Bruno

1

Ich schlief meinen Rausch aus - eine halbe Flasche guten Scotch, dazu eine Blondine namens Sylvia, die auch gar nicht so übel gewesen war. Doch niemand kann mich überrumpeln, nicht einmal, wenn ich sehr betrunken bin. Man muß einen leichten Schlaf haben, um in meinem Job eine Weile zu überleben. Ich hörte einen dumpfen Aufprall in der Nähe meines Bettes, und schon im nächsten Moment griff ich nach dem 38er Colt, der unter dem Kopfkissen lag.

Hätte ich nicht den erfolgreichen Abschluß eines Falls ausgiebig gefeiert, wären die Jalousien und Vorhänge nicht geschlossen gewesen. Weil ich aber ausgegangen war und mich amüsiert hatte, konnte ich jetzt im Dunkeln nichts sehen.

Ich glaubte, Schritte auf dem Gang zum Wohnzimmer zu hören, war mir aber nicht sicher. Ich sprang aus dem Bett, sah mich im Schlafzimmer um. Gleichmäßig braune Farbtöne. Kein Eindringling. Ich tappte auf den Gang hinaus, schaute in beide Richtungen. Nichts.

Dann hörte ich, wie die Sicherheitskette aus ihrer Führung gezogen wurde. Die Wohnungstür wurde geöffnet und geschlossen, und jemand polterte die Treppe hinab.

Ich rannte ins Wohnzimmer und wollte meinerseits auf den Korridor hinausstürzen, als mir plötzlich, einfiel, daß ich nur einen Slip anhatte. In dem Mietshaus, in dem ich wohne, würde ein Mann in Unterhose zwar niemanden stören - er würde vielleicht nicht einmal auffallen -, aber ich bilde mir gern ein, mehr Niveau als meine Nachbarn zu haben, unter denen es leider viele Primitivlinge und Proleten gibt.

Als ich Licht machte, sah ich, daß die Kette tatsächlich lose herabhing. Ich legte sie wieder vor.

Dann durchsuchte ich gründlich die ganze Wohnung, vom Klo bis zu den Einbauschränken. Soweit ich feststellen konnte, waren nirgends Bomben oder sonstige unliebsame Überraschungen versteckt. Das Schlafzimmer nahm ich mir gleich zweimal vor, weil ich die Geräusche dort zuerst vernommen hatte, aber alles schien in Ordnung zu sein.

Ich machte mir Kaffee. Der erste Schluck schmeckte so abscheulich, daß ich den halben Becherinhalt in die Spüle goß und hoffte, die alten Rohre würden die Brühe verkraften. Den Rest machte ich mit einem ordentlichen Schuß Brandy wesentlich schmackhafter. Mein Spezialfrühstück!

In der Unterhose stand ich auf dem kalten Küchenboden, wärmte mich innerlich mit Alkohol und überlegte, wer bei mir eingebrochen haben könnte und warum.

An der Sache war etwas faul: Der Eindringling hatte beim Verlassen meiner Wohnung die Sicherheitskette entfernt. Und das bedeutete, daß er entweder durch ein Fenster eingedrungen war oder aber, nachdem er sich irgendwie durch die Tür Zutritt verschafft hatte, die Kette wieder vorgelegt hatte. Letzteres war aber unsinnig. Kein Einbrecher würde sich selbst die Flucht erschweren - schließlich mußte er immer damit rechnen, daß die Sache schiefging.

Ich kontrollierte sämtliche Fenster. Sie waren wie immer verschlossen. Ich schaute mir sogar das Badfenster an, obwohl es vergittert ist. Durch die Fenster war niemand in meine Wohnung gelangt - was mich nicht allzu sehr wunderte, weil ich im achten Stock wohne.

Ich schlug mir einige Male gegen die Stirn, als könnte ich dadurch schlauer werden. Da das nichts nutzte, beschloß ich zu duschen und anschließend essen zu gehen.

Wahrscheinlich waren es Halluzinationen gewesen. Bisher hatte ich noch nie unter einer »postkoitalen Depression« gelitten, von der die Psychologen, die zweihundert Dollar pro Stunde kassieren, so gern schwafelten. Vielleicht machte ich jetzt eine durch. Denn es war höchst unwahrscheinlich, daß jemand sich der Mühe unterzog, trotz der Sicherheitskette lautlos in eine Wohnung einzudringen, nur um einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen und wieder zu verschwinden, ohne etwas gestohlen zu haben. Und keiner meiner Feinde würde einen gedungenen Mörder losschicken, den im letzten Augenblick der Mut verließ.

Es war halb fünf, als ich die Duschkabine verließ, und dann machte ich eine halbe Stunde Bodybuilding. Anschließend duschte ich noch einmal, diesmal kalt, frottierte mich kräftig ab, kämmte mein krauses Haar, bis es halbwegs ordentlich aussah, und zog mich an.

Um halb sechs nahm ich in einer Nische im Ace-Spot Platz, und Dorothy, die Kellnerin, brachte mir einen Scotch und Wasser, noch bevor mir die köstlichen Gerüche richtig in die Nase stiegen.

»Was soll’s denn sein, Jake?« fragte sie mit ihrer Stimme, die sich so anhörte, als würde man ein Glas in eine Porzellanschüssel werfen.

Ich bestellte ein Steak mit Spiegeleiern und einer doppelten Portion Pommes frites, und dann fragte ich: »Hat sich hier jemand nach mir erkundigt, Dory?«

Sie notierte die erste Satzhälfte auf ihrem Block, bevor ihr auffiel, daß das nicht mehr zur Bestellung gehörte. Angeblich war Dory früher einmal ein attraktives Straßenmädchen gewesen, aber daß sie Grips hatte, behauptete niemand.

»Bei mir nicht«, sagte sie. »Aber ich werde mal Benny fragen.«

Benny war der Barkeeper. Er war viel intelligenter als Dory. An seinen besten Tagen hätte er sogar eine Diskussion mit einer Karotte für sich entscheiden können.

Ich weiß nicht, warum ich eine besondere Vorliebe für die Gesellschaft von Dummköpfen und Vollidioten habe. Vielleicht weil ich mich ihnen überlegen fühlen kann. Ein Mann, der töricht genug ist, um Ende des zwanzigsten Jahrhunderts seinen Lebensunterhalt als altmodischer Privatdetektiv verdienen zu wollen, im Zeitalter von Computern, raffiniertesten Abhörmethoden und Drogensüchtigen, die für fünf Cent ihre eigene Großmutter umbringen würden - ein solcher Trottel braucht, verdammt noch mal, jede Bestätigung, die er irgendwo bekommen kann.

Als Dory mir mein Essen brachte, berichtete sie, daß niemand Benny über mich ausgefragt hatte. Ich verschlang alles mit großen Bissen, während ich über den Unbekannten nachdachte, der scheinbar durch die Wand in mein Schlafzimmer eingedrungen war.

Nach zwei weiteren doppelten Scotch ging ich nach Hause, um meine Wohnung noch einmal gründlich zu durchsuchen.

Ich wollte meinen Schlüssel gerade ins Schloß stecken, als die Wohnungstür von innen geöffnet wurde. Ein sehr komischer Kauz wollte soeben das Weite suchen.

»Hiergeblieben, mein Freund!« sagte ich, den 38er Colt auf seinen dicken Bauch gerichtet. Ich drängte ihn ins Wohnzimmer zurück, schloß die Tür und machte Licht. »Was willst du hier?« fragte der Kerl. »Was ich hier will? Hör zu, du Ganove, dies hier ist meine Wohnung! Ich bin hier zu Hause, und soviel ich weiß, habe ich keinen Untermieter.«

Er war so gekleidet, als wollte er in einem Bogart-Film mitwirken, und normalerweise hätte mich das zum Lachen gereizt, aber im Augenblick war ich stinkwütend. Er hatte einen riesigen Hut tief ins Gesicht gezogen.

Sein Mantel hätte auch siamesischen Zwillingen genügend Platz geboten. Er reichte ihm bis zu den Knien, und darunter kamen weite zerknitterte Hosenbeine und riesige - ich meine wirklich RIESIGE - abgetragene Tennisschuhe zum Vorschein. Diese Tennisschuhe paßten nicht ganz zum Image von Bogart, aber insgesamt wirkte alles sehr mysteriös.

Von der Größe her erinnerte er allerdings eher an Sidney Greenstreet, der mir aus alten Filmen bekannt war.

»Ich will dir nichts zuleide tun«, sagte er mit einer Stimme, die auf chronische Mandelentzündung hindeutete und zwar etliche Tonlagen tiefer als die von Dory war, aber genauso harsch klang.

»Bist du der Kerl, der vor ein paar Stunden schon einmal hier war?« fragte ich.

Mit gesenktem Kopf antwortete er: »Ich bin noch nie hier gewesen.«

»Laß dich mal anschauen.«

Ich streckte die Hand nach seinem Hut aus. Er wollte zurückweichen, stellte fest, daß ich schneller war, und holte zum Schlag gegen meine Brust aus. Aber ich riß ihm den Hut vom Kopf, und sein Boxhieb traf mich nur an der Schulter und nicht über dem Herzen, wohin er gezielt hatte.

