Der Handtaschenräuber

Billy Neeks hatte in bezug auf Besitzrechte eine sehr flexible Philosophie. Er glaubte an das proletarische Ideal der Güterteilung - solange diese Güter anderen Leuten gehörten. Was hingegen ihm selbst gehörte, würde er notfalls bis aufs Messer verteidigen. Das war eine einfache und sehr brauchbare Philosophie für einen Dieb - und Billy war nichts anderes.

Billy Neeks’ Beschäftigung spiegelte sich in seinem Aussehen wider: Er machte einen schmierigen Eindruck. Das dichte schwarze Haar wurde mit Unmengen von parfümiertem Öl glatt zurückgekämmt. Die grobe Haut war ständig unrein und fettig, so als litte er unter Malaria. Er bewegte sich schnell und geschmeidig wie eine Katze, und seine Hände besaßen die verblüffende Anmut eines Zauberkünstlers, so daß man glauben konnte, alle Gelenke wären bei ihm besonders gut geölt. Seine Augen glichen zwei benachbarten texanischen Ölquellen, naß und schwarz und tief - und gänzlich unberührt von jedem menschlichen Gefühl, von Wärme ganz zu schweigen. Wenn man sich den Weg zur Hölle als abschüssige Rampe vorstellte, die immer gut geölt sein mußte, um den Abstieg zu erleichtern, so hätte der Teufel bestimmt Billy Neeks dazu ausersehen, diese giftige schmierige Substanz bis in alle Ewigkeit auszuscheiden.

Wenn Billy in Aktion war, rammte er irgendeine ahnungslose Frau, beraubte sie ihrer Handtasche und war schon Meter entfernt, bevor sie überhaupt registrierte, daß sie bestohlen worden war. Taschen mit einem Bügel, Taschen mit zwei Bügeln, Schultertaschen, Unterarmtaschen - alle Arten von Taschen waren für Billy Neeks eine leichte Beute. Ob sein Opfer vorsichtig oder sorglos war, spielte keine Rolle. Er ließ sich durch nichts abschrecken.

An diesem Mittwoch im April spielte er den Betrunkenen und rempelte eine gutgekleidete ältere Frau auf der Broad Street an, vor dem Kaufhaus Bartram’s. Während sie angewidert auszuweichen versuchte, glitt der Schulterriemen ihrer Tasche unmerklich an ihrem Arm hinab, und die Tasche verschwand in der Plastiktüte, die Billy immer bei sich trug. Torkelnd entfernte er sich von ihr und hatte schon sechs oder acht Schritte gemacht, als der Frau endlich auffiel, daß dieser Zusammenprall nicht so unabsichtlich gewesen war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Als das Opfer zum erstenmal »Polizei!« rief, rannte Billy schon los, und bis die Frau »Hilfe, Polizei, Hilfe!« kreischte, war er schon fast außer Hörweite.

Er sprintete durch einige Seitenstraßen, umrundete geschickt die Mülltonnen, sprang über die gespreizten Beine eines schlafenden Penners hinweg, hetzte über einen Parkplatz und flüchtete in eine andere Gasse.

Mehrere Blocks vom Bartram’s entfernt, konnte er es sich erlauben, langsam weiterzugehen. Er war nicht einmal allzusehr außer Atem, und er grinste zufrieden.

An der Ecke zur 46th Street sah er eine junge Mutter, die ein Baby und eine Einkaufstüte schleppte und eine Handtasche am Arm trug. Sie sah so wehrlos aus, daß Billy der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte. Er rückte sein Klappmesser und schnitt im Nu die dünnen Riemen ihrer teuren Handtasche aus blauem Leder durch. Dann rannte er wieder los, quer über die Straße, wo Autofahrer scharf bremsen mußten und wütend hupten. Erneut tauchte er in den Seitenstraßen unter, die ihm wohlvertraut waren.

Während seiner Flucht kicherte er vergnügt vor sich hin. Dieses Kichern war weder schrill noch einnehmend; vielmehr hörte es sich so an, als würde Salbe aus einer Tube gedrückt.

Wenn er auf irgendwelchen Abfällen - Orangenschalen, welken Kohlblättern oder durchweichten und schimmeligem Brot - ausrutschte, fiel er nie hin; er mußte nicht einmal seine Geschwindigkeit verringern. Ganz im Gegenteil - diese Schlitterpartien schienen ihm geradezu Flügel zu verleihen.

Am Prospect Boulevard verlangsamte er das Tempo und schlenderte gemächlich dahin. Das Klappmesser war längst wieder in seiner Hosentasche verschwunden, und die beiden gestohlenen Handtaschen ruhten in der Plastiktüte. Er setzte eine Unschuldsmiene auf - jedenfalls bemühte er sich nach Kräften darum, obwohl dieser Versuch kläglich mißlang -, erreichte unbehelligt sein Auto, das an einer Parkuhr am Prospect Boulevard korrekt abgestellt war, und verstaute die gestohlenen Handtaschen im Kofferraum. Sein Pontiac war seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gewaschen worden und hinterließ überall Ölflecken - so wie ein Wolf in der Wildnis sein Territorium mit Urin markiert. Fröhlich pfeifend, fuhr er in einen anderen Stadtteil, zu neuen Jagdrevieren.

