Er war ein über hundert Jahre alter Roboter, gebaut von anderen Robotern in einer vollautomatisierten Fabrik, die seit vielen Jahrhunderten ausschließlich mit der Produktion von Robotern beschäftigt war.
Sein Name war Curanov, und wie es bei seinesgleichen üblich war, durchstreifte er die Erde auf der Suche nach interessanten Aufgaben. Curanov hatte die höchsten Berge der Welt erklommen, ausgestattet mit Zusatzvorrichtungen an seinem Körper - Spikes an seinen Metallfüßen, kleinen aber überaus stabilen Haken an den Enden seiner zwölf Finger und einem im Brustkasten zusammengerollten Rettungsseil, das blitzschnell herausgeschleudert wurde, falls er abzustürzen drohte. Seine kleinen Antigrav-Motoren, die ihm das Fliegen ermöglichten, waren vorher abmontiert worden, um die Kletterpartien möglichst gefährlich - und dadurch möglichst interessant - zu gestalten. Ein anderes Mal hatte Curanov die unangenehme Prozedur einer Spezialversiegelung für besonders schwierige Pflichten auf sich genommen, um achtzehn Monate unter Wasser zu verbringen und einen großen Teil des Atlantischen Ozeans zu erforschen, bis ihn sogar die Paarung von Walen und die ständig wechselnden Schönheiten des Meeresbodens langweilten. Curanov hatte Wüsten durchquert, den Polarkreis zu Fuß erkundet und sich in unzähligen Höhlen und sonstigen unterirdischen Anlagen umgesehen. Er hatte einen Blizzard, eine große
Überschwemmung, einen Hurrikan und ein Erdbeben miterlebt, das die Stärke neun auf der Richterskala gehabt hätte, wenn die Richterskala noch in Gebrauch gewesen wäre. Einmal hatte er, gegen Hitze isoliert, die Hälfte der Strecke zum Mittelpunkt der Erde zurückgelegt, Sonnenbäder in glühenden Gaslöchern zwischen Teichen aus geschmolzenem Gestein genommen und sich bei Magmaeruptionen schwere Verbrennungen zugezogen, freilich ohne etwas zu fühlen.
Schließlich wurde er aber sogar dieses farbenprächtigen Spektakels überdrüssig und kehrte an die Erdoberfläche zurück.
Nach der Hälfte seines Lebens - ein Roboter hatte eine Lebensdauer von zweihundert Jahren - fragte Curanov sich manchmal, wie er weitere hundert Jahre ertragen sollte, wenn sie derartig langweilig waren.
Sein persönlicher Ratgeber, ein Roboter namens Bikermien, versicherte ihm, daß dieser Überdruß nur vorübergehend sei und leicht behoben werden könne. Wenn man clever sei, so Bikermien, könne man sich in unzählige Situationen begeben, die einem sowohl prickelnde Erregung verschafften als auch wertvolle Aufschlüsse über die Umwelt, das Erbgut und die eigenen Talente lieferten, was wiederum der privaten Datensammlung zugute komme. Bikermien, selbst mittlerweile ein alter Roboter in der letzten Hälfte seines zweiten Jahrhunderts, hatte in seinem Datentresor ein so enormes und komplexes Wissen angesammelt, daß er zum stationären Berater ernannt worden war. An einen Muttercomputer angeschlossen, durfte er sich nicht von der Stelle rühren. Doch Bikermien, der extrem anpassungsfähig war und sich deshalb an den aufregenden Erlebnissen anderer Roboter genauso erfreuen konnte, als wären es seine eigenen, trauerte dem Verlust seiner Mobilität nicht nach, denn dafür war er ja den meisten Robotern geistig überlegen und durfte sozusagen Regie führen. Deshalb hörte Curanov auch immer aufmerksam zu, wenn Bikermien ihm einen Rat gab, obwohl er insgeheim manchmal etwas skeptisch war.
Bikermien zufolge bestand Curanovs Problem darin, daß er als blutjunger Roboter, kaum daß er die Fabrik verlassen hatte, ausgezogen war, um seine Kräfte an den größten Herausforderungen zu messen, an den wildesten Meeren, der schlimmsten Kälte, den höchsten Temperaturen, dem größtmöglichen Druck; und nachdem er das alles geschafft hatte, glaubte er, daß das Leben ihm nichts Interessantes mehr zu bieten hätte.
Der Ratgeber meinte, Curanov hätte einige der faszinierendsten Abenteuer bisher völlig übersehen. Jede Herausforderung stehe in einem direkten Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten. Je weniger man sich ihr gewachsen fühle, desto spannender sei die Aufgabe und desto mehr wertvolle Erfahrungen - und somit Daten - könne man dabei sammeln.
Sagt dir das etwas? fragte Bikermien, ohne sprechen zu müssen, weil sie sich mittels Telestrahlen unterhalten konnten.
Nichts.
Bikermien erklärte es ihm:
Auf den ersten Blick mochte der Nahkampf mit einem ausgewachsenen Affenmännchen als kinderleichte und deshalb uninteressante Aufgabe erscheinen. Ein Roboter war geistig und körperlich jedem Affen haushoch überlegen. Er hatte jedoch die Möglichkeit, den Ausgang eines solchen Kampfes offen zu gestalten, indem er freiwillig auf einige seiner Fähigkeiten verzichtete. Wenn ein Roboter nicht mehr fliegen konnte, wenn er nachts nicht mehr genauso gut wie bei hellem Tageslicht sehen konnte, wenn er nicht mehr schneller als eine Antilope laufen konnte, wenn er nicht mehr jedes Flüstern auf tausend Meter Entfernung hören konnte, kurz gesagt, wenn all seine normalen Fähigkeiten mit Ausnahme des Denkvermögens ausgeschaltet waren - könnte ein Roboter den Kampf mit einem Affen dann nicht äußerst aufregend finden?
Ich verstehe, was du meinst, gab Curanov zu. Man muß sich erniedrigen, um die Größe einfacher Dinge zu verstehen.
So ist es.
Und so kam es, daß Curanov am nächsten Tag in den Schnellzug stieg, der ihn nach Montana im hohen Norden bringen würde, wo er zusammen mit vier anderen Robotern, die ebenso wie er in ihren Fähigkeiten stark eingeschränkt waren, auf die Jagd gehen sollte.
Normalerweise wären sie aus eigener Kraft geflogen. Jetzt besaß keiner von ihnen diese Fähigkeit.
Normalerweise hätten sie sich durch Telestrahlen verständigt. Jetzt waren sie gezwungen, jene merkwürdige abgehackte Sprache anzuwenden, die eigens für Maschinen erfunden worden war, ohne die Roboter nun aber schon seit über sechshundert Jahren auskamen.
Normalerweise hätte die Aussicht, im Norden Hirsche und Wölfe zu jagen, sie schrecklich gelangweilt. Doch jetzt hatte jeder von ihnen ein prickelndes Gefühl, so als stünde ihren ein außerordentlich aufregendes Abenteuer bevor.
Ein forscher, tüchtiger Roboter namens Janus holte die Gruppe am kleinen Bahnhof etwas außerhalb von Walker’s Watch ab, unweit der nördlichen Grenze von Montana. Curanov vermutete, daß Janus sich schon monatelang an diesem abgelegenen Ort aufhielt, wo nie etwas passierte. Wahrscheinlich neigte sich sein zweijähriger Pflichtdienst für die Zentralagentur dem Ende zu. Janus war zu forsch und tüchtig. Er redete sehr schnell, und sein ganzes Benehmen ließ darauf schließen, daß er sich in hektische Aktivität stürzte, um keine Zeit zu haben, über die ereignislose, langweilige Zeit in Walker’s Watch nachzudenken. Er gehörte zu jenen Robotern, die nach aufregenden Erlebnissen lechzten, und wenn er nicht aufpaßte, würde er sich eines Tages in ein Abenteuer stürzen, auf das er nicht genügend vorbereitet war, und das würde dann sein vorzeitiges Ende bedeuten.
