Der schwarze Kürbis

Die Kürbisse waren unheimlich, aber der Mann, der sie zurecht schnitzte und ihnen Gesichter gab, war noch viel wunderlicher als seine Werke. Er schien eine Ewigkeit in der kalifornischen Sonne geschmort zu haben, bis sein Fleisch völlig ausgetrocknet und nur noch Lederhaut und Knochen übriggeblieben waren. Sein Kopf hatte eine ungewöhnliche Form, erinnerte selbst an einen Kürbis, aber nicht an einen schönen runden, sondern an einen Flaschenkürbis: oben etwas schmäler und unten am Kinn etwas breiter als normal. In seinen bernsteinfarbenen Augen glomm ein düsteres, verschwommenes, schwaches - aber gefährliches Licht.

Tommy Sutzmann fühlte sich unbehaglich, sobald er den Kürbisschnitzer sah. Er sagte sich, er sei übertrieben ängstlich, leide vielleicht sogar unter Wahnvorstellungen. Tatsächlich war er wahnsinnig empfindlich: bei der ersten vagen Wahrnehmung einer Gefahr, beim geringsten Anzeichen eines bevorstehenden Zornausbruchs geriet er in Panik. Manche Familien brachten ihren zwölfjährigen Jungen Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Anstand und Gottesfurcht bei. Doch Tommys Eltern und sein Bruder Frank hatten ihm durch ihr eigenes Verhalten nur eines beigebracht: ständig auf der Hut zu sein, auf Schritt und Tritt Vorsicht walten zu lassen. Bestenfalls behandelten seine Mutter und sein Vater ihn wie einen Außenseiter; schlimmstenfalls reagierten sie ihre Wut und Frustration über den Rest der Welt ab, indem sie ihn bestraften. Für Frank war Tommy ganz einfach - und immer -eine Zielscheibe. Folglich war Unbehagen für Tommy Sutzmann der natürlichste Gemütszustand.

Jeden Dezember war dieser ungenutzte Bauplatz voller Weihnachtsbäume; im Sommer boten hier fahrende Händler Stofftiere oder Stickgemälde auf Samt feil. Wenn Halloween herannahte, glich das etwa 2000 qm große Grundstück zwischen einem Supermarkt und einer Bank im Randgebiet von Santa Ana einem orangefarbenen Meer von Kürbissen aller Größen und Formen, nebeneinander aufgereiht und zu kleinen Pyramiden aufgetürmt und in unordentlichen Haufen herumliegend; mindestens zweitausend Kürbisse, die zur Herstellung von Torten und Laternen benötigt wurden.

Der Kürbisschnitzer saß ganz hinten in der Ecke auf einem Stahlrohrstuhl. Das Kunstleder von Sitz und Rückenlehne war dunkel, fleckig und rissig - dem Gesicht des Mannes nicht unähnlich. Er hatte einen Kürbis auf dem Schoß, den er mit einem scharfen Messer und anderen Werkzeugen, die auf dem staubigen Boden neben ihm lagen, bearbeitete.

Tommy Sutzmann erinnerte sich nicht daran, den Platz überquert zu haben. Er wußte, daß er aus dem Wagen gesprungen war, sobald sein Vater am Straßenrand geparkt hatte - und irgendwie stand er plötzlich am hinteren Rand des Geländes, kaum einen Meter von dem seltsamen Schnitzer entfernt.

Etwa zwanzig fertige Laternen lagen auf den anderen Kürbissen. Dieser Mann schnitt nicht nur große Augen- und Mundlöcher aus, sondern er schnitzte kunstvoll an der Schale herum, wodurch die Gesichter individuelle Züge und erstaunliche Ausdruckskraft erhielten. Außerdem verwendete er Farbe, um jeder Fratze eine unverwechselbare dämonische Persönlichkeit zu geben: vier Farbdosen - rot, weiß, grün und schwarz - standen neben seinem Stuhl, und in jeder steckte ein Pinsel.

Die Laternen grinsten, schielten bösartig oder machten grimmige Mienen. Sie schienen Tommy anzustarren. Eine jede von ihnen.

Weit geöffnete Münder. Gebleckte spitze Zähne. Keine hatte die harmlos stumpfen Zähne üblicher Laternen. Einige hatten sogar lange Fangzähne.

Sie starrten und starrten. Und Tommy hatte das seltsame Gefühl, daß sie ihn wirklich sehen konnten.

Als er von den Kürbissen aufschaute, stellte er fest, daß auch der alte Mann ihn intensiv beobachtete. Seine bernsteinfarbenen Augen mit ihrem verschwommenen Leuchten schienen klarer zu werden, während sie mit Tommy Blickkontakt hielten.

»Möchtest du einen meiner Kürbisse haben?« fragte der Schnitzer. Er hatte eine kalte, trockene Stimme. Jedes Wort hörte sich an wie dürres Oktoberlaub, das vom Wind über eine steinige Allee gewirbelt wird.

Tommy konnte nicht sprechen. Er wollte Nein, danke, Sir sagen, aber die Wörter blieben ihm im Halse stecken, so als versuchte er, das widerliche Fruchtfleisch eines Kürbisses zu schlucken.

»Such dir den aus, der dir am besten gefällt«, sagte der Schnitzer und deutete mit einer welken Hand auf seine groteske Galerie - doch ohne den Blick von Tommy zu wenden. »Nein, äh ... nein, danke«, stammelte der Junge schließlich mit dünner und etwas schriller Stimme.

Was stimmt nicht mit mir? fragte er sich. Warum steigere ich mich in einen solchen Zustand hinein? Er ist doch nur ein alter Mann, der Kürbisse schnitzt.

»Ist es der Preis, der dir Sorgen macht?« fragte der Alte. »Nein.«

»Du brauchst nämlich nur dem Mann dort vorne den Kürbis zu bezahlen, denselben Preis wie überall hier, und mir gibst du soviel, wie du meinst, daß meine Arbeit wert ist.«

Er lächelte, wodurch sich das Aussehen seines kürbisähnlichen Gesichts stark veränderte. Allerdings nicht zum Besseren.

Es war ein milder Tag. Die Sonne fand immer wieder Löcher in der Wolkendecke und tauchte manche der orangefarbenen Kürbisberge in helles Licht, während andere im dunklen Schatten blieben. Doch Tommy fröstelte trotz des wannen Wetters.