Es gab verschiedene Gründe für seinen Erfolg als Handtaschenräuber, aber am allerwichtigsten war vielleicht seine Beweglichkeit. Die meisten Straßenräuber waren Kids, die auf die Schnelle zu ein paar Dollar kommen wollten, und diese jugendlichen Ganoven waren nicht motorisiert. Billy Neeks war fünfundzwanzig, alles andere als ein Kid, und er besaß ein zuverlässiges Fahrzeug. Sobald er in irgendeiner Gegend zwei oder drei Frauen beraubt hatte, setzte er sich ins Auto und nahm seine Arbeit in einem weit entfernten Viertel wieder auf, wo niemand nach ihm suchte.

Die jugendlichen Handtaschenräuber handelten oft aus einem plötzlichen Impuls heraus, oder aber sie begingen Verzweiflungstaten. Billy hingegen sah sich als Geschäftsmann, und er plante sein Gewerbe genauso sorgfältig wie jeder andere Geschäftsmann, wägte Risiken und Chancen jedes Einsatzes ab und schritt nur nach genauen, zuverlässigen Analysen zur Tat.

Andere Straßenräuber - Amateure ebenso wie dumme Profis - begingen oft den gravierenden Fehler, in der nächsten Seitenstraße oder in einem Torweg stehenzubleiben und die gestohlenen Taschen nach Wertsachen zu durchstöbern, wobei sie riskierten, verhaftet oder auch nur von zufälligen Zeugen beobachtet zu werden. So töricht war Billy nicht - er brachte die gestohlenen Handtaschen im Kofferraum unter und inspizierte sie später in aller Ruhe bei sich zu Hause.

Billy Neeks war stolz auf seine methodische und vorsichtige Vorgehens weise.

An diesem bewölkten und feuchten Mittwoch Ende April fuhr er kreuz und quer durch die Stadt und konnte in drei weit voneinander entfernten Vierteln noch sechs weitere Taschen erbeuten, abgesehen von den beiden, die er der älteren Frau vor Bartram’s Kaufhaus und der jungen Mutter in der 46th Street geraubt hatte. Die letzte der insgesamt acht Taschen nahm er wieder einer alten Frau ab, die auf den ersten Blick wie ein besonders leicht zu beraubendes Opfer wirkte, sich aber als unglaublich zäh entpuppte und Billy zuletzt regelrecht unheimlich wurde.

Als er sie erspähte, kam sie gerade aus einer Metzgerei in der Westend Avenue, ein Fleischpaket an die Brust gedrückt. Sie war alt. Ihr schütteres weites Haar bewegte sich in der Frühlingsbrise, und Billy hatte das seltsame Gefühl, als könnte er hören, wie diese trockenen Dauerwellen raschelten. Das runzelige Gesicht, die gebeugten Schultern, die welken bleichen Hände und der schlürfende Gang - alles vermittelte den Eindruck, als sei sie nicht nur sehr alt, sondern auch hinfällig und wehrlos, und das übte auf Billy eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, so als wäre er ein Eisenspan und sie ein Magnet. Ihre Handtasche war sehr groß, fast schon eine Mappe, und schien schwer zu sein, denn sie schob die Riemen - durch das Fleischpaket behindert -mühsam über die Schulter und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht, so als machte Arthritis ihr sehr zu schaffen.

Obwohl es Frühling war, war sie schwarz gekleidet: schwarze Schuhe, schwarze Strümpfe, schwarzer Rock, dunkelblaue Bluse und darüber auch noch eine schwere schwarze Wollweste, die an diesem milden Tag völlig überflüssig war.

Billy vergewisserte sich rasch, daß die Straße in beiden Richtungen leer war, und ging zum Angriff über. Er wandte wieder einmal seinen Betrunkenentrick an, torkelte auf die Alte zu und rempelte sie an. Doch als er die Riemen an ihrem Arm hinabzog, ließ sie plötzlich ihr Fleischpaket fallen und hielt die Tasche mit beiden Händen fest. Einen Moment lang waren sie in einen unerwartet heftigen Kampf verwickelt. Für eine Frau ihres Alters war sie erstaunlich kräftig. Billy riß und zerrte an der Tasche, versuchte sie ihr mit allen Mitteln zu entwinden und die Alte aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber sie erwies sich als ebenso standfest wie ein tief verwurzelter Baum, der jedem Sturmwind trotzt.

»Laß los, du altes Luder«, zischte Billy wütend, »sonst schlag ich dir in die Fresse!«

Und dann geschah etwas Merkwürdiges!

Sie verwandelte sich vor Billys Augen. Mit einem Mal sah sie nicht mehr gebrechlich, sondern stählern aus, nicht mehr schwach, sondern unheimlich energiegeladen. Ihre knochigen, arthritischen Hände glichen plötzlich den gefährlichen Klauen eines mächtigen Raubvogels. Das Gesicht - blaß, aber gelblich verfärbt, fast fleischlos, nur aus scharfen Linien und Falten bestehend - war immer noch alt, aber es kam Billy nicht mehr menschlich vor. Und ihre Augen! O Gott, ihre Augen! Das waren nicht mehr die wässerigen, kurzsichtigen Augen einer hilflosen Greisin, sondern Augen von überwältigender Kraft, die Feuer und Eis sprühten, sein Blut in Wallung versetzten und gleichzeitig sein Herz gefrieren ließen - Augen, die ihn durchbohrten und durch ihn hindurchsahen. Es waren die Augen eines mörderischen Raubtiers, das ihn bei lebendigem Leibe verschlingen wollte und konnte.

Billy schnappte vor Angst nach Luft, ließ die Tasche fast los und war nahe daran wegzurennen. Doch schon in der nächsten Sekunde sah sie wieder wie eine wehrlose alte Frau aus, und sie kapitulierte plötzlich. Die geschwollenen Knöchel der verkrümmten Hände gaben nach, die Finger erschlafften. Mit einem leisen verzweifelten Aufschrei ließ sie sich die Tasche entreißen.