Curanov betrachtete Tuttle, jenen Roboter, der im Zug eine interessante, wenngleich absurde Diskussion über die Entwicklung der Roboterpersönlichkeit ausgelöst hatte, indem er behauptete, bis vor kurzem - wenn man das Zeitmaß von Jahrhunderten zugrunde legte - hätten Roboter keine individuelle Persönlichkeit besessen. Ein Roboter wäre wie der andere gewesen, kalt und steril, ohne persönliche Wünsche und Träume. Eine lächerliche Theorie! Tuttle hatte nicht erklären können, wie so etwas möglich gewesen sein sollte, aber er hatte nichtsdestotrotz auf seinem Standpunkt beharrt.
Während Janus jetzt hektisch auf die Gruppe einredete, dachte Curanov noch einmal über Tuttles Behauptung nach, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß die Zentralagentur jemals die Produktion von geistlosen Robotern angeordnet hatte. Der ganze Sinn des Lebens bestand doch darin, zu forschen und sorgfältig Daten zu speichern, die unter einem individuellen Gesichtspunkt gesammelt worden waren, sogar wenn diese Daten sich wiederholten. Wie könnten geistlose Roboter das bewerkstelligen?
Steffan, ein anderes Mitglied der Gruppe, hatte zu Recht erklärt, solche Theorien stünden auf einer Ebene mit dem Glauben an das Zweite Bewußtsein. (Ohne Beweise dafür zu haben, glaubten manche Roboter, daß der Zentralagentur gelegentlich Fehler unterliefen, so daß nach Ablauf der vorgesehenen Lebensspanne eines Roboters sein Wissens- und Erfahrungsspeicher nur teilweise anstatt gänzlich gelöscht wurde, bevor er, gründlich überholt, wieder aus der Fabrik kam. Diese Roboter - so die Behauptung der Abergläubischen
- hätten einen Vorteil gegenüber allen anderen: sie würden schneller reifen und hätten dadurch bessere Chancen auf einen Posten als Ratgeber oder sogar auf ein Amt in der Zentralagentur)
Tuttle hatte sich sehr darüber geärgert, daß seine Ansichten über die Roboterpersönlichkeit mit wilden Gerüchten über das Zweite Bewußtsein gleichgesetzt wurden. Um ihn noch mehr zu reizen, hatte Steffan unterstellt, Tuttle glaube vielleicht sogar an jene Märchengestalten namens »Menschen«. Erbost hatte Tuttle während der restlichen Fahrt kein Wort mehr gesagt, während die anderen sich über den Streit amüsiert hatten.
»Und jetzt«, sagte Janus und brachte Curanov jäh in die Gegenwart zurück, »werde ich euch eure Ausstattung aushändigen, damit ihr euch auf den Weg machen könnt.«
Curanov, Tuttle, Steffan, Leeke und Skowski scharten sich begierig um ihn. Sie konnten den Beginn des Abenteuers kaum erwarten.
Jeder von ihnen erhielt ein altmodisches Fernglas, Schneeschuhe, die an ihren Füßen befestigt werden konnten, einen Erste-Hilfe-Kasten mit Werkzeugen und verschiedenen Sorten Schmieröl, damit sie sich bei irgendwelchen unvorhergesehenen Notfällen selbst reparieren konnten, eine elektrische Taschenlampe, Landkarten und ein Betäubungsgewehr mit tausend Schuß Munition.
»Ist das alles?« fragte Leeke. Er hatte genauso viele Gefahren bestanden wie Curanov, vielleicht sogar noch mehr, doch jetzt hörte er sich ängstlich an.
»Was solltet ihr denn sonst noch brauchen?« fragte Janus ungeduldig.
»Na ja«, meinte Leeke, »du weißt ja, daß man gewisse Veränderungen an uns vorgenommen hat. Zum einen sind unsere Augen nicht mehr das, was sie einmal waren, und ...«
»Für die Dunkelheit habt ihr eure Taschenlampen«, fiel Janus ihm ins Wort.
»Und auch unsere Ohren ...«:, wollte Leeke fortfahren.
Janus ließ ihn wieder nicht ausreden. »Ihr müßt eben leise gehen und auf jedes Geräusch achten.«
»Die Kraft unserer Beine wurde ebenfalls reduziert«, beharrte Leeke. »Wenn wir rennen müssen .«
»Schleicht euch an das Wild heran, ohne daß es euch bemerkt, dann braucht ihr es nicht zu jagen.«
Leeke brachte einen weiteren Einwand vor. »Wenn wir nun aber, so geschwächt, wie wir jetzt sind, vor etwas davonrennen müssen .«
»Ihr jagt doch nur Hirsche und Wölfe«, brachte Janus ihm in Erinnerung. »Die Hirsche werden euch nicht jagen und ein Wolf findet stählernes Fleisch bestimmt nicht schmackhaft.«
Skowski, der bis jetzt ungewöhnlich still gewesen war und sich nicht einmal an den gutmütigen Hänseleien beteiligt hatte, die Tuttle im Zug über sich ergehen lassen mußte, trat einen Schritt vor. »Ich habe gelesen, daß es über diesen Teil von Montana ungewöhnlich viele . nun ja . unerklärliche Berichte gibt.«
»Worüber?« fragte Janus.
Skowski ließ den Blick seiner gelben Visualrezeptoren über die vier anderen Mitglieder der Gruppe gleiten, bevor er sich wieder Janus zuwandte. »Nun ja . Berichte über Fußspuren, die unseren eigenen ähnlich sind, aber nicht von Robotern stammen, und Berichte über roboterartige Gestalten, die in den Wäldern gesehen wurden.«
»Oh«, winkte Janus mit seiner funkelnden Hand ab, so als wollte er Skowskis Einwand wie eine Staubflocke wegfegen, »wir bekommen jeden Monat mindestens ein Dutzend Berichte über >Menschenwesen<, die angeblich in den unberührten Gebieten nordwestlich von hier gesichtet wurden.«
»Und dorthin sollen wir uns jetzt begeben?« fragte Curanov.
»Ja«, erwiderte Janus. »Aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. All diese Berichte stammen von Robotern, deren Wahrnehmungsvermögen wie das eure reduziert wurde, um die Jagd zu einer größeren Herausforderung zu machen. Für das, was sie glauben, gesehen zu haben, gibt es zweifellos eine rationale Erklärung. Hätten sie über ihr normales Wahrnehmungsvermögen verfügt, wären sie nicht mit diesen absurden Geschichten zurückgekommen.«
»Begeben sich auch Roboter in jene Gegend, die über ihr gesamtes Potential verfügen?« wollte Skowski wissen.
»Nein«, mußte Janus zugeben.
Skowski schüttelte den Kopf. »So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich fühle mich so schwach, so . « Er ließ seine Ausstattung fallen. »Ich glaube nicht, daß ich weitermachen möchte.«
Die anderen waren sehr überrascht.
»Fürchtest du dich etwa vor Gespenstern?« fragte Steffan, der offenbar für sein Leben gern stichelte.
»Nein«, erklärte Skowski ruhig, »aber es gefällt mir nicht, ein Krüppel zu sein, auch wenn das Abenteuer dadurch viel aufregender werden sollte.«
»Nun gut«, sagte Janus, »dann werdet ihr euch also nur zu viert auf den Weg machen.«
»Bekommen wir außer dem Betäubungsgewehr keine Waffen?« erkundigte sich Leeke.
»Ihr braucht keine anderen Waffen«, erwiderte Janus.
