichen Willen, weil sie ihn mit Sinn erfüllte. Für manch eine andere Spezies mochte Keim ein willkommener Herr sein, weil er ihr die falsche Sicherheit eines einzigen Gesetzes und eines einzigen Ziels bot. Doch die Menschheit mußte Keim mit einem Bann belegen.

Tommy, du kannst dich befreien, wenn du an deine Schwester Edna denkst, denn ich weiß, daß du Edna mehr als alles auf der Welt liebst! Und du, Melissa, du mußt an deine Eltern denken, die dich so sehr lieben, weil sie dich fast verloren hätten, als du ein Baby warst (Hast du das gewußt?), und dieser Verlust hätte ihnen das Herz gebrochen! Und du, Helen, bist ein so großartiges kleines Mädchen, und ich liebe dich wie eine eigene Tochter, weil du dich immer um andere kümmerst, und ich weiß, daß du dieses verdammte Ding abschütteln kannst, denn du bestehst von Kopf bis fuß aus Liebe! Und Sie, Mrs. Halliwell, Sie lieben Ihren Sohn und Ihren Mann, das sehe ich an dem Selbstvertrauen, das Sie Richie gegeben haben, und an den guten Umgangsformen und der Höflichkeit, die er von Ihnen gelernt hat’. Und du, Jimmy Corman, o ja, du hast ein loses Mundwerk und spielst gern den starken Mann, aber ich weiß, wie sehr du deinen Bruder Harry liebst, wie traurig du darüber bist, daß er mit einer verkrüppelten Hand zur Welt gekommen ist, und ich weiß, daß du erbittert mit jedem kämpfen würdest, der sich über Harry s Hand lustig macht, und diese Liebe zu Harry mußt du jetzt gegen dieses Wesen namens Keim einsetzen: Du darfst dich ihm nicht ausliefern, denn wenn er dich besitzt, wird er auch Harry bekommen.

Und Laura ging auf die Besessenen zu, berührte sie, umarmte die einen und drückte den anderen liebevoll die Hand, blickte ihnen lange in die Augen und bediente sich der Macht der Liebe, um sie der Finsternis zu entreißen und mit sich ans Licht zu fuhren.

15

Als er seine Fesseln sprengte und Keim abschüttelte, fühlte Jamie Watley sich benommen und schwindelig, und er wurde sogar ohnmächtig, aber für so kurze Zeit, daß er nicht einmal hinfiel. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er taumelte, doch als seine Knie nachzugeben drohten, kam er wieder voll zu sich und hielt sich an Mrs. Caswells Pult fest.

Als er sich im Klassenzimmer umschaute, stellte er fest, daß die anderen Kinder und auch die Erwachsenen genauso wackelig auf den Beinen waren wie er selbst. Viele starrten angewidert auf den Boden, auf die schleimige glänzendschwarze Substanz, die aus ihnen ausgetrieben worden war und sich nun in einzelnen Stücken krümmte und wand.

Der größte Teil des fremdartigen Gewebes schien abzusterben; einige Stücke zersetzten sich und verbreiteten dabei einen gräßlichen Gestank. Doch plötzlich zog sich ein Klumpen zusammen, nahm die Form eines Footballs an, umgab sich innerhalb von Sekunden mit einer blaugrün schwarz gesprenkelten Schale und durchbrach mit der Wucht einer Panzerfaust die Zimmerdecke, so daß Verputz und Holzsplitter herabregneten. Gleich darauf schoß Keim auch durch das Dach der einstöckigen Schule und verschwand am blauen Oktoberhimmel.

16

Lehrer und Schüler kamen aus dem ganzen Gebäude herbeigerannt, um zu erfahren, was geschehen war, und etwas später traf die Polizei ein. Am nächsten Tag statteten uniformierte Air-Force-Offiziere und Regierungsvertreter in Zivil den Caswells und anderen Betroffenen einen Besuch ab. Die ganze Zeit über wich Jack nicht von Lauras Seite. Er wollte sie in seinen Armen halten - oder wenigstens ihre Hand halten -, und wenn sie sich für einige Minuten trennen mußten, beschwor er ihr Bild vor seinem geistigen Auge herauf, so als wäre dieses Bild ein psychisches Totem, das ihre sichere Rückkehr garantierte.