Billy knurrte bedrohlich, nicht nur, um die Alte einzuschüchtern, sondern auch, um seine eigene unerklärliche Angst zu vertreiben, stieß sie rückwärts gegen einen Papierkorb und rannte mit der großen Tasche unter dem Arm davon. Nach einigen Schritten drehte er sich um und rechnete fast damit, daß sie die Gestalt eines großen dunklen Raubvogels angenommen hatte und auf ihn zugeflogen kam, mit funkensprühenden Augen, gefletschten Zähnen und gespreizten messerscharfen Klauen, die ihn in Stücke reißen würden. Doch sie hielt sich am Papierkorb fest und sah so hilflos und gebrechlich aus wie zuvor.

Das einzig Merkwürdige: sie blickte ihm lächelnd nach. Gar kein Zweifel, ein breites Lächeln entblößte ihre gelben Zähne. Ein fast irres Grinsen.

Senile alte Närrin, dachte Billy. Sie muß schon sehr senil sein, wenn sie es komisch findet, daß ihre Tasche geraubt wurde.

Er konnte überhaupt nicht mehr verstehen, warum er sich vor ihr gefürchtet hatte.

Wieder rannte er durch Gassen, überquerte einen sonnigen Parkplatz, verschwand in einer schattigen Durchfahrt zwischen zwei Mietshäusern und gelangte auf eine Straße, die weit vom Schauplatz seines letzten Diebstahls entfernt war. Dann kehrte er gemächlich zu seinem geparkten Auto zurück und legte die schwarze Handtasche der Alten zu den anderen in den Kofferraum. Ein schwerer Arbeitstag lag hinter ihm, und während er nach Hause fuhr, freute er sich darauf, seine Einnahmen zu zählen, ein paar eisgekühlte Dosen Bier zu trinken und gemütlich vor dem Fernseher zu sitzen.

Als er an einer roten Ampel anhalten mußte, glaubte er flüchtig, aus dem Kofferraum irgendwelche Geräusche zu hören, so als bewegte sich dort etwas. Ein dumpfes Dröhnen. Ein kurzes Schaben. Doch als er den Kopf zur Seite legte und angestrengt lauschte, hörte er nichts mehr und vermutete deshalb, daß der Stapel gestohlener Handtaschen nur etwas verrutscht war.

Billy Neeks lebte in einem baufälligen Vier-Zimmer-Bungalow zwischen einem Bauplatz und einer Spedition, zwei Blocks vom Fluß entfernt. Das Haus hatte seiner Mutter gehört, und solange sie es bewohnt hatte, war es sauber und in gutem Zustand gewesen. Vor zwei Jahren hatte Billy sie überredet, es »aus steuerlichen Gründen« ihm zu überschreiben. Dann hatte er sie in ein Pflegeheim gesteckt, wo sie auf Staatskosten versorgt wurde. Wahrscheinlich war sie immer noch dort; genau wußte er es nicht, weil er sie nie besuchte.

An diesem Aprilabend ordnete Billy die acht Handtaschen zu zwei Reihen auf dem Küchentisch an und betrachtete sie eine Weile in seliger Vorfreude auf die zu erwartenden Schätze. Er öffnete eine Dose Budweiser und riß eine Packung Doritos auf, zog dann einen Stuhl heran, setzte sich und seufzte zufrieden.

Schließlich öffnete er die Tasche, die er der Frau vor Bartram’s abgenommen hatte, und nahm seinen »Verdienst« in Augenschein. Sie hatte wohlhabend ausgesehen, und der Inhalt ihres Portemonnaies enttäuschte Billy nicht: 409 Dollar in Scheinen, weitere drei Dollar und zehn Cent in Münzen. Außerdem mehrere Kreditkarten, die er mit Hilfe des Pfandleihers und Hehlers Jake Barcelli zu Geld machen konnte, der ihm auch für die anderen Wertgegenstände ein paar Dollar geben würde. In der ersten Handtasche fand er beispielsweise einen vergoldeten Tiffany-Füller, eine vergoldete Tiffany-Puderdose mit passendem Lippenstiftetui sowie einen schönen, wenngleich nicht besonders wertvollen Opalring.

Die Handtasche der jungen Mutter enthielt nur elf Dollar und zweiundvierzig Cent. Keinerlei Wertsachen. Billy hatte nichts anderes erwartet, und diese magere Ausbeute beeinträchtigte in keiner Weise seine freudige Erregung beim Durchwühlen der Tasche. Gewiß, er betrieb Diebstahl als Gewerbe, und er hielt sich für einen guten Geschäftsmann, aber es bereitete ihm auch großes Vergnügen, die Besitztümer seiner Opfer zu betrachten und zu berühren. Die Inbesitznahme der persönlichen Kleinigkeiten einer Frau war sozusagen eine Vergewaltigung ihrer selbst, und als seine flinken Hände jetzt die Tasche der jungen Mutter durchwühlten, hatte er fast das Gefühl, ihren Körper zu erforschen. Manchmal warf Billy billige Gegenstände, für die der Hehler ihm ohnehin nichts bezahlen würde - Puder, Lippenstifte oder Brillen - auf den Boden und zertrampelte sie. Und wenn sie unter seinen Absätzen knirschten, war es fast so, als würde er die Frau zermalmen, der diese Sachen gehörten. Er liebte seine Arbeit, weil er auf diese Weise leicht zu Geld kam, aber eine genauso starke Motivation war das enorme Machtgefühl, das er dabei empfand; der Job erregte und befriedigte ihn, das war das Schöne daran.