Mit der halbfertigen Laterne auf dem Schoß beugte sich der Schnitzer vor. »Du gibst mir nur, was du willst . obwohl ich pflichtgemäß hinzufügen muß, daß du etwas bekommst, was dem entspricht, das du mir gibst.« Er lächelte wieder. Noch schlimmer als zuvor. Tommy brachte nur ein »Äh .« hervor.

»Du bekommst, was du gibst«, wiederholte der Alte.

»Ist das Ihr Ernst?« fragte Frank und trat näher an die Reihe glotzender Laternen heran. Offenbar hatte er alles gehört, was gesprochen worden war. Er war zwei Jahre älter als Tommy, im Gegensatz zu seinem schmächtigen Bruder sehr muskulös und hatte ein starkes Selbstbewußtsein, das Tommy völlig abging. Frank faßte das seltsamste Werk des Alten ins Auge. »Wieviel soll das hier denn kosten?«

Der Schnitzer hatte es nicht eilig, sich Frank zuzuwenden, und Tommy war außerstande, den Blickkontakt als erster abzubrechen. Er sah in den Augen des Mannes etwas, das er nicht verstehen oder erklären konnte, etwas, das in seinem Gesicht Bilder von verunstalteten Kindern, von entstellten Kreaturen undefinierbarer Art und von Toten heraufbeschwor.

»Wieviel kostet die Laterne hier, Opa?« wiederholte Frank.

Endlich schaute der alte Mann Frank an und lächelte. Er nahm den halbfertigen Kürbis von seinen Knien und stellte ihn auf den Boden, stand aber nicht auf. »Wie ich schon gesagt habe - du gibst mir, was du willst, und du bekommst, was du gibst.«

Frank hatte die grausigste Laterne der ganzen unheimlichen Sammlung ausgewählt. Sie war groß, nicht hübsch rund, sondern plump und unförmig, oben schmäler als unten, mit häßlich verkrusteten Auswüchsen, die an holzige Pilze auf einer kranken Eiche erinnerten. Der alte Mann hatte die abstoßende Wirkung der natürlichen Häßlichkeit des Kürbisses noch gesteigert, indem er ihn mit einem riesigen Mund ausgestattet hatte, aus dem oben und unten je drei Fangzähne herausragten. Die Nase zeigte sich als schiefes, ausgefranstes Loch, das Tommy unwillkürlich mit schaurigen Lagerfeuergeschichten über Aussätzige in Verbindung brachte. Die schrägen asiatischen Augen waren so groß wie Zitronen, aber der Alte hatte nur die obere Schicht der Schale entfernt; ausgeschnitten waren nur die Pupillen - bösartig wirkende ovale Schlitze in der Mitte dieser großen Augen. Der Stengel auf dem Oberteil des Kopfes sah dunkel und knotig aus wie ein wucherndes Krebsgeschwür. Diese scheußliche Fratze hatte der Laternenmacher schwarz bemalt; das natürliche Orange schimmerte nur noch an wenigen Stellen hervor, erzeugte Falten um Mund und Augen und betonte die tumorartigen Auswüchse.

Franks Entscheidung für diesen Kürbis war nicht verwunderlich. Seine Lieblingsfilme waren Blutgericht in Texas und alle Folgen von Freitag, der 13. über den verrückten Massenmörder Jason. Wenn Tommy und Frank ein Video dieser Art anschauten, stand Tommy immer auf Seite der Opfer, während Frank sich für den Killer begeisterte. Bei Poltergeist war Frank maßlos enttäuscht gewesen, daß die ganze Familie überlebte; er hatte bis zuletzt gehofft, daß ein Monster den kleinen Jungen im Wandschrank verschlingen und die abgenagten Knochen wie Melonenkerne ausspucken würde. »Verdammt«, hatte Frank gemurrt, »sie hätten doch wenigstens dem blöden Köter den Bauch aufschlitzen und das Gedärm rausreißen können!«

Jetzt hielt Frank den schwarzen Kürbis hoch und betrachtete grinsend die bösartige Fratze. Er spähte in die Pupillenschlitze, so als wären es richtige Augen, so als könnte man in ihnen lesen - und einen Moment lang schien er von dem starren Blick des Kürbisses hypnotisiert zu sein.

Leg ihn hin, dachte Tommy eindringlich. Um Himmels willen, Frank, leg ihn hin und laß uns schnell von hier verschwinden.

Der Alte beobachtete Frank scharf, schweigend, wie ein Raubvogel, bevor er auf seine Beute herabschießt.

Die Wolken wanderten, verdeckten die Sonne.

Tommy schauderte.

Frank löste endlich seinen Blick von den Augen der Laterne, wandte sich dem Schnitzer zu und fragte: »Ich kann Ihnen geben, wieviel ich will?«

»Du bekommst, was du gibst.«

»Aber ich bekomme die Laterne, ganz egal, was ich Ihnen gebe?«

»Ja, aber du bekommst, was du gibst«, wiederholte der alte Mann rätselhaft.

Frank legte den schwarzen Kürbis beiseite und kramte einige Münzen aus seiner Tasche hervor. Grinsend hielt er dem Alten ein Fünfcentstück hin.

Der Schnitzer wollte nach der Münze greifen. »Nein!« rief Tommy. Frank und der Alte sahen ihn an.

»Nein, Frank«, sagte Tommy, »dieses Ding ist böse. Kauf es nicht. Bring es nicht ins Haus, Frank.«

Einen Augenblick lang starrte Frank ihn erstaunt an, dann lachte er los. »Du bist schon immer ein Feigling gewesen, aber soll das heißen, daß du jetzt sogar vor einem Kürbis Angst hast?«

»Dieses Ding ist böse!« beharrte Tommy.

»Angst vor der Dunkelheit, Angst vor nächtlichen Monstern in deinem Kleiderschrank, Höhenangst, Angst vor den meisten Kindern, die du kennenlernst - und jetzt auch noch Angst vor einem verdammten Kürbis!« Frank lachte wieder, und in diesem Lachen schwang neben Belustigung viel Verachtung und Widerwillen mit.

