Dämmerung des Morgens

»Manchmal benimmst du dich doch wie der dümmste Esel, den man sich vorstellen kann«, sagte meine Frau in jener Nacht, in der ich den Glauben meines Sohnes an den Weihnachtsmann zerstörte.

Wir lagen im Bett, aber ihr war offensichtlich weder nach Einschlafen noch nach Zärtlichkeiten zumute.

Ihre Stimme klang hart und vorwurfsvoll. »Wie konntest du einem kleinen Jungen so etwas antun!«

»Er ist immerhin sieben Jahre alt -«

»Er ist ein kleiner Junge!« fuhr mir Ellen aufgebracht ins Wort. Dies war einer der seltenen Augenblicke, wo wir miteinander stritten; die meiste Zeit über verlief unsere Ehe ausgesprochen glücklich und harmonisch.

Schweigend lagen wir nebeneinander. Die Vorhänge der Balkontür unseres Schlafzimmers im zweiten Stock waren zurückgezogen, und ein fahles Mondlicht beleuchtete schwach den Raum. Doch selbst in diesem Halbdunkel, und obwohl sie ihre Bettdecke bis ans Kinn gezogen hatte, war ihr an der steifen und verkrampften Haltung, in der sie lag und so tat, als versuche sie einzuschlafen, der Zorn anzusehen.

Nach einer Weile sprach sie mich wieder an: »Pete, warum mußtest du den Glauben eines kleinen Jungen, einen völlig harmlosen Glauben, so brutal zerschlagen? Doch nur, weil du so besessen bist -«

»Es war kein harmloser Glaube«, erwiderte ich ruhig, »und ich bin auch nicht besessen -«

»Doch, das bist du!« gab sie barsch zurück.

»Ich glaube doch lediglich an rationale -«

»Ach, halt doch den Mund«, unterbrach sie mich erneut.

»Willst du denn nicht wenigstens mit mir darüber reden?«

»Nein. Das hat ja sowieso keinen Sinn.«

Ich seufzte. »Ach, Ellen, ich liebe dich doch.«

Sie schwieg eine lange Weile.

Der Wind heulte unter dem Dachvorsprung, eine altbekannte Stimme.

Aus dem Geäst eines Kirschbaumes hinter dem Haus kam der Schrei einer Eule.

Schließlich sagte Ellen: »Ich liebe dich auch, Pete. Aber trotzdem hätte ich manchmal große Lust, dir einen Tritt in den Hintern zu geben!«

Damals ärgerte ich mich über ihre Worte, weil ich fand, daß sie mich ungerecht behandelte und ihren niedersten Gefühlen freien Lauf ließ, anstatt ihren Verstand zu gebrauchen. Heute, viele Jahre später, würde ich alles dafür geben, wenn ich sie noch einmal sagen hören könnte, sie wolle mir in den Hintern treten, und diesmal würde ich mich lächelnd zu ihr hinbeugen.

Von klein auf brachte ich meinem Sohn Benny bei, daß Gott nicht existierte, weder unter irgendeinem Namen noch in irgendeiner Form, und daß die Religion die Zuflucht schwacher Menschen sei, die Angst hatten, sich einzugestehen, daß es nur das Universum an sich und sonst nichts gab. Ich sperrte mich dagegen, Benny taufen zu lassen, da diese Zeremonie in meinen Augen einen Initiationsritus darstellte, durch den das Kind in einen Kult von Ignoranz und Irrationalismus eingeweiht würde.

Ellen - meine Frau und Bennys Mutter - war in einer methodistischen Familie aufgewachsen, und immer noch hafteten Schmutzflecken (wie ich es nannte) von ihrem früheren Glauben an ihr. Sie bezeichnete sich als Agnostikerin und brachte es nicht fertig, sich wie ich unzweideutig zum Atheismus zu bekennen. Meine Liebe zu ihr war so groß, daß ich ihr Ausweichen in dieser Frage tolerieren konnte. Nichts als Verachtung empfand ich hingegen für Menschen, die es einfach nicht wahrhaben wollten, daß das Universum gottlos war und daß die menschliche Existenz sich auf nichts weiter als auf einen biologischen Zufall begründete.

Ich verachtete all jene, die sich selbst erniedrigten und vor einem imaginären Herrn der Schöpfung demütig auf die Knie fielen - Methodisten und Lutheraner, Katholiken und Baptisten, Mormonen, Juden und wie sie alle hießen. Mochten sie auch verschiedene Namen tragen, es lief doch alles auf den gleichen törichten Irrglauben hinaus.

Den größten Abscheu empfand ich jedoch für Menschen, die wie ich Rationalisten waren und ursprünglich nicht von der Krankheit Religion befallen gewesen waren, die dann aber plötzlich vom Weg der Vernunft abkamen und in den Abgrund des Aberglaubens fielen. Freiwillig gaben sie ihre wertvollste Habe auf: ihren unabhängigen Geist, ihre Selbständigkeit, ihre geistige Integrität. Und wofür? Für ein paar blödsinnige und vage Versprechungen eines Lebens im Jenseits mit Togas und Harfenmusik. Die Abkehr von ihrer zuvor gehegten rationalen Weltanschauung widerte mich mehr an, als wenn mir ein alter Freund gestanden hätte, er wäre plötzlich besessen auf Sodomie mit Hunden und hätte sich wegen einer deutschen Schäferhündin von seiner Frau scheiden lassen.

Hal Sheen, mein Partner, mit dem ich Fallon & Sheen Design gegründet hatte, war einst ein ebenso überzeugter Atheist gewesen wie ich. Während unserer Studienzeit waren wir unzertrennliche Freunde und ein gefürchtetes Diskussionsteam, wann immer das Thema Religion zur Sprache kam. Jeder, der an die Existenz eines göttlichen Wesens glaubte, und es wagte, unserer Ansicht über das Universum als einem Ort unpersönlicher Mächte zu widersprechen, bereute es hinterher, sich mit uns auf eine Diskussion eingelassen zu haben, denn wir sprachen all diesen Leuten ihren Anspruch auf Erwachsensein ab und schalten sie alberne Kinder. Ja, meist warteten wir nicht einmal ab, bis das Thema Religion angesprochen wurde, sondern provozierten absichtlich solche Studienkollegen, von denen wir mit Sicherheit wußten, daß sie Gläubige waren.

Nach Beendigung unseres Architekturstudiums entschlossen wir uns, ein eigenes Büro zu eröffnen, da keiner von uns beiden für einen anderen Chef arbeiten wollte. Wir träumten von einer kraftvollen und gleichzeitig eleganten, von einer funktionalen und trotzdem schönen Architektur, die auf der ganzen Welt und insbesondere bei unseren Berufskollegen höchste Bewunderung hervorrufen würde. Und mit Köpfchen, Talent und beharrlicher Zielstrebigkeit verwirklichten wir schon in jungen Jahren einige unserer Ziele. Von Fallon & Sheen Design, der Firma zweier Wunderkinder, ging ein Revolution im Baustil aus, die Studenten und erfahrene Praktiker gleichermaßen in Begeisterung versetzte.

Für unseren durchschlagenden Erfolg war vor allem das unserer Arbeit zugrunde liegende atheistische Weltbild verantwortlich. Ganz bewußt entwickelten wir einen neuen Architekturstil, der zur Religion keinerlei Bezug hatte. Den meisten Laien ist es nicht bewußt, daß sämtliche Bauwerke, auch solche, die von modernen Designschulen entworfen wurden, architektonische Elemente enthalten, deren ursprüngliche Bedeutung darin lag, die Autorität Gottes und den Stellenwert der Religion im Leben der Menschen auf subtile Weise zu erhöhen. So bestand der Sinn gewölbter Decken, wie sie zuerst in Kirchen und Kathedralen angewandt wurden, ursprünglich darin, den Blick nach oben zu lenken und somit indirekt den Betrachter dazu zu führen, sich des Himmels und seiner Vergeltung bewußt zu werden. Tonnengewölbe, Kreuzgratgewölbe, Fächergewölbe oder vierteilige und sechsteilige Kreuzrippengewölbe sind mehr als nur gewundene Bögen; sie waren gedacht als Vermittler der Religion, verkündeten Ihn und Seine Autorität.

Für uns stand von Anfang an fest, daß keine gewölbten Decken, keine spitz zulaufenden Teile, keine Fenster oder Türen mit Rundbogen, kurz: kein Bauelement, das auch nur den geringsten sakralen Bezug hatte, in ein von Fallon & Sheen entworfenes Gebäude integriert würde. Unser Ziel war das genaue Gegenteil: den Blick zur Erde zu lenken und all jene, die durch unsere Gebäude schritten, mittels unzähliger raffinierter Kunstgriffe daran zu erinnern, daß sie nicht etwa Kinder irgendeines Gottes seien, sondern Kinder der Erde und nichts weiter als geistig etwas höherentwickelte Vettern der Affen.

Hals Wiedereintritt in die römisch-katholische Kirche, der er als Kind angehört hatte, versetzte mir deshalb einen großen Schock. Im Alter von siebenunddreißig Jahren, als er auf der Höhe seiner Karriere stand und durch seinen einzigartigen Erfolg die Überlegenheit des freien, rational denkenden Menschen über imaginäre Gottheiten unter Beweis stellte, nahm er mit offenkundiger Freude wieder die Rolle eines konfessionsgebundenen, demütigen Subjekts an der Kommunionbank ein, benetzte Stirn und Brust mit sogenanntem Weihwasser und verwarf das geistige Fundament, auf dem er bis dahin während seines gesamten Erwachsenendaseins gestanden hatte.

Ich war darüber zutiefst erschüttert.

Nun, da die Religion mir Hal Sheen genommen hatte, verabscheute ich sie um so mehr. Ich achtete mehr denn je darauf, daß aus dem Leben meines Sohnes jedweder Anflug von religiösem Gedankengut oder Aberglauben verbannt blieb, und ich war fest entschlossen, es mit allen in meiner Macht stehenden Mitteln zu verhindern, daß Benny mir von irgendwelchen weihrauchschwenkenden, glöckchenbimmelnden, hymnensingenden, sich selbst betrügenden Idioten entrissen würde. Kaum daß er lesen konnte, begann Benny Bücher geradezu zu verschlingen, und ich achtete darauf, daß er keine Bücher las, die den religiösen Glauben auch nur indirekt als einen positiven Teil des Lebens darstellten, und lenkte sein Interesse eisern auf durchweg weltliche Themen, die keine ungesunden Fantasien weckten. Als ich bemerkte, daß Benny, wie wohl die meisten Kinder, ebenfalls Begeisterung für Vampire, Geister und das ganze Spektrum traditioneller Monster empfand, versuchte ich mit aller Gewalt, ihm diese Faszination auszutreiben, machte mich darüber lustig und belehrte ihn, wie erstrebenswert es sei, über solchen Kinderkram hinauszuwachsen. Nicht daß ich ihm gänzlich verboten hätte, eine gute Gruselgeschichte zu genießen, denn das hatte ja nichts mit Religion zu tun. Benny durfte durchaus die Spannung auskosten, die Bücher über Tötungsroboter, Kinofilme über das Frankenstein-Monster und andere bedrohliche, von Menschen erfundene Fantasiegebilde erzeugten. Doch Bücher und Filme, in denen Monster teuflischen Ursprungs vorkamen, verbot ich ihm, denn der Glaube an satanische Dinge ist nur ein anderer Aspekt des religiösen Glaubens, sozusagen die B-Seite der Anbetung Gottes.