Als er langsam sieben der acht Taschen durchsucht und ihren Inhalt voll ausgekostet hatte, war es 19.15 Uhr, und Billy war in euphorischer Stimmung. Sein Atem ging schnell, und hin und wieder überliefen ihn ekstatische Schauer. Sein Haar wirkte jetzt noch fettiger als sonst, denn es war feucht von Schweiß und hing strähnig herab. Schweißperlen schimmerten auch auf seinem Gesicht. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß er die offene Packung Doritos vom Küchentisch gestoßen hatte, und in der zweiten Dose Budweiser, die er zwar geöffnet, dann aber ganz vergessen hatte, wurde das Bier warm. Billys Welt war auf die Ausmaße einer Damenhandtasche zusammengeschrumpft.

Er hatte sich die Tasche der verrückten Alten bis zuletzt aufgehoben, weil er glaubte, daß in ihr der größte Schatz dieses Tages verborgen war.

Es war eine große Tasche aus weichem schwarzem Leder, fast schon eine Mappe, mit langen Riemen und einem einzigen Fach, dessen Reißverschluß geschlossen war. Billy zog sie zu sich heran und schob den Moment, da er sie endlich öffnen würde, absichtlich noch etwas heraus, um die Spannung zu erhöhen.

Er dachte an den heftigen Widerstand der Alten, die ihre Tasche so fest umklammert hielt, daß er schon gedacht hatte, er würde sein Klappmesser zücken und zustechen müssen. Er hatte das schon bei mehreren Frauen getan, und er wußte, daß es ihm Spaß machte, sie zu verletzen.

Genau darin bestand das Problem. Billy war intelligent genug, um zu erkennen, daß seine Vorliebe für Messerspiele ihm gefährlich werden konnte, daß er es sich nicht erlauben durfte, aus reiner Lust Menschen zu verletzen. Gewaltanwendung mußte sich auf absolute Notfälle beschränken, denn wenn er sein Messer zu oft benutzte, würde er nicht mehr damit aufhören können - und dann wäre er verloren. Die Polizei verschwendete keine große Energie auf die Suche nach Handtaschenräubern, aber ein Messerstecher würde gnadenlos gejagt werden.

Deshalb hatte er sein Messer seit mehreren Monaten nicht verwendet. Diese bewundernswerte Selbstbeherrschung hätte ihm seiner Ansicht nach eigentlich jedes Recht zu einer kleinen Freude gegeben, und es hätte ihm einen enormen Genuß bereitet, sein Messer in das welke Fleisch der Alten zu rammen. Er fragte sich jetzt, warum er das nicht getan hatte, sobald sie ihm Schwierigkeiten bereitet hatte.

Daß sie ihm kurzfristig Angst eingejagt hatte, daß sie vorübergehend nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Raubvogel mit gefährlichen Klauen anstelle der knochigen Hände ausgesehen hatte, daß ihre Augen Blitze geschleudert hatten - das alles hatte er total verdrängt. Demütigende Erinnerungen wären für einen Macho - und er hielt sich selbst für einen Macho - unerträglich gewesen.

Immer mehr davon überzeugt, daß er in der Tasche einen erstaunlichen Schatz finden würde, strich er mit beiden Händen über das Leder und drückte leicht darauf. Die Tasche war so vollgestopft, daß sie aus den Nähten zu platzen drohte, und Billy bildete sich ein, Bündel von Banknoten zu ertasten -bestimmt lauter Hundert-Dollar-Scheine ...

Sein Herz klopfte zum Zerspringen.

Er öffnete den Reißverschluß, warf einen Blick in die Tasche und runzelte die Stirn.

Das Innere der Tasche war - dunkel.

Billy beugte sich dichter darüber.

Sehr dunkel.

Unglaublich dunkel.

So angestrengt er auch in die Tasche starrte - er konnte nichts erkennen: keinen Geldbeutel, keine Puderdose, keinen Kamm, keine Kleenextücher, ja nicht einmal die Umrisse der Tasche, nur eine tiefe Dunkelheit, so als würde er in einen Brunnen spähen. Tief war das richtige Wort, denn er hatte das Gefühl, in geheimnisvolle, unergründliche Tiefen zu blicken, so als wäre der Taschenboden nicht Zentimeter entfernt, sondern viele Meter - nein, unzählige Kilometer! Und ihm fiel plötzlich auf, daß das Licht der Deckenlampe direkt in die offene Tasche fiel, aber dennoch nichts erhellte. Die Tasche schien jeden Lichtstrahl zu verschlucken.

Kalter Schweiß drang ihm plötzlich aus allen Poren, und er bekam eine Gänsehaut. Er wußte, daß er den Reißverschluß rasch schließen, die Tasche vorsichtig aus dem Haus tragen und mehrere Blocks entfernt in einen fremden Müllcontainer werfen sollte. Doch er sah, daß seine rechte Hand sich statt dessen auf die gähnende Öffnung zubewegte, und als er versuchte, sie zurückzureißen, schaffte er es nicht, so als gehörte die Hand nicht mehr ihm, so als hätte er jede Kontrolle über sie verloren. Seine Finger verschwanden in der Dunkelheit, und der Rest seiner Hand folgte. Er schüttelte den Kopf - nein, nein! -, war aber immer noch außerstande, sich selbst Einhalt zu gebieten. Etwas zwang ihn dazu, immer tiefer in die Tasche zu greifen. Bis zum Handgelenk steckte seine Hand schon darin, aber er konnte nichts ertasten, spürte nur eine so schreckliche Kälte, daß seine Zähne klapperten, und trotzdem schob er nun auch seinen Arm bis zum Ellbogen hinein. Eigentlich hätte er den Taschenboden schon längst erreichen müssen, aber da war nur eine unermeßliche Leere, und nun verschwand auch sein Oberarm fast bis zur Schulter in der Tasche, und er tastete mit gespreizten Fingern umher, suchte in dieser unmöglichen Leere nach etwas, nach irgend etwas.