Der Schnitzer stimmte in Franks Gelächter ein, aber sein trockenes, meckerndes Lachen hörte sich nicht im geringsten belustigt an.

Tommy wurde von einer kalten Furcht erfaßt, die ihm selbst unerklärlich war, und er fragte sich, ob er wirklich nur ein armseliger Feigling sei, der Angst vor seinem eigenen Schatten hatte. Vielleicht war er sogar nicht ganz normal. Der Schulpsychologe sagte, er sei >viel zu sensibelc. Seine Mutter sagte, er habe >zuviel Fantasiec, und sein Vater sagte, er sei >unpraktisch<, ein Träumer, viel zu introvertiert. Vielleicht war er all das, und vielleicht würde er eines Tages in einer Anstalt landen, in einer Gummizelle, wo er sich mit imaginären Personen unterhalten und Fliegen essen würde. Aber, verdammt noch mal, er wußte, daß der schwarze Kürbis böse war.

»Hier, Opa«, sagte Frank. »Hier sind fünf Cent. Verkaufen Sie ihn mir wirklich dafür?«

»Meine Arbeit kannst du mit den fünf Cent abgelten, aber für den Kürbis mußt du vorne den üblichen Preis bezahlen.«

»Abgemacht.«

Der Alte nahm Frank die Münze aus der Hand.

Ein kalter Schauder überlief Tommy.

Frank wandte sich von dem alten Mann ab und hob seinen Kürbis wieder auf.

In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken, und ein breiter Lichtstrahl fiel auch in diese Ecke des Geländes. Doch nur Tommy sah, was nun geschah. Die Sonne brachte das Orange der Kürbisse zum Leuchten, verlieh dem staubigen Boden einen goldenen Schimmer, funkelte auf dem Metallgestell des Stuhles - aber ihr Schein traf nicht den Alten. Das Licht teilte sich um ihn herum wie ein Vorhang und beließ ihn im Schatten. Es war ein unglaublicher Anblick, so als miede ihn die Sonne, so als bestünde er aus einem unirdischen Stoff, der das Licht abstieß. Tommy schnappte entsetzt nach Luft, und der Alte durchbohrte ihn mit einem scharfen Blick, wobei die bernsteinfarbenen Augen düster und bedrohlich glommen und Schmerzen und Grauen verhießen. Darm verhüllten Wolken plötzlich wieder die Sonne.

Der alte Mann blinzelte.

Wir sind so gut wie tot, dachte Tommy angsterfüllt.

Frank sah den Schnitzer verschlagen an, so als rechnete er damit, daß dieser sich nur einen Scherz mit ihm erlaubt hatte. »Ich kann die Laterne wirklich mitnehmen?«

»Das habe ich doch schon gesagt«, erwiderte der Alte.

»Wie lange haben Sie an dem Ding gearbeitet?« wollte Frank wissen.

»Etwa eine Stunde.«

»Und Sie geben sich mit einem Stundenlohn von fünf Cent zufrieden?«

»Ich arbeite, weil es mir Freude macht.« Er zwinkerte Tommy erneut zu.

»Sind Sie vielleicht senil?« fragte Frank in seiner üblichen charmanten Art.

»Vielleicht, vielleicht.«

Frank starrte den alten Mann einen Moment lang an, und vielleicht wurde nun auch ihm etwas unheimlich zumute, aber schließlich wandte er sich achselzuckend ab und schlenderte mit seiner Laterne nach vorne, wo sein Vater gerade zwanzig Kürbisse für die große Party am nächsten Abend kaufte.

Tommy wollte seinem Bruder nachrennen, wollte Frank bitten, den schwarzen Kürbis zurückzubringen und sich die fünf Cent wieder geben zu lassen.

»Hör zu«, sagte der Schnitzer eindringlich und beugte sich erneut vor.

Der alte Mann war so mager und kantig, daß Tommy fast glaubte, die morschen Knochen unter der unzulänglichen Polsterung des ausgedörrten Körpers knirschen zu hören.

»Hör mir gut zu, Junge .«

Nein, dachte Tommy. Nein, ich werde nicht zuhören. Ich werde wegrennen. Wegrennen.

Doch der alte Mann übte eine solche Macht über ihn aus, daß er sich nicht von der Stelle rühren konnte, daß er das Gefühl hatte, hier angewurzelt zu sein.

Die bernsteinfarbenen Augen wurden dunkler. »Nachts wird sich die Laterne deines Bruders in etwas ganz anderes verwandeln. Ihre Kiefer werden mahlen. Ihre Zähne werden messerscharf sein. Wenn alle schlafen, wird diese Kreatur durch euer Haus schleichen . und jedem geben, was er verdient. Zuletzt wird sie auch zu dir kommen. Was glaubst du wohl, was du verdienst, Tommy? Du siehst, ich weiß, wie du heißt, obwohl dein Bruder deinen Namen nicht erwähnt hat. Was meinst du, was der schwarze Kürbis mit dir machen wird, Tommy? Hmmm? Was hast du verdient?«

»Was sind Sie?« stammelte Tommy.

Der Alte lächelte. »Gefährlich.«

Plötzlich rissen sich Tommys Füße von der Erde los, und er rannte davon.

Als er Frank einholte, versuchte er seinen Bruder zu überreden, den schwarzen Kürbis zurückzubringen, aber seine Erklärungen der Gefahr hörten sich wie hysterisches Gefasel an, und Frank lachte ihn aus. Tommy wollte Frank das verhaßte Ding aus den Händen schlagen, aber Frank hielt die Laterne fest und versetzte Tommy einen so kräftigen Stoß, daß dieser rückwärts taumelte und auf einen Haufen Kürbisse fiel. Frank lachte wieder, trat absichtlich mit aller Kraft auf Tommys rechten Fuß, während der kleinere Junge sich bemühte, auf die Beine zu kommen, und ging weiter.

Der Schmerz in seinem Fuß trieb Tommy Tränen in die Augen, aber unwillkürlich warf er einen Bück zurück und sah, daß der Kürbisschnitzer alles beobachtet hatte.

Der alte Mann winkte ihm zu.

