Kätzchen

Das kühle grüne Wasser des Baches plätscherte leise und strudelte um die glatten braunen Steine. Die Trauerweiden am Ufer spiegelten sich darin. Marnie saß im Gras, warf Steine in ein tiefes Wasserloch und beobachtete die Wellen, die sich kreisförmig ausbreiteten und an den schlammigen Ufern leckten. Sie dachte an die Kätzchen. An die Kätzchen dieses Jahres, nicht an die des Vorjahres. Letztes Jahr hatten ihre Eltern ihr erklärt, die Kätzchen seien in den Himmel gekommen. Pinkies ganzer Wurf war am dritten Tag nach der Geburt verschwunden.

»Gott hat sie in den Himmel geholt, damit sie bei Ihm leben können«, hatte Marnies Vater gesagt.

Es war nicht so, daß sie die Worte ihres Vaters angezweifelt hätte. Er war schließlich ein frommer Mann. Er unterrichtete an der Sonntagsschule und bekleidete ein wichtiges Amt in der Kirche: Er zählte die Kollekte und trug die Summe in ein kleines rotes Buch ein. Und am Sonntag der Laien wurde unweigerlich er ausgewählt, um die Predigt zu halten. Jeden Abend las er seiner Familie einen Bibelabschnitt vor. Gestern abend war Marnie zu spät gekommen und hatte dafür eine Tracht Prügel bezogen. »Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie«, sagte ihr Vater immer. Nein, sie zweifelte im Grunde nicht an den Worten ihres Vaters, denn wenn überhaupt jemand über Gott und kleine Kätzchen Bescheid wissen konnte, so mußte es ihr Vater sein.

Trotzdem wunderte sie sich. Warum mußte Gott, wenn es doch Hunderttausende kleiner Kätzchen auf der Welt gab, ausgerechnet ihre vier - alle vier - zu sich nehmen? War Gott egoistisch?

Zum erstenmal seit langer Zeit hatte sie jetzt wieder an jene Kätzchen gedacht. In den letzten Monaten war so viel geschehen, was ihr geholfen hatte, sie zu vergessen. Sie war in die Schule gekommen und hatte es sehr aufregend gefunden, als vor dem ersten Schultag Hefte, Bücher und Bleistifte gekauft wurden. Auch die ersten Wochen, in denen sie die Bekanntschaft von Herrn Alphabet und Herrn Zahl machte, waren interessant gewesen. Als die Schule sie dann zu langweilen begann, rückte mit polierten Schlittenkufen und glitzerndem Eis Weihnachten heran: Einkäufe, grüne, gelbe, rote und blaue Lichter, der Weihnachtsmann an der Ecke, der beim Gehen stolperte, die mit Kerzen hell beleuchtete Kirche am Heiligen Abend, als sie so dringend auf die Toilette mußte und ihr Vater sie zwang, bis nach dem Gottesdienst zu warten. Und als es im März wieder eintönig zu werden drohte, hatte ihre Mutter die Zwillinge zur Welt gebracht. Marnie wunderte sich, wie klein sie waren und wie langsam sie in den folgenden Wochen wuchsen.

Jetzt war es wieder Juni. Die Zwillinge waren drei Monate alt und nahmen endlich an Größe und Gewicht zu. Die Schulferien hatten begonnen, Weihnachten war noch eine Ewigkeit entfernt, und alles war wieder ziemlich langweilig. Als sie nun gehört hatte, wie ihr Vater ihrer Mutter erzählte, daß Pinkie bald wieder Junge bekommen würde, hatte sie diese Neuigkeit begierig aufgegriffen und in der Küche aufgeregt alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, Lappen und Watte für die Geburt zurechtgelegt und eine besonders hübsche Schachtel als Heim für die Kätzchen ausgesucht.

Pinkie hatte ihre Jungen jedoch nachts in einer dunklen Ecke der großen Scheune zur Welt gebracht, so daß die sterilisierten Lappen und die Watte überflüssig waren. Aber die Schachtel wurde von der Katzenfamilie als Wohnung akzeptiert. Es waren diesmal sechs Kätzchen, alle grau mit schwarzen Flecken, die so aussahen, als hätte jemand Tinte verschüttet.

Marnie liebte die Kätzchen, und sie machte sich große Sorgen um sie. Was, wenn Gott wie letztes Jahr zuschaute?

»Was machst du da, Marnie?«

Sie wußte genau, wer hinter ihr stand, aber aus Ehrerbietung drehte sie sich trotzdem um. Ihr Vater blickte auf sie herab. Die Ärmel seines verblichenen blauen Overalls wiesen Schweißflecken auf, und sein Kinn und der Bart an seiner linken Wange waren schmutzverkrustet.

»Ich werfe Steine«, antwortete sie ruhig.

»Nach den Fischen?«

»O nein, Vater, nur so.«

»Wissen wir noch, wer gesteinigt wurde?« fragte er mit einem herablassenden Lächeln.

»Der heilige Stephanus«, antwortete Marnie.