Er fand nichts.

Er wurde gefunden.

Tief unten in der Tasche streifte etwas an seiner Hand entlang.

Billy zuckte erschrocken zusammen.

Etwas biß ihn.

Er stieß einen Schrei aus und brachte endlich genügend Willenskraft auf, um sich der unwiderstehlichen Anziehungskraft des dunklen Tascheninnern zu entziehen. Er riß seine Hand heraus und sprang so heftig auf, daß sein Stuhl umstürzte. Bestürzt starrte er die blutigen Male im fleischigen Teil seiner Handfläche an. Zahnspuren. Fünf kleine runde Löcher, aus denen Blut sickerte.

Zunächst war er vor Schreck wie gelähmt, doch dann streckte er wimmernd die Hand aus, um den Reißverschluß zu schließen. Doch als seine blutigen Finger gerade die Schlaufe berührten, kletterte die Kreatur aus den lichtlosen Tiefen der Tasche hervor, und Billy zog seine Hand entsetzt zurück.

Es war ein kleines Wesen, höchstens dreißig Zentimeter groß, so daß es ihm keine Mühe bereitete, aus der offenen Tasche zu kriechen. Es war knorrig und schwärzlich, besaß zwei Arme und zwei Beine wie ein Mensch, aber ansonsten hatte es keine Ähnlichkeit mit einem Menschen. Sein Gewebe schien aus Klumpen von stinkendem Klärschlamm - wenn nicht aus Schlimmerem - geformt zu sein, mit Muskeln und Sehnen aus Menschenhaar, halb verwesten menschlichen Eingeweiden und ausgetrockneten menschlichen Venen. Die Füße waren im Verhältnis zur Körpergröße doppelt so lang wie die eines Menschen und endeten in rasiermesserscharfen schwarzen Klauen, die Billy Neeks genauso viel Angst einjagten wie sein Klappmesser den von ihm überfallenen Frauen. Von den Fersen wiesen spitze gebogene Sporne nach oben. Die Arme waren im Verhältnis, so lang wie die eines Affen, mit sechs oder sogar sieben Fingern - Billy konnte nicht genau erkennen, wie viele es waren, weil das Wesen seine Hände unablässig bewegte, während es aus der Tasche kroch und sich auf dem Tisch aufrichtete, aber er sah, daß jeder Finger mit einer elfenbeinfarbenen Kralle versehen war.

Als die Kreatur sich auf die Füße stellte und einen bedrohlichen Laut - eine Art Fauchen oder Zischen - ausstieß, taumelte Billy rückwärts, bis er gegen den Kühlschrank stieß. Über der Spüle war ein Fenster, aber es war verschlossen, und die schmutzstarrenden Vorhänge waren zugezogen. Die Tür zum Eßzimmer befand sich auf der anderen Seite des Küchentisches, und auch wenn er die Tür zur hinteren Veranda erreichen wollte, mußte er dicht am Tisch vorbei. Er saß in der Falle.

Der Kopf der scheußlichen Kreatur war asymmetrisch und blatterig, so als wäre er von einem Bildhauer mit sehr vagen Vorstellungen von menschlichen Formen grob modelliert worden - aus Schlamm und verwestem Fleisch, genauso wie der Körper. Ein Augenpaar befand sich dort, wo beim Menschen die Stirn gewesen wäre, und darunter blinkte ein zweites Augenpaar. Zwei weitere Augen starrten seitlich, wo eigentlich die Ohren hätten sein müssen, aus dem Schädel. Alle sechs Augen waren völlig weiß, ohne Iris und Pupille, was den Eindruck erweckte, als wäre das Geschöpf an Star erblindet.

Aber es konnte sehen. Daran gab es gar keinen Zweifel, denn es blickte Billy an.

Am ganzen Leibe zitternd und erstickte Schreckenslaute ausstoßend, streckte Billy seine gebissene rechte Hand seitlich aus und öffnete eine Schublade des Küchenschranks neben dem Kühlschrank. Ohne den Blick von der Kreatur zu wenden, die aus der Handtasche geklettert war, tastete er nach den Messern, fand sie und umklammerte das große Fleischmesser.

Auf dem Tisch öffnete der sechsäugige Dämon sein ausgefranstes Maul, entblößte spitze gelbe Zähne und zischte wieder.

»O G-G-Gott!« stammelte Billy, und das hörte sich so an, als würde er ein Fremdwort aussprechen, dessen Bedeutung ihm nicht ganz klar war.

Der Dämon verzog sein unförmiges Maul zu einer Art Grinsen, kickte die offene Bierdose vom Tisch und gab einen gräßlichen Laut von sich, eine Mischung aus Knurren und Kichern.

Billy stürzte plötzlich vorwärts und schwang sein großes Fleischmesser wie ein mächtiges Samuraischwert. Er wollte dem widerwärtigen Geschöpf den Kopf abschlagen oder es halbieren. Die Klinge drang nicht einmal zwei Zentimeter in den dunkel schimmernden Leib oberhalb der knorrigen Hüften ein und blieb dann stecken, während Billy das Gefühl hatte, eine Brechstange gegen einen dicken Eisenpfosten geschmettert zu haben, so schmerzhaft machte sich der Rückschlag seines wirkungslosen Angriffs in seiner eigenen Hand und in seinem Arm bis zur Schulter hinauf bemerkbar.