Bis zum Alter von sieben Jahren ließ ich ihm, wenn auch widerwillig, den Glauben an den Weihnachtsmann. Denn selbstverständlich liegt dieser Legende ja ein christliches Element zugrunde. Ellen war es, die darauf bestand, Benny diesen Glauben zu lassen. Ich ließ mich halbwegs davon überzeugen, daß dies harmlos sei, stellte aber die Bedingung, daß wir Weihnachten wie ein weltliches Fest feierten, das nichts mit der Geburt Jesu zu tun hatte. Für uns war es eine Familienfeier, an der wir zuallererst dem Materialismus huldigten und bei der die Geschenke die Hauptsache waren.

Hinter unserem großen Haus in Buck’s County, Pennsylvania, standen zwei große, alte Kirschbäume, in deren Schatten Benny und ich während der wärmeren Jahreszeiten oft saßen und Halma oder Karten spielten. An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Tag Anfang Oktober, als Benny sieben Jahre alt war, saßen wir wieder einmal unter jenen Zweigen, denen die zerrenden Hände des Herbstes bereits fast alle Blätter entrissen hatten. Wir spielten gerade Halma, und auf einmal fragte mich Benny, ob der Weihnachtsmann ihm dieses Jahr wohl viele Geschenke bringen werde. Ich erwiderte ihm, daß es doch noch viel zu früh sei, um an den Weihnachtsmann zu denken, doch er erklärte mir, daß alle Kinder schon jetzt an den Weihnachtsmann dachten und dabei seien, ihre Wunschzettel zu schreiben. Dann fragte er: »Papi, woher weiß der Weihnachtsmann eigentlich, ob wir brav oder böse gewesen sind? Er kann doch nicht alle Kinder gleichzeitig beobachten, oder? Verraten es ihm vielleicht unsere Schutzengel?«

»Schutzengel?« rief ich entsetzt und glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Was weißt denn du über Schutzengel?«

»Nun, daß sie uns beschützen und uns helfen, wenn wir in Not sind, stimmt’s? Darum könnte es doch sein, daß sie auch mit dem Weihnachtsmann über uns sprechen.«

Schon ein paar Monate nach Bennys Geburt hatte ich mich mit gleichgesinnten Eltern in unserer Gemeinde zusammengeschlossen, um eine Privatschule zu gründen, die auf den Prinzipien eines weltlichen Humanismus basierte, in der jeder noch so entfernte religiöse Gedanke aus dem Lehrplan verbannt wurde. Wir waren fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß unseren Kindern Kenntnisse in Geschichte, Literatur, Soziologie und Ethik von einer rationalen, profanen Sicht aus beigebracht wurden. Benny hatte diese Vorschule besucht und war in jenem Oktober, von dem ich gerade erzähle, in der zweiten Klasse der Grundschule, und seine Klassenkameraden kamen aus Familien, die von den gleichen rationalen Prinzipien geleitet wurden wie die unsere. Darum überraschte es mich, daß er trotzdem religiöser Propaganda ausgesetzt war.

»Wer hat dir erzählt, daß es Schutzengel gibt, Benny?«

»Ein paar Spielkameraden.«

»Glauben sie denn wirklich, daß es diese Engel gibt?«

»Ja, ich denke schon.«

»Und warum?«

»Weil sie sie im Fernsehen gesehen haben.«

»Wie bitte?«

»Ja, in einer Sendung, die ich nicht ansehen darf. >Ein Engel auf Erden< heißt sie.«

»Und nur, weil sie es im Fernsehen gesehen haben, glauben sie, daß es wahr ist?«

Benny zuckte die Schultern und rückte mit seiner Spielfigur auf dem Spielbrett um fünf Felder vor.

Damals glaubte ich, daß die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, das Verderben aller Männer und Frauen von Verstand und Vernunft sei, nicht zuletzt deshalb, weil sie alle Arten religiösen Aberglaubens verbreiteten und einen außerordentlichen Einfluß auf unser Leben ausübten, da sie ja jeden Aspekt davon aufgriffen. Durch Bücher und Kinofilme wie >Der Exorzist< und Fernsehsendungen wie >Ein Engel auf Erden< wurden selbst die eifrigsten Bemühungen von Eltern zunichte gemacht, ihr Kind in einer Atmosphäre reiner Vernunft aufzuziehen.

Die für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Oktoberbrise war zu schwach, um unsere Spielkarten wegzuwehen, aber sie spielte mit Bennys dünnem, braunem Haar. Windzerzaust saß er auf seinem durch ein Kissen erhöhten Gartenstuhl, um auf Tischhöhe zu sein. Er sah so klein und verletzlich aus. Gerade weil ich ihn so sehr liebte und mir das bestmögliche Leben für ihn erhoffte, schwoll jetzt mein Ärger von Sekunde zu Sekunde mehr an. Er richtete sich nicht gegen Benny, sondern gegen jene Leute, die, selbst durch ihre verdrehte Philosophie geistig und gefühlsmäßig verwirrt, es wagten, auch noch ein unschuldiges Kind zu indoktrinieren.

»Benny, hör mir mal zu«, sagte ich. »Es gibt keine Schutzengel. Das ist vollkommener Quatsch. Diese dumme Lüge erzählen nur die Leute, die dir einreden wollen, du seist für deine Erfolge im Leben nicht selbst verantwortlich. Sie möchten, daß du glaubst, daß das Böse, das dir zustößt, deine eigene Schuld sei, weil das die Strafe für deine Sünden sei; die schönen Dinge dagegen seien der Gnade ihres Herrn zu verdanken. Auf diese Weise wollen sie dich unter Kontrolle halten. Genau das ist nämlich die Religion: ein Werkzeug, um dich zu kontrollieren und zu unterdrücken.« Er blickte mich verständnislos an. »Welcher Herr?« Ich starrte ebenso verständnislos zurück. »Wie bitte?« »Welchen Herrn meinst du denn? Etwa den Herrn Keever, dem der Spielzeugladen gehört? Mit welchem Werkzeug will er mich denn zerdrücken?« Er kicherte. »Meinst du, ich werde plattgebügelt und danach an einen Kleiderbügel gehängt? Papi, du redest vielleicht dummes Zeug.«

Ich vergaß, daß er ja erst sieben Jahre alt war und es ihn überforderte, wenn ich ernsthaft mit ihm über die Unterdrückung des Menschen durch die Religion diskutieren wollte, so als säßen wir wie zwei Intellektuelle bei einer Tasse Espresso in einem Cafe. Als mir bewußt wurde, wie töricht das von mir war, errötete ich, schob das Halma-Brett zur Seite und versuchte ihm mit einfachen Worten zu erklären, warum es nicht bloß ein argloser Spaß sei, wenn man an solchen Unsinn wie Schutzengel glaubte, sondern auch ein Schritt zu schlimmer geistiger und gefühlsmäßiger Versklavung. Er blickte mich abwechselnd gelangweilt, verwirrt, verlegen und völlig verständnislos an und schien mich nicht im geringsten zu verstehen. Meine Frustration nahm immer mehr zu, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich seinen Glauben an den Weihnachtsmann zerstörte.

Mir wurde damals plötzlich klar, daß ich, indem ich ihn an das Märchen vom Weihnachtsmann glauben ließ, genau das erreichte, was ich mit aller Gewalt hatte verhindern wollen: Ich legte damit den Grundstein zu einer irrationalen Denkweise.

Wie hatte ich nur so naiv sein können, zu glauben, daß man Weihnachten, ein Fest christlichen Ursprungs, in völlig weltlicher Atmosphäre feiern und den religiösen Bezug total ignorieren könne. Benny mußte doch unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß der geistige Aspekt dieses Festtages ebenso wichtig war wie der materialistische, denn schließlich war es nicht damit getan, daß wir in unserem Haus einen Weihnachtsbaum aufstellten und uns gegenseitig beschenkten. Ihm konnte ja der ganze Zirkus, der zur Weihnachtszeit veranstaltet wurde, wie das Aufstellen von Krippen vor den Kirchen oder die Weihnachtsdekoration mit Trompetenengeln aus Plastik in den Kaufhäusern, nicht entgehen. Und dann war es nicht weiter verwunderlich, wenn all das dumme Gerede über Schutzengel und die Erlösung von den Sünden bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel.

Während wir unter den Ästen der Kirschbäume saßen und eine Oktoberbrise uns langsam wieder in Richtung Weihnachten wehte, erzählte ich Benny, daß es gar keinen Weihnachtsmann gab und daß es in Wirklichkeit seine Mutter und ich waren, von denen die Geschenke stammten. Er wollte mir nicht glauben und nannte entrüstet Beweise für die Existenz des Weihnachtsmannes: Die Weihnachtsplätzchen und die Milch, die er immer für den bärtigen Gesellen vor die Tür stellte, seien schließlich jedesmal verschwunden. Ich verriet ihm, daß in Wahrheit ich es war, der die Plätzchen aufaß und die Milch - die ich nicht mag - jedesmal in den Abfluß goß. Mit schonungsloser Offenheit, doch - so glaubte ich zunächst - auf liebevolle Weise, zerstörte ich den geheimnisvollen Zauber, den Weihnachten auf ein Kind ausübt, und ließ keinen Zweifel daran, daß das Gerede über den Weihnachtsmann nur ein gutgemeintes, aber törichtes Ammenmärchen sei.

Er hörte mir schweigend und ohne weiteren Widerspruch zu. Als ich schließlich fertig war, gab er vor, müde zu sein, rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Er sagte, er habe keine Lust mehr weiterzuspielen, und wolle sich in seinem Zimmer eine Weile hinlegen.

Die letzten Worte, die ich unter den Kirschbäumen zu ihm sagte, waren, daß charakterfeste, in sich ruhende Menschen keine erfundenen Freunde wie den Weihnachtsmann oder Schutzengel brauchten. »Wir können uns nur auf uns selbst, auf unsere Freunde und auf unsere Familien verlassen, Benny. Wenn wir einen Wunsch haben, geht er nicht dadurch in Erfüllung, daß wir den Weihnachtsmann darum bitten und schon gar nicht, indem wir dafür beten. Nur wenn wir selbst dafür arbeiten oder dank der Großzügigkeit von Freunden oder Verwandten erreichen wir die Erfüllung eines Wunsches. Es ist völlig sinnlos, sich einfach nur etwas zu wünschen oder für etwas zu beten.«

Drei Jahre später, als Benny im Krankenhaus lag und an Knochenkrebs starb, begriff ich zum ersten Mal in meinem Leben, warum andere Leute Zuflucht bei Gott und Trost im Gebet suchten. Während unseres Lebens werden wir manchmal von einem so schweren Schicksalsschlag getroffen, daß die Versuchung, für die grausamen Ereignisse auf dieser Welt mystische Erklärungen zu suchen, tatsächlich sehr groß ist.