Grinsend blickte ich ihm ins Gesicht, doch in der nächsten Sekunde verging mir das Lachen, und ich murmelte: »Großer Gott!«

»Das war’s dann wohl!« Er verzog das Gesicht, und zwischen den schwarzen Lefzen kamen große, breite Zähne zum Vorschein.

Ich stand mit dem Rücken zur Tür, und obwohl ich zum erstenmal seit Jahren Angst hatte, war ich fest entschlossen, ihn nicht gehen zu lassen. Sollten Drohungen nicht ausreichen, würde ein Schuß ihn gefügig machen - jedenfalls hoffte ich das.

»Wer ... was bist du?« fragte ich.

»Die erste Frage war richtig. Wer.«

»Dann antworte.«

»Könnten wir uns vielleicht setzen? Ich bin wahnsinnig müde.«

Ich hatte nichts dagegen, daß er sich setzte, aber ich selbst blieb lieber stehen, um mich schneller bewegen zu können. Er ging zum Sofa und ließ sich erschöpft darauf fallen. Währenddessen schaute ich ihn mir genauer an. Er war ein Bär. Ein Meister Petz. Kein kleiner Teddy, nein, ein fast zwei Meter großer Bär mit breiten Schultern. Unter seiner weiten Kleidung waren bestimmt baumstarke Beine und ein Brustkorb wie ein Faß verborgen. Sein Gesicht war ein Granitblock, an dem sich ein Bildhauer mit Buttermesser und stumpfem Schraubenzieher zu schaffen gemacht hatte. Nur harte ebene Flächen, die Augen unter einer vorspringenden Stirn halb verborgen, ein Kinn, um das ihn sogar Schwarzenegger beneidet hätte. Und über all dem: Pelz.

Hätte ich nicht die Angewohnheit, mir - wenn nicht viel zu tun ist - nachmittags im Fernsehen die diversen Talkshows anzuschauen, wo Männer bekennen, mit den Müttern ihrer Ehefrauen geschlafen zu haben, und wo Transvestiten behaupten, von Außerirdischen entführt worden zu sein, dann hätte mich der Anblick eines sprechenden Bären bestimmt total umgehauen. Doch wenn man gemütlich auf dem Sofa sitzt und sieht, was sich heutzutage, in den 90er Jahren, auf unseren Großstadtstraßen so alles tummelt, wird man automatisch härter als Sam Spade und Philip Marlowe zusammen.

»Na los, pack aus!« sagte ich.

»Mein Name ist Bruno.«

»Und?«

»Du hast vorhin nur gefragt, wer ich bin.«

»Laß gefälligst diese Spitzfindigkeiten!«

»Dann hast du dich wohl nicht genau ausgedrückt?«

»Wieso?«

»Gefragt hast du, wer ich bin, aber in Wirklichkeit wolltest du umfassende Auskünfte, ein breites Datenspektrum.«

»Ich hätte größte Lust, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen«, sagte ich.

Er schien verwundert zu sein und rutschte unbehaglich auf dem Sofa herum, so daß die Federn quietschten. »Warum denn?«

»Weil du wie ein verdammter Buchhalter daherredest.«

Er überlegte kurz. »Okay, warum nicht? Was habe ich schon zu verlieren? Ich bin hinter Graham Stone her, jenem Mann, den du vor einigen Stunden hier gehört hast. Er wird wegen diverser Verbrechen gesucht.«

»Was für Verbrechen?«

»Das würdest du nicht verstehen.«

»Sehe ich so aus, als wäre ich in einem Nonnenkloster aufgewachsen und hätte von Sünden keine Ahnung? Mich kann nichts mehr überraschen, was irgend so ein Dreckschwein anstellt. Also - wie ist dieser Stone hier reingekommen? Und wenn wir schon dabei sind - wie bist du reingekommen?«

Ich wedelte mit dem Colt vor seiner Nase herum, als er mit der Antwort zögerte.

»Sieht so aus, als müßte ich dir reinen Wein einschenken«, sagte Bruno. »Er und ich - wir sind aus einer anderen Wahrscheinlichkeit hierher durchgedrungen.«

»Ha?« Sogar diesen Laut brachte ich nur mühsam hervor, weil mein Mund weit offenstand, so als wäre ich ein mit Drogen vollgepumpter Fan bei einem Konzert der Grateful Dead.

»Eine andere Wahrscheinlichkeit. Eine andere Zeitebene. Graham Stone stammt von einer Gegen-Erde, von einer der unzähligen möglichen Welten, die nebeneinander existieren. Ich komme aus einer anderen Welt als Stone. Du bist zum Brennpunkt für Zeitkreuzungsenergien geworden. Wenn dir das jetzt zum erstenmal widerfährt, dürftest du diese Fähigkeit erst seit kurzem besitzen. Du bist ja auch noch nirgends verzeichnet - im Führer stehst du jedenfalls nicht. Wenn es eine alte Fähigkeit wäre .«

Ich mußte einige unverständliche Knurrlaute ausstoßen, bevor er mit seinem Geschwafel aufhörte. Dann ließ ich mir von ihm ein halbes Glas Scotch einschenken und trank es fast aus. Derart gestärkt, sagte ich: »Erklär mir diese ... diese Fähigkeit, die ich angeblich erworben habe. Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Es ist möglich, durch die Wahrscheinlichkeiten zu reisen, von einer Erde zur anderen. Aber es ist schwierig, einen Eingang zu finden - dazu bedarf es eines Lebewesens, das auf irgendeine Weise Zeitkreuzungsenergie absorbiert und wieder abgibt, ohne daß es zu einer heftigen Explosion kommt.«

»Zu einer Explosion?«

»Ja, das kann sehr unangenehm sein.«

»Tatsächlich?«

»Na ja, du gehörst jedenfalls zu jenen besonders befähigten Menschen, die nicht explodieren.«

»Wie schön für mich!«

»Du sendest Signale aus, daß du ein Eingang bist - es ist eine Art spirituelle Aura, die dich bis zu einem Umkreis von sechs Metern umgibt.«

»Wirklich?« murmelte ich benommen.

»Leider gibt es nicht in jeder möglichen Welt solche befähigten Wesen, und deshalb steht uns nicht die ganze Unendlichkeit von Möglichkeiten offen.«

Ich trank den letzten Schluck Scotch und hätte am liebsten auch noch das Glas ausgeleckt. »Es gibt also eine . eine Gegen-Erde, wo intelligente Bären die Macht übernommen haben?« Diese Ereignisse ließen sich nicht mehr mit der heißen Liebesnacht erklären. Nicht einmal der wortgewandteste Seelenklempner der ganzen Welt hätte mich davon überzeugen können, daß eine postkoitale Depression sich auf diese Weise äußern konnte.

»Wir haben die Macht nicht gewaltsam an uns gerissen«, erklärte Bruno. »Aber kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat auf meiner Wahrscheinlichkeitsebene ein Atomkrieg von gräßlichen Ausmaßen stattgefunden, und das hatte zur Folge, daß zwar die Wissenschaften überlebten, aber nicht allzu viele Menschen. Um als Rasse weiterzubestehen, mußten sie lernen, in niedriger entwickelten Lebewesen Intelligenz zu fördern, und es gelang ihnen schließlich mit Hilfe der Genetik, Tiere mit menschlicher Intelligenz und Geschicklichkeit zu züchten.«

Er hob seine Hände, um zu demonstrieren, daß es keine Bärenpfoten, sondern kräftige Finger waren, und während er sie bewegte, grinste er töricht, wobei wieder alle seine breiten Zähne zum Vorschein kamen.

»Wenn ich uns irgendwie einen Termin bei Steven Spielberg besorgen kann, werden wir beide steinreich werden!«

Bruno runzelte die Stirn. »Bei Steven Spielberg, dem Vater der Weltraumfahrt?«

»Was? Nein, bei dem Filmregisseur.«

»In meiner Welt ist er das nicht.«

»Ist Spielberg in deiner Welt der Vater der Weltraumfahrt?«

»Er hat auch Tiefkühljoghurt erfunden.«

»Tatsächlich?«

»Und Antischwerkraftstiefel und Mikrowellen-Popcorn. Er ist der reichste Mann der Weltgeschichte.«

»Ich verstehe .«

»Und er ist auch der Architekt des Weltfriedens«, fügte er ehrfürchtig hinzu.