Im selben Augenblick machte die Kreatur eine blitzschnelle Handbewegung und riß mit ihren scharfen Krallen zwei von Billys Fingern bis zu den Knochen auf.

Billy stieß vor Schmerz und Schreck einen lauten Schrei aus, ließ seine Waffe los, stolperte wieder rückwärts zum Kühlschrank und umklammerte seine verletzte Hand.

Die Kreatur stand trotz des Messers, das in ihrer Seite steckte, völlig ungerührt auf dem Tisch. Sie blutete nicht, und sie schien auch keine Schmerzen zu haben. Mit ihren kleinen schwarzen Händen packte sie den Griff und zog die Waffe aus ihrem Fleisch heraus. Alle sechs funkelnden milchig-weißen Augen unverwandt auf Billy gerichtet, hob sie das Messer, das fast so groß war wie sie selbst, in die Höhe, zerbrach es in zwei Teile und warf die Klinge in eine Richtung, den Griff in eine andere.

Billy rannte los.

Um auf die andere Seite des Tisches zu gelangen, mußte er dicht an dem Dämon vorbeirennen, aber er fackelte nicht lange, denn die einzige Alternative bestand darin, vor dem Kühlschrank stehenzubleiben und sich in Stücke reißen zu lassen. Als er aus der Küche ins Eßzimmer stürzte, hörte er hinter sich ein dumpfes Geräusch: Der Dämon war vom Tisch gesprungen. Was aber noch viel schlimmer war - er hörte das Klick-Tick-Klack der hornigen Klauen auf dem Linoleum, während das Wesen die Verfolgung aufnahm.

Als Handtaschenräuber mußte Billy gut in Form sein und fast so schnell wie ein Hirsch springen können. Seine Kondition war jetzt sein einziger Vorteil.

War es möglich, dem Teufel zu entfliehen?

Er rannte aus dem Eßzimmer ins Wohnzimmer, sprang über einen Fußschemel und eilte zur Haustür. Sein Bungalow stand zwischen einem ungenutzten Baugelände und einer Spedition, die abends geschlossen war, aber auf der anderen Straßenseite gab es doch einige Häuser, und an der Ecke war ein 7-Eleven-Supermarkt, in dem normalerweise reger Betrieb herrschte. Billy glaubte, daß er in Gegenwart anderer Leute in Sicherheit sein würde, weil der Dämon bestimmt nicht von jedermann gesehen werden wollte.

Er rechnete halb damit, daß die Kreatur ihn anspringen und ihre Zähne in seinen Hals bohren würde, während er die Haustür auf riß. Das geschah nicht. Trotzdem blieb er auf der Schwelle wie angewurzelt stehen, als er sah, was vor ihm lag: nichts. Draußen gab es nichts, keinen Rasen, keinen Gehweg, keine Bäume, keine Straße. Keine Häuser auf der anderen Straßenseite, keinen Supermarkt an der Ecke. Nichts. Gar nichts. Nirgendwo ein Licht. Der Abend war außerhalb seines Hauses unnatürlich dunkel, absolut lichtlos wie der Boden eines Minenschachts - oder wie das Innere der Handtasche, aus der die Kreatur herausgeklettert war. Und trotz des milden Aprilabends war die samtschwarze Finsternis eiskalt, genauso eiskalt wie das Innere der großen schwarzen Ledertasche.

Billy stand schwitzend und atemlos auf der Schwelle. Er zitterte wie Espenlaub, und sein Herz hämmerte wild in der Brust. Ihm kam plötzlich die absurde Idee, daß sein ganzer Bungalow sich jetzt in der Tasche der verrückten Alten befand. Aber das ergab natürlich keinen Sinn. Die bodenlose Tasche lag auf dem Küchentisch. Wenn die Tasche im Haus war, konnte das Haus nicht gleichzeitig in der Tasche sein. So etwas war unmöglich. Oder doch nicht?

Er war völlig durcheinander. Ihm war schwindelig und Übel.

Er hatte immer alles Wissenswerte gewußt. Jedenfalls hatte er sich das eingebildet. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt.

Er traute sich nicht, aus dem Bungalow in die undurchdringliche Finsternis hinauszutreten. Er glaubte nicht, daß es dort draußen in der kohlrabenschwarzen Nacht irgendeinen Zufluchtsort gab, und er wußte instinktiv, daß es kein Zurück geben würde, sobald er auch nur einen Schritt in die eisige Dunkelheit hinaus machte. Ein einziger Schritt, und er würde in jene schreckliche Leere stürzen, die er in der Tasche gespürt hatte: immer tiefer hinab, bis in alle Ewigkeit.

Ein Zischen.

Die Kreatur mußte dicht hinter ihm stehen.

Wimmernd wandte Billy sich von der grauenvollen Leere jenseits seines Hauses ab, warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo der Dämon auf ihn wartete, und schrie entsetzt auf, als er sah, daß die Ausgeburt der Hölle größer geworden war. Viel größer. Nicht mehr dreißig Zentimeter, sondern fast einen Meter groß. Mit breiteren Schultern, muskulöseren Armen, dickeren Beinen, größeren Händen und längeren Krallen. Das widerwärtige Geschöpf war nicht direkt hinter ihm, wie er befürchtet hatte. Es stand mitten in dem kleinen Wohnzimmer und beobachtete ihn grinsend, mit mörderischem Interesse, so als wollte es ihn verhöhnen, indem es die Konfrontation bewußt hinauszögerte.