Selbst wenn wir es akzeptieren können, daß unser eigener Tod endgültig ist und unsere Seele nicht weiterlebt, während unser Körper verwest, so können doch die meisten von uns die Vorstellung nicht ertragen, daß unsere Kinder, wenn sie schon in frühem Alter sterben, nicht in einer anderen Welt weiterleben. Kinder sind doch etwas ganz anderes, wie kann es dann sein, daß auch sie so endgültig ausgelöscht werden, als hätten sie nie existiert? Ich habe erlebt, wie Atheisten, die jede Art von Religion verachteten und niemals für sich selbst hätten beten können, Gott plötzlich um Hilfe für ihre schwerkranken Kinder anflehten - doch kurz darauf, teils beschämt, meist aber reuevoll erkannten, wie töricht sie gewesen waren und wie sehr es im Widerspruch zu ihrer Weltanschauung stand, dies getan zu haben.

Ich hingegen warf meine Überzeugungen nicht über Bord, nicht einmal, als Benny von Knochenkrebs befallen wurde. Nicht ein einziges Mal während dieser qualvollen Zeit wurde ich meinen Prinzipien untreu, indem ich mich flennend an Gott wandte. Ich war felsenfest entschlossen, standhaft zu bleiben und mit meinem Kummer allein fertig zu werden, selbst wenn es Zeiten gab, in denen ich allen Mut sinken ließ und das Gefühl hatte, als würde auf meinen Schultern ein Berg voll Sorgen lasten, unter dem sie zu zersplittern und zusammenzubrechen drohten.

An jenem Oktobertag, als Benny sieben Jahre alt war und ich unter den Kirschbäumen saß und ihm nachsah, wie er ins Haus lief, um ein Nickerchen zu machen, ahnte ich nicht, welcher Belastungsprobe meine Prinzipien und meine Selbstsicherheit noch ausgesetzt werden würden. Ich war stolz darauf, meinen Sohn endlich von seinen christlich besetzten Fantasien über den Weihnachtsmann befreit zu haben, und ich war felsenfest davon überzeugt, daß Benny, wenn er erst einmal erwachsen war, mir für die rationale Erziehung, die ich ihm hatte zuteil werden lassen, dankbar sein würde.

Als Hal Sheen zu mir sagte, er sei in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt, glaubte ich zunächst, er mache einen Scherz. Wir saßen gerade nach der Arbeit in einer Hotelbar in der Nähe unseres Büros, und ich war der Meinung, Hal habe mich hierher eingeladen, um auf einen Großauftrag anzustoßen, den er für uns an Land gezogen hätte. »Ich muß dir etwas Wichtiges mitteilen«, hatte er an jenem Morgen geheimnisvoll gesagt. »Wie wär’s, wenn wir um sechs Uhr auf ein Glas ins Regency gingen?« Doch dort eröffnete er mir nicht etwa, daß wir den Zuschlag für die Planung eines Bauwerks erhalten hatten, womit die Legende von Fallon & Sheen um ein weiteres Kapitel verlängert worden wäre, sondern statt dessen offenbarte er mir, daß er nach einjähriger stiller Überlegung zu dem Entschluß gekommen sei, den Atheismus abzustreifen, wie ein Falter seinen Kokon, um in das Reich des Glaubens zurückzuflattern. Grinsend wartete ich auf die Pointe des Scherzes; er hingegen lächelte nur vor sich hin, und irgend etwas lag in diesem Lächeln - vielleicht war es Mitleid mit mir -, wodurch mir schlagartig bewußt wurde, daß er es vollkommen ernst meinte.

Ich machte Einwände, zunächst in einem sachlichen, dann in einem immer erregteren Tonfall. Ich verhöhnte ihn für sein Bekenntnis, er habe wieder zu Gott zurückgefunden, und versuchte ihn zu beschämen, weil er seine geistige Unabhängigkeit aufgegeben habe.

»Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß der Mensch ein Intellektueller und zugleich ein praktizierender Christ, Jude oder Buddhist sein kann«, sagte Hal mit einer Selbstbeherrschung, die mich aufbrachte.

»Niemals«, rief ich erbost und schlug mit der Faust auf den Tisch, um meiner Verstimmung über diese absurde Behauptung Nachdruck zu verleihen. Unsere Cocktailgläser klirrten, ein unbenutzter Aschenbecher fiel beinahe vom Tisch, und die anderen Gäste blickten erstaunt zu uns herüber.

»Nimm zum Beispiel Malcolm Muggeridge«, sagte Hal. »Oder C. S. Lewis. Oder Isaac Singer. Zwei Christen und ein Jude - und unbestritten alle drei Intellektuelle.«

»Hast du deine eigenen Worte vergessen?« rief ich erregt aus. »Wie oft haben andere Leute diese und andere Namen als Beispiele angeführt, wenn wir mit ihnen über diese geistige Überlegenheit des Atheismus diskutiert haben. Hast du sie nicht genau wie ich davon zu überzeugen versucht, was für große Narren Menschen vom Typ Muggeridge, Lewis und Singer doch sind?«

Er zog bedauernd die Schultern hoch. »Ich habe mich eben getäuscht.«

»Einfach nur getäuscht?«

»Nein, nicht einfach nur getäuscht. Versuche doch, es nachzuvollziehen, Pete. Schließlich habe ich ein Jahr lang mit mir gerungen ... ich habe mich mit aller Macht dagegen zu wehren versucht, zum Glauben zurückzukehren, und trotzdem bin ich bekehrt worden.«

»Bekehrt worden? Von wem? Welcher propagandistische Pfarrer oder .«

»Kein anderer Mensch hat mich bekehrt. Das hat sich alles in meinem Innern abgespielt, Pete. Ich habe mit keiner Menschenseele darüber gesprochen, was für ein Drahtseilakt in mir ablief.«

»Was hat denn diesen Drahtseilakt ausgelöst?«

»Nun, mein Leben kommt mir seit ein paar Jahren ganz einfach leer vor .«

»Leer? Hast du nicht alles, was man sich erträumen kann? Du bist jung und gesund, bist mit einer intelligenten und sehr hübschen Frau verheiratet; du bist auf der Höhe deiner Karriere, wirst von aller Welt für die Originalität und Ausdruckskraft deines Architekturstils bewundert, und obendrein bist du wohlhabend! Und das nennst du ein leeres Leben?«

Er nickte. »Ja, so ist es. Ich habe allerdings nicht herausgefunden, warum das so ist. Genau wie du gerade eben habe ich alles aufgezählt, was ich besitze, und hätte eigentlich zu dem Schluß kommen müssen, daß ich der glücklichste Mensch auf der Erde bin. Trotzdem war da diese innere Leere, und bei jedem neuen Projekt, das wir angingen, ließ mein Interesse an der Arbeit mehr und mehr nach. Allmählich dämmerte es mir, daß alles, was ich bisher gebaut hatte und alles, was ich in Zukunft noch bauen würde, mich nicht befriedigen konnte, weil diese Leistungen nicht von bleibender Dauer waren. Sicher, es kann durchaus sein, daß eines unserer Bauwerke zweihundert Jahre lang steht, trotzdem sind doch ein paar Jahrhunderte nichts weiter als ein paar winzige Sandkörnchen im Stundenglas der Zeit. Konstruktionen aus Stein, Stahl und Glas haben nicht ewig Bestand, sie sind nicht, wie wir einmal glaubten, Zeugnisse der genialen Schöpfungskraft des Menschen. Im Gegenteil: sie sind Mahnmale dafür, daß selbst unsere gewaltigsten Monumente zerbrechlich sind, daß unsere großartigsten Bauwerke durch Erdbeben, Kriege oder Flutwellen von einer Minute auf die andere zerstört werden können, oder auch ganz langsam, indem nämlich Sonne, Wind und Regen sie im Laufe Tausender von Jahren zerfressen. Worin besteht also der Sinn des Ganzen?«

»Der Sinn besteht darin, daß wir durch den Bau dieser Gebäude und vor allem, indem wir immer bessere und schönere Gebäude entwerfen, den Lebensstandard unserer Mitmenschen steigern«, belehrte ich ihn verärgert, »und daß wir andere durch unser Beispiel ermutigen, ihrerseits höhere Ziele anzustreben. Und so sorgen wir schließlich alle miteinander für eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit.«

»Ja schon, aber wozu diese Anstrengungen?« fuhr er fort. »Wenn es kein Jenseits gibt, wenn die Existenz eines jeden Lebewesens mit dem Tod endet, dann gleicht doch das kollektive Schicksal haargenau dem eines jeden einzelnen: Tod, Leere, Dunkelheit, das absolute Nichts. Und nichts kann aus dem Nichts werden. Du kannst doch keinen edleren, höheren Daseinszweck für die gesamte Menschheit fordern, wenn du nicht auch jeder einzelnen Seele ein höheres Ziel zugestehst.« Er hob seine Hand, um meinem Widerspruch Einhalt zu gebieten. »Ich weiß, ich weiß. Dir liegen Gegenargumente auf der Zunge. Sie sind mir bekannt, denn ich habe sie ja in unseren zahllosen Debatten über dieses Thema selbst vertreten. Aber ich habe meine Meinung inzwischen geändert, Pete. Ich glaube, das Leben hat noch einen anderen Sinn, als daß wir nur leben, um zu leben. Wenn ich anders denken würde, ließe ich ab sofort die Arbeit Arbeit sein, würde mich für den Rest meines Lebens nur noch amüsieren und die wertvollen, mir noch verbleibenden Tage meines Lebens auskosten. Aber dem ist nicht so, denn heute glaube ich, daß es etwas gibt, das sich Seele nennt und das über den Tod hinaus existiert. Ich kann jetzt weiterhin bei Fallon & Sheen arbeiten, weil ich dies als mein Schicksal ansehe und meine Arbeit aus diesem Grund sinnvoll ist. Ich hoffe, du kannst meinen Standpunkt akzeptieren. Keine Angst, ich werde niemals versuchen, dich zu bekehren. Ich werde das Thema Religion nie wieder in deiner Gegenwart ansprechen, denn ich respektiere dein Recht, nicht zu glauben. Ich bin mir sicher, daß wir weiterhin genausogut zusammenarbeiten können wie bisher.«

Aber das war ein Irrtum.

Ich hielt den religiösen Glauben für ein abscheuliches Symptom geistigen Verfalls und fühlte mich fortan in Hals Gegenwart unbehaglich. Ihm gegenüber tat ich so, als stünden wir uns so nahe wie eh und je, als, hätte sich zwischen uns nichts geändert. Doch insgeheim hatte ich das Gefühl, daß er nicht mehr derselbe war.

Abgesehen davon begann Hals wieder angenommener Glaube seinen Architekturstil zu infizieren. Seine Konstruktionen wiesen auf einmal gewölbte Decken und Bogenfenster auf, und seine neuen Bauwerke lenkten den Blick und die Sinne himmelwärts. Einige unserer Auftraggeber begrüßten diesen Stilwandel, und Kritiker angesehener Fachzeitschriften äußerten sich positiv darüber. Aber ich konnte ihn nicht ertragen, da ich wußte, daß er sich von unserem >Markenzeichen<, einer Architektur, in deren Zentrum der Mensch stand, wegbewegte. Vierzehn Monate nach seiner Rückkehr in den Schoß der römisch-katholischen Kirche verkaufte ich meine Geschäftsanteile an ihn und machte ein eigenes Büro auf.