Curanov wunderte sich über Leckes Frage. Die wichtigste Direktive, die jeder Roboterpersönlichkeit schon in der Fabrik eingeimpft wurde, lautete, daß es streng verboten war, ein Leben zu vernichten, das nicht wiederhergestellt werden konnte. Trotzdem sympathisierte Curanov mit Leeke und teilte dessen böse Vorahnungen. Er vermutete, daß ihre stark reduzierten Fähigkeiten auch eine Trübung des Denkvermögens zur Folge hatten, denn anders ließen sich ihre irrationalen Ängste nicht erklären.
»Das einzige, was ihr jetzt noch wissen müßt«, sagte Janus, »ist, daß für morgen nacht im nördlichen Montana ein Sturm vorhergesagt wurde. Bis dahin müßtet ihr aber längst eure Unterkunft erreicht haben, und der Schnee wird euch keine Probleme bereiten. Noch irgendwelche Fragen?«
Sie hatten keine - jedenfalls keine, die sie laut stellen wollten.
»Na, dann wünsche ich euch viel Glück«, fuhr Janus fort. »Mögen viele Wochen vergehen, bevor ihr das Interesse an der Herausforderung verliert.« Das war eine traditionelle Abschiedsfloskel, aber Janus schien sie ernst zu meinen. Curanov vermutete, daß Janus viel lieber mit stark reduzierten Kräften auf die Jagd nach Hirschen und Wölfen gehen würde als weiterhin in Walker’s Watch Dienst tun zu müssen.
Sie bedankten sich bei ihm, studierten ihre Landkarten, verließen den Bahnhof und machten sich auf den Weg.
Skowski blickte ihnen nach, und als sie sich noch einmal umdrehten, winkte er mit seinem glänzenden Arm.
Sie marschierten den ganzen Tag, bis tief in die Nacht hinein, ohne eine Rast machen zu müssen. Obwohl die Energieversorgung ihrer Beine reduziert worden war und ein Regler ihre Geschwindigkeit bestimmte, ermüdeten sie nicht. Sie registrierten zwar ihr eingeschränktes sinnliches Wahrnehmungsvermögen, aber Erschöpfung kannten sie nicht. Sogar wenn die Schneeverwehungen so hoch waren, daß sie ihre drahtgeflochtenen Schneeschuhe anlegen mußten, behielten sie ein gleichmäßiges Tempo bei.
Während sie die weiten Ebenen durchquerten, wo die Winde aus Schnee eine gespenstische Mondlandschaft mit allen möglichen seltsamen Formationen gebildet hatten, oder während sie unter dem dichten Dach ineinanderverflochtener Kiefern durch die unberührten Wälder gingen, verspürte Curanov jene prickelnde Erregung, die ihm bei allen Unternehmungen der letzten Jahre so gefehlt hatte. Weil seine Sinne geschwächt waren, empfand er jeden Schatten als Gefahr und glaubte, daß hinter jeder Biegung irgendwelche Hindernisse und Komplikationen lauern könnten. Es war entschieden anregend, hier zu sein.
Kurz vor der Morgendämmerung begann es zu schneien, und der Schnee legte sich wie ein Mantel auf ihre kalte Stahlhaut. Zwei Stunden später, im ersten Tageslicht, standen sie auf einem Hügel und erblickten jenseits eines dicht bewaldeten flachen Tales ihre Unterkunft aus bläulich glänzendem Metall mit ovalen Fenstern. Sie sah sehr funktional aus.
»Wir werden noch heute jagen können!« rief Steffan.
»Gehen wir«, sagte Tuttle.
Im Gänsemarsch stiegen sie ins Tal hinab, durchquerten es, erklommen einen Hügel und kamen unweit der Hütte aus dem Wald heraus.
Curanov drückte auf den Abzug.
Der prachtvolle Hirsch, ein Zwölfender, stellte sich auf die Hinterbeine, schlug mit den Vorderbeinen aus und schnaubte, wobei in der Kälte eine Dampfwolke entstand.
»Ein Volltreffer!« rief Leeke.
Curanov schoß noch einmal.
Der Hirsch stellte sich wieder auf alle vier Beine.
Die anderen Hirsche, die etwas weiter hinten standen, machten kehrt und suchten auf dem Trampelpfad im Wald das Weite.
Der getroffene Hirsch schüttelte den riesigen Kopf, versuchte seinen Artgenossen zu folgen, taumelte, brach in die Knie, bemühte sich vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen, und fiel seitwärts in den Schnee.
»Herzlichen Glückwunsch!« sagte Steffan.
Die vier Roboter traten hinter der Schneeverwehung hervor, wo sie sich versteckt hatten, als die Hirsche in Sicht kamen, und gingen über die kleine Lichtung auf das betäubte Tier zu.
Curanov bückte sich, spürte den langsamen Herzschlag des Hirsches und beobachtete, wie die unbehaarten schwarzen Nüstern bei jedem flachen Atemzug bebten.
Tuttle, Steffan und Leeke gingen neben dem Tier in die Hocke, berührten und betasteten es, bewunderten die perfekte Muskulatur, die mächtigen Schultern und die kräftigen Schenkel. Alle stimmten überein, daß es eine echte Herausforderung war, ein so gewaltiges Tier zur Strecke zu bringen, wenn man stark gehandikapt war. Dann standen Tuttle, Steffan und Leeke nacheinander auf und entfernten sich, damit Curanov seinen Triumph allein auskosten und in Ruhe seine Emotionen auf den Mikrokassetten seines Datenspeichers aufzeichnen konnte.
Curanov hatte sein Protokoll über die Herausforderung und Konfrontation fast beendet, und der Hirsch kam langsam wieder zu sich, als Tuttle plötzlich laut aufschrie, so als wären seine Systeme überlastet.
»Da! Schaut euch das an!«
Tuttle stand etwa zweihundert Meter entfernt in der Nähe der dunklen Bäume und schwenkte seine Arme. Steffan und Leeke eilten schon auf ihn zu.
Neben Curanov schnaubte der Hirsch, blinzelte mit schweren Lidern und versuchte aufzustehen, war dazu aber noch nicht in der Lage. Curanov hatte seiner Beurteilung nichts mehr hinzuzufügen. Er erhob sich, verließ das Tier und ging zu seinen drei Kameraden.
»Was ist los?« fragte er.
Sie blickten ihm mit leuchtenden bernsteinfarbenen Augen entgegen, die im grauen Licht des Spätnachmittags besonders hell zu sein schienen.
»Da!« Tuttle deutete auf den Boden.
»Fußspuren«, sagte Curanov.
»Aber sie stammen nicht von uns«, erklärte Leeke.
»Na und?« fragte Curanov.
»Es sind keine Roboterspuren«, verkündete Tuttle.
»Natürlich sind es welche.«
»Schau sie dir mal genauer an«, forderte Tuttle ihn auf.
Curanov bückte sich und stellte fest, daß seine Augen, deren Sehkraft um die Hälfte reduziert worden war, ihn bei dem schwachen Licht getäuscht hatten. Das waren tatsächlich keine Roboterspuren, obwohl die äußeren Umrisse stimmten. Die Gummisohlen der Roboterfüße waren kreuzweise schraffiert; auf diesen Abdrücken war davon aber nichts zu sehen. Außerdem hatten Roboterfüße zwei Löcher, die als Ventile für das Antigrav-System beim Fliegen dienten; aber diese Spuren wiesen keine Löcher auf.
»Ich wußte gar nicht, daß es hier im Norden Affen gibt«, sagte Curanov.
»Es gibt auch keine«, erwiderte Tuttle.
»Dann .«
»Das sind« - Tuttle zögerte ein wenig - »das sind Fußspuren eines Menschen.«
»Lächerlich!« rief Steffan.
»Hast du eine bessere Erklärung?« fragte Tuttle, der über seine eigene These alles andere als glücklich war, sie aber verfechten wollte, solange niemand eine andere akzeptable Erklärung liefern konnte.
»Ein Scherz«, sagte Steffan.
»Und wer sollte sich diesen Scherz erlaubt haben?« wandte Tuttle ein.