Ich mußte mich hinsetzen, als mein beschränktes Hirn langsam begriff, welche Auswirkungen das alles für mich haben konnte. »Soll das heißen, daß ab jetzt ständig irgendwelche komischen Gestalten aus tausend verschiedenen Welten bei mir auftauchen werden?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Erstens gibt es nicht allzu viele Gründe, um deine Wahrscheinlichkeitsebene zu besuchen - die meisten anderen übrigens auch nicht. Die Angebote an Zeitkreuzreisen sind so vielfältig, daß sich niemand lange in einer Welt aufhält, es sei denn, es ist eine so außergewöhnliche Erde, daß sie zur Touristenattraktion wird. Aber deine Erde sieht nichtssagend und durchschnittlich aus, jedenfalls dieser Wohnung nach zu schließen.«

Ich ignorierte diese beleidigende Äußerung. »Aber angenommen, du hättest mich als Eingangstor zu dieser Erde benutzt, als ich gerade irgendwo unterwegs war? Das muß doch Aufsehen erregen.«

»Es ist merkwürdig«, erklärte Bruno, »aber wenn einer von uns zum erstenmal auftaucht, kannst nicht einmal du ihn sehen. Du nimmst uns erst allmählich wahr, so als würdest du jemanden aus dem Augenwinkel heraus sehen, und dadurch kommt es dir ganz natürlich vor.«

Ich forderte ihn auf, mir noch einen Scotch einzuschenken. Nach dem dritten Glas fühlte ich mich wesentlich wohler. »Du hast gesagt, daß du ein Bulle bist.«

»Habe ich das?«

»Na ja, jedenfalls hast du gesagt, daß dieser Stone wegen irgendwelcher Verbrechen gesucht wird. Wenn du nicht ein normaler Bürger mit überdurchschnittlichem Engagement für die Allgemeinheit bist, mußt du ein Bulle sein.«

Er holte eine seltsame runde Silbermarke aus der Manteltasche und zeigte sie mir:

WAHRSCHEINLICHKEITSPOLIZEI. Als er mit dem Daumen über die Oberfläche fuhr, machten die Buchstaben einem Photo von ihm Platz. »Ich muß jetzt wirklich gehen. Graham Stone ist viel zu gefährlich, als daß man ihn hier frei herumlaufen lassen dürfte.«

Neben mir lag die Fernbedienung für den CD-Player. Ich wählte eine Scheibe aus und stellte sie auf volle Lautstärke, während er sich erhob und seinen grotesken Hut aufsetzte. Als die Butterfield Blues Band einen ohrenbetäubenden Lärm veranstaltete, feuerte ich auf das Sofa, dicht neben Bruno. Versehentlich durchlöcherte die Kugel seinen Mantel.

Er setzte sich wieder hin.

Ich stellte die Anlage leiser.

»Was willst du?« fragte er, und ich mußte zugeben, daß er ganz cool reagierte. Er warf nicht einmal einen Blick auf seinen Mantel.

Mein Entschluß stand fest. »Du wirst Hilfe brauchen. Ich kenne diesen Großstadtsumpf. Du nicht.«

»Ich habe meine eigenen Methoden«, sagte er.

»Methoden? Du bist nicht Sherlock Holmes im viktorianischen England, mein Freund! Dies ist Amerika in den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, und hier in der Großstadt werden Bären wie du zum Frühstück verspeist.«

Er wirkte verunsichert. »Na ja, ich kenne mich auf deiner Erde nicht besonders gut aus .«

»Deshalb brauchst du mich.« Ich hielt den Colt auf ihn gerichtet.

»Red weiter«, knurrte er, und ich wußte genau, daß er mir liebend gern gezeigt hätte, wie schnell er seine riesigen Fäuste schwingen konnte.

»Zufällig bin ich Privatdetektiv. Im Grunde habe ich für Bullen mit Dienstmarken ja nicht viel übrig, aber ich arbeite gern mit ihnen zusammen, wenn dabei etwas für mich rausspringt.«

Er schien den Vorschlag zurückweisen zu wollen, überlegte es sich dann aber doch anders. »Wieviel verlangst du?«

»Sagen wir mal - zweitausend.«

»Zweitausend Dollar?«

»Oder zwei Paar von Spielbergs Anti sch werkraftstiefeln, wenn du welche hast.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich darf keine revolutionären Technologien in andere Wahrscheinlichkeitsebenen importieren. Das kann üble Folgen haben.«

»Beispielsweise?«

»Beispielsweise die Selbstentzündung kleiner Mädchen in New Jersey.«

»Halt mich nicht zum Narren!«

»Es ist mein voller Ernst.« Und sein Bärengesicht sah so aus, als meinte er es wirklich ernst - es war streng und grimmig. »Die Auswirkungen sind unvorhersehbar und oft unheimlich. Weißt du, das Universum steckt voller Geheimnisse.«

»Na so was, das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Also - gilt die Abmachung? Zweitausend Dollar?«

»Du kannst gut mit deiner Pistole umgehen«, sagte er. »Einverstanden.«

Er hatte den Betrag zu schnell akzeptiert. »Sagen wir lieber - drei Riesen«, korrigierte ich mich.

Er grinste. »Einverstanden.«

Ich begriff, daß Geld ihm nichts bedeutete - jedenfalls das Geld meiner Wahrscheinlichkeitsebene. Aber mehr wollte ich nicht verlangen - das wäre mir gegen die Ehre gegangen.

»Im voraus zu bezahlen«, sagte ich.

»Hast du Bargeld?« fragte er. »Ich muß sehen, was für Banknoten ihr habt.«

Ich holte zweihundert Dollar aus meiner Brieftasche und warf die Scheine auf den Couchtisch.

Er legte die Fünfziger und Zwanziger sorgfältig nebeneinander, holte eine schmale Kamera aus der Manteltasche und photographierte die Scheine. Gleich darauf glitten die entwickelten Duplikate seitlich heraus. Er überreichte sie mir und wartete auf meine Reaktion.

Es waren perfekte Banknoten.

»Aber das ist Falschgeld!« beklagte ich mich.

»Stimmt, doch das wird kein Mensch merken. Fälscher werden nur geschnappt, weil sie Tausende von Scheinen mit derselben Seriennummer anfertigen. Du hast aber nur jeweils zwei Scheine mit derselben Nummer. Wenn du weiteres Bargeld im Haus hast, werde ich auch das kopieren.«

Ich holte meine Reserven aus dem kleinen Tresor, den ich immer unter dem doppelten Boden des Küchenschranks versteckte. Innerhalb weniger Minuten hatte ich meine dreitausend Dollar. Nachdem ich das ganze Falschgeld samt Vorlagen im Schrank versteckt und nur die echten zweihundert Dollar wieder in die Brieftasche geschoben hatte, sagte ich: »So, und jetzt werden wir diesen Stone aufspüren.«

2

Die Dämmerung brach herein, und es begann zu schneien, als wir vor einer Gasse, etwa drei Kilometer von meiner Wohnung entfernt, endlich eine heiße Spur aufnahmen.

Bruno warf einen Blick auf die Silberplakette, die er mir als Dienstmarke präsentiert hatte, die in Wirklichkeit aber offenbar ganz anderen Zwecken diente. Er brummte zufrieden, als sie orangefarben aufleuchtete, und erklärte mir, dieses Ding messe die verbliebene Zeitenergie, die Stone ausstrahle, und verfärbe sich, je näher wir dem Gesuchten kämen.

»Ein nützliches Gerät«, sagte ich.

»Spielberg hat es erfunden.«

Die Plakette war gelb gewesen, als wir meine Wohnung verlassen hatten. Jetzt wurde das Orange - vom Rand ausgehend - immer kräftiger.

»Wir sind nicht mehr weit von ihm entfernt«, konstatierte Bruno befriedigt. »Versuchen wir’s mal mit dieser Gasse.«

»Nicht gerade die beste Gegend der Stadt.«

»Gefährlich?«

»Für einen zwei Meter großen Bären mit futuristischen Waffen wahrscheinlich nicht.«

»Gut.« Er versuchte sich kleiner zu machen und wie ein bärtiger Mann auszusehen, indem er die Schultern einzog, den riesigen Hut noch tiefer ins Gesicht schob und den Kopf senkte. In seinem weiten Mantel stapfte er vorwärts, und ich folgte ihm, wegen des scharfen Windes und des heftigen Schneetreibens ebenfalls in geduckter Haltung.

Die Gasse führte zu einer Straße mit Gebrauchtwagenmärkten, Industrie-Zulieferfirmen, Lagerhäusern und einigen anderen Geschäften; hinter all diesen Fassaden trieb zweifellos die Mafia ihre dunklen Machenschaften. Eines der Lagerhäuser, ein verwahrloster Klinkerbau mit Wellblechdach, stand leer. An den beiden Fenstern hoch über der Straße waren die Scheiben eingeschlagen.

Bruno zog seine Plakette zu Rate, die jetzt rötlich leuchtete, und deutete auf das Lagerhaus. »Dort muß er sein.«

Wir überquerten die Straße und hinterließen dabei schwarze Spuren im unberührten Schnee. Im Erdgeschoß gab es zwei Eingänge: eine Tür von normaler Größe und ein Garagentor für LKW’s. Beide waren verschlossen.

Ich deutete auf das Schloß der kleineren Tür. »Das könnte ich mit einem Schuß leicht aufsprengen.«

»Stone ist irgendwo oben«, meinte Bruno nach einem weiteren Blick auf seine Plakette. »Versuchen wir’s mal an der Tür im ersten Stock.«

Wir stiegen die Feuerleiter hinauf, wobei wir uns am eiskalten Eisengeländer festhalten mußten, weil die Stufen spiegelglatt waren. Diese Tür war aufgebrochen worden und hing an losen Angeln schräg nach außen. Wir gingen hinein, blieben im Dunkeln stehen und lauschten angestrengt. Schließlich knipste ich meine Taschenlampe an, weil ich endlich kapiert hatte, daß Bruno im Gegensatz zu mir offenbar in der Dunkelheit sehen konnte. Wir standen auf einer breiten Galerie über der Lagerhalle.