»Hal, selbst als du dich noch als Atheist bezeichnet hast, war es dir offensichtlich nicht klar, daß wir uns vor dem Nichts, das uns am Ende des Lebens erwartet, weder zu fürchten, noch dagegen aufzubegehren brauchen«, sagte ich zu ihm, als ich ihn zum letztenmal sah. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man nimmt dies als eine bedauerliche Tatsache des Lebens hin, oder als eine, die man gutheißt.«

Ich persönlich hielt es für positiv und befreiend, mir keine Gedanken über ein Leben nach dem Tod machen zu müssen. Als Ungläubiger konnte ich mich voll darauf konzentrieren, auf dieser Welt, der einzigen Welt, die es gab, meinen gerechten Lohn zu erlangen.

An jenem Abend, als ich Bennys Glauben an den Weihnachtsmann zerstörte, an jenem Abend, als Ellen mir sagte, sie wolle mir einen Tritt in den Hintern geben, während wir in unserem mondbeschienenen Schlafzimmer nebeneinander in unserem riesigen Himmelbett lagen, sagte sie noch: »Pete, du hast mir alles über deine Kindheit erzählt, außerdem habe ich deine Eltern kennengelernt und kann es sehr gut nachvollziehen, wie es gewesen sein muß, in solch einer verrückten Atmosphäre aufzuwachsen. Ich verstehe sehr gut, daß du als Gegenreaktion auf ihren religiösen Fanatismus Atheist geworden bist. Aber manchmal gehst du einfach zu weit. Du gibst dich nicht damit zufrieden, selbst ein Atheist zu sein, sondern du willst deine Weltanschauung mit aller Gewalt allen anderen aufzwingen, so daß du dich im Grunde genommen nicht anders verhältst als deine Eltern ... mit dem einzigen Unterschied, daß du die anderen statt zu Gott zur Gottlosigkeit bekehren willst.«

Ich richtete mich im Bett auf und blickte zu ihrer unter der Decke verhüllten Gestalt herunter. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie mir den Rücken zuwandte.

»Das ist doch alles blanker Unsinn, Ellen!«

»Nein, das ist die Wahrheit!«

»Ich verhalte mich keineswegs so wie meine Eltern. Ich prügle Benny doch den Atheismus nicht ein, so wie sie versuchten, Gott in mich hineinzuprügeln!«

»Was du ihm heute angetan hast, war ebenso schlimm wie wenn du ihn geschlagen hättest!«

»Ellen, alle Kinder erfahren doch einmal, daß es keinen Weihnachtsmann gibt, viele sogar in einem viel früheren Alter als Benny!«

Sie drehte sich zu mir um, und ich konnte nun in dem Dämmerlicht undeutlich den Ausdruck von Ärger auf ihrem Gesicht erkennen, doch leider nicht den Ausdruck von Liebe, den ich trotz allem auf ihrem Gesicht vermutete. »Natürlich erfahren sie alle einmal die Wahrheit über den Weihnachtsmann, aber ihnen wird diese Fantasie nicht von ihren eigenen Vätern zerstört, verdammt noch mal!« fuhr sie zornig fort.

»Ich habe sie nicht zerstört, sondern ich habe das Thema ganz sachlich mit ihm diskutiert!«

»Er ist doch kein Student in einer Diskussionsrunde«, sagte sie. »Du kannst doch mit einem sieben Jahre alten Jungen keine Diskussionen führen. In dem Alter denken und handeln die Kinder noch völlig emotional. Pete, nachdem du Benny heute so abgefertigt hattest, kam er ins Haus gelaufen, rannte hoch in sein Zimmer, und als ich eine Stunde später hinaufging, um nach ihm zu sehen, weinte er immer noch.«

»Ja, ist ja schon gut«, sagte ich. »Ich komm mir ja schon vor wie ein Schuft.«

»Das solltest du auch!«

»Ich gebe zu, daß ich das Thema taktvoller hätte angehen können, daß ich behutsamer hätte vorgehen können.«

Wortlos drehte sie sich wieder auf die andere Seite.

»Aber grundsätzlich habe ich nichts Falsches getan«, sagte ich. »Es war ein großer Fehler zu glauben, wir könnten Weihnachten wie ein völlig weltliches Fest feiern. Unschuldige Fantasien können sich zu solchen entwickeln, die keineswegs mehr unschuldig sind.«

»Ach, halt doch endlich deinen Mund«, brauste sie wieder auf. »Halt deinen Mund und schlaf, bevor ich noch vergesse, daß ich dich liebe.«

Der Fernfahrer, von dessen Lastwagen Ellen überfahren wurde, wollte mehr Geld verdienen, um sich ein Boot kaufen zu können. Er war Fischer, der leidenschaftlich gerne mit der Schleppangel fischte, und um sich das dazugehörige Boot leisten zu können, mußte er sich zusätzliche Arbeit suchen. Er hatte Amphetamine geschluckt, um nicht einzuschlafen. Der Lastwagen war ein Peterbilt, das größte Modell, das gebaut wird. Ellen fuhr ihren blauen BMW. Die Fahrzeuge stießen frontal zusammen, und obwohl sie offensichtlich versuchte auszuweichen, hatte sie keine Chance.

Benny erlitt einen schweren Schock. Ich ließ meine Arbeit liegen und blieb den ganzen Juli über mit ihm zu Hause. Er brauchte viel liebevolle Zuwendung und Zuspruch und mußte behutsam soweit gebracht werden, daß er diesen schweren Schlag verkraften konnte. Auch mir ging es sehr schlecht, denn Ellen war noch mehr für mich gewesen als meine Frau und meine Geliebte: meine strengste Kritikerin, meine größte Anhängerin, mein bester Kamerad und meine einzige Vertraute. Nachts, allein in unserem Schlafzimmer, legte ich mein Gesicht auf das Kopfkissen, auf dem sie geschlafen hatte, sog den Geruch von ihr ein, der noch darauf haftete, und weinte; erst nach mehreren Wochen brachte ich es über mich, den Bezug zu wechseln. Benny gegenüber gelang es mir fast immer, die Fassung zu bewahren und ihm ein Beispiel von Stärke zu geben, das er so dringend brauchte.

Es gab keine Beerdigung. Ellen wurde eingeäschert und ihre Asche ins Meer gestreut.

Einen Monat später, am ersten Sonntag im August, als wir uns, traurig und widerwillig, allmählich mit der unabänderlichen Tatsache abzufinden begannen, luden wir vierzig oder fünfzig Freunde und Verwandte zu uns ein und hielten für Ellen eine stille Gedenkfeier ab, eine rein weltliche Feier, ohne den geringsten religiösen Anflug. Wir standen zusammen auf der Terrasse neben dem Gartenteich, und einige Freunde begannen amüsante Anekdoten über Ellen zu erzählen und betonten, welch großen Einfluß sie auf ihr Leben gehabt habe.

Ich war darauf bedacht, daß Benny während der ganzen Feier nicht von meiner Seite wich, denn ich wollte, daß er hörte, wie viele andere Menschen seine Mutter ebenfalls geliebt hatten, und daß sie nicht nur für uns beide, sondern für viele andere Menschen ebenfalls sehr wichtig gewesen war. Er war damals erst acht Jahre alt, aber diese Gedenkfeier schien ihm genau die Art Trost zu geben, die ich mir davon erhofft hatte. Zwar weinte er, während er den Erzählungen der anderen über seine Mutter lauschte, aber seinem kummervollen Gesicht und seinen Augen war nach einer Weile deutlich anzusehen, wie sein Stolz auf seine Mutter wuchs, welch großes Vergnügen es ihm bereitete, ihre Freunde erzählen zu hören, was für Streiche sie ihnen gespielt hatte und wie fasziniert er davon war, für ihn völlig neue Wesenszüge seiner Mutter kennenzulernen. Mit der Zeit gelang es ihm, dank dieser neu geweckten Gefühle besser mit seinem Kummer über den Verlust der Mutter fertig zu werden.

Am Morgen nach der Gedenkfeier stand ich erst spät auf. Benny war nicht in seinem Zimmer und ich fand ihn schließlich unter einem der Kirschbäume hinter dem Haus sitzend. Er hatte seine Knie hochgezogen, die Arme um seine Beine verschränkt und blickte gedankenverloren hinüber auf die gegenüberliegende Seite des breiten Tals, in dem wir wohnten. Doch sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, das in noch viel weiterer Ferne lag.

Ich ließ mich neben ihm nieder. »Na, wie geht’s?«

»Ganz gut«, antwortete er.

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Über unseren Köpfen raschelten die Blätter leise im Wind. Die strahlend weißen Blüten des Frühlings waren natürlich längst verblüht, und halbreife Früchte schmückten jetzt die Zweige. Es war ein heißer Tag, doch der Baum spendete einen wohltuenden, erfrischenden Schatten.

Nach einer Weile murmelte er: »Papi?«

»Hmmmm?«

»Wenn es dir nichts ausmacht .«

»Was soll mir etwas ausmachen?«

»Ich weiß, daß du denkst, daß .«

»Was denke ich?«

»Daß es keinen Himmel und keine Engel und nichts dergleichen gibt.«

»Das denke ich nicht nur, Benny, sondern das ist tatsächlich so.«

»Ja, aber trotzdem - wenn es dir nichts ausmacht, dann möchte ich mir vorstellen, daß Mami im Himmel ist, wie ein richtiger Engel, mit Flügeln und all dem.«

Natürlich war er einen Monat nach ihrem Tod immer noch in einer sehr schlechten Gemütsverfassung, und mir war klar, daß er noch viele Monate, wenn nicht gar Jahre brauchen würde, um diesen Schicksalsschlag zu verkraften. Deshalb hielt ich mich zurück und kam nicht gleich wieder mit einem meiner üblichen Argumente über die Torheit des religiösen Glaubens.

Ich schwieg einen Augenblick lang und sagte dann: »Laß mich ein paar Minuten darüber nachdenken, ja?«

Wir saßen aneinandergelehnt da und ließen unsere Blicke über das Tal schweifen, ohne daß einer von uns beiden die vor uns liegende Landschaft tatsächlich wahrnahm. Ich sah Ellen vor mir, wie sie am vierten Juli des vergangenen Sommers ausgesehen hatte, mit weißen Shorts und einer gelben Bluse, wie sie mit Benny und mir Frisbee gespielt hatte, ausgelassen und fröhlich lachend. Ich weiß nicht, was Benny vor Augen hatte; ich nehme an, in seinem Kopf schwirrten bunte Bilder vom Himmel, von Engeln mit Heiligenschein und goldenen Wendeltreppen, die sich zu einem goldenen Thron hochwanden, herum.

»Ich glaube einfach nicht, daß sie nicht mehr lebt«, sagte er nach einer Weile. »Sie war viel zu lieb. Sie muß einfach noch da sein ... irgendwo.«

»Das stimmt ja auch, Benny. Sie ist ja auch irgendwo. Deine Mutter lebt in dir selbst weiter. Du trägst zum Beispiel ihre Gene in dir. Darunter kannst du dir zwar noch nichts vorstellen, aber du trägst sie: ihr Haar, ihre Augen . Und gerade weil sie so ein guter Mensch war und sie auch dir die richtigen Werte beigebracht hat, wirst du ein ebenso guter Mensch werden wie sie. Und eines Tages wirst du selbst Kinder haben, und dann wird deine Mutter auch in ihnen weiterleben und wiederum in deren Kindern. Ja, und außerdem lebt deine Mutter in unserer Erinnerung weiter und natürlich in der Erinnerung ihrer Freunde. Indem sie zu vielen Menschen so gut war, hat ihre Güte auf diese Menschen eingewirkt. Sie werden immer wieder an sie denken, und Mutters Einfluß ist es zu verdanken, daß diese Leute selbst gütiger zu anderen Menschen sind. Und so setzt sich diese Güte weiter und weiter fort.«

Er hörte mir mit ernstem Gesicht zu, wenn ich auch vermutete, daß die Begriffe von Unsterblichkeit durch Vererbung und indirekte Unsterblichkeit durch moralische Verbundenheit mit anderen Menschen über seine Vorstellungskraft hinausgingen. Ich überlegte, wie ich mich anders ausdrücken könnte, damit auch ein Kind es verstehen würde.