»Einer von uns.«
Sie starrten einander an, so als könnte die Schuld in einem ihrer identischen Metallgesichter geschrieben stehen.
»Nein, das ist unmöglich«, sagte Leeke nach kurzem Schweigen. »Wir waren die ganze Zeit zusammen. Diese Spuren muß jemand erst vor kurzer Zeit hinterlassen haben, sonst wären sie mit Neuschnee bedeckt. Den ganzen Nachmittag über hatte aber keiner von uns die Gelegenheit davonzuschleichen und sie anzufertigen.«
»Ich sage immer noch, daß es sich um einen Scherz handeln muß«, beharrte Steffan. »Vielleicht hat die Zentralagentur jemanden hergeschickt, der diese Fußspuren für uns hinterlassen sollte.«
»Wozu sollte die Zentrale sich diese Mühe machen?« fragte Tuttle.
»Vielleicht gehört das zu unserer Therapie«, meinte Steffan. »Vielleicht soll es die Herausforderung für uns steigern, der Jagd zusätzliche Spannung verleihen.« Er machte eine vage Handbewegung in Richtung der Fußspuren, so als hoffte er, sie würden plötzlich verschwinden. »Vielleicht macht die Zentrale das bei jedem, der unter Langeweile leidet, um ihn wieder das Staunen zu lehren, das .«
»Das ist höchst unwahrscheinlich«, fiel Tuttle ihm ins Wort. »Du weißt doch genauso gut wie ich, daß jedes Individuum die Pflicht hat, seine Abenteuer in Eigenverantwortung zu planen und zu deichseln, daß jeder selbst entscheiden muß, in welcher Situation er die meisten lohnenswerten Daten sammeln kann. Die Zentrale mischt sich nie ein. Sie übt nur das Richteramt aus. Sie beurteilt uns nach unseren Aufzeichnungen und befördert jene, deren Datentresore reifer geworden sind.«
Um die Diskussion zu beenden, fragte Curanov: »Wohin führen diese Fußspuren?«
Leeke deutete mit einem glänzenden Finger auf die Spur im Schnee. »Es sieht ganz so aus, als sei dieses Wesen aus dem Wald gekommen und habe eine Weile an dieser Stelle gestanden. Vielleicht hat es uns beobachtet, während wir den Hirsch jagten. Dann hat es sich auf den Rückweg gemacht, in dieselbe Richtung, aus der es gekommen ist.«
Die vier Roboter folgten den Fußspuren bis zu den ersten hohen Kiefern, zögerten aber, tiefer in den Wald vorzudringen.
»Bald wird es dunkel«, sagte Leeke, »und der Sturm wird -wie Janus es uns prophezeit hat - auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mit unseren geschwächten Sinnen sollten wir lieber in die Hütte zurückkehren, solange wir noch etwas sehen können.«
Curanov fragte sich, ob ihre überraschende Feigheit den anderen genauso auffiel wie ihm selbst. Alle behaupteten, nicht an die mythischen Monster zu glauben, und doch brachte keiner von ihnen es über sich, diesen Fußspuren zu folgen. Curanov mußte zugeben, daß auch er es eilig hatte, in die sichere Unterkunft zu kommen, wenn er sich die Bestie vorstellte, die möglicherweise diese Fußspuren hinterlassen hatte - die Bestie namens >Mensch<.
Die Hütte bestand nur aus einem Raum, aber mehr benötigten sie auch nicht. Nachdem alle vier in körperlicher Hinsicht völlig identisch waren, hatten sie kein Bedürfnis nach räumlicher Zurückgezogenheit. Ihre Privatsphäre blieb auf viel nützlichere Weise gewahrt: Jeder konnte sich in eine der Inaktivierungskojen zurückziehen, wo alle äußeren Einflüsse ausgeschaltet waren, und sich ausschließlich auf seinen Geist konzentrieren, alte Daten abrufen und nach bisher übersehenen Berührungspunkten zwischen scheinbar zusammenhanglosen Informationen suchen. Deshalb störte es niemanden, daß sie in diesen eintönig grauen Wänden wochenlang auf engstem Raum zusammenleben würden. Die Herausforderung der Jagd würde Komplikationen und nachlassendes Interesse verhindern.
Sie legten ihre Betäubungsgewehre auf das Metallregal, das an einer Wand entlanglief, und entledigten sich auch der übrigen Ausrüstung, die bis jetzt an verschiedenen Teilen ihrer Metallpanzer befestigt gewesen war.
Eine Weile standen sie schweigend vor dem größten Fenster und beobachteten das heftige Schneetreiben. Außer blendendem Weiß war nichts zu sehen. Schließlich sagte Tuttle: »Stellt euch nur mal vor, was für ein Schlag es für die moderne Philosophie wäre, wenn die Mythen sich doch als wahr erweisen.«
»Welche Mythen?« fragte Curanov.
»Die über Menschenwesen.«
Steffan hatte absolut keine Lust, sich auf Tuttles ketzerische Gedankengänge einzulassen. In strengem Ton erklärte er kurz und bündig: »Ich habe nichts gesehen, was mich veranlassen könnte, an Märchen zu glauben.«
Tuttle war klug genug, einen Streit über die Fußspuren im Schnee zu vermeiden, aber er wollte das Thema auch nicht fallenlassen. »Wir haben immer geglaubt, Intelligenz wäre ausschließlich dem mechanisierten Geist vorbehalten. Wenn wir nun feststellen sollten, daß ein Wesen aus Fleisch und Blut .«
»Das ist völlig ausgeschlossen!« fiel Steffan ihm ins Wort.
Curanov dachte, daß Steffan noch sehr jung sein mußte. Bestimmt war er erst vor dreißig oder vierzig Jahren aus der Fabrik gekommen. Sonst würde er nicht so vehement alles von sich weisen, was den von der Zentralagentur festgelegten Status quo auch nur im geringsten gefährden könnte. Im Laufe der Jahrzehnte lernte man, daß das, was noch gestern als unmöglich gegolten hat, schon heute etwas ganz Alltägliches sein kann.
»In manchen Mythen über die Menschen heißt es, daß die Roboter von ihnen abstammen«, berichtete Tuttle.
»Von Geschöpfen aus Fleisch und Blut?« fragte Steffan ungläubig.
»Ich weiß, daß es sich verrückt anhört«, sagte Tuttle, »aber ich habe in meinem Leben schon oft die Erfahrung gemacht, daß die verrücktesten Dinge sich letztlich als wahr erweisen.«
»Du warst doch schon überall auf der Erde, in viel abgelegeneren Gegenden als ich. Auf deinen unzähligen Reisen mußt du doch Zehntausende dieser Geschöpfe aus Fleisch und Blut gesehen haben, Tiere aller Arten.« Steffan legte eine effektvolle Pause ein. »Ist dir jemals ein einziges derartiges Geschöpf begegnet, das auch nur ansatzweise über die Intelligenz von uns Robotern verfügt hätte?«
»Nie«, gab Tuttle zu.
»Fleisch und Blut eignen sich eben nicht für Gedanken und Empfindungen auf hohem Niveau«, erklärte Steffan.
Sie schwiegen wieder.
Der Schnee holte den grauen Himmel dichter an die Erde heran.
Keiner der Roboter wollte seine Ängste eingestehen.
»Mich fasziniert vielerlei«, fing Tuttle nach einer Weile zu Curanovs Überraschung wieder zu spekulieren an. »Beispielsweise die Frage - woher stammt die Zentralagentur? Welche Ursprünge hatte sie?«
Steffan winkte geringschätzig ab. »Es hat immer eine Zentrale gegeben.«
»Das ist keine Antwort«, entgegnete Tuttle.