Dreißig Meter links von uns war plötzlich ein Rasseln zu hören, so als würde ein Sack voller Knochen kräftig geschüttelt. Wir eilten dorthin: Es war nur eine Holzleiter, die vibrierte, nachdem jemand hinabgeklettert war.

Ich spähte in die Tiefe, aber Stone war verschwunden. Keine der beiden unteren Türen war geöffnet worden, denn das hätten wir gehört. Wir nahmen die Verfolgung auf.

Zehn Minuten später hatten wir nicht nur alle leeren Kisten und kaputten Maschinen abgesucht, sondern auch die unübersichtlichen Stellen zwischen den leeren Büros an der Rückwand. Keine Spur von diesem Stone. Die vorderen Türen waren immer noch von innen abgeschlossen.

Wir hielten unsere Pistolen in den Händen. Brunos Waffe sah sehr fremdartig aus, aber er versicherte mir, daß sie tödlich sei. »Es ist eine 780er Disney Death Hose.«

»Disney?«

»Walt Disney. Der beste Waffenhersteller der Welt.«

»Tatsächlich?«

»Kennt man ihn bei euch nicht?«

»Meine Knarre ist eine Smith & Wesson«, erwiderte ich.

»Die Hamburger-Kette?«

Ich runzelte die Stirn. »Was?«

»Na, du weißt schon, die schmackhaften >Golden Arches< von Smith & Wesson.«

Ich ließ das Thema fallen. Offenbar sind diese alternativen Welten sehr merkwürdig.

Leise Akkorde von Heavy Metal-Musik waren plötzlich zu vernehmen. Sie schienen einfach aus der dünnen Luft um uns herum zu kommen, doch als ich die Wände sorgfältig ableuchtete, entdeckte ich eine alte Tür, die wir bisher übersehen hatten, weil sie in der Farbe der Wände gestrichen war. Ich öffnete sie vorsichtig und sah nur gähnende Finsternis. Dröhnende Gitarren, ein Keyboard-Synthesizer, Trommeln. Ich ging die Treppe hinab, und Bruno folgte mir.

»Wo kommt die Musik her?« wollte mein Freund Petz wissen.

Es gefiel mir nicht besonders, seinen heißen Atem im Nacken zu spüren, aber ich beklagte mich nicht, denn solange er dicht hinter mir war, konnte mich wenigstens niemand rücklings angreifen. »Sieht ganz so aus, als gäbe es hier oder in einem benachbarten Gebäude einen Keller, wo sie spielen.«

»Wer?«

»Die Band.«

»Welche Band?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich liebe Bands«, sagte Bruno.

»Das freut mich für dich.«

»Ich tanze auch sehr gern«, fuhr der Bär fort.

»Im Zirkus?« fragte ich.

»Wo?«

Mir wurde plötzlich klar, daß ich ihn um ein Haar schwer beleidigt hätte. Schließlich war er ein intelligenter Mutant, ein Wahrscheinlichkeitspolizist und nicht einer unserer Bären. Er würde niemals in einem Zirkus tanzen oder mit einem Spitzenröckchen um die Hüften auf einem Einrad fahren.

»Wir kommen Stone näher«, informierte Bruno mich auf der Treppe, »aber er ist nicht hier.«

Die Plakette hatte sich immer noch nicht leuchtend rot verfärbt.

»Hier entlang«, sagte ich, als wir in dem moderigen Keller standen, der voller Gerumpel war. Es stank nach Urin und verwestem Fleisch. Dies war mit Sicherheit eine der Brutstätten für jenes Virus, das eines Tages die Menschheit auslöschen wird.

Ich folgte den Klängen der Heavy Metal-Musik von einem kalten Steinraum in den anderen. Ratten, Spinnen und anderes Getier ergriffen die Flucht. Sogar Jimmy Hoffa hätte hier unten sein können. Oder Elvis - aber als wandelnder Toter, mit vielen scharfen Zähnen, roten Augen und uncharakteristisch schlechter Haltung.

Im dunkelsten Kellerraum, wo es am meisten stank, entdeckte ich eine alte Holztür mit Eisenbeschlägen. Sie war verschlossen.

»Bleib etwas zurück«, riet ich Bruno.

»Was hast du vor?«

»Nur eine kleine Renovierung.« Ich schoß das Schloß aus der Tür.

In den Steingewölben hallte der Schuß unheimlich laut wider. Als der Höllenlärm endlich verebbte, sagte Bruno: »Ich habe subtilere Geräte für so etwas.«

»Zum Teufel mit deinen subtileren Geräten!« knurrte ich.

Ich riß die Tür auf - und stand vor einer zweiten Tür, einer relativ neuen Stahltür ohne Klinke oder Schloß auf unserer Seite. Dieses Doppeltürenarrangement sollte natürlich verhindern, daß jemand durch die Kellerräume von einem Gebäude ins andere gelangen konnte, es sei denn, daß die Leute diesseits und jenseits der Türen eine Absprache getroffen hatten.

Bruno trat neben mich. »Du erlaubst doch?«

Im Schein meiner Taschenlampe holte er aus seiner großen Manteltasche einen zehn Zentimeter langen Stab aus grünem Quarz und schüttelte ihn wie ein Thermometer.

Das Instrument begann zu surren - ein hoher Ton, der für Menschenohren kaum noch zu hören war, aber einen Hund bestimmt fast zum Wahnsinn getrieben hätte. Seltsamerweise nahm ich die Vibrationen des verdammten Geräts in meiner Zunge wahr.

»Meine Zunge prickelt!« beklagte ich mich.

»Das ist ganz natürlich.«

Er berührte die Stahltür mit dem Quarz, und die Schlösser -es mußten mehrere sein - sprangen mit lautem Klicken auf.

Meine Zunge hörte auf zu vibrieren, Bruno verstaute den Quarzstab wieder in seiner Manteltasche, und ich stieß die Stahltür auf.

Wir landeten in einer Toilette, in der sich zum Glück gerade niemand aufhielt. Zwei Kabinen mit angelehnten Türen, zwei Pissoirs, umgeben von Urinpfützen auf dem Boden, ein Waschbecken, das so schmutzig war, als würde Bobo the Dog Boy regelmäßig darin baden, und ein fleckiger Spiegel, der unsere Gesichter gräßlich verzerrte.

»Was ist das für eine Musik?« brüllte Bruno, um die Heavy Metal-Band zu übertönen, die jetzt in unmittelbarer Nähe spielte.

»Metallica!«

»Eignet sich nicht zum Tanzen«, beklagte er sich.

»Das hängt davon ab, wie alt man ist.«

»Ich bin noch nicht alt.«

»Aber du bist ein Bär.«

Ich höre Heavy Metal ganz gern. Diese Musik durchlüftet mein Gehirn und gibt mir das Gefühl, unsterblich zu sein. Wenn ich sie mir freilich zu oft anhören würde, käme ich vielleicht soweit, lebende Katzen zu essen oder Leute zu erschießen, nur weil ihre Namen mir mißfallen. Ich brauche meinen Jazz und Blues. Aber eine kleine Dosis Heavy Metal tat ganz gut, und die Band in diesem Klub war wirklich nicht so übel.

»Und was jetzt?« schrie Bruno.

»Da ist eine Bar oder ein Klub«, brüllte ich zurück. »Wir gehen jetzt rein und suchen nach diesem Stone.«

»Ich nicht. Draußen auf den Straßen fühle ich mich einigermaßen sicher, besonders wenn es dunkel ist - da kann ich Abstand halten, so daß niemand mich genau sehen kann, aber hier würde man mir zu nahe kommen. Auch Stone sollte sich eigentlich nicht unter die Menge mischen. Er sieht zwar fast wie ein Mensch aus - aber trotzdem könnte jemand Verdacht schöpfen. Er hätte nie versuchen sollen, in eine unerforschte Zeitebene zu flüchten. Es war eine Verzweiflungstat, weil er wußte, daß ich ihm dicht auf den Fersen war.«

»Was dann?« fragte ich.

»Ich bleibe hier, in einer der Kabinen. Du schaust dich in der Bar um. Wenn er nicht da ist, kehren wir ins Lagerhaus und von dort auf die Straße zurück und nehmen seine Spur dort wieder auf.«

»Du willst wohl, daß ich mir mein Geld redlich verdiene, was?«

Während ich mir vor dem Spiegel die Krawatte zurechtrückte, ging Bruno in eine Kabine und schloß die Tür.

»Allmächtiger!« rief er gleich darauf.

»Was ist?«

»Habt ihr auf dieser Erde denn überhaupt keinen Sinn für Reinlichkeit?«

»Manche von uns schon.«

»Das ist ja widerlich!«

»Versuch’s mal mit der anderen Kabine«, riet ich ihm.