Mit rasendem Herzklopfen humpelte Tommy zum Wagen, wobei er krampfhaft überlegte, wie er Frank doch noch von der Gefahr überzeugen könne. Aber Frank legte die Laterne bereits auf den Rücksitz des Cadillac, und ihr Vater bezahlte diesen Kürbis zusammen mit allen anderen. Tommy konnte nichts mehr machen.

Frank brachte den schwarzen Kürbis in sein Zimmer und stellte ihn auf den Schreibtisch in der Ecke, unter das Poster von Michael Berryman als wahnsinniger Killer in Hügel der blutigen Augen.

Tommy beobachtete ihn von der Schwelle aus.

Frank hatte im Küchenschrank eine dicke Duftkerze gefunden, die er in den Kürbis stellte. Sie war groß genug, um einige Tage lang zu brennen. Er zündete sie an und legte den Deckel, aus dem der Kürbisstengel herausragte, wieder auf.

Tommy hatte angsterfüllt auf den Moment gewartet, da die Laternenaugen aufleuchten würden. Die schlitzartigen Pupillen glühten-flackerten-schimmerten in der überzeugenden Imitation dämonischen Lebens und bösartigen Intellekts. Die Fratze grinste mit ihrem riesigen Maul, und das zitternde Licht war wie eine Zunge, die unablässig die kalten Schalenlippen leckte. Den grauenhaftesten Teil dieser Illusion bildete jedoch das Loch anstelle einer Nase, das sich mit gelblichem Schleim zu füllen schien.

»Unglaublich!« rief Frank.

Die Kerze verströmte Rosenduft.

Obwohl er sich nicht erinnern konnte, wo er das gelesen hatte, mußte Tommy unwillkürlich daran denken, daß plötzlicher unerklärlicher Rosenduft auf die Gegenwart von Totengesichtern hindeutete. Aber natürlich hatte der Duft in diesem Falle nichts Unerklärliches oder Geheimnisvolles an sich.

»Was zum Teufel?« Frank schnupperte, nahm den Deckel ab und spähte in die Laterne. Das flackernde orangefarbene Licht verzerrte grotesk seine Gesichtszüge. »Das sollte doch eine Kerze mit Zitronenduft sein!«

In der großen, luftigen Küche standen Tommys Eltern, Lois und Kyle Sutzman, mit dem Lieferanten, Mr. Howser, am Tisch. Sie gingen noch einmal das Menü für die aufwendige Halloween-Party am nächsten Abend durch und erinnerten Mr. Howser daran, daß alle Speisen nur mit den besten Zutaten zubereitet werden sollten.

Tommy schlich sich hinter ihren Rücken an ihnen vorbei, in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Er holte eine Dose Coke aus dem Kühlschrank.

Seine Mutter und sein Vater trichterten dem Lieferanten jetzt ein, daß alles unbedingt >imponierend< sein müsse. Hors d’reuvres, Blumen, die Bar, die Kleidung der Kellner ... Und das Büfett solle so elegant und exquisit hergerichtet werden, daß kein Gast daran zweifeln könne, sich im Hause echter kalifornischer Aristokraten zu befinden.

Dies war keine Party, an der Kinder teilnehmen durften. Tommy und Frank würden morgen abend in ihren Zimmern bleiben und sich ganz leise mit irgend etwas beschäftigen müssen: kein Fernsehen, keine Stereoanlage, kein Piep, der jemandem auffallen könnte.

Die Party wurde ausschließlich für jene einflußreichen Leute veranstaltet, von denen Kyle Sutzmanns politische Karriere abhing. Er war einer der Senatoren des Staates Kalifornien, aber bei den Wahlen der kommenden Woche wollte er unbedingt in den Kongreß gewählt werden. Diese Party war als Dankeschön für seine wichtigsten Geldgeber gedacht, für die Unterhändler der Macht, die an den richtigen Fäden gezogen hatten, um im vergangenen Frühjahr seine Nominierung zu sichern. Für Kinder streng verboten.

Tommys Eltern schienen ihn ohnehin nur bei ganz großen Wahlveranstaltungen, Fototerminen und Siegespartys in der Wahlnacht um sich haben zu wollen, und bei letzteren auch nur in den ersten Minuten. Das war Tommy ganz recht. Er zog es vor, unsichtbar zu bleiben, denn bei den seltenen Gelegenheiten, wenn seine Familie von ihm Notiz nahm, mißbilligten sie unweigerlich alles, was er sagte und tat, jede seiner Bewegungen, jeden unschuldigen Gesichtsausdruck.

»Mr. Howser«, sagte Lois, »ich hoffe, wir verstehen uns richtig: große Shrimps sind absolut kein vollwertiger Ersatz für kleine Hummer.«

Während der Lieferant die hervorragende Qualität seiner Waren pries, entfernte sich Tommy mit leisen Seitenschritten vom Kühlschrank und holte zwei Milanos aus der Gebäckdose.

»Dies sind wichtige Leute«, teilte Kyle dem Lieferanten zum zehnten Male mit, »und sie sind nur das Allerbeste gewöhnt.«

In der Schule hatte Tommy gelernt, daß besonders kluge und befähigte Menschen oft in die Politik gingen, weil sie auf diese Weise ihren Mitmenschen die besten Dienste erweisen konnten. Er wußte genau, daß das Blödsinn war. Seine Eltern planten die politische Karriere seines Vaters in stundenlangen abendlichen Diskussionen, und Tommy hatte kein einziges Mal gehört, daß einer von beiden auch nur mit einem Wort den Dienst am Volk oder die Vervollkommnung der Gesellschaft erwähnt hätte. Oh, gewiß, in der Öffentlichkeit, etwa bei Wahlkampagnen, ließen sie sich über diese Themen aus - >die Rechte der Massen, der Hungernden, der Heimatlosen< -, aber niemals im privaten Kreis. Sobald sie sich unbeobachtet wußten, sprachen sie endlos über die Errichtung von >Machtbasen<, über das Zermalmen der Opposition und das >Durchpeitschen< eines neuen Gesetzes. Für sie und für all die Leute, mit denen sie zusammenarbeiteten, war Politik nur ein Mittel, um sich Respekt zu verschaffen, Geld zu verdienen und

- das Allerwichtigste - Macht zu erlangen.