»Warum nicht?« widersprach Steffan. »Wir akzeptieren doch auch, daß es immer ein Universum, Sterne, Planeten und alles dazwischen gegeben hat.«
»Aber angenommen - nur spaßeshalber einmal angenommen -, daß es die Zentralagentur doch nicht immer gegeben hat? Sie korrigiert ihr Selbstverständnis entsprechend den neuesten Forschungsergebnissen, und alle fünfzig oder hundert Jahre werden riesige Datensammlungen in immer modernere Banken übertragen. Ist es da nicht möglich, daß die Zentrale bei den Umzügen gelegentlich etwas verliert, daß Tresore versehentlich beschädigt oder gar zerstört werden?«
»Ausgeschlossen!« sagte Steffan sofort. »Dafür sind die Sicherheitsvorkehrungen viel zu streng.«
Curanov, der über viele Pfuschereien der Zentrale während der letzten hundert Jahre Bescheid wußte, war sich nicht so sicher wie Steffan. Ihn faszinierte Tuttles Theorie.
»Wenn der Zentrale auf irgendeine Weise der größte Teil ihren frühen Datensammlungen abhanden gekommen ist«, beharrte Tuttle, »könnte zusammen mit unzähligen anderen Bits auch ihr ursprüngliches Wissen über die Menschen in Vergessenheit geraten sein.«
Steffan war empört. »Im Zug hast du noch gegen die Theorie vom Zweiten Bewußtsein gewettert - und jetzt glaubst du so was! Du bist wirklich spaßig, Tuttle. Dein Datenspeicher muß ein kunterbuntes Durcheinander von törichten Informationen, widersprüchlichen Ansichten und nutzlosen Theorien sein. Wenn du an die Existenz dieser sogenannten Menschen glaubst - glaubst du dann vielleicht auch alle Märchen, die über sie erzählt werden? Daß sie nur mit einer Waffe aus Holz getötet werden können? Daß sie nachts in dunklen Räumen schlafen - wie die Tiere schlafen? Und glaubst du vielleicht auch, daß man sie gar nicht endgültig töten kann, weil sie anderswo in einen neuen Körper schlüpfen?«
Mit diesem unerträglichen Aberglauben konfrontiert, gab Tuttle klein bei. Verlegen starrten seine bernsteinfarbenen Augen ins Schneechaos hinaus, während er murmelte: »Ich habe doch nur meiner Phantasie freien Lauf gelassen, damit die Zeit schneller vergeht.«
»Solche Phantasiegespinste sind dem Reifeprozeß des persönlichen Datenspeichers aber eher abträglich«, kommentierte Steffan triumphierend.
»Und du hast es offenbar sehr eilig, so reif zu werden, daß die Zentrale dich befördert«, entgegnete Tuttle.
»Selbstverständlich«, gab Steffan zu. »Schließlich werden uns nur zweihundert Jahre Lebenszeit zugemessen. Und was ist der Sinn des Lebens, wenn nicht die große Karriere?«
Kurze Zeit später zog Tuttle sich in seine Inaktivierungskoje in der Wand unter dem Metallregal zurück, vielleicht um weiter über seine merkwürdigen Theorien nachdenken zu können. Mit den Füßen voraus glitt er hinein, schloß die Schiebetür hinter seinem Kopf und überlies seine Kameraden ihren eigenen Gedanken.
Eine Viertelstunde später sagte Leeke: »Ich glaube, ich werde Tuttles Beispiel folgen. Ich brauche Zeit, um meine Reaktionen auf die Jagd von heute nachmittag zu überdenken.«
Curanov ahnte, daß das nur eine Ausrede war. Leeke war kein besonders geselliger Roboter, und er schien sich am wohlsten zu fühlen, wenn er nicht beachtet wurde und sich selbst überlassen blieb.
Allein mit Steffan, war Curanov in einer unangenehmen Situation. Auch er verspürte das Bedürfnis, in einer Inaktivierungskoje über alles nachzudenken, aber er wollte Steffans Gefühle nicht verletzen, wollte den Eindruck vermeiden, daß niemand etwas mit dem jungen Roboter zu tun haben wollte. Er selbst fand ihn recht sympathisch: Steffan war frisch, energiestrotzend und offenbar hochintelligent. Das einzige, was Curanov an seinem jungen Kameraden störte, war dessen Naivität sowie der undisziplinierte Drang, akzeptiert zu werden und etwas zu erreichen. Im Laufe der Zeit würde natürlich auch Steffan skeptischer und abgeklärter werden, und deshalb hatte er es nicht verdient, verletzt zu werden. Aber wie sollte Curanov sich zurückziehen, ohne den überempfindlichen jungen Roboter zu kränken?
Steffan löste das Problem, indem er von sich aus sagte, daß er ebenfalls seine Koje aufsuchen wolle, und das auch tat. Beruhigt begab sich Curanov nun zur vierten der insgesamt fünf Wandvertiefungen, legte sich hinein, schloß die Tür und spürte, wie alle Sinne dahinschwanden, bis er nur noch ein Geist war, der in der Dunkelheit über die vielfältigen Ideen in seinem persönlichen Datentresor nachdachte.
Im Nichts schwebend, beschäftigt Curanov sich mit dem Aberglauben, der plötzlich im Mittelpunkt dieses Abenteuers zu stehen scheint, und er ruft sich alles ins Gedächtnis, was er jemals über Menschen gehört und gelesen hat:
1.) Obwohl der Mensch aus Fleisch und Blut besteht, kann er denken und Wissen erwerben.
2.) Er schläft bei Nacht, wie die Tiere.
3.) Er ißt Fleisch, wie die Raubtiere.
4.) Er entleert seinen Darm.
5.) Er stirbt und verwest, er ist anfällig für Krankheit und Entartung.
6.) Er bringt seine Jungen auf erschreckend unpraktische Weise zur Welt, und trotzdem sind auch diese Jungen empfindungsfähig.
7.) Er tötet.
8.) Er kann einen Roboter überwältigen.
9.) Er verstümmelt Roboter, obwohl niemand außer anderen Menschen weiß, was er mit den Körperteilen macht.
10.) Er ist der krasse Gegensatz zum Roboter. Der Roboter repräsentiert die richtige Lebensweise, der Mensch die falsche.
11.) Der Mensch pirscht sich verstohlen an, und die Sinne des Roboters registrieren ein harmloses Tier, solange sie ihn nicht sehen; sobald sie ihn deutlich sehen, ist es oft schon zu spät.
12.) Er kann nur mit einer Holzwaffe dauerhaft getötet werden. Holz ist das Produkt einer organischen Lebensform, aber es ist beständig wie Metall. Dieses Mittelding zwischen Fleisch und Metall kann das menschliche Fleisch vernichten.
13.) Wenn ein Mensch nicht mit einer Holzwaffe getötet wird, sondern auf irgendeine andere Weise, wird er nur scheintot sein. In Wirklichkeit wird er, kaum daß er zu Füßen seines Gegners zusammenbricht, anderswo in einem neuen Körper wieder lebendig.
Obwohl diese Liste sich noch weiter fortsetzen ließe, gebietet Curanov seinen Gedanken energisch Einhalt, denn sie verstören ihn zutiefst. Tuttles Ideen können gar nichts anderes als Phantasiegespinste sein - reine Mutmaßungen, für die es keinerlei Beweise gibt. Denn wenn diese Menschenwesen tatsächlich existieren würden - wie könnte man dann noch an die Hauptmaxime der Zentralagentur glauben: daß das Universum in jeder Hinsicht völlig logisch und rational ist.
»Die Gewehre sind verschwunden!« berichtete Tuttle, als Curanov aus seiner Koje schlüpfte. »Alle Gewehre! Deshalb habe ich euch zurückgerufen.«
»Verschwunden?« Curanov starrte das Regal an, auf das sie ihre Waffen gelegt hatten. »Wie können sie verschwunden sein?«
»Leeke hat sie mitgenommen«, sagte Steffan. Er stand am Fenster, und auf seinen langen, bläulich schimmernden Armen bildeten sich durch Kondensation kalte Wassertropfen.