»Dort sieht es vielleicht noch schlimmer aus!« knurrte er.

»Ich werde nicht lange wegbleiben«, versprach ich, bevor ich die stinkende Toilette verließ, um Graham Stone zu suchen.

3

Ich mußte meine Ellbogen gebrauchen, um überhaupt aus der Toilette herauszukommen, denn der Raum war gerammelt voll. Die Leute waren mindestens so dicht geschichtet wie Klafterholz. Ich hatte Stones Photo auf Brunos vielseitiger Plakette gesehen und wußte deshalb, daß ich nach einem etwa einem Meter fünfundachtzig großen Kerl Ausschau halten mußte, mit bleichem Gesicht, rabenschwarzen Haaren, schmalen Lippen und kristallblauen Augen, die so hart aussahen wie das Herz eines Steuerfahnders - alles in allem eine grausame Visage. Ich schaute mir die Typen um mich herum an, erspähte niemanden, der Stone auch nur entfernt ähnlich sah, und schob mich tiefer in die Menge hinein, die im Rhythmus der Musik zuckte und wogte, einander begrapschte, Bier trank und Heilkräuter rauchte. Mich starrten sie an, als befürchteten sie, daß ich ihnen gleich eine Nummer des Wachturms in die Hand drücken und sie belabern würde, Jesus sei ihr Retter.

Es war alles andere als einfach, in diesem Gedränge ein einzelnes Gesicht zu erkennen. Alle paar Minuten blinkten Stroboskoplichter, und dann mußte ich stehenbleiben und mich in Geduld fassen. Und dazwischen wurden flimmernde Ausschnitte aus Horrorfilmen an die Decke, an die Wände und sogar auf die Gäste projiziert. Nach etwa zehn Minuten hatte ich den Raum fast durchquert, vorbei an der Bar und am Orchesterpodium. Da endlich erspähte ich Graham Stone, der sich mühsam einen Weg zu der Tür in der rechten Ecke bahnte.

Auf einem Schild über der Tür stand BÜRO, und an der Tür selbst war ein weiteres Schild mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR DAS PERSONAL angebracht. Die Tür stand halb offen, und ich ging einfach durch, so als gehörte ich zum Personal, eine Hand lässig in die Sakkotasche geschoben wo ich meinen Colt versteckt hatte.

Hier hinten gab es mehrere Zimmer, zu beiden Seiten eines kurzen Gangs. Alle Türen waren geschlossen. Ich klopfte an die erste, und als eine Frau »Ja?« rief, öffnete ich die Tür und warf einen Blick in den Raum.

Sie hatte rote Haare, trug ein enges Trikot und übte Ballettschritte vor einem Spiegel. An den Wänden standen zehn Stühle, und in jedem Stuhl saß eine Bauchrednerpuppe. Einige hielten sogar Bananen in ihren Holzhänden.

»Entschuldigung«, murmelte ich. »Ich habe mich im Zimmer geirrt.«

Ich schloß die Tür und öffnete die nächste, auf der anderen Seite des Ganges.

Graham Stone stand neben dem Schreibtisch und starrte mich mit seinen kalten Augen an. Ich trat ein, schloß die Tür und holte die Smith & Wesson aus der Tasche, damit er die Situation nicht mißverstehen konnte. »Keine Bewegung!« befahl ich.

Er bewegte sich nicht, und er gab keine Antwort, doch als ich auf ihn zukam, machte er einen Schritt zur Seite. Ich richtete den Colt auf ihn, erzielte damit aber nicht die erhoffte Wirkung. Er betrachtete die Waffe völlig uninteressiert.

Ich ging weiter auf ihn zu, und wieder wich er aus. Mein Arbeitsvertrag mit Bruno enthielt keine Klausel, daß ich Stone lebendig fassen müsse. Im Gegenteil, der Bär hatte erklärt, daß es verhängnisvoll sein könne, Gnade walten zu lassen, weil der Gegner die Brutalität eines Hare-Krishna-Schnorrers mit einer Megadosis PCP im Blut an den Tag legen würde. Na ja, er hatte es etwas anders formuliert, aber ich hatte seine Botschaft trotzdem verstanden. Deshalb verpaßte ich Stone eine Kugel in die Brust, ohne abzuwarten, was er im Schilde führte.

Die Kugel durchbohrte ihn, und er sackte zusammen, fiel auf den Schreibtisch, glitt zu Boden. Die Luft entwich aus ihm wie aus einem Ballon, und innerhalb von sechs Sekunden war er nur noch ein Häuflein bemaltes Seidenpapier. Diese dreidimensionale abgestreifte Schlangenhaut sah verblüffend echt aus. Ich untersuchte die Überreste. Kein Blut. Keine Knochen. Nur Asche.

Ich betrachtete meine Smith & Wesson. Es war mein üblicher Colt. Keine 780er Disney Death Hose. Folglich war das nicht der echte Graham Stone gewesen, sondern - na ja, irgend etwas anderes, ein ebenso überzeugendes wie instabiles Gebilde. Anstatt lange darüber zu grübeln, stürzte ich auf den Korridor hinaus. Niemand hatte den Schuß gehört. Die Band spielte gerade etwas aus Youthanasia, und der Höllenlärm übertönte alle anderen Geräusche.

Was jetzt?

Ich spähte vorsichtig in die beiden anderen Räume, die vom Korridor abgingen, und fand Graham Stone in beiden.

Im ersten Zimmer zerfiel er zwischen meinen Fingern: Obwohl er zunächst so stabil wie die Präsidentengesichter am Mount Rushmore ausgesehen hatte, war er in Wirklichkeit so imaginär wie das Image eines zeitgenössischen Politikers. Im zweiten Raum zerfetzte ich den Phantom-Stone mit einem Tritt in den Unterleib.

Als ich mich wieder durch die tanzende Menge drängte, war ich stinkwütend. Wenn man jemanden erschießt, erwartet man, daß der Kerl wie ein Stein zu Boden fällt und liegen bleibt. Das waren die Spielregeln. Dieser billige Trick war einfach unfair.

In der Toilette klopfte ich an Brunos Kabine, und er stürzte heraus, den Hut immer noch tief in die Stirn gezogen, den Mantelkragen hochgestellt. Der Bär schnitt eine angewiderte Grimasse und schimpfte: »Wenn ihr die Spülung ohnehin nicht betätigt, könnte man sich eigentlich die Mühe sparen, eine zu installieren.«

»Es gibt Probleme.« Ich erzählte ihm von den drei Stone-Attrappen und verlangte eine Erklärung.

»Ich wollte es dir nicht sagen.« Bruno blickte ziemlich belemmert drein. »Ich befürchtete, es könnte dir Angst machen und deine Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.«

»Was? Los, sag es mir!«

Er zuckte mit den mächtigen Schultern. »Na ja - Stone ist kein menschliches Wesen.«

Ich hätte fast gelacht. »Du bist doch auch keines!«

Er sah gekränkt aus, und ich kam mir sehr ungehobelt vor.

»Ich habe teilweise menschliche Züge«, erklärte er. »Entlehntes genetisches Material ... Aber das ist nicht so wichtig. Was ich eigentlich sagen wollte - Graham Stone stammt nicht von irgendeiner Alternativerde. Er ist ein Außerirdischer aus einem anderen Sternensystem.«

Ich ging zum Waschhecken und wusch mein Gesicht mit viel kaltem Wasser. Es nutzte nicht viel.

»Erzähl weiter«, forderte ich Bruno auf.

»Nicht die ganze Geschichte«, sagte er. »Das würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Stone ist ein Außerirdischer, aber auf den ersten Blick sieht er wie ein Mensch aus. Nur aus der Nähe kann man erkennen, daß er keine Poren hat. Und wenn man sich seine Hände genau anschaut, kann man sehen, wo ihm die sechsten Finger amputiert wurden, damit er sich als Mensch ausgeben konnte.«

»Eine Narbe infolge der Amputation des sechsten Fingers ist also immer ein sicherer Hinweis auf die Außerirdischen, die unter uns leben«, kommentierte ich sarkastisch.