Tommy konnte gut verstehen, warum Menschen respektiert werden wollten, weil er selbst von niemandem respektiert wurde. Er verstand auch, daß Geld etwas Wünschenswertes war. Aber die Sache mit der Macht konnte er beim besten Willen nicht begreifen. Warum sollte jemand viel Zeit und Energie darauf verschwenden, Macht über andere Menschen zu gewinnen? Welchen Spaß konnte es denn jemandem bereiten, andere herumzukommandieren, ihnen Befehle zu erteilen? Und wenn man nun einen falschen Befehl gab? Wenn aufgrund solcher Befehle Menschen verletzt wurden, Bankrott machten oder sonstige große Probleme bekamen? Und wie konnte man erwarten, geliebt zu werden, wenn man andere beherrschte? Frank beherrschte Tommy, hatte ihn völlig in seiner Macht -und Tommy verabscheute seinen Bruder.

Manchmal glaubte er, als einziger in seiner Familie geistig gesund zu sein. Manchmal fragte er sich aber auch, ob alle anderen normal waren, und er selbst verrückt. Doch wie dem auch immer sein mochte, ob er nun verrückt oder normal war, jedenfalls hatte Tommy häufig genug das Gefühl, daß er nicht in dieses Haus, nicht zu dieser Familie gehörte.

Als er mit seiner Coke und den in eine Papierserviette gewickelten Milanos verstohlen aus der Küche schlich, befragten seine Eltern Mr. Howser gerade über die Qualität des Champagners.

Im hinteren Flur stand die Tür zu Franks Zimmer offen, und Tommy blieb kurz stehen, um einen Blick auf den Kürbis zu werfen. Da war er, und flackerndes Licht schimmerte aus all seinen Öffnungen.

»Was hast du da?« Frank trat auf die Schwelle, packte Tommy am Hemd und zerrte ihn ins Zimmer, schlug die Tür zu und nahm ihm Kekse und Coke weg. »Danke, Rotznase! Ich habe gerade gedacht, daß ein kleiner Imbiß gar nicht so übel wäre.« Er ging zum Schreibtisch und legte seine Beute neben die brennende Laterne.

Tommy holte tief Luft. Er wußte genau, welche Folgen Widerstand haben würde, und er versuchte, sich dagegen zu wappnen. »Die Sachen gehören mir.«

Frank tat erstaunt. »Ist mein kleiner Bruder etwa ein gieriger Vielfraß, der nicht weiß, daß man teilen muß?«

»Gib mir meine Coke und die Kekse zurück!«

Frank grinste bösartig. »Du lieber Himmel, Brüderchen, mir scheint, ich muß dir eine Lektion erteilen. Gierige kleine Vielfraße müssen auf den Weg der Erkenntnis geführt werden.«

Tommy hätte am liebsten nachgegeben und Frank widerstandslos gewinnen lassen. Er hätte sich in der Küche eine neue Dose Coke und neue Kekse holen können. Aber er wußte, daß sein ohnehin schon unerträgliches Leben noch schlimmer werden würde, wenn er nicht einen - wenngleich völlig vergeblichen - Versuch machte, sich gegen diesen Fremden zu wehren, der angeblich sein Bruder war. Totale freiwillige Kapitulation würde Frank nur reizen und dazu ermutigen, sich als noch schlimmerer Tyrann zu gebärden, als er ohnehin schon einer war.

»Ich will meine Sachen wiederhaben«, beharrte Tommy deshalb.

Frank stürzte sich auf ihn. Sie fielen auf den Boden, rollten umher, schlugen mit den Fäusten aufeinander ein und traten mit den Füßen, machten bei all dem aber sehr wenig Lärm, weil sie nicht wollten, daß ihre Eltern etwas von dem Kampf bemerkten. Tommy wußte nämlich, daß sie ihm unweigerlich die Schuld am Streit geben würden. Der sportliche, braungebrannte Frank war ihr Liebling, das Kind ihrer Träume, das nichts falsch machen konnte. Und Frank wollte die Rauferei geheimhalten, weil sein Vater notgedrungen eingreifen und sie beenden würde, Frank sich den Spaß aber nicht verderben lassen wollte.

Während des Kampfes konnte Tommy manchmal flüchtig die brennende Kürbislaterne sehen, die auf sie herabblickte, und er war ganz sicher, daß sie immer breiter grinste.

Schließlich waren Tommys Kräfte erschöpft, und er mußte sich, in eine Ecke gedrängt, geschlagen geben. Frank thronte rittlings auf ihm, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und begann ihm dann die Kleider vom Leibe zu zerren.

»Nein!« flüsterte Tommy, als er begriff, daß er nun auch noch gedemütigt werden sollte. »Nein, nein!«

Er wehrte sich mit den letzten Kraftreserven, aber sein Hemd wurde ihm entrissen, und seine Jeans und die Unterhose wurden bis zu den Turnschuhen heruntergezogen. Dann stellte Frank ihn auf die Beine, schleppte ihn durchs Zimmer, öffnete die Tür, stieß ihn auf den Flur hinaus und rief laut: »Maria! Maria, könntest du bitte schnell herkommen?«

Maria kam zweimal wöchentlich zum Putzen und Bügeln ins Haus, und dies war einer ihrer Tage.

»Maria!«

Entsetzt über die Vorstellung, daß die Putzfrau ihn nackt sehen könnte, daß ihm auch noch diese Demütigung nicht erspart bleiben würde, rappelte Tommy sich auf, versuchte, beim Wegrennen seine Hose hochzuziehen, stolperte, fiel hin und kam wieder auf die Beine.

»Maria, könntest du bitte herkommen?« rief Frank wieder. Er brachte die Wörter nur mühsam hervor, weil er sich vor Lachen schüttelte.

Keuchend und wimmernd erreichte Tommy irgendwie sein Zimmer, bevor Maria auftauchte. Eine Zeitlang lehnte er dann zitternd an der geschlossenen Tür und hielt seine Jeans mit beiden Händen fest.

Weil ihre Eltern bei einer Wahlveranstaltung waren, machten sich Tommy und Frank zum Abendessen eine Mahlzeit warm, die Maria vorbereitet und in den Kühlschrank gestellt hatte.