Nach einer gewissen Zeit legte sich der Aufruhr, die Reporter zogen ab, und das Leben nahm wieder seinen normalen Gang - jedenfalls so normal, wie es nach dem durchlebten Grauen möglich war. Kurz vor Weihnachten nahmen Jacks Alpträume an Häufigkeit und Intensität ab, obwohl er wußte, daß er noch Jahre brauchen würde, um die Ängste zu überwinden, die ihn seit Keims Einnistung in seinem Körper und Geist verfolgten.

Am Heiligen Abend saßen Laura und er auf dem Teppich vor dem Weihnachtsbaum, tranken Wein, knabberten Walnüsse und tauschten ihre Geschenke aus, denn am Ersten Weihnachtstag besuchten sie immer ihre Familien. Als alle Päckchen geöffnet waren, nahmen sie in zwei Sesseln vor dem Kamin Platz.

Eine Weile saßen sie schweigend da, blickten in die Flammen und nippten an ihrem Wein. Plötzlich sagte Laura: »Ich habe noch ein Geschenk, das bald geöffnet werden muß.«

»Noch eins? Aber ich habe nichts mehr für dich.«

»Es ist ein Geschenk für alle Menschen.«

Bei diesen Worten lächelte sie so geheimnisvoll wie eine Sphinx. Jack griff verwirrt nach ihrer Hand. »Du sprichst in Rätseln.«

»Dieser Außerirdische hat dich geheilt«, sagte sie.

Seine Beine, die er auf einen Schemel stützte, waren wieder so gesund und leistungsfähig wie vor dem Unfall.

»Ja, etwas Gutes ist dabei immerhin herausgekommen«, knurrte er.

»Mehr als du glaubst«, erwiderte Laura. »Weißt du, in jenem schrecklichen Moment, als ich versuchte, dieses Wesen aus meinem Körper und Geist zu vertreiben, als ich versuchte, die Kinder dazu zu bringen, ebenfalls den Kampf mit ihm aufzunehmen - in jenem Moment hatte ich intensiven Kontakt mit dem Geist dieses Wesens. Verdammt, ich war in seinem Geist. Und weil mir aufgefallen war, daß du plötzlich geheilt warst, und weil ich wußte, daß nur Keim dieses Wunder bewirkt haben konnte, habe ich seine Gedanken gelesen, um zu erfahren, wie er so etwas zustande brachte.«

»Du willst doch wohl nicht sagen ...«

»Warte«, rief sie, entzog ihm ihre Hand, glitt vom Sessel,, kniete sich vor den Kamin und hielt ihre rechte Hand in die lodernden Flammen.

Jack schrie auf und riß sie zurück.

Grinsend zeigte Laura ihm ihre verbrannten Finger, an denen das rohe Fleisch hervortrat, doch noch während Jack entsetzt nach Luft schnappte, sah er, daß die Wunden verheilten. Die Brandblasen verschwanden, die Haut bildete sich neu, und gleich darauf war ihre Hand völlig unversehrt.

»Wir alle besitzen diese Gabe«, erklärte sie ihm. »Wir müssen nur lernen, unsere Kräfte richtig anzuwenden. Ich habe das in den letzten zwei Monaten gelernt, und jetzt bin ich soweit, es anderen beibringen zu können. Zuerst dir, dann meinen Schülern und dann der ganzen Welt.«

Jack starrte sie fassungslos an.

Sie lachte vergnügt und warf sich in seine Arme. »Es ist nicht leicht zu lernen, Jackson! O nein, es ist verdammt schwer! Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich nachts, sobald du schliefst, wieder aufgestanden bin, um umzusetzen, was ich von Keim erfahren hatte. Manchmal dachte ich, daß mir vor Anstrengung der Kopf platzen würde, und ich war körperlich so erschöpft wie nie zuvor in meinem Leben. Es ist wahnsinnig anstrengend, diese Gabe der Heilung zu erlernen, und es tut verdammt weh, bis auf die Knochen. Manchmal war ich nahe am Verzweifeln. Aber ich habe es gelernt, und andere können es auch lernen. So schwierig es auch ist - ich weiß, daß ich es ihnen beibringen kann. Ich weiß einfach, daß ich es kann, Jack!«

Er betrachtete sie liebevoll, aber auch voll ehrfürchtigem Staunen. »Ja, auch ich weiß, daß du es kannst. Ich weiß, daß du jedem beibringen kannst, was immer du willst. Vielleicht bist du die beste Lehrerin, die jemals gelebt hat.«

»Eben Miß Attila die Hunnin«, lachte sie und küßte ihn.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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