»So ist es«, bestätigte er ernst. »Vor sieben Monaten ist ein Raumschiff mit diesen Wesen an einer der Wahrscheinlichkeitsebenen zerschellt. Eine Kommunikation mit ihnen kam nicht zustande. Sie sind außerordentlich feindselig und sehr seltsam. Offenbar haben wir es mit einer größenwahnsinnigen Spezies zu tun. Alle außer Graham Stone konnten liquidiert werden. Er ist uns bisher immer entkommen.«

»Aber warum hat er einen britisch klingenden Namen, wenn er ein Außerirdischer ist?«

»Das war der erste Name, den er sich zugelegt hat, als er in die Rolle eines Menschen schlüpfte. Er benutzt aber auch andere Namen. Offenbar haben sogar Außerirdische ein Gespür dafür, daß Briten als vornehm und distinguiert gelten. Jedenfalls genießen sie diesen Ruf in etwa achtzig Prozent aller Zeitebenen. Es gibt allerdings auch einige Welt in denen eine Herkunft von der Inselnation Tongo als Gipfel der Vornehmheit gilt.«

»Und was zum Teufel hat dieser Außerirdische getan?« fragte ich. »Warum hat er den Tod verdient? Wenn man sich vielleicht mehr bemüht hätte, ihn zu verstehen .«

»Es wurden solche Versuche unternommen. Als die Ärzte eines Morgens ins Labor kamen, um weitere Untersuchungen durchzuführen, waren alle Personen tot, die in der Nacht Dienst gehabt hatten. Aus ihren Mündern, Nasenlöchern und Augenhöhlen wuchsen spinnwebartige Pilze hervor . Kannst du dir das einigermaßen vorstellen? Seitdem hat er zwar keine weiteren Morde dieser Art begangen, aber wir glauben nicht, daß er seine Fähigkeiten eingebüßt hat.«

Ich ging wieder zum Waschbecken und betrachtete mich im Spiegel. Ein Bursche betrat die Toilette und stellte sich vor ein Pissoir, während Bruno hastig wieder in einer Kabine Zuflucht suchte und »Oh, verdammt!« brummte. Seine bärenhafte Stimme fiel dem Heavy Metal-Fan aber überhaupt nicht auf.

Drei Minuten lang starrte ich meine Fresse im Spiegel an. Dann verschwand der Bursche, Bruno kam wieder zum Vorschein und schnitt eine noch schlimmere Grimasse als zuvor.

»Hör mal«, sagte ich, »angenommen, daß Stone droben in den Büros nicht weiter als sechs Meter von mir entfernt war, während ich mit diesen Papierködern herumspielte - könnte er diese Erde dann nicht schon wieder verlassen haben?«

»Nein«, entgegnete Bruno. »Du bist ein Empfänger, kein Sender. Er wird jemanden ausfindig machen müssen, der die Umkehrung deines Talents besitzt, bevor er sich aus dieser Zeitebene entfernen kann.«

»Gibt es denn solche Personen?«

»Ich kann in dieser Stadt zwei wahrnehmen.«

»Dann brauchen wir doch nur diese zwei Personen zu überwachen und Stone dort abzufangen.«

»Das geht leider nicht«, sagte Meister Petz. »Ich vermute nämlich, daß er die Absicht hat, sich hier häuslich niederzulassen und eine Weltlinie an sich zu reißen. Das wäre für ihn eine gute Ausgangsbasis, um gegen die anderen Kontinua vorgehen zu können.«

»Ist er denn so mächtig?«

»Ich habe doch gesagt, daß er gefährlich ist.«

»Dann sollten wir ihn schleunigst zur Strecke bringen.« Ich ging auf die Stahltür zu, die ins Lagerhaus führte.

»Du bist einfach phantastisch«, sagte Bruno.

Ich drehte mich nach ihm um, überzeugt davon, daß er das nur sarkastisch gemeint haben konnte, aber sein absurdes Gesicht war ganz ernst. »Phantastisch? Ich und phantastisch? Hör mal, ein Mann sollte einem anderen nicht solche Komplimente machen, und am allerwenigsten, wenn sie sich in einer Toilette befinden.«

»Warum?«

Ich errötete unwillkürlich. »Ach, zerbrich dir darüber nicht den Kopf.«

»Außerdem bin ich kein Mann, sondern ein Bär.«

»Aber ein Männchen, oder etwa nicht?«

»Doch.«

»Also, dann laß diese blöden Komplimente.«

»Ich wollte damit doch nur sagen, daß ich es erstaunlich finde, wie du innerhalb weniger Stunden die Existenz verschiedener Wahrscheinlichkeitswelten, eines intelligenten Bären und eines Außerirdischen akzeptiert hast, ohne den Verstand zu verlieren. Du machst nicht einmal einen mitgenommenen Eindruck.«

Ich klärte ihn auf. »Gestern habe ich mich betrunken und mit einer tollen Blondine namens Sylvia sechs aktive Stunden im Bett verbracht. Ich habe zwei Steaks, ein halbes Dutzend Eier und eine Unmenge Pommes frites gegessen. Die ganze Anspannung meines letzten Jobs habe ich quasi ausgeschwitzt, und jetzt bin ich total entschlackt. Heute nacht kann ich alles verkraften. Bisher konnte nichts und niemand mich kleinkriegen, und das schafft auch kein Außerirdischer. Außerdem stehen für mich dreitausend Dollar auf dem Spiel, von meinem Stolz ganz zu schweigen. So, und jetzt laß uns von hier verschwinden!«

Wir kehrten in den Keller des leerstehenden Lagerhauses zurück.

4

Als wir wieder auf der Straße standen, stellten wir fest, daß in der Zwischenzeit zweieinhalb Zentimeter Schnee gefallen waren. Auch jetzt herrschte dichtes Schneetreiben. Harte Schneeflocken peitschten unsere Gesichter und klebten an unserer Kleidung. Ich fluchte, während Bruno das Wetter wortlos hinnahm.

Mir kam es allmählich so vor, als hätten wir die Heavy Metal-Bar, wo ich Stone fast geschnappt hätte, vor tausend Jahren verlassen und Millionen von Kilometern zurückgelegt. Endlich kamen wir mit Hilfe von Brunos wundersamer Plakette dem durchtriebenen Außerirdischen wieder auf die Spur. Er hatte inzwischen ganze Arbeit geleistet. Fünf junge Burschen lagen tot in einer Sackgasse, und ihre Münder, Nasen und Augen waren mit feinen weißen Pilzen überzogen - das Rekrum wahrscheinlich auch, vermutete ich jedenfalls.

»So etwas habe ich befürchtet«, murmelte Bruno sichtlich erschüttert.

»An diese Typen brauchst du kein Mitleid zu verschwenden«, tröstete ich ihn, nachdem ich mir die Leichen genauer angeschaut hatte, die alles andere als schön aussahen. »Das waren Ganoven. Verbrecher. Irgendeine Bande, Leute, die deine Schwester skrupellos erschießen und dann auch noch behaupten, das wäre genauso normal, wie ein Doughnut zu essen. Diese spezielle Bande kenne ich nicht. Siehst du die Kobra, die jeder von ihnen auf der Hand eintätowiert hat? Wahrscheinlich wollten diese Burschen Stone ausrauben, und unerwartet hat sich das Blatt gewendet. Ausnahmsweise hat Stone eine gute Tat vollbracht. Diese Kerle werden jetzt wenigstens keiner alten Frau mehr die Sozialhilfe stehlen und keinen alten Mann mehr zusammenschlagen, nur um eine Taschenuhr zu ergattern.«

»Trotzdem müssen die Leichen verschwinden«, sagte Bruno. »Sie dürfen nicht gefunden werden, denn sonst gäbe es jede Menge Fragen, woran sie gestorben sind, und eure Wahrscheinlichkeitsebene ist noch nicht soweit, als daß sie in die Welten-Reisebüros aufgenommen werden könnte.«

»Warum nicht?«

»Währungsprobleme.«

»Und was schlägst du vor?« fragte ich ratlos.

Er holte seine seltsame Pistole aus der Tasche, schraubte einen Aufsatz auf die Mündung und verwandelte die toten Bandenmitglieder in fünf Häuflein Asche. Meister Petz hatte in bezug auf seine 780er Disney Death Hose wirklich nicht übertrieben - es war eine sagenhafte Strahlenpistole. Während wir die grauen Überreste der Ganoven mit den Füßen aufwühlten, damit der Wind sie davonwehte, fühlte ich mich nicht besonders wohl in meiner Haut. Ich rief mir rasch die drei Riesen in Erinnerung. Und Sylvia. Und den Geschmack von gutem Scotch. Und daß ich das alles verlieren würde, wenn ich zuließ, daß meine Nerven versagten. Sobald ein Privatdetektiv nämlich klein beigibt, ist seine Karriere beendet. Vielleicht sogar sein Leben.

Wir ließen die Schneepflüge passieren und gingen hinter ihnen mitten auf der Straße weiter, wo wir viel schneller vorankamen als im tiefen Schnee. Anfangs war Brunos Plakette noch bernsteinfarben, doch bald leuchtete sie in grellem Orange, und als an den Rändern gar ein kräftiges Rot erschien, hob sich unsere Stimmung.

Schließlich mußten wir die Straße verlassen und den Park am Fluß durchqueren, wo der unberührte Schnee meine Socken und Hosensäume durchnäßte.

Die Plakette in Brunos Hand zeigte jetzt ein intensiveres Rot als den ganzen Abend über, und als wir einen Hügel erklommen, sahen wir Graham Stone am Ende eines Piers im Yachthafen. Er sprang an Deck eines schlanken Bootes, rannte zum Ruderhaus, nahm mehrere Stufen auf einmal und verschwand darin. Die Warnlichter gingen an, und die Motoren stotterten und husteten.

Ich rannte mit dem Colt in der rechten Hand den Hügel hinab, den linken Arm vorgestreckt, um nicht so hart zu stürzen, falls ich auf dem glatten Boden ausrutschen sollte.