»Sehr gut.« Das Lächeln verschwand. »Das Abendessen ist fertig.«

Marnie saß stocksteif in dem alten braunen Lehnstuhl und blickte ihren Vater aufmerksam an, der aus der alten Familienbibel vorlas, die einen schwarzen Ledereinband hatte und deren Seiten speckig und teilweise sogar eingerissen waren. Ihre Mutter saß neben ihrem Vater auf der dunkelblauen Kordcouch, die Hände auf dem Schoß gefaltet, ein Ist-es-nicht-wundervoll-was-Gott-uns-geschenkt-hat-Lächeln auf dem ungeschminkten, aber hübschen Gesicht.

»Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich.« Ihr Vater schlug das Buch zu; das Geräusch hing in der schalen Luft und schien einen schweren Vorhang des Schweigens zu bilden. Minutenlang sagte niemand etwas. Dann: »Welches Kapitel aus welchem Buch haben wir gerade gelesen, Marnie?«

»Den heiligen Evangelisten Markus, Kapitel zehn«, antwortete sie pflichtgemäß.

»Gut«, sagte er. An seine Frau gewandt, die jetzt eine Wir-haben-getan-was-eine-christliche-Familie-tun-sollte-Miene aufgesetzt hatte, fügte er hinzu: »Mary, wie wär’s mit Kaffee für uns und einem Glas Milch für Marnie?«

»Wird gemacht.« Ihre Mutter eilte in die Küche.

Ihr Vater blieb sitzen, öffnete das alte heilige Buch, strich mit den Fingern über die Risse in den vergilbten Blättern und betrachtete angewidert die blassen Flecken auf der ersten Seite, wo irgendein unachtsamer Großonkel vor einer Million Jahren Wein verschüttet hatte.

»Vater?« sagte Marnie zögernd.

Er schaute von der Bibel auf, ohne zu lächeln, aber auch ohne die Stirn zu runzeln.

»Vater, was ist mit den Kätzchen?«

»Was soll mit ihnen sein?« fragte er zurück.

»Wird Gott sie dieses Jahr wieder zu sich nehmen?«

Das halbe Lächeln, das sein Gesicht flüchtig erhellt hatte, schien in der dicken Luft des Wohnzimmers zu verdampfen. »Vielleicht«, war alles, was er sagte.

»Das darf Er nicht!« rief sie, den Tränen nahe.

»Willst du Gott vorschreiben, was Er tun darf und was nicht, junges Fräulein?«

»Nein, Vater.«

»Gott kann tun, was immer Er will.«

»Ja, Vater.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, so als wollte sie sich in dem abgewetzten Polster verkriechen. »Aber warum sollte Er wieder meine Kätzchen haben wollen? Warum immer die meinen?«

»Ich habe jetzt genug davon, Marnie! Halt den Mund!«

»Aber warum ausgerechnet meine Kätzchen?« beharrte sie.

Er sprang plötzlich auf und schlug ihr heftig ins Gesicht. Ein dünner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel über ihr Kinn. Sie wischte das Blut mit der Hand ab.

»Du darfst Gottes Motive nicht in Frage stellen!« schrie ihr Vater. »Du bist noch viel zu jung, um Zweifel zu äußern.«

Speichel schimmerte auf seinen Lippen. Er packte sie am Arm und riß sie hoch. »Und jetzt gehst du sofort ins Bett!«

Sie widersprach nicht, wischte sich nur wieder mit der Hand das Blut vom Kinn. Langsam ging sie die Treppe hinauf und ließ ihre Hand über das polierte Holzgeländer gleiten.

»Hier ist die Milch«, hörte sie ihre Mutter unten sagen.

»Die brauchen wir nicht«, erwiderte ihr Vater barsch.

Marnie lag im Halbdunkel in ihrem Zimmer - der Vollmond schien durchs Fenster, und sein gelb-orange-farbenes Licht spiegelte sich in den religiösen Bildern an einer Wand. Im Elternschlafzimmer wechselte ihre Mutter die Windeln der Zwillinge und redete zärtlich auf sie ein. »Gottes kleine Engel«, hörte Marnie ihre Mutter gurren. Ihr Vater kitzelte die Zwillinge, und die »Engel« lachten - gurgelnde Laute, die aus den dicken Hälsen hervorkamen.

Ihre Eltern kamen nicht, um ihr gute Nacht zu sagen. Das war ein Teil ihrer Strafe.

Marnie saß in der Scheune und streichelte eines der grauen Kätzchen, anstatt eine Besorgung zu erledigen, die ihre Mutter ihr vor zehn Minuten aufgetragen hatte. Der köstliche Duft von trockenem goldfarbenem Heu lag in der Luft. Stroh bedeckte den Boden und knisterte unter den Füßen. Am anderen Ende des Gebäudes muhten die beiden Kühe, die sich die Beine am Stacheldraht auf der Weide verletzt hatten und jetzt im Stall gepflegt wurden. Das Kätzchen maunzte und strampelte mit den winzigen Pfötchen dicht unter Marnies Kinn herum.