Aber dann sagte er eigensinnig: »Nein, Papi, das ist mir zu wenig. Ist ja schön, wenn viele Leute immer an sie denken werden. Aber das ist mir nicht genug. Sie muß irgendwo sein. Nicht nur die Erinnerung an sie. Sie muß weiterleben ... wenn es dir also nichts ausmacht, werde ich mir von jetzt an vorstellen, daß sie im Himmel ist.«

»Es macht mir aber sehr wohl etwas aus, Benny.« Ich legte meinen Arm um ihn. »Das einzig Richtige, was man tun kann, mein Sohn, ist, einer unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu sehen -«

Er schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Papi, sie ist noch am Leben. Sie ist nicht einfach gestorben. Sie ist jetzt irgendwo anders. Ich weiß, daß es so ist. Und sie ist glücklich dort, wo sie jetzt ist.«

»Benny -«

Er stand auf, blickte zu den Bäumen hinauf und sagte: »Wie lange brauchen die Kirschen noch, bis sie reif sind?«

»Benny, lenk nicht vom Thema ab. Wir -«

»Fährst du mit mir zum Essen in die Stadt, zu Frau Fosters Restaurant - Hamburger, Pommes frites und Cola? Und zum Nachtisch ein Kirscheis?«

»Benny, hör doch -«

»Ach bitte, laß uns dorthin fahren.«

»Ja gut. Aber -«

»Ich hole schon mal das Auto!« rief er und lief, während er noch über seinen eigenen Witz lachte, zur Garage.

Im Laufe des folgenden Jahres empfand ich Bennys Weigerung, den Tod seiner Mutter zu akzeptieren, erst als frustrierend, dann als lästig und schließlich als völlig untragbar.

Er sprach fast jede Nacht vor dem Einschlafen zu ihr, und er schien davon überzeugt zu sein, daß sie ihn hörte. Oftmals, nachdem ich ihn ins Bett gebracht hatte, ihm einen Gutenachtkuß gab und dann sein Zimmer verließ, kroch er noch einmal aus dem Bett, kniete sich davor nieder und betete, daß seine Mutter dort, wo sie jetzt wohnte, glücklich und in Sicherheit sein möge.

Zweimal bekam ich dies rein zufällig mit. Danach blieb ich manchmal im Flur stehen, nachdem ich sein Zimmer verlassen hatte, um heimlich zu lauschen. Sobald er annahm, ich sei die Treppe heruntergegangen, betete er demütig zu Gott, wenn er auch von Gott so gut wie nichts wissen konnte, höchstens das, was er ohne meine Erlaubnis im Fernsehen gesehen hatte oder von anderen Quellen aufgeschnappt hatte, die meiner Überwachung entgangen waren.

Ich beschloß abzuwarten, bis sich diese Marotte von selbst wieder legte, denn sobald er bemerken würde, daß Gott ihm niemals antwortete, müßte sich doch dieser kindliche Glaube wieder verlieren. Wenn er nach einiger Zeit immer noch vergeblich auf ein wunderbares Zeichen warten würde, das ihm einen Beweis für das Weiterleben seiner Mutter erbrachte, müßte Benny doch allmählich verstehen, daß all das, was ich ihm über den religiösen Glauben erzählt hatte, wahr war, und schließlich würde er leise ins Reich der Vernunft zurückkehren, in dem ich für ihn einen Platz eingerichtet hatte und den ich geduldig für ihn freihielt. Ich verriet ihm nicht, daß ich von seinen heimlichen Gebeten wußte, wollte nichts unnötig provozieren, denn mir war klar, daß er als Reaktion auf eine zu strenge elterliche Autorität seinem irrationalen Traum von einem ewigen Leben möglicherweise um so länger nachhängen würde.

Als jedoch nach vier Monaten immer noch keine Besserung in Sicht war und seine abendlichen Gespräche mit seiner toten Mutter und mit Gott andauerten, konnte ich auch nur geflüsterte Gebete in meinem Haus nicht mehr ertragen. Denn auch wenn ich sie nur selten hörte, so wußte ich doch, daß sie aufgesagt wurden. Und dieses Wissen machte mich ebenso verrückt, wie wenn ich jedes Wort vernommen hätte. Also stellte ich ihn zur Rede. Ich versuchte, vernünftig und ausführlich mit ihm darüber zu sprechen. Ich schimpfte ihn aus, bat ihn inständig, damit aufzuhören alles vergebens. Dann versuchte ich es mit der klassischen Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode: Ich bestrafte ihn für jegliches Anzeichen religiöser Gefühle, und ich belohnte ihn für die kleinste antireligiöse Äußerung, selbst wenn er sie nur unbewußt machte oder wenn es nur meine Auslegung war, nach der er etwas gegen die Religion gesagt hatte. Er bekam nur wenige Belohnungen, dafür um so mehr Bestrafungen. Nicht daß ich ihn geschlagen hätte oder körperliche Gewalt anderer Art angewandt hätte, das wenigstens muß ich mir zugute halten. Ich versuchte nicht, Gott aus ihm herauszuprügeln, so wie meine Eltern versucht hatten, Ihn in mich hineinzuprügeln.

Als alles nichts half, ging ich mit Benny zu Dr. Gerton, einem Psychiater. »Er verkraftet es nicht, daß seine Mutter gestorben ist«, informierte ich ihn. »Er verhält sich so . merkwürdig, und ich mache mir große Sorgen um ihn.«

Nach drei Sitzungen innerhalb von vierzehn Tagen rief Dr. Gerton mich an und teilte mir mit, daß Benny keine weitere Behandlung brauchte. »Er wird schon damit fertig, Herr Fallon. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen.«

»Aber Sie irren sich«, beharrte ich. »Er muß weiterhin behandelt werden, denn er benimmt sich immer noch so . merkwürdig.«

»Das sagten Sie mir bereits, Herr Fallon. Sie haben mir allerdings nie deutlich gemacht, was es denn nun eigentlich ist, das sie an seinem Benehmen so merkwürdig finden. Was tut er denn, das sie so beunruhigt?«

»Er betet«, antwortete ich. »Er bittet Gott darum, seine Mutter zu beschützen. Und er spricht zu seiner Mutter, als ob er davon überzeugt wäre, daß sie ihn hören könne, spricht mit ihr jede Nacht.«

»Herr Fallon, wenn das wirklich alles ist, was Ihnen Sorge bereitet, dann können Sie diese Sorge getrost vergessen. Daß er mit seiner Mutter spricht und für sie betet, ist vollkommen normal und -«

»Aber doch nicht jede Nacht!« wiederholte ich erregt.

»Selbst wenn er es zehnmal täglich täte, wäre nichts dagegen einzuwenden. Glauben Sie mir, das ist völlig normal. Daß er mit Gott über seine Mutter spricht und mit seiner Mutter im Himmel, ist doch eine ganz natürliche Reaktion, die ihm dabei hilft, allmählich mit der Tatsache fertig zu werden, daß sie nicht mehr bei ihm auf der Erde ist. Daran ist absolut nichts Abnormales.«

Ich muß gestehen, daß ich in diesem Augenblick die Fassung verlor und ihn anbrüllte: »Aber in diesem Haus ist das überhaupt nicht normal, Dr. Gerton. Wir sind Atheisten, verstehen Sie?«

Er blieb einen Augenblick stumm, dann seufzte er: »Herr Fallon, Sie dürfen nicht vergessen, daß Ihr Sohn mehr als nur Ihr Sohn ist - er ist ein Mensch, dem sie seine eigenen Rechte zugestehen müssen. Zwar noch ein kleiner Mensch, aber nichtsdestoweniger ein Mensch. Sie haben kein Recht, ihn als ihr Eigentum zu betrachten oder als einen ungeformten Geist, den sie nach Belieben formen dürfen -«

»Ich habe den größten Respekt vor dem Individuum, Dr. Gerton. Einen viel größeren Respekt als ihn diese albernen Sänger von Kirchenliedern haben, die ihren imaginären Schöpfer im Himmel mehr achten als ihre Mitmenschen.«

Diesmal schwieg er länger als zuvor. Schließlich sagte er: »Gut, ich verstehe. Aber dann müßten Sie doch einsehen, daß ein Sohn seinem Vater nicht zwangsläufig in jeder Hinsicht zu ähneln braucht. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß er eigene Vorstellungen und Wünsche hat. Und gerade die Einstellung zum religiösen Glauben ist ein Gebiet, auf dem Ihre Meinungen im Laufe der Zeit höchstwahrscheinlich eher noch weiter auseinander- als zusammengehen werden. Das ist vielleicht nicht nur eine psychologische Reaktion, um über den Tod seiner Mutter hinwegzukommen, sondern möglicherweise ein erstes Anzeichen für einen christlichen Glauben, den er sein Leben lang behalten wird. Mit dieser Möglichkeit müssen sie ganz einfach rechnen!«

»Niemals werde ich so etwas zulassen!« entgegnete ich erzürnt.

Sein drittes Schweigen dauerte am längsten. Dann sagte er: »Herr Fallon, es ist wirklich nicht notwendig, daß Benny noch einmal in meine Praxis kommt. Ich kann nichts weiter für ihn tun, und er bedarf meines Rates auch nicht mehr. Doch vielleicht sollten Sie selbst eine Beratung in Erwägung ziehen.«

Ohne ein weiteres Wort knallte ich den Hörer auf.

In den folgenden sechs Monaten wuchsen meine Frustration und mein Ärger, weil Benny seine Himmelfantasien nicht aufgab. Wenn er vielleicht auch mittlerweile nicht mehr jeden Abend mit seiner Mutter sprach und manchmal sogar vergessen mochte, seine Gebete aufzusagen, so hielt er doch stur an seinem Glauben fest. Jedesmal wenn ich über den Atheismus sprach, eine spöttische Bemerkung über Gott machte oder erneut versuchte, ihn von meiner Weltsicht zu überzeugen, gab er mir stets die gleiche Antwort: »Nein, Papi, du irrst dich« oder »nein, Papi, das ist nicht richtig«, und lief dann entweder weg oder versuchte, vom Thema abzulenken. Was mich noch mehr in Rage brachte war, wenn er sagte »Nein, Papi, du irrst dich«, mich dann mit seinen Ärmchen umschlang, sich fest an mich drückte und mir dann verriet, wie lieb er mich habe -denn immer dann befiel ihn eine offensichtliche Traurigkeit, in der ein Stück Mitleid mit mir mitschwang, so als ob er Angst um mich hätte und glaubte, daß ich Hilfe und Trost brauchte. Das war es, was mich am meisten in Wut versetzte. Schließlich war er doch erst neun Jahre alt und kein greiser Guru! Zur Strafe dafür, daß er sich hartnäckig weigerte, meinen Wünschen Folge zu leisten, entzog ich ihm für mehrere Tage, manchmal auch für mehrere Wochen die Erlaubnis, fernzusehen, verweigerte ich ihm nach dem Mittagessen einen Nachtisch und verbot ihm einmal sogar einen ganzen Monat lang, mit seinen Freunden zu spielen. Aber es half alles nichts.