Hinter mir rief Bruno etwas, aber ich hörte nicht zu. Er schrie wieder und rannte mir nach. Ich wußte, ohne mich umdrehen zu müssen, daß er rannte, denn seine riesigen schwerfälligen Füße machten viel Lärm.

Als ich das Ende des Piers erreichte, hatte Stone das Boot schon gewendet und steuerte auf den dunklen Fluß hinaus. Ich schätzte die Entfernung bis zum Deck ab: etwa dreieinhalb Meter. Ein Hechtsprung, und ich hing über der Reling, schlug dann mit einer Schulter auf dem polierten Deck auf. Einen Moment lang tanzten Sterne vor meinen Augen. Gleichzeitig hörte ich ein frustriertes Geheul und ein lautes Platschen.

Bruno hatte es nicht geschafft.

Ich lag da und blickte zu den Fenstern des Ruderhauses empor. Graham Stone stand dort oben und starrte auf mich herab - vielleicht der echte Außerirdische, vielleicht auch nur eine weitere Attrappe. Mühsam rappelte ich mich auf, schüttelte die flimmernden Sterne aus meinem Kopf und suchte nach meiner Pistole.

Sie war nicht mehr da.

Ich warf einen Blick zurück zum Pier. Von Bruno war nichts zu sehen.

Und irgendwo im dunklen Wasser lag jetzt meine Waffe. Wahrscheinlich versank sie gerade in Schmutz und Schlamm.

Ich fühlte mich nicht besonders. Ich wünschte, ich hätte das Ace-Spot nie verlassen, wäre Bruno nie begegnet. Dann verdrängte ich jedoch alle negativen Gedanken und suchte nach irgendeiner Waffe.

Wenn man erst einmal anfängt zu wünschen, die Dinge wären anders als sie sind, führt das unweigerlich zu Depressionen und zur Handlungsunfähigkeit. Und dann vegetiert man nur noch dahin. Deshalb muß man, so hoffnungslos die Lage auch scheint, etwas tun. Etwas unternehmen.

In einem zwischen Deck und Reling festgeschraubten Werkzeugkasten fand ich ein Rohr. Wenn ich mit voller Wucht zuschlug, konnte ich Stone damit ohne weiteres den Schädel zertrümmern. Ich fühlte mich etwas besser.

Stone war immer noch im Ruderhaus, beobachtete mich noch immer. Die Bootslichter spiegelten sich in seinen kalten blauen Augen wider. Es schien ihn überhaupt nicht zu stören, als ich das Deck überquerte, die Stufen erklomm und die Tür aufriß, das Rohr in der Hand. Er drehte sich nicht einmal nach mir um.

In geduckter Haltung schlich ich mich an, mit winzigen Trippelschritten, weil es große Überwindung kostete, mich ihm zu nähern. Ich mußte dauernd an die fünf jungen Gangster denken, aus deren Körpern die spinnwebartigen Pilze hervorgewachsen waren.

Sobald ich nahe genug war, holte ich mit meinem Rohr zum Schlag aus. Wie vom Blitz getroffen zuckte der ganze Körper -vom Kopf über Hals und Brust bis zu den Oberschenkeln hinab.

Eine weitere Schlangenhaut. Die verfluchte Attrappe sank in sich zusammen. Nur ein Häuflein Seidenpapier lag zu meinen Füßen. Zum Teufel mit dem Kerl!

Als ich einen Blick durchs Fenster warf, sah ich, daß wir den Fluß schon mehr als zur Hälfte überquert hatten und auf die Stadtteile am Westufer zufuhren. Das Boot hatte eine automatische Steuerung, und obwohl ich aufs Geratewohl einige Schalter und Knöpfe betätigte, behielt es seinen Kurs unbeirrt bei, zweifellos aufgrund irgendwelcher Schutzvorrichtungen.

Besorgter denn je, verließ ich das Ruderhaus und machte mich auf die Suche nach Stone.

Ich fand ihn neben dem Werkzeugkasten, aus dem mein Rohr stammte. Er hielt die Reling mit beiden Händen umklammert und betrachtete sehnsüchtig das näherkommende Ufer, wo wir mit Sicherheit auf Grund laufen würden.

Ich schlich mich von hinten an und schlug wieder hart zu.

Eine Seidenpapierattrappe.

Ich hätte für mein Leben gern gewußt, wie der Kerl das machte. Es war eine überaus nützliche Fähigkeit.

Wir hatten den Fluß jetzt zu zwei Dritteln überquert, und wenn ich ihn nicht bald aufstöberte, würde er uns möglicherweise wieder entkommen. Bruno hatte mir erklärt, daß die Restenergie bei Zeitkreuzreisen nach mehrtägigem Aufenthalt in irgendeiner Wahrscheinlichkeit verbraucht war -und dann war seine Aufspürplakette nutzlos.

Stone mußte unter Deck sein, denn oben konnte ich alles übersehen, und daß das Ruderhaus leer war, wußte ich ja. Deshalb öffnete ich die Falltür und stieg die Treppe zu den Kajüten hinab - so vorsichtig, wie es sich für einen guten Privatdetektiv gehört.

In der Kombüse war eine weitere Attrappe, die ich mit meinem zuverlässigen Rohr heldenhaft zur Strecke brachte. Ich kam mir allmählich wie ein Idiot vor, aber wenn ich auch nur einen Stone ignorierte, würde ich möglicherweise die unliebsame Überraschung erleben, daß es diesmal der echte mörderische Außerirdische war.

In der ersten Zweibettkajüte fand ich noch einen PapierStone. Die zweite Kajüte war leer.

Nun blieb nur noch das Bad. Die Tür war geschlossen, aber nicht verriegelt. Ich riß sie auf - und da war er.

Im ersten Moment war ich völlig verwirrt. Vor mir stand sowohl der echte Graham Stone als auch eine Attrappe, die sich gerade von ihm löste. Ich glaubte, doppelt zu sehen, wobei die Bilder sich ein wenig überlappten. Dann knurrte der Kerl und stieß das Scheingebilde beiseite. Aus seinen Händen wuchsen plötzlich häßliche braune Fleischblasen hervor, lösten sich ab und flogen wie biologische Raketen auf mich zu.

Ich sprang zurück, schwang mein Rohr und erwischte eines der Geschosse das sofort aufbrach. Im nächsten Augenblick war das Rohrende von zuckenden weißen Fasern überzogen. Der Pilz breitete sich blitzschnell in Richtung meiner Hand aus, und ich mußte meine Waffe fallen lassen. Die zweite Blase hatte den Türrahmen getroffen: Eine spinnwebfeine Pilzkolonie schlang sich sofort um Holz und Aluminium und wucherte in alle Richtungen.

»Stehenbleiben!« rief ich gebieterisch, so als hätte ich die Lage unter Kontrolle.

Er hob wieder die Hände. Ich sah, wie die Geschosse entstanden. Die Haut wurde braun, bildete Blasen und löste sich ab.

Eines der neuen Geschosse zerschellte neben mir an der Wand. Weiße Ranken schlängelten sich auf Decke und Boden zu. Risse entstanden, als die Pilze sich tief in die Bootswand fraßen.

Das zweite Geschoß traf den Ärmel meines Sportsakkos, brach auf und entließ blubbernde weiße Parasiten, die sich blitzartig ausbreiteten. Nie zuvor - und nie danach - habe ich eine Jacke so schnell ausgezogen, nicht einmal, wenn eine reizvolle Blondine mir süße Worte ins Ohr flüsterte. Als das Kleidungsstück auf den Boden fiel, sträubten sich die Pilzranken ähnlich wie meine Nackenhaare.

Stone trat aus dem Bad auf die Kajütentreppe hinaus und hob wieder seine Hände. Ich wirbelte auf dem Absatz herum und rannte davon, so als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her.

Vorhin habe ich gesagt, daß ein Privatdetektiv erledigt ist, wenn seine Nerven versagen, daß seine Karriere zu Ende ist, sobald er zum erstenmal klein beigibt. Dazu stehe ich auch. Es war nicht Feigheit, die mich zur Flucht veranlaßte. Ich gebrauchte einfach ausnahmsweise meinen Verstand. Wer davonrennt, lebt lange genug, um weiterkämpfen zu können. Es ist schlichtweg unvernünftig, sich mit einer Pistole einem Panzer in den Weg zu stellen, denn dann bleibt einem nur noch die Zeit, einen flüchtigen Blick auf das Riesenloch im eigenen Bauch zu werfen, aus dem die Eingeweide hervorquellen.

Außerdem hielt dieser unheimliche Stone sich an keine Spielregeln. Vielleicht kannte er sie überhaupt nicht. Sogar der verkommenste Ganove gibt seinem Gegner wenigstens eine minimale Chance. Er verwendet ein Brecheisen, ein Messer oder ein Glas mit irgendeiner Säure. Aber er greift nicht zu so üblen Tricks wie Stone, der offenbar überhaupt keine Ehrfurcht vor Traditionen hatte.