Der Unterschied zwischen der wannen Luft im Haus und der eisigen Luft jenseits der Schwelle erzeugte einen Zug, der die Haustür krachend zufallen ließ.

Fauchend machte der Dämon einen Schritt vorwärts, und Billy konnte hören, wie sich das knorrige Skelett und das schlammige Fleisch aneinander rieben, so als wäre eine Maschine schlecht geölt.

Er wich zurück und versuchte, seitwärts an der Wand entlang den kurzen Gang am anderen Ende des Zimmers zu erreichen, der in sein Schlafzimmer führte.

Die abscheuliche Kreatur folgte ihm, und ihr Schatten war sogar noch grotesker und unheimlicher, als zu erwarten gewesen wäre. Nicht der mitgestaltete Körper schien diesen Schatten zu werfen, sondern die noch viel monströsere Seele. Vielleicht war sich der Unhold bewußt, daß sein Schatten nicht stimmte, vielleicht wollte er nicht über die Ursache dieser verzerrten Silhouette nachdenken - jedenfalls warf er absichtlich die Stehlampe um, während er Billy verfolgte, und nun, da alles in Schatten gehüllt war, bewegte er sich behender und zuversichtlicher, so als käme die Dunkelheit ihm sehr zupaß.

Billy hatte die Schwelle zum Gang erreicht, machte einen Satz, rannte ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er drehte den Schlüssel im Schloß, gab sich aber nicht der Illusion hin, in Sicherheit zu sein. Die Kreatur würde dieses Hindernis mühelos überwinden. Er hoffte nur, daß ihm noch genügend Zeit blieb, um die Smith & Wesson 357er Magnum aus der Nachttischschublade zu holen, und das gelang ihm tatsächlich.

Die Pistole war kleiner als in seiner Erinnerung. Er sagte sich, daß sie ihm nur deshalb unzureichend vorkam, weil sein Gegner so furchterregend war. Wenn er abdrückte, würde die Waffe sich durchaus als groß genug erweisen. Doch sie kam ihm trotzdem sehr klein vor, fast wie ein Spielzeug.

Er umklammerte die Pistole mit beiden Händen und zielte auf die Tür, wußte aber nicht so recht, ob er durch das Holz hindurch schießen oder lieber abwarten sollte, bis der Unhold ins Zimmer stürzte.

Der Dämon nahm Billy die Entscheidung ab: Die verschlossene Tür explodierte förmlich, es regnete Holzsplitter und verbogene Metallscharniere, und schon stand er im Raum, noch größer als zuvor, über einen Meter achtzig, größer als Billy, ein gigantisches ekelerregendes Wesen. Jetzt konnte man noch besser erkennen, daß es aus Klärschlamm, Schleimklumpen, verfilzten Haaren, Pilzen und verwesten Leichenteilen bestand. Nach faulen Eiern stinkend, seine sechs weißglühenden Augen auf Billy gerichtet, kam es immer näher und blieb nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde stehen, als Billy sechs Schüsse abfeuerte.

Um Himmels willen, wer oder was war jene Alte gewesen? Ganz bestimmt keine normale Seniorin, die von der Sozialhilfe lebte, hin und wieder beim Metzger einkaufte und sich auf das Bingo am Samstagabend freute. Verdammt, nein! Und nicht einmal eine Verrückte würde eine derart unheimliche Tasche besitzen und ein solches Ungeheuer in ihren Diensten haben. War die Alte eine Hexe gewesen?

Natürlich, das war die einzige Erklärung. Eine Hexe!

In eine Ecke gedrängt, seine leere Pistole immer noch in der linken Hand, während die rechte von den Bissen und Kratzern brannte, das Monster dicht vor sich, begriff Billy zum erstenmal in seinem Leben, was es bedeutete, ein wehrloses Opfer zu sein. Als das grausige Wesen, für das er keinen Namen wußte, seine groben Hände mit den säbelartigen Krallen nach ihm ausstreckte - eine Hand packte ihn bei der Schulter, die andere bei der Brust -, machte Billy in die Hose und wurde zu einem schwachen, hilflosen und zu Tode geängstigten Kind.

Er war überzeugt, daß der Dämon ihn in Stücke reißen, ihm das Rückgrat brechen und das Mark aus seinen Knochen saugen würde, aber statt dessen senkte die Kreatur nur ihren mißgebildeten Kopf und preßte ihre gummiartigen Lippen auf seinen Hals, direkt auf die Halsschlagader, fast so, als wollte sie ihn küssen. Doch dann spürte Billy, daß die kalte Zunge ihn vom Schlüsselbein bis zu den Kieferknochen ableckte, und das fühlte sich so an, als würde er von hundert Nadeln gestochen. Gleich darauf war er total gelähmt.

Die Kreatur hob ihren Kopf und betrachtete sein Gesicht. Ihr Atem stank noch schlimmer als ihr Fleisch, von dem ein penetranter Friedhofsgeruch ausging. Außerstande, die Augen zu schließen oder auch nur zu blinzeln, starrte Billy in den Rachen des Dämons und sah die weiße stachelige Zunge.

Das Monster trat einen Schritt zurück, und Billy sank schlaff zu Boden. Obwohl er sich verzweifelt bemühte, konnte er nicht einmal einen Finger rühren.

Der Unhold packte ihn bei den Haaren und zerrte ihn aus dem Schlafzimmer. Billy konnte keinen Widerstand leisten. Er konnte nicht einmal schreien. Seine Stimme war genauso gelähmt wie sein Körper.