Normalerweise war es eine Qual, in Franks Gesellschaft zu essen, aber diesmal passierte nichts Unangenehmes, weil Frank in ein Magazin vertieft war, das über die neuesten Horrorfilme berichtete; besonders ausführlich über die brutalsten und grausigsten, veranschaulicht durch jede Menge Farbfotos von verstümmelten, blutüberströmten Leichen. Darüber schien Frank alles andere völlig vergessen zu haben.

Später, als Frank sich vor dem Zubettgehen im Bad aufhielt, schlich Tommy in das Zimmer seines älteren Bruders, näherte sich herzklopfend dem Schreibtisch und betrachtete die Laterne. Der bösartige grinsende Mund glühte. Die Augenschlitze leuchteten lebendig.

Rosenduft erfüllte den ganzen Raum, aber daneben war ein anderer schwacher Geruch wahrnehmbar, den Tommy nicht identifizieren konnte, der aber unangenehm war.

Er spürte deutlich die Präsenz von etwas Bösem - in noch viel stärkerem Ausmaß, als dies in Franks Zimmer immer der Fall war. Ihn überlief ein eisiger Schauder, und er hatte das Gefühl, als würde sein Blut in den Adern gefrieren.

Plötzlich war er davon überzeugt, daß die potentielle mörderische Kraft des schwarzen Kürbisses durch die Kerze im Innern verstärkt wurde. Dieses Licht war auf irgendeine Weise gefährlich, ein auslösender Faktor. Tommy hätte nicht sagen können, woher er das wußte, aber er war ganz sicher, daß er die Flamme löschen mußte, wenn er auch nur die geringste Überlebungschance haben wollte.

Er packte den knorrigen Stengel und hob die Schädeldecke des unheimlichen Kürbiskopfes ab.

Aus dem Innern schien das Licht ihm geradezu entgegengeschleudert zu werden; er spürte die Hitze auf seinem Gesicht, und seine Augen brannten.

Er blies die Flamme aus.

Die Laterne wurde dunkel.

Sofort fühlte Tommy sich besser.

Er legte den Deckel auf. Als er den Stengel losließ, entzündete sich die Kerzenflamme von allein.

Erschrocken sprang er zurück. Durch die Öffnungen von Augen, Mund und Nase fiel helles Licht.

»Nein!« flüsterte er.

Er trat wieder näher heran, öffnete die Laterne und blies die Kerze erneut aus.

Einen Moment lang blieb der Kürbis dunkel. Dann flackerte die Flamme vor seinen Augen wieder auf.

Es kostete Tommy große Überwindung, in die Laterne zu greifen, um die widerspenstige Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger zu ersticken, und unwillkürlich entrang sich seiner Kehle ein leises Wimmern. Er war überzeugt davon, daß die Kürbisschale sich plötzlich um sein Handgelenk schließen und die Hand abtrennen könne, so daß aus dem Armstumpf das Blut hervorschösse. Oder aber ihm würde im Innern des Kürbisses das Fleisch von den Fingern gefressen, und wenn die Schale ihn dann wieder freiließe, würde eine skelettartige Hand an seinem Arm hängen. Durch solche Ängste an den Rand der Hysterie getrieben, packte er den Docht und löschte die Flamme. Dann zog er seine Hand blitzschnell zurück und atmete tief aus, grenzenlos erleichtert, der Verstümmelung entgangen zu sein.

Er legte hastig den Deckel auf und eilte aus dem Zimmer, weil er gehört hatte, daß im Bad die Toilettenspülung betätigt wurde. Frank durfte ihn hier nicht erwischen. Vom Flur aus warf er einen Blick zurück, und natürlich war die Laterne wieder von Kerzenlicht erhellt.

Geradewegs lief er in die Küche und holte ein Fleischermesser aus der Schublade, das er in sein Zimmer mitnahm und unter seinem Kopfkissen versteckte. Er war sicher, daß er es irgendwann in den totenstillen Stunden vor der Morgendämmerung benötigen würde.

Seine Eltern kamen kurz vor Mitternacht nach Hause.

Tommy saß im Bett. Sein Zimmer wurde von der Nachttischlampe nur schwach beleuchtet. Das Fleischermesser lag neben ihm unter der Decke, und seine Hand ruhte auf dem Griff.

Zwanzig Minuten lang hörte Tommy seine Eltern reden; Türen wurden geöffnet und geschlossen, Wasser rauschte, man betätigte die Toilettenspülung. Ihr Schlafzimmer und Bad befanden sich am anderen Ende das Hauses, und deshalb waren die Geräusche nur sehr gedämpft, aber sie wirkten trotzdem beruhigend auf Tommy. Es waren die normalen Geräusche des Alltagslebens, und solange das Haus von ihnen erfüllt war, konnte bestimmt kein übernatürliches, laternenäugiges Wesen auf Beutezug gehen. Bald trat jedoch Ruhe ein. In der mitternächtlichen Stille wartete Tommy auf den ersten Schrei.

Er hatte sich fest vorgenommen, nicht einzuschlafen. Aber er war erst zwölf Jahre alt und hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich. Ausgelaugt hatte ihn vor allem die ständige Angst seit jenem Augenblick, da er den Kürbisschnitzer mit dem Mumiengesicht erblickt hatte. Mehrere Kissen im Rücken, döste er lange vor ein Uhr halb im Sitzen ein ...

... und wurde von einem dumpfen Geräusch aus dem Schlaf gerissen.

Sofort war er hellwach, setzte sich aufrecht hin und umklammerte das Fleischermesser.

Im ersten Moment war er sicher, daß das Geräusch aus seinem eigenen Zimmer gekommen war. Dann hörte er es wieder, einen lauten, dumpfen Schlag, und wußte plötzlich, daß es aus Franks Zimmer kam.

Er warf die Decken beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Wartete angespannt. Lauschte.

Einmal glaubte er zu hören, das Frank seinen Namen rief »Tooommmyyyyyy!« - ein verzweifelter, angsterfüllter und doch sehr gedämpfter Schrei, der vom anderen Rand eines breiten Canyons zu kommen schien. Vielleicht hatte er sich das aber auch nur eingebildet.

Stille.

Seine Hände waren schweißnaß. Er legte das Messer beiseite und wischte sich die Handflächen am Pyjama ab.

Stille.