An Deck rannte ich zum Bug und stellte fest, daß das Ufer höchstens sechzig Meter entfernt war. Kein Anblick hat mich je so beglückt. Dicht neben mir platzte an der Reling ein tödliches Geschoß: Spinnenartige Ranken umschlangen das Metall, fraßen sich gierig hinein und zerstörten es. Bestürzt registrierte ich, daß diese Pilze noch viel bösartiger waren als jene, die den jugendlichen Gangstern den Garaus gemacht hatten.

Ich versteckte mich hinter einem Entlüftungsgehäuse, spähte über den Rand hinweg und sah, daß Stone neben der Treppe zum Ruderhaus stand. Seine kalten Augen funkelten, und er hielt seine Hände in meine Richtung.

Das Boot sauste auf das Ufer zu.

Aber nicht schnell genug.

Zwei Sporen wirbelten über meinen Kopf hinweg, landeten hinter mir auf dem Deck und zerfraßen die Planken. Bald würde die ganze Yacht von den weißen Gebilden durchlöchert sein, die zwar hauchdünn, aber offenbar so stark wie Stahldrahtwaren.

Ein lautes Kratzen lenkte mich vorübergehend ab - das Jammern von gemartertem Metall. Das ganze Deck erbebte, und das Boot kam fast zum Stehen. Dann gab es einen Ruck, und wir fuhren weiter. Der Bootsboden hatte einen Felsen gestreift, aber wir waren nicht aufgelaufen.

Noch nicht. Aber gleich darauf passierte es.

Das zweite Riff riß den Boden auf, und das Boot steckte im etwa ein Meter tiefen Wasser unweigerlich fest, wobei der Rumpf weit herausragte.

Ich rollte über das Deck und hechtete über die Reling, landete im seichten Wasser, stieß mir das Kinn an einem Stück Treibholz, ging mit offenem Mund unter und schluckte Wasser. So fühlt man sich also, wenn man ertrinkt, dachte ich. Dann schloß ich mein blödes Maul, ruderte wild mit den Armen, kam an die Oberfläche und torkelte spuckend und hustend auf den gesegneten Strand zu, gegen eine Ohnmacht ankämpfend.

Ich besitze nicht viele Eigenschaften, die in modernen Gesellschaften bewundert werden, kann mich weder eines exquisiten Geschmacks noch feiner Manieren rühmen. Aber eines habe ich, verdammt noch mal: Mut.

Ich war nur noch fünf kurze Schritte vom trockenen Boden entfernt, als Pilzsporen vor meinen Füßen landeten und aufbrachen. Zwei. Dann noch zwei. Ein Wirrwarr weißer Schlangen versperrte mir den Weg. Ich drehte mich um und warf einen Blick zurück. Graham Stone, der anglophile Außerirdische, hatte das Boot ebenfalls verlassen und platschte auf mich zu. Er sah wie ein bösartiger Cary Grant aus.

Ich wandte mich nach rechts. Zwei Sporen fielen auch dorthin. Die bleichen Schlangen wanden sich aus dem Wasser hervor und schossen gierig auf mich zu.

Links zwei weitere Sporen.

Nein, diesem Stone fehlte wirklich jeder Respekt vor Traditionen!

Das Wasser ging mir nur bis zu den Waden, so daß es unmöglich war, unterzutauchen und wegzuschwimmen. Außerdem wollte ich wenigstens noch sehen, was diese Pilze anrichteten, wenn ich ihnen schon nicht entkommen konnte.

Graham Stone kam unerbittlich näher, ohne weitere Sporen zu schleudern. Er wußte, daß ich in der Falle saß.

Dieser Uferabschnitt war dunkel. Sinnlos, hier um Hilfe zu rufen.

Dann kam von links plötzlich mit ohrenbetäubendem Motorenlärm und heulender Sirene ein kleines Rennboot angeschossen. Wie ein rettender Engel tauchte Bruno aus Dunkelheit und Schneetreiben auf. Er stand am Steuer des dreieinhalb Meter langen Zweisitzers, der mit mehr als achtzig Stundenkilometern über das Wasser raste, den Bug in der Luft. Weil dieses Boot nicht so viel Tiefgang hatte wie die Yacht, lief es nicht auf die Felsen auf.

»Bruno!« brüllte ich.

Mit seinen wild rollenden Augen hätte er eine großartige Illustration eines Mannes - oder vielmehr Bären - in höchster Besorgnis und Angst abgegeben. Offenbar war er aufs Schlimmste gefaßt.

Das kleine Boot schlitterte mit mindestens dreißig Stundenkilometern über den Strand. Die Schrauben drehten sich hektisch und wirbelten ringsum Sand auf. Nach etwa sechs Metern prallte es gegen einen Felsen und kam jäh zum Stehen.

Meister Petz wurde über die Windschutzscheibe und den Bug hinweggeschleudert und landete auf seinem breiten Rücken.

Er rappelte sich benommen auf, mit Sand bedeckt, aber wie durch ein Wunder noch am Leben.

Ich hüpfte im Wasser auf und ab und schrie: »Bring ihn zur Strecke, Bruno! Knall ihn ab!«

Die weißen Pilze schlängelten sich von allen Seiten auf mich zu, obwohl Graham Stone stehengeblieben war.

Der Bär hob den Kopf, sah mich an, tastete nach seinem Schlapphut und zuckte bedauernd die Achseln, als er ihn nicht mehr fand.

»Knall ihn ab, Bruno, knall ihn ab!« brüllte ich wieder.

Er holte seine albern aussehende Pistole hervor, und während Stone ihn mit Pilzsporen anzugreifen versuchte, verbrannte mein Freund, der Bär, ihn mit der Disney Death Hose. Nur ein Häuflein Asche blieb von dem außerirdischen Verbrecher übrig, und diese Asche trieb im Wasser davon.

Ich wollte um jeden Preis auch so eine Wunderwaffe haben. Vielleicht verkaufte Micky Mouse sie in einem Geheimladen in Disneyland.

»Du hast ihn erledigt!« schrie ich begeistert, während Bruno den weißen Pilzwald um mich herum niederbrannte.

Und dann muß mein Blutzuckerspiegel plötzlich abgesackt sein oder so was Ähnliches, denn ich verlor das Bewußtsein. Ausgeschlossen, daß ich einfach ohnmächtig geworden bin!

5

Wir mußten die Yacht verschwinden lassen. Nach etwa fünfzehn Sekunden war auch von ihr nur noch etwas Asche übrig, die im Wasser schwamm. Es gab kein Feuer. Ein bloßes Zischen, und schon war nichts mehr von ihr übrig. Bruno vernichtete auch das Rennboot, um alle Spuren der nächtlichen Verfolgungsjagd zu beseitigen.

Wir gingen etwa anderthalb Kilometer am Ufer entlang, bis wir einen Klub fanden, von wo aus wir ein Taxi rufen konnten. Während der Fahrt zu meiner Wohnung fragte der Chauffeur immer wieder, ob Bruno beim Kostümfest den ersten Preis gewonnen hatte, aber wir antworteten nicht.

Zu Hause wuschen wir uns und aßen jedes Steak in meinem Kühlschrank auf, jedes Ei, jede Käsescheibe, jedes ... na ja, einfach alles. Dann leerten wir drei Flaschen Scotch - das meiste trank allerdings Meister Petz.

Wir erwähnten Graham Stone mit keinem Wort. Wir unterhielten uns über die Arbeit eines Detektivs - egal ob privat oder mit Dienstmarke. Wir unterhielten uns über die Ganoven, mit denen wir es zu tun hatten - und stellten fest, daß sie sich in den diversen Wahrscheinlichkeitsebenen kaum voneinander unterscheiden. Er erklärte mir, warum meine Erde nicht zivilisiert genug ist, um den Welten-Reisebüros angeschlossen zu werden, von den Währungsproblemen einmal ganz abgesehen. Seltsamerweise sagte er, daß sie erst dann reif für eine Aufnahme wäre, wenn meine Spezies von ihrem Antlitz verschwunden sein würde. Dabei mochte er mich. Da bin ich mir ganz sicher. Merkwürdig .

Kurz vor Tagesanbruch verabreichte er sich eine Injektion, die ihn schlagartig nüchtern machte. Wir schüttelten uns die Hände (besser gesagt, er bückte sich und schüttelte die meine), und dann trennten wir uns. Er ging los, um einen Sender zu finden, von dem aus er in seine eigene Wahrscheinlichkeit zurückkehren konnte. Und ich ging ins Bett.

Ich habe Bruno nie wiedergesehen.

Aber ich traf andere merkwürdige Gestalten. Merkwürdiger als alle Ganoven, die in dieser Stadt herumlaufen. Merkwürdiger als Benny Deekelbaker, der »Strauß«. Merkwürdiger auch als der »Spekulant« Sam Sullivan oder als Hunchback Hagerty, der verunstaltete Berufskiller. Merkwürdiger sogar als Graham Stone und Bruno. Eines Tages werde ich von all diesen merkwürdigen Gestalten erzählen. Jetzt habe ich dazu keine Zeit. Ich bin nämlich mit dem tollsten Rotschopf aller Zeiten verabredet. Sie heißt Loretta, tanzt einfach göttlich und ist sehr vernünftig - abgesehen von einer leicht übertriebenen Vorliebe für Bauchrednerpuppen.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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