Der religiöse Glaube, die Krankheit, die mir meine Eltern total entfremdet hatte, die Krankheit, die meine Kindheit zu einem Alptraum gemacht hatte, jene Krankheit, die mir völlig überraschend meinen besten Freund, Hal Sheen, entrissen hatte, dieser religiöse Glaube hatte sich nun schon wieder in meinem Haus eingenistet. Sie hatte meinen Sohn vergiftet, die einzige Person, die mir in meinem Leben noch wichtig war. Es war keineswegs eine bestimmte Religionsrichtung, die von Benny Besitz ergriffen hatte. Er hatte ja nie Religionsunterricht bekommen, und folglich waren seine Vorstellungen von Gott und dem Himmel von keiner Konfession beeinflußt. Man konnte sie im Höchstfall >christlich< nennen, aber auch diese Bezeichnung traf nur sehr bedingt zu. Es war ein religiöser Glaube ohne Glaubensstruktur, ohne jedes Dogma, ohne jede Doktrin. Es war ein rein gefühlsmäßiger, kindlicher Glaube; man könnte deshalb behaupten, daß es überhaupt kein richtiger religiöser Glaube war und daß es deshalb völlig unnötig war, daß ich mir darüber Gedanken machte. Aber ich wußte, daß Dr. Gertons Feststellung stimmte: daß dieser kindliche Glaube das Samenkorn sein könnte, aus dem einmal eine wahre religiöse Überzeugung heranreifen würde. Mein Haus war von einem religiösen Virus befallen, und ich war bestürzt und verzweifelt, wenn nicht gar halb wahnsinnig, weil es mir nicht gelang, ihn zu bekämpfen.

Dies war für mich der Inbegriff des Schreckens. Es war nicht die panische - kurz und gnädige - Angst wie vor einem Bombenangriff oder bei einem Flugzeugabsturz, sondern eine Art chronischer Schrecken, der tagelang, monatelang anhielt.

Ich war davon überzeugt, daß mir das Schlimmste widerfahren war, was je einem Menschen widerfahren kann und daß dies die schwärzeste Zeit meines Lebens war.

Doch dann wurde Benny von Knochenkrebs befallen.

An einem stürmischen Tag Ende Februar, fast zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter, waren Benny und ich in dem Park beim Fluß, um dort seinen Drachen steigen zu lassen. Als Benny mit der Spule über die Wiese rannte und mehr Schnur ausrollte, fiel er plötzlich hin. Nicht nur einmal. Nicht zweimal. Mehrere Male hintereinander. Als ich wissen wollte, was ihm fehle, sagte er mir, daß er Schmerzen in seinem rechten Bein habe: »Wahrscheinlich hab ich’s mir verrenkt, als die Jungs und ich gestern auf den Bäumen rumgeklettert sind.«

Er schonte sein Bein ein paar Tage lang, und als ich schließlich vorschlug, wir sollten lieber zu einem Arzt gehen, meinte er, es ginge ihm schon wieder besser.

Eine Woche später war er im Krankenhaus und wurde eingehend untersucht. Nach zwei weiteren Tagen wurde die Diagnose bestätigt: Knochenkrebs. Die Krankheit war schon in einem zu weit fortgeschrittenen Stadium, um noch operiert werden zu können. Die Ärzte begannen sofort mit einer Radium- und Chemotherapie.

Benny fielen sämtliche Haare aus. Er verlor mehr und mehr an Gewicht. Sein Gesicht wurde immer blasser, und ich hatte jeden Morgen aufs neue Angst davor, ihn anzusehen, denn in meinem Kopf spukte die verrückte Vorstellung herum, daß er, wenn er weiterhin blasser würde, langsam völlig durchsichtig werden müßte, und wenn er dann schließlich durchsichtig wie Glas wäre, vor meinen Augen zersplitterte.

Nach fünfwöchiger Behandlung besserte sich plötzlich sein Gesundheitszustand, und er konnte zumindest vorübergehend nach Hause kommen. Die Radium- und Chemotherapie wurde ambulant fortgesetzt.

Heute glaube ich, daß die Besserung weder auf das Radium, die zytotoxischen Wirkstoffe noch die Medikamente zurückzuführen war, sondern allein auf seinen Willen noch ein letztes Mal die blühenden Kirschbäume zu sehen. Seine eigene Willenskraft war für die Besserung seines Zustandes verantwortlich, der Sieg des Geistes über den Körper.

Bis auf einen Tag, an dem es nieselte, saß er täglich unter den blütenbeladenen Zweigen in einem Sessel und genoß den Einzug des Frühlings in unser Tal, erfreute sich an den possierlichen Eichhörnchen aus den anliegenden Wäldern die auf unserem Rasen herumtollten. Jeden Tag trug ich einen großen, bequem aufgepolsterten Sessel und einen Schemel für seine Füße aus dem Haus, denn Benny war so zart und zerbrechlich geworden, daß er auf den hölzernen Gartenstühlen nicht mehr sitzen konnte, ohne sich daran zu verletzen.

Wir versuchten, Karten oder Halma zu spielen, doch meistens war er zu müde, um sich lange auf ein Spiel konzentrieren zu können, und so saßen wir oft einfach nur da und entspannten uns. Wir sprachen über die vergangenen Jahre, wie viele schöne Erlebnisse er in seinem kurzen zehnjährigen Leben gehabt habe, und über seine Mutter. Es kam auch häufig vor, daß keiner von uns redete. Es war nie ein betretenes Schweigen, höchstens zuweilen ein wenig melancholisch, doch nie betreten.

Wir sprachen weder von Gott, noch von Schutzengeln oder vom Himmel. Ich weiß, daß er damals immer noch daran glaubte, daß seine Mutter in einer anderen Inkarnation und an einem schöneren Ort weiterlebte; aber er redete nicht mehr davon und äußerte sich auch nicht darüber, ob er selbst hoffte, nach seinem Tod in den Himmel zu kommen. Ich glaube, er vermied dieses Thema aus Rücksicht auf mich und weil er in den letzten Tagen, die uns noch verblieben, Reibereien zwischen uns vermeiden wollte.

Ich werde ihm immer dankbar dafür sein, daß er mich nicht herausforderte, denn ich fürchte, daß ich sogar in seinen letzten Lebenstagen versucht hätte, ihm eine rationale Denkweise aufzuzwingen und mich damit noch mehr zum Narren gemacht hätte als gewöhnlich.

Schon nach neun Tagen erlitt er einen Rückschlag und mußte wieder ins Krankenhaus. Ich ließ ihn in ein Zweibettzimmer verlegen, damit ich bei ihm schlafen konnte, er in dem einen, ich in dem anderen Bett.

Die Krebszellen waren bis in seine Leber vorgedrungen, und ihm wurde dort ein Tumor herausoperiert. Danach ging es ihm ein paar Tage lang besser, er lebte kurzzeitig richtig auf, doch dann ging es wieder bergab.

Im Lymphgefäßsystem, in der Milz, überall wurden Krebszellen festgestellt. Sein Zustand verbesserte und verschlechterte sich abwechselnd. Jede erneute Besserung war jedoch weniger ermutigend als die vorangegangene, und bei jeder Verschlechterung ging es steiler bergab.

Ich war vermögend, intelligent und in meinem Beruf erfolgreich. Aber es gab nichts, womit ich das Leben meines Sohnes hätte retten können. Nie zuvor hatte ich mich so klein und machtlos gefühlt.

Das einzige, was ich tun konnte, war, mich Benny gegenüber stark zu zeigen. In seiner Gegenwart bemühte ich mich, fröhlich zu sein und unterdrückte meine Tränen. Doch nachts, während ich wie ein Embryo zusammengerollt, hilflos wie ein Kind, im Bett lag, weinte ich heimlich, während er auf der anderen Seite des Zimmers in einem unruhigen, durch Medikamente herbeigeführten Schlaf lag. Tagsüber, während er abwechselnd einer Behandlung, Untersuchungen oder Operationen unterzogen wurde, saß ich am Fenster und starrte mit leerem Blick hinaus.

Wie von einem magischen Zauberspruch ausgelöst wurde die Welt von Tag zu Tag grauer und grauer. Alles erschien mir farblos, wie wenn ich einen alten Schwarzweißfilm betrachtete. Die Schatten wurden dunkler und schärfer. Selbst die Luft schien grau zu sein, so als ob sie von einem giftigen Nebel verschmutzt wäre, den man nicht sehen, sondern nur spüren konnte. Selbst die Stimmen klangen grau und verschwommen. Ein paarmal schaltete ich den Fernseher oder das Radio ein, und die Musik schien ohne Melodie zu sein. In meinem Inneren sah es genauso grau aus wie in der äußeren Welt, die mich umgab, und der unsichtbare, aber intensiv spürbare Nebel, der die äußere Welt verpestete, hatte mich völlig durchdrungen.

Doch selbst in diesem Zustand völliger Verzweiflung kam ich nicht vom Pfad der Vernunft ab, flehte ich Gott nicht um Hilfe an, verfluchte ich Gott nicht dafür, daß er ein unschuldiges Kind leiden ließ. Es kam mir nicht in den Sinn, den Rat eines Geistlichen oder die Hilfe eines Gesundbeters zu suchen.

Ich blieb eisern.

Niemand hätte mir einen Vorwurf machen können, wenn ich in dieser Lage wankelmütig geworden wäre und im Aberglauben Trost gesucht hätte. Innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren war die Freundschaft mit meinem einzigen guten Freund in die Brüche gegangen, hatte ich meine Frau durch einen Verkehrsunfall verloren und hatte ich miterleben müssen, wie mein Sohn an Krebs starb. Gelegentlich hört oder liest man von Menschen, die von einer solchen Häufung von Schicksalsschlägen heimgesucht werden, und seltsamerweise erzählen diese dann, daß sie gerade durch ihre Leiden den Weg zu Gott und durch ihren Glauben Frieden gefunden hätten.

Traurigkeit und Mitleid befallen uns, wenn wir von Menschen hören, die vom Schicksal so hart getroffen wurden, und wir haben Verständnis für ihre religiöse Gefühlsduselei. Rasch verdrängen wir solche Berichte wieder, denn sie erinnern uns daran, daß uns selbst ein ähnlicher Schicksalsschlag treffen könnte, und dieser Gedanke flößt uns eine unerträgliche Furcht ein. Ich aber mußte diesen Gedanken nicht nur ertragen, bei mir wurde er Wirklichkeit. Aber dennoch ließ ich mich nicht von meinen Prinzipien abbringen.

Ich sah der absoluten Leere ins Gesicht und akzeptierte sie.

Nachdem er einen tapferen, schmerzhaften und entgegen alle Erwartung langen Kampf gegen die bösartige Krankheit geführt hatte, die ihn bei lebendigem Leibe zerfraß, starb Benny schließlich in einer Nacht im August. Zwei Tage zuvor war er in die Intensivstation verlegt worden, und man ließ mich nur alle zwei Stunden für jeweils fünfzehn Minuten bei ihm sitzen. In jener letzten Nacht durfte ich jedoch mehrere Stunden lang bei ihm bleiben, weil sie wußten, daß er nicht mehr lange zu leben hatte.