»Ist Leeke auch verschwunden?« fragte Curanov.
»Ja.«
Nach kurzem Überlegen sagte Curanov: »Aber wohin sollte er in diesem Sturm gehen? Und wozu sollte er alle Gewehre mitnehmen?«
»Ich bin sicher, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen«, erklärte Steffan im Brustton der Überzeugung. »Er muß einen guten Grund gehabt haben, und sobald er zurückkommt, kann er uns alles erzählen.«
»Falls er zurückkommt«, wandte Tuttle ein.
»Tuttle, das hört sich fast so an, als glaubtest du, daß er sich in Gefahr befinden könnte«, sagte Curanov.
»In Anbetracht dessen, was am Nachmittag passiert ist - ich meine die Fußspuren, die wir gesehen haben -, halte ich das für durchaus möglich.«
Steffan schnaubte höhnisch.
»Du mußt doch zugeben, daß hier etwas Merkwürdiges vorgeht!« fuhr Tuttle ihn an, bevor er sich wieder Curanov zuwandte. »Ich wünschte, wir hätten uns nicht den Eingriffen unterzogen, bevor wir hierhergekommen sind. Ich würde alles dafür geben, wieder mit meinen kompletten Sinnen ausgestattet zu sein.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich denke, daß wir Leeke suchen müssen.«
»Er kommt ganz von allein zurück«, widersprach Steffan. »Er kommt zurück, sobald er zurückkommen will.«
»Ich würde trotzdem für eine Suche plädieren«, beharrte Tuttle.
Curanov trat neben Steffan ans Fenster und starrte in das Schneetreiben hinaus. Der Boden war mit mindestens 35 cm Neuschnee bedeckt, die stolzen Bäume brachen unter der weißen Last fast zusammen, und es schneite nach wie vor so heftig, wie Curanov es auf seinen vielen Reisen noch nie erlebt hatte.
»Nun?« fragte Tuttle wieder.
»Ich stimme dir zu«, sagte Curanov. »Wir sollten nach ihm suchen, aber wir sollten dabei zusammenbleiben. Nachdem unser Wahrnehmungsvermögen geschwächt ist, könnte einer allein sich leicht verirren oder bei einem Sturz einen totalen Batteriekollaps erleiden, bevor die anderen ihn finden.«
»Du hast recht.« Tuttle wandte sich an Steffan. »Was ist mit dir? Kommst du mit?«
»Okay, okay, ich komme mit«, knurrte Steffan wütend.
Ihre Taschenlampen schnitten helle Wunden in die Dunkelheit, konnten den Vorhang aus windgepeitschtem Schnee aber nicht durchdringen. Nebeneinander umrundeten sie die Hütte, und dann weiteten sie die Suche kreisförmig aus. Sie kamen überein, das ganze offene Gelände abzusuchen, aber nicht in den Wald vorzudringen. Natürlich wollte keiner von ihnen -Steffan am allerwenigsten - zugeben, daß er sich nicht in den Wald traute, weil er Angst vor den Geschöpfen hatte, die zwischen den Bäumen lauern könnten. Sie brauchten sich auch gar nicht in den Wald zu begeben, denn sie fanden Leeke kaum zwanzig Meter von der Hütte entfernt. Er lag auf einer Seite im Schnee.
»Er ist umgebracht worden!« rief Steffan.
Das hätte er den anderen nicht zu sagen brauchen.
Leckes beide Beine fehlten.
»Wer könnte so etwas getan haben?« fragte Steffan.
Weder Tuttle noch Curanov antwortete darauf.
Leekes Kopf hing schlaff herab, weil mehrere Verbindungselemente seines ringförmigen Kabels durchtrennt worden waren. Seine Augen waren zerschmettert worden, und hinter den Höhlen kam der Mechanismus zum Vorschein.
Als Curanov sich bückte, konnte er sehen, daß jemand durch Leekes Augenröhren hindurch einen scharfen Gegenstand in die Datenspeicher des Roboters gerammt und die Mikrokassetten in blinder Wut zerstört hatte. Curanov konnte nur hoffen, daß der arme Leeke zu dieser Zeit schon tot gewesen war.
»Schrecklich!« sagte Steffan. Er wandte sich von dem gräßlichen Anblick ab und ging auf die Hütte zu, blieb aber nach wenigen Schritten stehen, weil ihm einfiel, daß es vernünftiger war, in der Nähe der beiden anderen Roboter zu bleiben. Ein mentaler Schauder überlief ihn.
»Was sollen wir jetzt mit Leeke machen?« fragte Tuttle.
»Wir lassen ihn hier liegen«, erwiderte Curanov.
»Aber dann verrostet er!«
»Er spürt ja nichts mehr.«
»Trotzdem ...«
»Wir sollten in unsere Unterkunft zurückkehren.« Curanov leuchtete die Schneelandschaft mit seiner Taschenlampe ab. »Wir dürfen uns nicht unnötig der Gefahr aussetzen.«
Dicht nebeneinander kehrten sie in die Hütte zurück.
Die ganze Zeit über mußte Curanov an Punkt neun seiner Liste denken: Er verstümmelt Roboter, obwohl niemand außer anderen Menschen weiß, was er mit den Körperteilen macht.
»Meiner Ansicht nach«, sagte Curanov, als sie wieder in der Hütte waren, »hat nicht Leeke die Gewehre mitgenommen. Jemand - oder etwas - ist hierhergekommen, um sie zu stehlen. Leeke muß seine Inaktivierungskoje genau in dem Moment verlassen haben, als die Diebe sich davonmachten. Und weil er keine Zeit verlieren wollte, nahm er ihre Verfolgung auf, ohne uns zu rufen.«
»Oder sie haben ihn gezwungen mitzukommen«, sagte Tuttle.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Curanov. »Hier in der Hütte, wo es Platz zum Manövrieren und Licht gibt, hätte Leeke sich wehren können. Ich glaube nicht, daß es hier jemandem gelungen wäre, ihn zu verletzen oder zum Mitkommen zu zwingen. Aber draußen im Sturm war er ihnen ausgeliefert.«
Der Wind brauste über das Spitzdach der Hütte hinweg und rüttelte an den Fenstern mit Metallrahmen.
Die drei Roboter standen regungslos da und lauschten angespannt, bis die Bö nachließ, so als würde der Lärm nicht vom Wind erzeugt, sondern von irgendeinem riesigen Tier, das mit seinen Tatzen am Dach kratzte und die ganze Hütte in Stücke reißen wollte.
»Als ich Leeke untersuchte«, fuhr Curanov fort, »habe ich festgestellt, daß er von einem heftigen Schlag gegen sein Ringkabel niedergestreckt wurde, direkt unterhalb des Kopfes
- und ein solcher Schlag kann nur ohne jede Vorwarnung von hinten ausgeführt werden. In einem so hell beleuchteten Raum wie diesem hätte sich niemand unbemerkt hinter Leeke schleichen können.«
Steffan wandte sich vom Fenster ab. »Glaubt ihr, daß Leeke schon tot war, als ...« Er rang um Fassung. »War er schon tot, als sie seine Beine amputierten?«
»Hoffen wir es«, sagte Curanov.
»Wer könnte so etwas getan haben?« fragte Steffan wieder.
»Ein Mensch«, antwortete Tuttle.
»Oder mehrere«, fügte Curanov hinzu.
»Nein!« widersprach Steffan, aber es hörte sich bei weitem nicht mehr so überzeugt an wie noch vor wenigen Stunden. »Was könnten sie denn mit seinen Beinen anfangen?«
»Niemand weiß, was sie damit machen«, sagte Curanov.
»Es hat fast den Anschein«, kommentierte Steffan, »als hätte Tuttle dich überzeugt. Glaubst du jetzt auch an diese Wesen?«
»Bis ich eine bessere Antwort auf die Frage finde, wer Leeke umgebracht hat, glaube ich sicherheitshalber lieber an die Existenz von Menschen«, erklärte Curanov gelassen.