Er umklammerte sein Messer wieder, griff unter das Bett, holte die Taschenlampe hervor, die er immer dort aufbewahrte, schaltete sie aber nicht ein. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür und horchte, ob im Flur irgendwelche Geräusche zu hören waren. Nichts.

Eine innere Stimme drängte ihn, ins Bett zurückzukehren, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und zu vergessen, was er gehört hatte. Noch besser wäre es vielleicht, sich unter dem Bett zu verkriechen und zu hoffen, daß ihn dort niemand finden würde. Aber er wußte, daß diese Stimme dem Feigling in ihm gehörte und daß er sich davon keine Rettung erhoffen durfte. Wenn der schwarze Kürbis sich tatsächlich in etwas anderes verwandelt hatte und jetzt durchs Haus pirschte, würde dieses Monster auf Ängstlichkeit mit der gleichen sadistischen Freude reagieren, wie Frank es immer getan hatte.

Lieber Gott, bat er flehentlich, hier unten ist ein Junge, der an Dich glaubt, und dieser Junge wäre sehr enttäuscht, wenn Du ihn ausgerechnet jetzt, wo er Dich wirklich, wirklich, wirklich braucht, nicht sehen würdest.

Tommy drehte leise den Türknopf und öffnete die Tür. Der Flur war fast dunkel; nur durch das Fenster ganz am Ende fiel etwas Mondlicht herein. Der Korridor war leer.

Direkt gegenüber stand die Tür zu Franks Zimmer weit offen.

In der verzweifelten Hoffnung, daß die Dunkelheit ihm Schutz bieten könnte, schaltete Tommy seine Taschenlampe noch immer nicht ein. Auf Franks Türschwelle blieb er stehen und spitzte die Ohren. Frank schnarchte meistens, aber es war kein Schnarchen zu hören. Wenn die Laterne noch im Zimmer war, mußte jemand die Kerze doch noch gelöscht haben, denn kein flackerndes Licht war zu sehen.

Tommy trat über die Schwelle.

Mondlicht versilberte die Fensterscheibe, über die palmwedelförmige Schatten eines vom Wind geschüttelten Baumes tanzten. Im Zimmer war kein Gegenstand deutlich zu erkennen. Unheimliche Umrisse ließen sich im Dunkelgrau und Schwarz erahnen.

Er machte einen Schritt. Zwei. Drei.

Sein Herz klopfte zum Zerspringen, und schließlich wurde er seinem Vorsatz untreu, auf den Schutz der Dunkelheit zu vertrauen. Er schaltete die Taschenlampe ein und erschrak über das plötzliche Funkeln des Fleischermessers in seiner rechten Hand.

Vorsichtig ließ er den Strahl der Taschenlampe durchs Zimmer gleiten und war grenzenlos erleichtert, daß nirgends ein Monster lauerte. Die Laken und Decken lagen in einem wirren Knäuel auf der Matratze, und er mußte noch einen Schritt näher herangehen, um sich zu vergewissern, daß Frank nicht im Bett lag.

Die abgetrennte Hand lag auf dem Boden neben dem Nachttisch. Tommy richtete den Strahl der Taschenlampe direkt darauf. Ihn packte blankes Entsetzen. Es war Franks Hand! Daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen, denn Franks silberner Ring mit dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen funkelte hell an einem der madenweißen Finger, die zur Faust geballt waren.

Vielleicht infolge einer Muskelerschlaffung, vielleicht aber auch unter Einwirkung dunkler Mächte, öffnete sich die Faust plötzlich. Die Finger entfalteten sich wie Blütenblätter. Auf der Handfläche lag eine glänzende Fünfcentmünze.

Tommy unterdrückte mühsam einen Schreckensschrei, aber er hatte keine Kontrolle über die heftigen Schauder, die ihn förmlich schüttelten.

Während er verzweifelt zu entscheiden versuchte, welcher Fluchtweg am sichersten wäre, hörte er seine Mutter am anderen Ende des Hauses schreien. Das schrille Kreischen brach abrupt ab. Etwas stürzte krachend zu Boden.

Tommy wandte sich zur Tür. Er wußte, daß er wegrennen mußte, bevor es zu spät sein würde, aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren, schien angewurzelt zu sein - wie Stunden zuvor auf dem staubigen Platz, als der Kürbisschnitzer darauf bestanden hatte, ihm zu erzählen, was in der Stille der Nacht aus der Laterne werden würde.

Er hörte seinen Vater brüllen.

Ein Schuß.

Sein Vater schrie.

Auch dieser Schrei brach plötzlich ab.

Wieder trat Stille ein.

Tommy versuchte, einen Fuß zu heben, wenigstens einen, wenigstens einen Zentimeter hoch, aber es ging nicht. Er fühlte, daß nicht nur seine Angst ihn lähmte, daß vielmehr irgendein böser Zauber ihn daran hinderte, dem schwarzen Kürbis zu entkommen.

Am anderen Ende des Hauses wurde eine Tür zugeschmettert.

Schritte hallten im Flur. Schwerfällige, schlurfende Schritte.

Tränen traten in Tommys Augen, rollten über seine Wangen.

Auf dem Flur knarrte und ächzte das Parkett unter einem schweren Gewicht.

Tommy starrte zur offenen Tür hin, und sein Entsetzen hätte nicht größer sein können, wenn sich die Pforten der Hölle vor ihm aufgetan hätten. Er sah flackerndes orangefarbenes Licht auf dem Korridor. Es wurde immer heller, als die Lichtquelle -zweifellos eine Kerze - sich von links her näherte, aus der Richtung des Elternschlafzimmers.

Amorphe Schatten und gespenstische Lichtschlangen huschten über den Flurteppich.

Die schweren Schritte wurden langsamer. Hielten inne. Der Intensität des Lichts nach zu schließen, war die Kreatur höchstens noch einen halben Meter von der Schwelle entfernt.

Tommy schluckte und versuchte mit trockenem Mund Wer ist dort? hervorzubringen, aber zu seiner eigenen großen Überraschung hörte er sich statt dessen sagen: »Okay, verdammt, bringen wir’s hinter uns!« Vielleicht hatten ihn all die Jahre im Hause der Sutzmanns doch mehr abgehärtet und zugleich fatalistischer gemacht, als ihm bislang bewußt gewesen war.