An seinem linken Arm war ein Tropf angelegt. Ein Sauerstoffschlauch war in seiner Nase angebracht. Er war an ein EKG-Gerät angeschlossen, und seine Herztätigkeit konnte in grünen Kurven von einem Monitor neben dem Bett abgelesen werden; bei jedem Herzschlag ertönte ein kurzer Piepton. Oft waren Kurven und Signaltöne mehrere Minuten lang unregelmäßig.

Ich hielt seine Hand. Ich strich das feuchte Haar aus seiner Stirn. Ich zog die Decke hoch bis an sein Kinn, wenn er von Schüttelfrost befallen wurde, und zog sie wieder herunter, sobald er einen Fieberausbruch hatte.

Benny kam immer nur für kurze Zeit zu Bewußtsein. Doch selbst wenn er seine Augen öffnete, erkannte oder verstand er mich nicht immer.

»Papi?«

»Ja, Benny?«

»Bist du’s, Papi?«

»Ja, ich bin es.«

»Wo bin ich?«

»Im Bett. Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir, Benny.«

»Ist das Essen fertig?«

»Nein, noch nicht.«

»Ich möchte gerne Hamburger und Pommes frites.«

»Ja, das bekommst du auch.«

»Wo sind meine Schuhe?«

»Du brauchst heute abend keine Schuhe mehr anzuziehen, Benny.«

»Gehen wir denn nicht spazieren?«

»Nein, heute abend nicht.«

»Ach so.«

Dann seufzte er und wurde wieder bewußtlos.

Draußen regnete es. Regentropfen klatschten an die Fenster der Intensivstation und liefen an den Scheiben herunter. Der Sturm ließ die Welt noch grauer erscheinen.

Kurz vor Mitternacht erwachte Benny und war bei völlig klarem Bewußtsein. Er wußte genau, wo er war, wer er war und was mit ihm geschah. Er drehte seinen Kopf zu mir und lächelte mich an. Er versuchte, seinen Arm zu heben, aber er konnte nicht einmal seine Hand heben, so schwach war er.

Ich stand auf, stellte mich neben ihn ans Bett und hielt seine Hand. »Diese vielen Schläuche«, sagte ich, »ich glaube fast, sie wollen ein paar deiner Körperteile durch Roboterkram ersetzen.«

»Ich werd schon wieder gesund«, sagte er mit einer schwachen, zittrigen Stimme, aber mit seltsamer, ergreifender Zuversicht.

»Möchtest du einen Eiswürfel lutschen?«

»Nein, ich möchte .«

»Was möchtest du, Benny, du bekommst alles, was du magst.«

»Ich habe Angst, Papi .«

Meine Kehle schnürte sich zu, und ich befürchtete, gleich die Fassung zu verlieren, die ich während der langen Wochen seiner Krankheit so krampfhaft zu bewahren versucht hatte. Ich schluckte und sagte: »Hab keine Angst, Benny, ich bin ja bei dir. Hab -«

»Nein«, unterbrach er mich, »ich habe keine Angst . um mich. Ich habe Angst ... um dich.«

Ich hatte den Eindruck, er finge wieder an zu fantasieren und wußte nicht, was ich antworten sollte.

Aber seine folgenden Worte machten mir klar, daß er keineswegs fantasierte: »Ich möchte, daß wir alle . wieder zusammen sind . genauso wie damals, als Mami noch lebte . daß wir einmal alle wieder zusammen sind. Aber ich habe Angst, daß du ... uns nicht ... finden wirst.«

Was folgte, ist zu qualvoll, um es noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich war tatsächlich so besessen davon, an meiner atheistischen Überzeugung festzuhalten, daß ich es nicht über mich brachte, meinem Sohn eine harmlose Lüge zu erzählen, die ihm in den letzten Minuten seines Lebens Trost gegeben hätte. Warum versprach ich ihm nicht einfach, daß ich versuchen würde zu glauben und daß ich ihn im Himmel suchen würde, damit er beruhigt einschlafen konnte? Ellen hatte recht, als sie mich einer Besessenheit bezichtigte. Das einzige, was ich tat, war Bennys Hand fester in die meine zu nehmen, meine Tränen zurückzuhalten und ihn beruhigend anzulächeln.

»Wenn du nicht daran glaubst, daß du uns finden kannst . dann wirst du uns wahrscheinlich auch nicht finden«, murmelte er nach einer Weile.

»Ist schon gut, Benny«, sagte ich besänftigend. Ich küßte ihn auf die Stirn und auf seine linke Wange, legte mein Gesicht einen Augenblick lang an seins, umarmte ihn, so gut es eben ging, und versuchte, die Verweigerung des Glaubensversprechens durch Liebkosungen auszugleichen.

»Papi ... du bräuchtest ... ja nur nach uns zu suchen.«

»Du wirst schon wieder gesund werden, Benny.«

». nur nach uns zu suchen

»Ich hab dich lieb, Benny, ich hab dich sehr, sehr lieb.«

». uns nicht suchst . uns nicht finden .«

»Benny, Benny .«

Das graue Licht der Intensivstation fiel auf die grauen Laken und auf das graue Gesicht meines Sohnes.

Der graue Regen lief an dem grauen Fenster hinab.

Er starb in meinen Armen.

Mit einem Schlag kam wieder Farbe in die Welt. Viel zu viele Farben und so grell, daß sie mich schmerzten. Das helle Braun von Bennys starren, blicklosen Augen war das reinste, leuchtendste und schönste Braun, das ich je gesehen habe. Die Wände der Intensivstation waren hellblau gestrichen, und mir kam es vor, als seien sie nicht aus Kalk, sondern aus Wasser, und als würde ich in einem stürmischen Meer versinken. Das Giftgrün des EKG-Monitors flimmerte vor meinen Augen. Die blauen Wände schossen wie Flutwellen auf mich zu. Ich hörte die Schritte herbeieilender Krankenschwestern und des Assistenzarztes, die den Ausfall der Telemetriedaten ihres kleinen Patienten bemerkt haben mußten; aber noch ehe sie ins Zimmer kamen, wurde ich von einer blauen Woge überrollt und von einem tiefblauen Strudel in die Tiefe gerissen.

Ich gab meine Firma auf. Ich brach die Verhandlungen über neue Projekte ab. Bereits angenommene Aufträge übergab ich umgehend an andere Konstruktionsbüros, die auf meiner Linie lagen und mit denen meine Kunden einverstanden waren. Ich entließ meine Angestellten, zahlte ihnen eine großzügige Abfindungssumme aus und half ihnen teilweise bei der Suche nach einer neuen Stelle.

Mein Vermögen wandelte ich in langfristige Wertpapiere um, in Geldanlagen, um die man sich nicht weiter zu kümmern brauchte. Ich war in großer Versuchung, mein Haus zu verkaufen, doch nach gründlicher Überlegung ließ ich es einfach leerstehen und beauftragte einen Hausverwalter, während meiner Abwesenheit ab und zu nach dem Rechten zu sehen.

Einige Jahre später als Hal Sheen war ich damals zu dem gleichen Schluß gekommen, daß nämlich von Menschenhand konstruierte Bauwerke nicht der Mühe wert waren, die es bedurfte, sie zu errichten. Auch die großartigsten Gebäude aus Stein und Stahl waren nur jämmerliche Nichtigkeiten und waren für den Lauf der Welt ohne Bedeutung. Verglichen mit dem riesigen, kalten Universum, in dem Billionen von Sternen ihr Licht auf Millionen und Abermillionen von Planeten ausstrahlten, waren selbst die Pyramiden so fragil wie Origami-Kunstwerke. Im düsteren Licht von Tod und Unvorhersehbarkeit erschienen selbst die gewaltigsten Anstrengungen und die genialsten Leistungen töricht.

Und auch die Verbindungen zu Familie und Freunden hatten nicht mehr Bestand als die zerbrechlichen, von Menschenhand erbauten, steinernen Monumente. Ich hatte Benny einmal erklärt, daß wir in der Erinnerung weiterlebten, in der genetischen Struktur, in der Güte, die unsere eigenen guten Taten bei anderen geweckt hatte. Aber all diese Dinge erschienen mir jetzt ebensowenig greifbar wie die Rauchfahnen in einem frischen Wind.

Im Gegensatz zu Hal Sheen suchte ich jedoch keinen Trost im religiösen Glauben. Keine noch so schweren Schicksalsschläge konnten mich von meiner Besessenheit abbringen.

Ich hatte bis dahin geglaubt, daß religiöser Wahn das Entsetzlichste sei, das es gab. Doch jetzt entdeckte ich, daß es noch etwas viel Schrecklicheres gab: das Entsetzen, das ein Atheist empfindet, der nicht in der Lage ist, an Gott zu glauben, und der plötzlich auch nicht mehr an den Sinn menschlichen Kampfes und Mutes glauben kann. Folglich kann er in nichts mehr einen Sinn sehen, weder in der Schönheit, noch im Vergnügen, noch in der geringsten gütigen Tat.

Ich verbrachte den Herbst auf den Bermudas. Ich kaufte mir eine schnittige Cheoy Lee, eine 21-m-Yacht, und lernte sie zu bedienen. Allein umfuhr ich eine karibische Insel nach der anderen. Zuweilen schipperte ich tagelang nur mit Viertelkraft übers Meer, im Einklang mit dem gemächlichen Rhythmus des karibischen Lebens.

Doch manchmal verspürte ich plötzlich einen verzweifelten Drang, vorwärts zu kommen, keine Zeit mehr zu vergeuden, und dann preschte ich los, daß der Motor aufheulte, und donnerte wie ein Besessener über die Wellen, als ob ich zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Ort erreichen müßte.

Als ich die Karibik satt hatte, reiste ich nach Brasilien, doch schon nach ein paar Tagen fand ich auch Rio langweilig. Ich entwickelte mich zu einem Weltenbummler, der von einem Fünf-Sterne-Hotel ins nächste wechselte und von einer Weltstadt in die nächste: Hongkong, Singapur, Istanbul, Paris, Athen, Kairo, New York, Las Vegas, Acapulco, Tokio, San Francisco. Ich war auf der Suche nach etwas, das meinem Leben Sinn verleihen könnte, aber ich ahnte von Anfang an, daß ich das Gesuchte nicht finden würde.

Einige Tage lang glaubte ich, ich könnte mein Leben dem Glücksspiel verschreiben. In der zufälligen Verteilung der Spielkarten, in der Drehung der Roulettscheibe, vermeinte ich die fremde, ungebändigte Gestalt des Schicksals zu erblicken. Indem ich mich selbst in diesem tiefen Fluß der Zufälligkeit treiben ließ, bildete ich mir ein, in Einklang mit der Sinnlosigkeit und dem Chaos des Weltalls zu sein und folglich im Frieden mit mir selbst. In weniger als einer Woche gewann und verspielte ich ein Vermögen, und als ich schließlich den Spieltischen den Rücken kehrte, hatte ich hunderttausend Dollar verloren. Das war zwar nur ein kleiner Teil meines Vermögens, aber in diesen wenigen Tagen erkannte ich, daß es nichts half, sich dem Prinzip des Zufalls zu überlassen. Der Zufall stellte keine Ausflucht aus dem Bewußtsein der Endlichkeit des Lebens und aller vom Menschen geschaffenen Dinge dar.