Nach langem Schweigen ergriff er wieder das Wort. »Ich glaube, wir sollten uns früh am Morgen auf den Rückweg nach Walker’s Watch machen.«
»Man wird uns für unreif halten«, wandte Steffan ein, »wenn wir mit unglaublichen Geschichten über Menschen zurückkehren, die angeblich in der Dunkelheit um die Hütte herumschleichen. Ihr habt doch gehört, wie geringschätzig Janus sich über all jene geäußert hat, die in der Vergangenheit ähnliche Berichte erstatteten.«
»Wir haben aber den armen toten Leeke als Beweis«, sagte Tuttle.
»Oder wir sagen einfach, daß Leeke bei einem Unfall ums Leben gekommen ist«, sagte Curanov, »und daß wir zurückkommen, weil wir uns gelangweilt haben.«
»Du meinst, wir brauchen diese . diese Menschen gar nicht zu erwähnen?« fragte Steffan.
»Möglicherweise.«
»Das wäre wirklich die beste Lösung!« rief Steffan erleichtert. »Dann bekäme die Zentrale keine Berichte über unseren zeitweiligen Irrationalismus. Wir könnten viel Zeit in den Inaktivierungskojen verbringen, bis wir für Leekes Tod die richtige Erklärung finden. Wenn wir lang genug meditieren, werden wir zweifellos auf des Rätsels Lösung kommen. Und bis dann die nächste Überprüfung unserer Datenspeicher stattfindet, werden wir alle Spuren dieser unlogischen Reaktion beseitigt haben, unter der wir jetzt leiden.«
»Möglicherweise kennen wir aber schon jetzt den wahren Grund für Leekes Tod«, meinte Tuttle. »Schließlich haben wir die Fußspuren im Schnee und den verstümmelten Körper gesehen . Könnte es nicht sein, daß tatsächlich Menschen dahinterstecken?«
»Nein«, sagte Steffan. »Das ist abergläubischer Unsinn! Das ist irrational.«
»Im Morgengrauen machen wir uns auf den Weg nach Walker’s Watch, auch wenn es noch so stürmen sollte«, bestimmte Curanov.
Er hatte kaum ausgeredet, als das ferne Summen des Generators - ein eintöniges Hintergrundgeräusch, das etwas Beruhigendes an sich hatte - plötzlich abbrach. Die drei Roboter standen im Dunkeln.
Ihre Metallhaut war eiskalt und schneeverkrustet, als sie wenig später ihre Taschenlampen auf den kompakten Generator in einer Nische hinter der Hütte richteten. Der Deckel des Gehäuses war entfernt worden, so daß die komplizierte Innenanlage den Elementen ausgesetzt war.
»Jemand hat den Kollektor gestohlen«, stellte Curanov fest.
»Aber wer?« fragte Steffan.
Curanov richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden.
Die anderen taten es ihm nach.
Ihre eigenen Fußspuren überlagerten andere, die zwar ähnlich aussahen, aber von keinem Roboter stammten. Es waren die gleichen seltsamen Spuren, die sie am Spätnachmittag in der Nähe der Bäume und vor kurzem überall um Leekes Leiche herum gesehen hatten.
»Nein«, murmelte Steffan. »Nein, nein, nein!«
»Ich glaube, wir sollten uns sofort auf den Weg nach Walker’s Watch machen«, sagte Curanov. »Es wäre unklug, bis zum Morgen zu warten.« Er blickte den eisverkrusteten Tuttle an. »Was meinst du?«
»Ich bin deiner Meinung«, antwortete Tuttle. »Aber ich vermute, daß uns einiges bevorsteht, und ich wünschte, ich hätte alle meine Sinne beisammen.«
»Wir können uns immer noch sehr schnell bewegen«, sagte Curanov. »Und im Gegensatz zu den Wesen aus Fleisch und Blut brauchen wir uns nie auszuruhen. Dadurch sind wir im Vorteil, falls wir verfolgt werden sollten.«
»Ja . jedenfalls theoretisch.«
»Damit müssen wir uns zufriedengeben.«
Insgeheim dachte Curanov an einige Mythen über den Menschen: 7.) Er tötet. 8.) Er kann einen Roboter
überwältigen.
Im gespenstischen Schein der Taschenlampen legten sie in der Hütte ihre Schneeschuhe an, schnallten die Erste-HilfeWerkzeugkästen um und nahmen auch ihre Karten mit. Die Strahlen ihrer Lampen zerteilten die Dunkelheit, als sie dicht hintereinander ihre Unterkunft verließen.
Der Wind peitschte ihre breiten Rücken, und der Schnee hüllte sie in eisverkrustete Anzüge.
Sie durchquerten die Lichtung halb aufs Geratewohl, halb mit Hilfe der wenigen Anhaltspunkte, die ihre Lampen zu erfassen vermochten. Jeder wünschte insgeheim, er hätte wieder sein volles Sehvermögen und sein übliches Radar. Bald erreichten sie den Waldrand. Zwischen den Bäumen war der Weg zu erkennen, der hügelabwärts ins Tal und weiter nach Walker’s Watch führte. Sie blieben stehen, starrten in den dunklen Tunnel, dessen Wände aus hohen Kiefern bestanden, und trauten sich kaum weiterzugehen.
»Da sind so viele Schatten«, murmelte Turtle.
»Schatten können uns nichts anhaben«, entgegnete Curanov.
Seit sie sich auf der Hinreise im Zug kennengelernt hatten, wußte Curanov, daß er der Leiter dieser Gruppe war. Er hatte seine Führungseigenschaften bisher nur selten eingesetzt, doch jetzt blieb ihm gar keine andere Wahl als das Kommando zu übernehmen. Deshalb betrat er entschieden den dunklen Baumtunnel, ignorierte die Schatten und glitt auf seinen Schneeschuhen den verschneiten Hügel hinab.
Steffan folgte ihm widerwillig.
Tuttle bildete die Nachhut.
Auf halbem Wege ins Tal hinab wurde der Pfad immer schmaler. Die Bäume standen immer dichter beieinander, und ihre Äste hingen immer tiefer. Und hier, wo es besonders eng und dunkel war, wurden sie plötzlich angegriffen.
Etwas heulte triumphierend, so laut, daß seine irre Stimme sogar das Brausen des Windes übertönte.
Curanov wirbelte herum, nicht sicher, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war, und strahlte die Bäume mit seiner Taschenlampe an.
Weiter hinten schrie Tuttle auf.
Curanov und Steffan drehten sich um, und im Schein ihrer Lampen konnten sie den verzweifelt kämpfenden Roboter gut erkennen.
»Das kann einfach nicht wahr sein!« rief Steffan.
Tuttle wurde von einem zweibeinigen Wesen gnadenlos angegriffen, das sich ähnlich wie ein Roboter bewegte, obwohl es eindeutig aus Fleisch und Blut war. Es war in Pelze gehüllt, hatte Stiefel an den Füßen und schwenkte eine Metallaxt.
Mit der stumpfen Klinge zielte es nach Tuttles Ringkabel.
Tuttle hob einen Arm und konnte den mörderischen Schlag in letzter Sekunde abwehren, trug dabei aber ein schwer beschädigtes Ellbogengelenk davon.
Curanov wollte ihm zu Hilfe eilen, wurde nun aber selbst hinterhältig von einem zweiten dieser fleischigen Bestien attackiert. Der Schlag, der seinen Rücken mit voller Wucht traf, warf ihn auf die Knie.
Curanov rollte sich seitwärts ab, kam blitzschnell wieder auf die Beine und drehte sich nach seinem Angreifer um.