Die Kreatur kam in Sicht, füllte den Türrahmen aus.

Ihr Kopf bestand aus der Laterne, die sich aber auf grausige Weise verändert hatte. Die Farben waren noch dieselben: Schwarz und etwas Orange. Auch die eigenartige Form - oben schmäler als unten - war noch die alte, und die geschwürartigen Auswüchse waren genauso verkrustet und abstoßend wie zuvor. Aber der einst riesige Kopf - Tommy hatte selten einen so großen Kürbis gesehen - war auf die Größe eines Basketballs zusammengeschrumpft. Die Augen waren eingesunken, obwohl die schlitzartigen Pupillen einen unverändert bösartigen Eindruck machten. In der Nase blubberte ekliger Schleim. Der Mund reichte von einem Ohr bis zum anderen, denn er war gleich groß geblieben, während das übrige Gesicht geschrumpft war. In dem orangefarbenen Licht, das zwischen den gebogenen Fangzähnen hindurch schimmerte, sahen diese aus, als bestünden sie nicht mehr aus Kürbisschale, sondern aus hartem, scharfem Gebein.

Der Körper unterhalb des Kopfes mutete fast menschenartig an, obwohl er aus dicken knorrigen Wurzeln und verschlungenen Ranken zu bestehen schien. Das Wesen sah unglaublich stark aus, ein Koloß, eine Mordmaschine, wenn ihm gerade danach zumute war. Tommy verspürte trotz seines Entsetzens so etwas wie tiefe Ehrfurcht, und er fragte sich, ob der Leib der Kreatur aus einer Substanz bestünde, die dem ursprünglich riesigen Kopf entzogen worden war - sowie vielleicht dem Fleisch von Frank, Lois und Kyle Sutzmann.

Das Schlimmste war das orangefarbene Licht im Innern des Schädels. Dort brannte noch immer die Kerze, und ihre flackernde Flamme betonte die unmögliche Leere des Kopfes -wie konnte die Kreatur sich ohne ein Gehirn bewegen und denken? - und verlieh den Augen ein wildes und dämonisches Bewußtsein.

Das Geschöpf hob einen dicken, krummen, starken, rankenförmigen Arm und deutete mit einem Wurzelfinger auf Tommy. »Du«, sagte es mit einer tiefen Flüsterstimme, die ihn an nassen Schlamm in einer Abflußrinne erinnerte.

Was Tommy jetzt noch mehr erstaunte als seine Unfähigkeit zu jeder Bewegung, war seine Fähigkeit, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Er hatte weiche Knie und war überzeugt davon, daß er jeden Moment zusammenbrechen und hilflos daliegen würde, während sich die Kreatur auf ihn stürzte; aber irgendwie blieb er stehen, die Taschenlampe in der einen, das Fleischermesser in der anderen Hand.

Das Messer. Nutzlos. Es würde diesem Gegner nichts anhaben können. Er ließ es aus seinen schweißnassen Fingern gleiten, und es fiel klirrend zu Boden.

»Du«, wiederholte der schwarze Kürbis, und seine tiefe Stimme hallte feucht durch den Raum. »Dein bösartiger Bruder hat bekommen, was er gegeben hat. Deine Mutter hat bekommen, was sie gegeben hat. Dein Vater hat bekommen, was er gegeben hat. Ich habe sie gefressen. Ich habe ihnen die Hirne aus den Köpfen gesaugt, ihr Fleisch zerkaut, ihre Knochen aufgelöst. Und du? Was hast du verdient?«

Tommy konnte nicht sprechen. Er zitterte wie Espenlaub, weinte leise vor sich hin und konnte nur mit größter Mühe Luft holen.

Der schwarze Kürbis schlurfte über die Schwelle ins Zimmer und baute sich mit funkelnden Augen drohend vor Tommy auf.

Gut zwei Meter groß, mußte die Kreatur ihren Laternenkopf senken, um Tommy anschauen zu können. Schwarze Rauchlocken von dem rußigen Kerzendocht entwichen durch die Zahnlücken und durch die Nasenhöhle.

Obwohl die Kreatur flüsterte, ließen ihre Worte die Fensterscheiben erzittern: »Unglückseligerweise bist du ein guter Junge, und ich habe nicht das Recht, dich zu fressen. Was du verdient hast, ist genau das, was du von nun an bekommst -Freiheit.«

Tommy starrte verständnislos in das groteske Gesicht empor.

»Freiheit«, wiederholte das dämonische Geschöpf. »Freiheit von Frank und Lois und Kyle. Freiheit, um heranzuwachsen, ohne daß sie ständig auf dir herumtrampeln. Freiheit, um mit aller Kraft nach dem Guten zu streben, was bedeutet, daß ich wahrscheinlich niemals die Gelegenheit bekomme, dich zu verschlingen.«

Lange Zeit standen sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber, der Junge und das Monster, und allmählich begriff Tommy das Gesagte. Am Morgen würden seine Eltern und Frank als vermißt gelten. Man würde sie nie finden. Ein großes, ewiges Geheimnis. Tommy würde bei seinen Großeltern leben dürfen. Du bekommst, was du gibst ...

»Aber vielleicht« - der schwarze Kürbis legte eine kalte, monströse Hand auf Tommys Schulter - »vielleicht trägst auch du den Keim der Verdorbenheit in dir, und vielleicht wird sie eines Tages von dir Besitz ergreifen, und dann werde ich dich doch noch bekommen. Als Dessert.« Das breite Grinsen wurde noch breiter. »Und jetzt geh wieder zu Bett und schlaf. Schlaf.«

Entsetzt und zugleich froh gestimmt ging Tommy zur Tür. Er bewegte sich wie in einem Traum. Von der Schwelle aus warf er einen Blick zurück und sah, daß der schwarze Kürbis ihn beobachtete.

»Du hast einen Happen übersehen«, sagte Tommy und deutete auf den Boden neben dem Nachttisch.

Die Kreatur entdeckte Franks Hand. »Ahhh!« rief der schwarze Kürbis, hob die Hand hastig auf und stopfte sich den grausigen Bissen in den Mund. Die Flamme in seinem Schädel loderte hell auf, hundertmal heller als zuvor. Dann erlosch sie abrupt.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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