Im Frühjahr kehrte ich nach Hause zurück. Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu sterben. Ob ich daran dachte, Selbstmord zu begehen, weiß ich nicht. Vielleicht bildete ich mir ein, da ich jeden Lebenswillen verloren hatte, brauchte ich mich einfach nur an einen vertrauten Ort hinzulegen, und der Tod würde schon von selbst über mich kommen, ohne daß ich Hand an mich legen müßte. Ich hatte zwar keine Vorstellung davon, wie der Tod zu erlangen war, ich wußte nur, daß er mein Ziel war.

Das Haus in Buck’s County war voller schmerzhafter Erinnerungen an Ellen und Benny. Als ich vom Küchenfenster aus einen Blick auf die Kirschbäume hinter dem Haus warf, die in Tausenden von leuchtend weißen Blüten erstrahlten, krampfte sich mein Brustkorb zusammen, als würde er von einem Schraubstock zerquetscht.

Benny hatte die Bäume so geliebt, wenn sie in voller Blüte standen, und der Anblick ihrer Blüten rief die Erinnerung an ihn so intensiv wach, daß es mir tief ins Herz schnitt. Der Schmerz schnürte mir die Luft ab. Ich lehnte mich ein paar Sekunden an den Küchentisch, rang nach Atem und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.

Nach einer Weile ging ich hinaus in den Garten und blickte zu den wundervoll geschmückten Zweigen hinauf. Benny war nun schon seit fast neun Monaten tot, doch die Bäume, die er so geliebt hatte, blühten aufs neue. Die erneute Baumblüte schien mir ein Zeichen dafür zu sein, daß zumindest ein Teil von Benny immer noch am Leben sein müßte. Ich dachte angestrengt über diese verrückte Idee nach . als die Bäume urplötzlich sämtliche Blüten abwarfen. Nicht nur ein paar Blüten. Nicht nur ein paar hundert. Nein, innerhalb einer Minute waren von beiden Bäumen sämtliche Blüten abgefallen. Zu Tode erschrocken drehte ich mich um meine eigene Achse, und die weißen Blüten wirbelten um mich herum wie dicke Schneeflocken in einem Schneesturm. Derartiges hatte ich noch nie zuvor gesehen. Kirschblüten fallen doch nicht einfach gleichzeitig zu Tausenden an einem windstillen Tag von den Zweigen!

Als dieses merkwürdige Phänomen vorüber war, zupfte ich ein paar Blüten von meinen Schultern und aus meinem Haar und untersuchte sie sorgfältig. Sie waren weder verwelkt, noch vertrocknet, und es sah auch nicht so aus, als wäre der Baum von einer Krankheit befallen.

Ich schaute hinauf zu den Ästen.

Nicht eine Blüte war an den Bäumen hängengeblieben.

Mein Herz hämmerte wild.

Eine sanfte Westwindbrise wirbelte die Blütenblätter um meine Füße herum.

»Nein!« schrie ich entsetzt, ohne zu wissen, was ich eigentlich damit meinte.

Ich drehte mich abrupt um und rannte zurück ins Haus. Dabei fielen die noch verbliebenen Kirschblüten aus meinem Haar und meiner Kleidung.

Doch als ich in meiner Bibliothek eine Flasche Jack Daniels aus dem Barfach nahm, merkte ich, daß ich noch immer einige Blüten in meiner zusammengepressten Hand hielt. Ich ließ sie auf den Fußboden fallen und rieb die Handfläche an meinen Hosen ab, als hätte ich etwas Schmutziges angefaßt.

Ich nahm die Whiskyflasche mit ins Schlafzimmer und betrank mich dort sinnlos, um nicht mehr über den Grund nachdenken zu müssen, warum ich mich eigentlich betrank. Ich redete mir ein, es habe nichts mit den Kirschbäumen zu tun, sondern daß ich nur trank, um den Kummer über all das, was ich in den letzten Jahren erlitten hatte, zu betäuben.

Meine Besessenheit war hart wie Stahl.

Ich schlief elf Stunden ohne Unterbrechung und erwachte schließlich mit einem fürchterlichen Kater. Nachdem ich zwei Aspirintabletten geschluckt hatte, stellte ich mich unter die Dusche und ließ eine Viertelstunde lang heißes Wasser über mich laufen, brauste mich dann eine Minute lang mit kaltem Wasser ab und massierte mich kräftig mit meinem Handtuch. Ich schluckte zwei weitere Aspirintabletten und ging in die Küche, um mir Kaffee zu kochen.

Aus dem Fenster über dem Spültisch blickte ich hinüber zu den Kirschbäumen: Sie standen in voller Blüte!

Halluzinationen, dachte ich aufatmend. Der wilde Blütensturm vom Vortag war nichts weiter gewesen als eine Halluzination.

Ich lief hinaus, um die Bäume aus der Nähe zu betrachten. Auf dem feuchten Gras unter den Ästen lagen nur ein paar vereinzelte weiße Blütenblätter, nicht mehr, als eine leichte Frühlingsbrise vom Baum geschüttelt hätte.

Erleichtert, doch sonderbarerweise auch etwas enttäuscht, ging ich zurück in die Küche. Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen. Während ich mir eine Tasse voll einschenkte, fielen mir die Blüten ein, die ich in der Bibliothek auf den Boden geworfen hatte.

Doch erst nachdem ich zwei Tassen starken Kaffee getrunken hatte, fand ich den Mut, in die Bibliothek zu gehen. Die Blüten lagen noch da: ein Häufchen zerdrückter Blütenblätter, die über Nacht gelb geworden waren und braune Spitzen bekommen hatten. Ich hob sie auf und umschloß sie mit meiner Hand.

Nur ruhig Blut, sagte ich mit zitteriger Stimme zu mir selbst. Deswegen brauchst du noch lange nicht an Jesus Christus oder Gott Vater oder an irgendeinen körperlosen Heiligen Geist zu glauben.

Religion ist eine Krankheit.

Nein, nein, du brauchst ja nicht an diese albernen Rituale, an Dogmen und Doktrinen zu glauben. Du brauchst nicht einmal an Gott zu glauben, selbst wenn du an ein Leben nach dem Tod glaubst.

Das ist doch völlig irrational.

Nein, warte, denk noch mal darüber nach: Wäre es nicht möglich, daß ein Leben nach dem Tod etwas ganz Normales ist? Kein göttliches Geschenk, sondern einfach eine ganz natürliche Tatsache? Die Raupe lebt ja auch ein Leben und verwandelt sich danach in ihrem zweiten Leben in einen Schmetterling. Könnte es, verdammt noch mal, demnach nicht möglich sein, daß unser Körper sich im Raupenstadium befindet und daß unsere Seele in eine andere Existenzart entflieht, sobald unser Körper ausgedient hat? Die Metamorphose des Menschen könnte doch eine ebensolche Transformation sein wie die der Raupe, nur auf einer höheren Ordnung.

Furchtsam, aber gleichzeitig auch hoffnungsfroh, ging ich langsam durch das Haus, verließ es durch den Hintereingang und stieg die kleine Anhöhe zu den Kirschbäumen hinauf. Ich stand unter ihren blütenbeladenen Zweigen und öffnete meine Hand, in der die Blüten lagen, die ich am Vortag eingesammelt hatte.

»Benny?« fragte ich zögernd.

Und wieder fielen auf einen Schlag alle Blüten von beiden Bäumen. Tausende von Blütenblättern schwebten langsam auf das Gras hinunter und verfingen sich in meinem Haar und in meiner Kleidung.

Nach Luft ringend drehte ich mich um. »Benny? Benny?« stieß ich hervor.

Innerhalb einer Minute war der Boden mit einer weißen Blütenschneedecke übersät, und auch diesmal blieb nicht eine einzige Blüte an den Bäumen hängen.

Ich brach in ein lautes Lachen aus. Es war ein krampfhaftes, hysterisches Lachen, das in ein irres Gegacker überging. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren.

Ohne zu wissen, warum ich laut sprach, sagte ich: »Ich habe Angst. Oh, verdammt, ich habe Angst.«

Plötzlich schwebten die am Boden liegenden Blütenblätter wieder in die Höhe. Nicht nur einige Blüten, sondern sämtliche tausend. Sie stiegen wieder auf zu den Zweigen, von denen sie kurz zuvor herabgefallen waren. Es war wie ein rückwärts ablaufender Schneesturm. Die zarten Blütenblätter streiften an meinem Gesicht vorbei.

Wieder fing ich laut und unkontrolliert an zu lachen. Doch diesmal war es kein irres Lachen, und meine Furcht ließ rasch nach.

Eine Minute später standen die Kirschbaumzweige wieder in voller Blüte, und alles war still.

Nicht, daß ich etwa geglaubt hätte, Benny säße auf einem der Äste! Mir war klar, daß dieses Phänomen mit einem heidnischem Glauben ebensowenig zu tun hatte wie mit einem traditionellen christlichen Glauben. Aber trotzdem mußte er irgendwo sein. Er war nicht wirklich tot. Er war irgendwo dort draußen, und wenn meine Zeit kommen würde, dorthin zu gehen, wo Benny und Ellen hingegangen waren, würde ich sie mit Sicherheit finden, vorausgesetzt, ich glaubte fest daran.

Der Knall, den meine zerplatzende Obsession verursachte, muß bis nach China zu hören gewesen sein.

Ein Zitat von H. G. Wells ging mir durch den Kopf. Ich hatte seine Werke schon immer sehr bewundert, doch nichts von dem, was er je geschrieben hatte, war mir je so wahr vorgekommen wie der Ausspruch, an den ich mich erinnerte, während ich unter den Kirschbäumen stand: »Die Vergangenheit ist nur das Vorspiel zu dem, was noch geschehen wird; und alles was heute besteht und bisher geschehen ist, ist erst die Dämmerung des Morgens.« Er bezog sich selbstverständlich auf die Geschichte und auf die lange Zukunft, die der Menschheit noch bevorstand, doch diese Worte schienen mir sowohl auf den Tod als auch auf die rätselhafte Wiedergeburt zuzutreffen, die auf ihn folgte. Ein Mensch mag hundert Jahre alt werden, dennoch ist ein langes Leben nichts weiter als eine Morgendämmerung.

»Benny!« rief ich. »Ach, Benny!«

Aber die Blüten fielen nicht wieder herab, und auch in den darauffolgenden Jahren erhielt ich keine weiteren derartigen Zeichen. Ich brauchte sie auch nicht mehr.

Von diesem Tag an wußte ich, daß der Tod nicht das endgültige Ende bedeutete und daß ich in einer anderen Welt wieder mit Ellen und Benny zusammenkommen würde.

Und was ist mit Gott? Existiert er nun oder nicht? Ich weiß es bis heute nicht. Wenn ich nun auch seit zehn Jahren an eine Art Leben nach dem Tod glaube, so bin ich dennoch kein Kirchgänger geworden. Sollte ich aber bei meinem Tod zufällig in jene andere Bewußtseinsebene gelangen, wo Er auf mich wartet, so werde ich nicht völlig überrascht sein und ich werde Ihm genauso glücklich und dankbar in die Arme fallen wie Ellen und Benny.

Aus dem Amerikanischen von Karina Of

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