»Wo ist Marnie?« hörte sie die Stimme ihres Vaters irgendwo auf dem Hof zwischen Haus und Scheune.

Sie wollte gerade antworten, als ihre Mutter aus dem Haus rief: »Ich habe sie zu Helen Brown geschickt, wegen eines Kochrezepts. Sie kann frühestens in zwanzig Minuten zurück sein.«

»Da habe ich ja reichlich Zeit.« Die schweren Stiefel ihres Vaters knirschten auf dem Schotterweg, während er sich mit militärisch gleichmäßigen Schritten der Scheune näherte.

Marnie schwante nichts Gutes. Gleich würde etwas geschehen, das sie nicht sehen sollte. Rasch legte sie das Kätzchen in die schöne rot-goldene Schachtel zurück und versteckte sich hinter einem Heuballen.

Ihr Vater betrat die Scheune, hielt einen Eimer unter den Wasserhahn, ließ ihn vollaufen und stellte ihn dicht vor der Schachtel mit den Kätzchen ab. Pinkie fauchte und machte einen Buckel. Er packte sie und sperrte sie in eine leere Haferkiste. Die angsterfüllten Schreie der Katze wurden durch das Echo grotesk verstärkt, so daß man fast glauben konnte, nicht auf einer amerikanischen Farm, sondern irgendwo in der afrikanischen Savanne zu sein. Marnie konnte ein hysterisches Lachen nur mit Mühe unterdrücken.

Ihr Vater wandte sich wieder der Schachtel zu, hob eines der Kätzchen am Nackenfell hoch, streichelte es zweimal und drückte das Köpfchen dann plötzlich unter Wasser! Schillernde Tropfen flogen aus dem Eimer empor, während der Winzling sich verzweifelt wehrte. Marlies Vater schnitt eine Grimasse und preßte den ganzen Körper tief ins Wasser. Kurze Zeit später strampelte das Kätzchen nicht mehr. Marnie bemerkte erst jetzt, daß sie ihre Finger so fest in den Zementboden gekrallt hatte, als sollte auch sie ertränkt werden.

Warum? Warum-warum-warum?

Ihr Vater zog den schlaffen kleinen Körper aus dem Eimer heraus. Marnie wußte nicht, ob das blutig-rötliche Etwas, das aus dem Mäulchen hervorhing, nur die Zunge war, oder ob das kleine Geschöpf in einem letzten verzweifelten Versuch, dem schrecklichen Tod des Ertrinkens zu entgehen, seine Eingeweide ins Wasser ausgespien hatte.

Bald waren alle sechs Kätzchen tot. Sechs leblose Fellbündel landeten in einem groben Leinwandsack, der fest verschnürt wurde. Marnies Vater befreite Pinkie aus der Haferkiste. Kläglich miauend folgte die zitternde Katze ihm aus der Scheune hinaus, doch als er sich nach ihr umdrehte, fauchte sie ihn wütend an.

Marnie lag lange regungslos da und versuchte verzweifelt, diese gräßliche Hinrichtung zu verstehen. Hatte Gott ihren Vater geschickt? War es Gott, der ihren Vater beauftragte, die Kätzchen umzubringen, sie ihr und Pinkie zu rauben? Wenn dem wirklich so war, so konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals wieder vor dem weiß-goldenen Altar zu stehen und die Kommunion zu empfangen. Als sie endlich aufstand und ins Haus ging, tropfte Blut von ihren Fingern, Blut und Zement.

»Hast du das Rezept bekommen?« fragte ihre Mutter, als Marnie die Küchentür hinter sich zuschlug.

»Mrs. Brown konnte es nicht finden. Sie bringt es morgen vorbei.« Marnie wunderte sich selbst, wie gut sie plötzlich lügen konnte. »Hat Gott mir meine Kätzchen weggenommen?« brach es aus ihr heraus.

Ihre Mutter sah bestürzt aus und brachte nur ein »Ja« hervor.

»Ich werde es Gott heimzahlen! Er darf so etwas nicht tun! Das darf Er nicht!« Sie rannte aus der Küche.

Ihre Mutter blickte ihr nach, versuchte aber nicht, sie aufzuhalten.

Marnie Caufield ging langsam die Treppe hinauf, eine Hand auf dem polierten Holzgeländer.

Als Walter Caufield mittags vom Feld kam, hörte er im Haus ein lautes Poltern, gefolgt von klirrendem Glas und Porzellan. Er stürzte ins Wohnzimmer. Seine Frau lag am Fuß der Treppe. Ein Glastisch war umgestürzt, und Porzellanfiguren lagen zerschmettert auf dem Boden.

»Mary! Mary! Bist du verletzt?« schrie er erschrocken, während er neben ihr niederkniete.

Sie blickte zu ihm empor, aber ihre verschleierten Augen nahmen ihn kaum wahr. »Walt! Mein Gott, Walt ... unsere kleinen Engel! In der Badewanne ... unsere kleinen Engel!«

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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