Er sah nur, was an seinem starren Blick vorbeiglitt, denn er konnte weder den Kopf wenden noch die Augen bewegen. Außer den Wänden und der Decke, über die verzerrte Schatten huschten, konnte er Teile der Möbel erkennen, an denen er vorbeigeschleppt wurde. Die Kreatur hatte ihn immer noch an seinen öligen Haaren gepackt und drehte ihn nun auf den Bauch, ohne daß Billy Schmerz empfand, und danach konnte er nur noch den Boden vor seinem Gesicht und die schwarzen Füße des Dämons sehen, der schwerfällig in Richtung Küche tappte, wo die Jagd begonnen hatte.

Billys Sicht verschwamm, klärte sich flüchtig, verschwamm wieder, und er dachte zunächst, daß das eine Folge der Lähmung wäre. Dann begriff er aber, daß Tränen ihm den Blick raubten, daß Tränen ihm über die Wangen liefen, obwohl er sie nicht fühlen konnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor in seinem miserablen Leben geweint zu haben.

Aber er wußte, was mit ihm geschehen würde.

Er wußte es tief im Herzen, das vor Angst zu zerspringen drohte.

Das stinkende schlammige Geschöpf zerrte ihn grob durchs Eßzimmer, so daß er gegen Tisch und Stühle prallte. In der Küche wurde er durch eine Bierpfütze und über verstreute Doritos gezogen. Dann nahm der Dämon die große schwarze Tasche vom Tisch und stellte sie auf den Boden, so daß Billy die gähnende Öffnung dicht vor Augen hatte.

Die Kreatur wurde nun wieder kleiner - jedenfalls die Beine, der Rumpf und Kopf. Der Arm, mit dem sie Billy festhielt, blieb jedoch riesig und stählern. Entsetzt, aber nicht allzu überrascht, beobachtete Billy, wie sie in die Tasche kroch und dabei immer mehr zusammenschrumpfte. Dann zog sie ihn hinter sich her.

Er hatte nicht gespürt, daß auch er kleiner geworden war, aber es mußte wohl so sein, denn andernfalls hätte er ja nicht in die Tasche gepaßt. Immer noch gelähmt und an den Haaren festgehalten, warf Billy unter seinem Arm hindurch einen Blick zurück und sah die Küchenlampe, sah seine eigenen Hüften am oberen Rand der Tasche, versuchte vergeblich, Widerstand zu leisten, sah seine Oberschenkel und Knie in der Tasche verschwinden. O Gott, die Tasche verschluckte ihn einfach, sie saugte ihn auf, und er konnte nichts dagegen tun! Jetzt waren nur noch seine Füße draußen, und er wollte sich mit den Zehen am Taschenrand festklammern, war aber außerstande, sie zu bewegen.

Billy Neeks hatte nie an die Existenz der Seele geglaubt, aber jetzt wußte er, daß er eine besaß - und daß sie nun von ihm gefordert wurde.

Seine Füße waren in der Tasche.

Sein ganzer Körper war in der Tasche.

Er war in der Tasche.

Während er an den Haaren in die Tiefe gezogen wurde, starrte Billy immer noch unter seinem Arm hindurch auf das ovale Licht über und hinter ihm. Es wurde immer kleiner, nicht etwa, weil der Reißverschluß zugezogen wurde, sondern weil das grausige Geschöpf ihn immer weiter in die Tasche hinabzog, so daß die Öffnung zu entschwinden schien wie die Einfahrt eines Tunnels, wenn man einen Blick in den Rückspiegel warf, während man auf das andere Ende zufuhr.

Das andere Ende.

Der Gedanke, was ihn am anderen Ende erwarten würde, auf dem unendlich tiefen Boden der Tasche und dahinter, war Billy unerträglich.

Er wünschte sich sehnlichst, verrückt zu werden. Wahnsinn wäre ein willkommenes Entrinnen vor der Angst. Wahnsinn würde ihm süßes Vergessen bescheren. Aber das Schicksal hatte ihm offenbar auferlegt, alles bei vollem Bewußtsein und Verstand zu erleben.

Das Licht über ihm war nur noch so groß wie ein bleicher Mond hoch am Nachthimmel.

Ein Gedanke schoß Billy durch den Kopf: Das Ganze war wie eine Geburt - nur daß er diesmal aus dem Licht in die Finsternis geworfen wurde.

Der weißliche Mond über ihm schrumpfte auf die Größe eines fernen Sterns zusammen. Der Stern verblaßte immer mehr ...

In der totalen Schwärze hießen viele seltsame zischende Stimmen Billy Neeks willkommen.

In dieser Aprilnacht hallten Echos von gräßlichen Schreien durch den Bungalow, aber sie kamen von so weit her, daß sie zwar in allen Räumen des kleinen Hauses zu hören waren, aber nicht durch die Wände auf die stille Straße drangen. Keiner der Nachbarn hörte etwas. Die Schreie hielten einige Stunden an, verklangen allmählich und wurden durch sabbernde, nagende und kauende Geräusche ersetzt, bis auch das Festmahl zu Ende war.

Dann trat Stille ein.

Diese Stille hielt bis zum nächsten Nachmittag an. Sie wurde durch das Öffnen einer Tür und durch Schritte beendet.

»Ah!« rief die alte Frau glücklich, als sie die Küche betrat und ihre Tasche offen auf dem Boden stehen sah. Sie bückte sich langsam, von Arthritis geplagt, hob die Tasche auf und spähte eine Weile hinein.

Lächelnd zog sie den Reißverschluß zu.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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