Ein fleischiges Gesicht starrte ihn aus etwa vier Meter Entfernung an, Dampfwolken vor Mund und Nase. Von einer pelzgesäumten Kapuze umrahmt, war dieses Gesicht eine groteske Parodie der Robotergesichter. Die Augen waren für Visualrezeptoren viel zu klein und leuchteten nicht. Das Gesicht war nicht hundertprozentig symmetrisch, die Proportionen stimmten nicht, und es war von der Kälte rotgefleckt und geschwollen. Es glänzte nicht einmal im Schein der Taschenlampe, und doch .
. und doch verfügte es offenbar über Intelligenz. Über eine bösartige - vielleicht sogar wahnsinnige - Intelligenz, gar kein Zweifel. Aber immerhin über Intelligenz.
Seltsamerweise überschüttete das Geschöpf Curanov mit einem Wortschwall. Es hatte eine tiefe Stimme; seine Sprache setzte sich aus vielen weichen Silben zusammen und klang ganz anders als die rasselnde monotone Robotersprache.
Plötzlich sprang die Bestie mit einem wilden Schrei vorwärts und holte mit einem Metallrohr zum Schlag gegen Curanovs Hals aus.
Der Roboter brachte sich mit einigen tänzelnden Schritten außer Reichweite der Waffe.
Der Dämon folgte ihm.
Curanov warf einen Blick zu seinen Kameraden hinüber und sah, das der erste Dämon den armen Tuttle schon fast in den Wald gedrängt hatte. Ein dritter hatte Steffan angegriffen, der sich seiner kaum erwehren konnte.
Curanovs Gegner stieß wieder einen Schrei aus, stürzte vor und rammte das Ende des Metallrohrs in Curanovs Brust.
Der Roboter fiel nach hinten.
Der Mensch kam mit drohend erhobener Waffe auf ihn zu.
Der Mensch kann denken, obwohl er aus Fleisch und Blut besteht ... er schläft wie die Tiere ... ißt Fleisch ... entleert seinen Darm . stirbt und verwest . bringt seine Jungen auf schrecklich unpraktische Weise zur Welt . er tötet . er tötet . er kann einen Roboter überwältigen . er verstummelt Roboter und stellt ungeheuerliche Dinge (was?) mit ihren Körperteilen an . er kann nur mit einer Holzwaffe dauerhaft getötet werden . wenn er auf irgendeine andere Weise getötet wird, stirbt er nicht wirklich, sondern wird anderswo in einem neuen Körper sofort wieder lebendig .
Während das Monster mit seinem Metallrohr zum Schlag ausholte, rollte Curanov wieder zur Seite, sprang auf und schlug nun seinerseits mit seiner langfingrigen Hand zu.
Das Gesicht des Menschen wurde aufgerissen und begann zu bluten. Erschrocken wich er zurück.
Curanovs Angst hatte sich in rasende Wut verwandelt. Er folgte dem Dämon und schlug immer wieder zu. Trotz seiner reduzierten Kräfte waren seine Arme zwei Dreschflegel, die den Körper des Menschen zertrümmerten und ihn vorübergehend töteten. Der Schnee war rot von seinem Blut.
Curanov stürzte sich nun auf die Bestie, die mit Steffan kämpfte. Er griff sie von hinten an und brach ihr mit einem gezielten Schlag seiner stählernen Hand das Genick.
Bis Curanov Tuttle erreichte und auch den dritten Dämon unschädlich machte, hatte Tuttle erhebliche Verletzungen erlitten: Ein Arm war total unbrauchbar, ebenso eine Hand, und auch das Ringkabel war beschädigt, zum Glück allerdings nicht vollständig durchtrennt. Alle drei Roboter würden überleben.
»Ich dachte schon, meine letzte Stunde hätte geschlagen«, sagte Tuttle.
Noch leicht benommen, murmelte Steffan: »Du hast alle drei getötet!«
»Andernfalls hätten sie uns getötet«, erwiderte Curanov ruhig. Von dem Aufruhr in seinem Innern brauchten die anderen nichts zu wissen.
Steffan sagte ängstlich: »Aber das Erste Gebot der Zentralagentur verbietet es doch, Leben zu vernichten .«
»Nicht ganz«, widersprach Curanov. »Es ist verboten, ein Leben zu vernichten, das nicht wiederhergestellt werden kann. Hörst du - das nicht wiederhergestellt werden kann!«
»Du meinst, sie werden . wieder lebendig werden?« Steffan starrte die übel zugerichteten Leichen ungläubig an.
»Du hast jetzt Menschen gesehen«, sagte Curanov. »Glaubst du nun den Mythen, oder spottest du immer noch darüber?«
»Wie könnte ich das?«
»Wenn du glaubst, daß diese Bestien existieren, solltest du auch glauben, was über sie erzählt wird.« Er rezitierte aus seinem Datenschatz: »Wenn der Mensch nicht mit einer Holzwaffe getötet wird, sondern auf irgendeine andere Weise, wird er nur scheintot sein. In Wirklichkeit wird er, kaum daß er zu Füßen seines Gegners zusammenbricht, anderswo in einem neuen Körper wieder lebendig.«
Steffan nickte, viel zu mitgenommen, um darüber zu diskutieren.
»Und was jetzt?« fragte Tuttle.
»Jetzt setzen wir unseren Weg nach Walker’s Watch fort«, erwiderte Curanov.
»Und berichten dort, was passiert ist?«
»Nein.«
»Aber wir könnten sie doch hierherführen und ihnen diese Leichen zeigen«, wandte Tuttle ein.
»Schau dich einmal um«, sagte Curanov. »Andere Bestien beobachten uns aus dem Wald.«
Ein Dutzend haßerfüllter weißer Gesichter spähte hinter den Bäumen hervor.
»Ich glaube nicht, daß sie uns noch einmal angreifen werden«, fuhr Curanov fort. »Sie haben jetzt gesehen, wozu wir fähig sind, sobald wir begriffen haben, daß das Erste Gebot der Zentrale auf sie nicht zutrifft. Aber sie werden die Leichen bestimmt holen und begraben, sobald wir verschwunden sind.«
»Wir könnten eine der Leichen mitnehmen«, schlug Tuttle vor.
»Nein«, widersprach Curanov. »Deine beiden Hände sind unbrauchbar, und Steffan hat seinen rechten Arm nicht unter Kontrolle. Ich allein kann eine dieser Leichen unmöglich die ganze weite Strecke bis Walker’s Watch tragen - nicht mit reduzierten Kräften.«
»Dann werden wir also niemandem erzählen, was wir hier oben gesehen und erlebt haben?« sagte Tuttle.
»Wir können es uns einfach nicht leisten, wenn wir jemals befördert werden wollen«, erklärte Curanov. »Unsere einzige Hoffnung besteht darin, das wir während eines sehr langen Aufenthalts in einer Inaktivierungskoje dieses Erlebnis irgendwie verarbeiten.«
Sie hoben ihre Taschenlampen aus dem Schnee auf und setzten dicht hintereinander ihren Weg ins Tal hinab fort.
»Geht langsam und laßt euch keine Furcht anmerken«, wies Curanov seine Kameraden an.
Sie gingen langsam, waren insgeheim aber überzeugt, daß die unheimlichen Kreaturen, die hinter den Kiefern lauerten, ihre Furcht spüren mußten.
Die drei Roboter gingen die lange Nacht hindurch, und sie brauchten noch fast den ganzen nächsten Tag, bis sie Walker’s Watch erreichten. Irgendwann am Vormittag legte sich der Sturm. Die Landschaft war klar, weiß und friedlich. Wenn man diese welligen Schneefelder betrachtete, konnte man eigentlich sicher sein, daß das Universum rational war. Doch Curanov wurde von einer eisigen Erkenntnis gepeinigt: Nachdem er nun an Gespenster und andere irdische Wesen wie etwa Menschen glauben mußte, würde er nie wieder das Konzept eines rationalen Universums akzeptieren können.
Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt