Unten in der Dunkelheit

Dunkelheit wohnt in den Besten von uns. In den Schlimmsten von uns wohnt die Dunkelheit nicht nur, dort regiert sie.

Ich habe der Dunkelheit wohl ab und an Wohnstatt gegeben, ihr aber freilich nie ein Königreich angeboten. Das jedenfalls glaube ich. Ich betrachte mich als grundsätzlich guten Menschen: ein harter Arbeiter, liebender und treuer Ehemann, strenger, aber gerechter Vater.

Aber wenn ich den Keller noch einmal benütze, kann ich nicht mehr so tun, als könnte ich mein Potential des Bösen unterdrücken. Wenn ich den Keller noch einmal benütze, werde ich in einer ewigen moralischen Sonnenfinsternis existieren und hernach nie wieder im Licht wandeln.

Aber die Versuchung ist groß.

Ich entdeckte die Kellertür erstmals zwei Stunden nachdem wir die letzten Verträge unterschrieben, der Maklerfirma den Scheck für das Haus übergeben und die Schlüssel bekommen hatten. Sie war in der Küche, in der Ecke hinter dem Kühlschrank: eine Furniertür, wie alle anderen im Haus nachgedunkelt, mit einer Klinke anstelle des üblichen Knaufs. Ich betrachtete sie ungläubig, denn ich war sicher, daß die Tür vorher nicht dort gewesen war.

Anfangs dachte ich, ich hätte eine Vorratskammer entdeckt. Als ich die Tür aufmachte, sah ich zu meiner Verblüffung Stufen, die durch zunehmende Schatten in völlige Schwärze hinabführten. Ein Keller ohne Fenster.

In Südkalifornien sind fast sämtliche Häuser - von den billigen Reihenhäusern bis zu denen von Multimillionären -auf Betonfundamenten erbaut. Sie haben keine Keller. Das ist eine zweckdienliche Bauweise. Das Land ist weitgehend sandig, mit wenig Felsgestein nahe der Oberfläche. Und in einem Land, das für Erdbeben und Erdrutsche bekannt ist, wäre ein Keller aus Hohlblocksteinen eine Schwachstelle der Konstruktion, in die sämtliche Zimmer darüber abstürzen könnten, sollten die Riesen in der Erde plötzlich erwachen und sich strecken.

Unser neues Heim war weder Hütte noch Villa, aber es hatte einen Keller. Das hatte der Makler nicht erwähnt. Und bis jetzt war es keinem aufgefallen.

Als ich die Stufen hinuntersah, war ich zuerst neugierig, dann nervös.

Gleich hinter der Tür befand sich ein Lichtschalter. Ich drückte ihn hoch, runter, wieder hoch. Kein Licht ging unten an.

Ich ließ die Tür offen und machte mich auf die Suche nach Carmen. Sie war im Elternschlafzimmer, hatte die Arme um sich geschlungen, grinste und bewunderte die handgefertigten, smaragdgrünen Keramikfliesen und die Waschbecken von Sherle Wagner mit ihren vergoldeten Armaturen.

»O Jess, ist es nicht herrlich? Ist es nicht toll? Als kleines Mädchen hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich einmal in so einem Haus leben würde. Ich hätte bestenfalls auf einen dieser netten Bungalows aus den vierziger Jahren gehofft. Aber dies ist ein Palast, und ich bin nicht sicher, ob ich mich wie eine Königin benehmen kann.«

»Es ist kein Palast«, sagte ich und legte einen Arm um sie. »Man muß Rockefeller sein, wenn man sich in Orange County einen Palast kaufen will. Und außerdem hast du schon immer Stil und Benehmen einer Königin gehabt.«

Sie löste die Arme von ihrem Körper und schlang sie um mich. »Wir haben es weit gebracht, was?«

»Und wir werden es noch weiter bringen, Kindchen.«

»Weißt du, ich habe ein bißchen Angst.«

»Sei nicht albern.«

»Jess, Liebster, ich bin nur Köchin, Tellerwäscherin, Topfschrubberin, eine Generation von einer Wellpapphütte am Stadtrand von Mexico City entfernt. Wir haben dafür gearbeitet, sicher, und zwar viele Jahre . aber jetzt, wo wir hier sind, scheint es über Nacht passiert zu sein.«

»Glaub mir, Kindchen - du würdest in jeder Versammlung von Damen der Gesellschaft in Newport Beach eine gute Figur machen. Du hast von Natur aus Klasse.«

Ich dachte: O Gott, ich liebe sie so sehr. Siebzehn Jahre verheiratet, und für mich ist sie immer noch ein Mädchen, immer noch frisch und voller Überraschungen und reizend.

»He«, sagte ich, »fast hätte ich es vergessen. Weißt du, daß wir einen Keller haben?«

Sie blinzelte mich an.

»Es stimmt«, sagte ich.

Sie lächelte und wartete immer noch auf die Pointe, als sie sagte: »Ach ja? Und was ist da unten? Der königliche Kerker mit sämtlichen Kronjuwelen? Ein Verlies?«

»Sieh selbst«, sagte ich.

Sie folgte mir in die Küche.

Die Tür war nicht mehr da.

Ich betrachtete die kahle Wand und war einen Augenblick starr wie gefroren.

»Und?« fragte sie. »Wo ist der Witz?«

Ich taute gerade soweit auf, daß ich sagen konnte: »Kein Witz. Da war ... eine Tür.«

Sie deutete auf den Umriß eines Küchenfensters, der von der einfallenden Sonne auf die Wand gezeichnet wurde. »Wahrscheinlich hast du das gesehen. Das Rechteck des Sonnenlichts, das durch das Fenster auf die Wand fällt. Es hat mehr oder weniger die Form einer Tür.«

»Nein. Nein . da war . « Ich schüttelte den Kopf, legte eine Hand auf den von der Sonne erwärmten Verputz und strich sanft die Umrisse nach, als würde sich der Türspalt dem Tastsinn eher offenbaren als dem Auge.

Carmen runzelte die Stirn. »Jess, was hast du denn?«

Ich sah sie an und stellte fest, was sie dachte. Dieses reizende Haus schien zu schön, um wahr zu sein, und sie war so abergläubisch, daß sie sich fragte, ob man sich lange an diesem großen Glück erfreuen konnte, ohne daß uns das Schicksal die Last einer Tragödie zuwarf, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ein überarbeiteter Mann, der unter Streß litt - oder womöglich einen kleinen Gehirntumor hatte - und anfing, Sachen zu sehen, die gar nicht da waren, und aufgeregt von nicht existierenden Kellern sprach . Das war genau die Art von schlimmem Ereignis, mit denen das Schicksal nur allzu häufig die Waagschalen wieder ins Gleichgewicht bringt.

»Du hast recht«, sagte ich. Ich zwang mich zu einem Lachen, aber es gelang mir, daß es sich natürlich anhörte. »Ich habe das erleuchtete Rechteck auf der Wand gesehen und für eine Tür gehalten. Ich habe nicht mal genau hingesehen. Bin gleich zu dir gelaufen. Hat mich dieses Haus verrückt wie einen Affen gemacht, oder was?«

Sie sah mich einen Moment ernst an, dann lächelte sie ebenfalls wie ich. »Verrückt wie einen Affen. Aber ... das bist du schon immer gewesen.«

»Stimmt das?«

»Mein Affe«, sagte sie.

Ich sagte: »Uuk, uuk«, und kratzte mich unter einem Arm.

Glücklicherweise hatte ich ihr nicht gesagt, daß ich die Tür aufgemacht hatte. Oder die Stufen nach unten gesehen hatte.

Das Haus in Laguna Beach hatte fünf große Zimmer, vier Bäder und ein gewaltiges Wohnzimmer mit offenem Kamin aus Stein. Darüber hinaus hatte es eine, wie sie sagten >Entertainer-Küche<, was selbstverständlich nicht bedeutete, daß Wayne, Newton oder Liberace dort zwischen Gastspielen in Las Vegas auftraten, sondern sich auf Qualität und Anzahl der Geräte bezog: doppelter Herd, zwei Mikrowellen, ein Heißluftherd für Brötchen und Backwaren, ein Kochzentrum Marke Jenn Air, zwei Geschirrspülmaschinen und noch einen SubZero-Kühlschrank, der groß genug für eine Kantinenküche gewesen wäre. Jede Menge große Fenster ließen die warme Sonne Kaliforniens herein und bildeten Rahmen für die üppige Landschaft dahinter - gelbe und korallenrote Bougainvilleen, weinrote Azaleen, Springkraut, Palmen, zwei eindrucksvolle indische Lorbeerbäume - sowie die angrenzenden Hügel. In der Ferne glitzerte das sonnenbeschienene Wasser des Pazifik faszinierend wie ein gewaltiger Schatz Silbermünzen.

Es war zwar keine Villa, aber zweifellos ein Haus, das sagte: >Die Familie Gonzalez hat Erfolg gehabt und sich ein schönes Heim geschaffen. < Meine Leute wären darauf wohl sehr stolz gewesen.

Maria und Ramon, meine Eltern, waren Einwanderer aus Mexiko gewesen, die sich in El Norte, dem gelobten Land, ein neues Leben aufgebaut hatten. Sie hatten mir, meinen Brüdern und meiner Schwester alles gegeben, was Arbeit und Opfer geben konnten, und wir hatten alle vier Stipendien der Universität erhalten. Heute war ein Bruder von mir Anwalt, der andere Arzt, und meine Schwester war Vorsitzende der englischen Fakultät der University of California in Los Angeles, UCLA.

Ich hatte mir eine Laufbahn im Gaststättengewerbe erkoren. Zusammen hatten Carmen und ich ein Restaurant eröffnet, für das ich die geschäftliche Erfahrung mitbrachte, sie die authentischen mexikanischen Rezepte, und wo wir beide zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche arbeiteten. Als unsere drei Kinder heranwuchsen, arbeiteten sie als Kellner bei uns. Es war ein Familienbetrieb, und es ging uns jedes Jahr besser, aber leicht war es nie. Amerika bietet keinen leichten Reichtum, lediglich Gelegenheiten. Wir ergriffen die Maschinerie der Gelegenheiten, schmierten sie mit Meeren von Schweiß, und als wir das Haus in Laguna Beach kauften, konnten wir es bar bezahlen. Wir gaben dem Haus im Scherz einen Namen: Cosu Sudor - Haus des Schweißes. Es war ein großes Haus. Und wunderschön. Es hatte alles. Sogar einen Keller mit einer Tür, die verschwand.

Der Vorbesitzer war Mr. Nguyen Quang Phu. Unsere Maklerin - eine stämmige, quirlige Frau in mittleren Jahren namens Nancy Keefer - sagte, daß Phu ein vietnamesischer Flüchtling war, einer der mutigen Bootsflüchtlinge, die Monate nach dem Fall von Saigon geflohen waren. Er gehörte zu den Glücklichen, die Stürme, Kanonenboote und Piraten überlebt hatten.

»Er kam in den Vereinigten Staaten mit nur dreitausend Dollar in Goldmünzen und der Entschlossenheit an, etwas aus sich zu machen«, sagte Nancy Keefer uns bei der ersten Hausbesichtigung. »Ein charmanter Mann, und ungeheuer erfolgreich. Wirklich sagenhaft. Er hat aus diesem bescheidenen Vorrat an Münzen einen Berg Besitztümer angehäuft, den Sie sich nicht vorstellen können. Und das alles in nur vierzehn Jahren! Sagenhafte Geschichte. Er hat sich ein neues Haus gebaut, vierhundert Quadratmeter Wohnfläche auf einem Grundstück von achtzig Ar in North Justin, sagenhaft, echt sagenhaft. Sie sollten es sich einmal ansehen, unbedingt.«

Carmen und ich machten ein Angebot für Phus altes Haus, das kaum halb so groß wie das war, welches er vor kurzem erbaut hatte, aber für uns war es dennoch ein Traum. Wir feilschten ein wenig, wurden uns aber schließlich handelseinig, und der Verkauf ging in nur zehn Tagen über die Bühne, weil wir bar bezahlten und keine Hypothek brauchten.

Die Überschreibung wurde abgewickelt, ohne daß Nguyen Quang Phu und ich einander von Angesicht zu Angesicht gegenüb erstanden. Das ist keine ungewöhnliche Situation, da es in Kalifornien, anders als in anderen Bundesstaaten, nicht erforderlich ist, daß sich Käufer, Verkäufer und deren Anwälte zu einer abschließenden Zeremonie gemeinsam in einem Raum einfinden.

Zu Nancy Keefers Gepflogenheiten gehörte es, einen oder zwei Tage nach Vertragsabschluß ein Treffen zwischen Käufer und Verkäufer im Haus zu vereinbaren. Unser neues Zuhause war zwar wunderschön und in erstklassigem Zustand, aber selbst die besten Häuser haben ihre Macken. Nancy fand es gut, wenn der Verkäufer den Käufer noch einmal herumführte und ihn darauf hinwies, welche Schranktüren gern aus den Führungsschienen rutschten und welche Fenster bei Regen nicht dicht waren. Sie vereinbarte, daß sich Phu am Mittwoch, dem 14. Mai mit mir im Haus traf.

Am Montag, den 12. Mai schlossen wir die Prozedur ab.

Das war der Nachmittag, an dem ich die Kellertür zum erstenmal sah, als ich durch das leere Haus schlenderte.

Dienstagmorgen kehrte ich allein in das Haus zurück. Ich sagte Carmen nicht, wohin ich wirklich ging. Sie glaubte, ich wäre im Büro von Horace Dalcoe und würde ihm wegen seines jüngsten Ausbeutungsplans zusetzen.

Dalcoe war Inhaber des kleinen Freiluft-Einkaufszentrums, in dem sich unser Restaurant befand, und er war ganz genau der Typ Mann, für den das Wort >Halsabschneider< geprägt worden war. Unser Mietvertrag, den wir unterschrieben hatten, als Carmen und ich noch ärmer und naiv waren, gab ihm das Recht, bei jeder geringsten Veränderung Einfluß zu nehmen, die wir auf dem Gelände machten. Als wir sechs Jahre nach der Eröffnung unser Restaurant für 300 000 Dollar renovieren wollten - eine Wertsteigerung seines Eigentums -, mußten wir Dalcoe daher zehntausend Dollar steuerfrei unter der Hand für sein Okay geben. Als ich den Mietvertrag der Schreibwarenhandlung nebenan aufkaufte, damit wir vergrößern konnten, beharrte Dalcoe auf einer stolzen Summe für seine Zustimmung. Er interessierte sich freilich nicht nur für Batzen, sondern auch für Heller; als ich eine neue, ansprechendere Eingangstür in das Restaurant einbauen ließ, verlangte Dalcoe lausige hundert Piepen unter der Hand, damit er dieser Kleinigkeit zustimmte.

Jetzt wollten wir unser altes Schild durch ein neues ersetzen und ich verhandelte mit Dalcoe über das Schmiergeld. Er hatte keine Ahnung, aber ich wußte inzwischen, daß ihm das Land, auf dem sein eigenes kleines Einkaufszentrum stand, gar nicht gehörte; er hatte vor zwanzig Jahren einen Pachtvertrag über neunundneunzig Jahre abgeschlossen und sich damit sicher gefühlt. Während ich um ein neues Schmiergeld mit ihm feilschte, verhandelte ich insgeheim über einen Kauf des Landes, wonach Dalcoe herausfinden würde, daß er mir zwar aufgrund meines Pachtvertrags das Messer auf die Brust setzen konnte, ich aber aufgrund seines Pachtvertrags ihm das Messer auch auf die Brust setzen konnte. Er hielt mich immer noch für einen dummen Mex, vielleicht zweite Generation, aber nichtsdestotrotz ein Mex; er dachte, ich hätte etwas Glück in der Restaurantbranche gehabt, Glück und mehr nicht, und schrieb mir keinerlei Intelligenz oder Tüchtigkeit zu. Es würde nicht gerade so sein, daß der kleine Fisch den großen fraß, aber ich hoffte doch, ein zufriedenstellendes Patt herbeizuführen, bei dem er wütend und ohnmächtig sein würde.

Diese Verwicklungen, die schon seit einiger Zeit andauerten, gaben mir eine glaubwürdige Ausrede für meine Abwesenheit am Dienstagmorgen. Ich sagte Carmen, ich würde mit Dalcoe in dessen Büro feilschen. In Wahrheit ging ich in unser neues Haus und hatte Schuldgefühle, weil ich sie belogen hatte.

Als ich die Küche betrat, war die Tür dort, wo ich sie tags zuvor gesehen hatte. Kein Rechteck aus Sonnenschein. Keine bloße Illusion. Eine echte Tür.

Ich drückte die Klinke nieder.

Dahinter führten Stufen in die Dunkelheit hinab.

»Was denn?« sagte ich. Meine Stimme hallte zu mir zurück, als wäre sie tausend Meilen entfernt von einer Wand abgeprallt.

Der Lichtschalter funktionierte immer noch nicht.

Ich hatte aber eine Taschenlampe mitgebracht. Ich schaltete sie ein.

Ich trat über die Schwelle. Der Treppenabsatz aus Holz knarrte; die Dielen waren alt, ungestrichen, rauh. Von grauen und gelben Flecken übersät, mit einem Netz haarfeiner Risse durchzogen, die verputzten Wände sahen aus, als wären sie viel älter als das Haus selbst. Der Keller gehörte eindeutig nicht zu diesem Gebäude, war kein integraler Bestandteil davon. Ich trat vom Absatz auf die erste Stufe.

Eine furchterregende Möglichkeit fiel mir ein. Was war, wenn ein Luftzug die Tür hinter mir zuschlug - die dann verschwand wie gestern und mich im Keller einsperrte?

Ich ging zurück und machte mich auf die Suche nach etwas, um die Tür festzustecken. Es befanden sich keine Möbel im Haus, aber in der Garage fand ich ein Brett, sechzig auf eins zwanzig, das ausreichend war.

Ich stellte mich erneut auf die oberste Stufe und leuchtete hinab, aber der Strahl reichte nicht so weit, wie er sollte. Ich konnte den Kellerboden nicht sehen. Die pechschwarze Finsternis unten war unnatürlich tief. Es handelte sich um eine Dunkelheit, die nicht nur das Fehlen von Licht war, sondern Substanz, Beschaffenheit und Masse zu haben schien, als wäre der Kellerraum ein Pool voll Öl, was er selbstverständlich nicht war. Die Dunkelheit absorbierte das Licht wie ein Schwamm; nur zwölf Stufen wurden von dem fahlen Strahl erhellt, bevor dieser in der Düsternis erlosch.

Ich ging zwei Stufen hinunter, und zwei weitere Stufen erschienen am Ende des Lichtkegels. Ich ging weitere vier hinab, und wieder tauchten unten vier auf.

Sechs Stufen hinter mir, eine unter meinen Füßen, und zwölf vor mir - bis jetzt neunzehn. Wie viele Stufen erwartete man in einem gewöhnlichen Keller? Zehn? Zwölf? Ganz sicher nicht so viele.

Rasch und leise ging ich weitere sechs Stufen hinunter. Als ich stehenblieb, waren zwölf Stufen vor mir beleuchtet. Trockene, uralte Dielen. Hier und da glitzerte ein rostfreier Nagelkopf. Dieselben fleckigen Wände.

Ich drehte mich nervös zur Tür um, die dreizehn Stufen über mir lag. Das Sonnenlicht in der Küche sah warm und einladend aus - und ferner, als es sein sollte.

Meine Hände hatten angefangen zu schwitzen. Ich nahm die Taschenlampe von einer Hand in die andere und wischte mir die Handflächen an den Hosen ab.

Ein vager Zitronengeruch hing in der Luft, und darunter, noch flüchtiger, das Aroma von Schimmel und Verwesung.

Ich ging eilig und lautstark noch einmal sechs Stufen hinunter, dann acht, noch einmal acht und wieder sechs: Jetzt stiegen einundvierzig hinter mir empor - und immer noch waren vor mir zwölf im Lichtstrahl.

Jede Stufe war etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch, was bedeutete, ich war schätzungsweise drei Stockwerke nach unten gegangen. Kein gewöhnlicher Keller hatte eine so lange Treppe. Ich sagte mir, daß es sich um einen Luftschutzraum handeln konnte, wußte aber, daß es nicht so war.

Bis jetzt dachte ich nicht daran, wieder umzukehren. Verdammt, dies war unser Haus, für das wir ein kleines Vermögen bar bezahlt hatten, und ein größeres Vermögen an Zeit und Schweiß, und wir konnten nicht mit so einem Geheimnis unter unseren Füßen darin leben, ohne es zu erforschen. Außerdem, als ich zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig war, fern der Heimat und in Feindeshand, hatte ich zwei Jahre so intensiven und konstanten Entsetzens durchgemacht, daß meine Angstschwelle höher war als die der meisten Menschen.

Hundert Stufen weiter blieb ich erneut stehen, weil ich mir ausrechnete, daß ich mittlerweile zehn Stockwerke unter der Erde sein mußte, und das war ein Meilenstein, der ein gewisses Maß Nachdenken erforderlich machte. Ich drehte mich um sah hoch und erblickte das Licht in der offenen Küchentür weit über mir ein opalisierendes Rechteck, das kaum ein Viertel so groß wie eine Briefmarke zu sein schien.

Ich sah nach unten und betrachtete die acht Holzstufen, die vor mir beleuchtet waren - acht, nicht die üblichen zwölf. Je tiefer ich gekommen war, desto wirkungsloser war die Taschenlampe geworden. Aber die Batterien wurden nicht schwach, so einfach oder erklärbar war das Problem nicht. Dort, wo er durch die Linse kam, war der Lichtstrahl so stark wie eh und je. Aber die Dunkelheit voraus war irgendwie dichter, gieriger, sie absorbierte das Licht auf kürzere Entfernung als weiter oben.

Die Luft roch immer noch vage nach Zitrone, aber der Schimmelgeruch war inzwischen fast genauso stark wie dieser angenehmere Duft.

Diese unterirdische Welt war unnatürlich still, abgesehen von meinen Schritten und meinem zunehmend keuchenden Atem. Aber als ich an diesem zehn Stockwerke tief gelegenen Punkt verweilte, bildete ich mir ein, ich würde unten etwas hören. Ich hielt den Atem an, blieb reglos stehen und lauschte. Ich glaubte, weit entfernt seltsame, verstohlene Laute zu hören

- Flüstern und ölig putschende Geräusche -, aber sicher war ich nicht. Sie waren schwach und kurzlebig. Ich konnte sie mir auch eingebildet haben.

Ich ging nochmals zehn Stufen hinunter und kam endlich auf einen Absatz, wo ich gegenüberliegende Torbögen in den Mauern der Treppe sah. Beide Öffnungen waren ohne Türen und schmucklos, hinter jeder offenbarte meine Taschenlampe einen kurzen Flur. Ich trat durch den Torbogen links von mir und folgte dem schmalen Flur etwa fünfzehn Schritte weit, bis dieser am Anfang einer weiteren Treppe aufhörte, die rechtwinklig zur Treppe, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, abwärts verlief.

Hier war der Verwesungsgeruch stärker. Er erinnerte mich an den durchdringenden Gestank verfaulender Vegetation.

Der Gestank war wie ein Spaten, der längst vergrabene Erinnerungen freilegt. Ich hatte genau diesen Geruch schon einmal wahrgenommen, und zwar an dem Ort, wo ich während meines zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten Lebensjahrs gefangengehalten worden war. Dort waren manchmal Mahlzeiten serviert worden, die größtenteils aus verfaultem Gemüse bestanden hatten - weitgehend Rüben, Süßkartoffeln und andere Knollen. Noch schlimmer, der Abfall, den wir nicht aßen, wurde in die Schwitzbox geworfen, ein Loch im Boden mit Blechdach, in dem aufsässige Gefangene mit Einzelhaft bestraft wurden. In diesem Loch war man gezwungen, in dreißig Zentimeter tiefem Schleim zu hocken, der so stark nach Fäulnis roch, daß man in von der Hitze erzeugten Halluzinationen manchmal glaubte, man wäre bereits tot und würde die unaufhaltsam fortschreitende Verwesung des eigenen leblosen Fleisches riechen.

»Was geht hier vor?« fragte ich, wartete, erhielt aber keine Antwort.

Ich kehrte zur Haupttreppe zurück und betrat den Flur zur Rechten. Am Ende dieses Korridors führte ebenfalls eine zweite Treppe rechtwinklig nach unten. Aus den unergründlichen Tiefen drang ein anderer übler Geruch herauf, den ich ebenfalls kannte: verfaulende Fischköpfe.

Nicht einfach nur verfaulender Fisch, sondern speziell Fischköpfe - wie sie die Wachen manchmal in unsere Suppe getan hatten. Dann standen sie grinsend da und sahen zu, wie wir gierig die Brühe schlürften. Wir würgten daran, waren aber normalerweise zu hungrig, um sie unter Protest auf den Boden zu schütten. Manchmal würgten wir verhungernd auch die ekelhaften Fischköpfe hinunter, was die Wachen am liebsten sahen. Sie fanden unsere Abscheu - besonders die vor uns selbst - stets besonders amüsant.

Ich ging hastig zur Haupttreppe zurück. Ich stand auf dem Absatz in zehn Stockwerken Tiefe, schlotterte unbeherrscht und versuchte, die unerwünschten Erinnerungen abzuschütteln.

Inzwischen war ich halb überzeugt, daß ich träumte oder tatsächlich einen Gehirntumor hatte, der Druck auf das umliegende Hirngewebe ausübte und der dadurch diese Halluzinationen erzeugte.

Ich ging weiter abwärts und stellte fest, daß die Reichweite meiner Taschenlampe Stufe für Stufe nachließ. Jetzt konnte ich nur sieben Stufen voraussehen ... sechs ... fünf ... vier ...

Plötzlich war die undurchdringliche Dunkelheit nur zwei Schritte vor mir, eine schwarze Masse, die in Erwartung meines letzten, endgültigen Schritts in ihre Umarmung förmlich zu pulsieren schien. Sie schien zu leben.

Und doch war dies nicht das Ende der Treppe, denn ich hörte tief unten wieder dieses Flüstern, ebenso das ölige Plitschen, das Gänsehaut auf meinen Armen erzeugte.

Ich streckte eine zittrige Hand aus. Sie verschwand in der Dunkelheit, die bitter kalt war.

Mein hämmerndes Herz suchte einen Ausweg aus dem Gefängnis meiner Rippen, mein Mund war plötzlich trocken und säuerlich. Ich stieß einen Schrei aus, der sich wie das schrille Kreischen eines Kindes anhörte, und da floh ich schließlich zurück in die Küche und ins Licht.

Am Abend begrüßte ich die Gäste im Restaurant und führte sie zu ihren Plätzen. Selbst nach all den Jahren verbrachte ich die meisten Abende am Empfangstisch, begrüßte Leute, spielte den Gastgeber. Normalerweise habe ich Spaß daran! Viele Kunden kommen seit einem Jahrzehnt zu uns, sind somit ehrwürdige Angehörige der Familie, alte Freunde. Aber an diesem Abend war ich nicht mit dem Herzen dabei, und mehrere Besucher fragten mich, ob ich krank wäre.

Tom Gatlin, mein Buchhalter, kam mit seiner Frau zum Essen vorbei. Er sagte: »Jess, um Gottes willen Sie sind ja ganz grau. Ihr Urlaub ist seit drei Jahren überfällig, mein Freund. Was hat es für einen Sinn, Geld zu horten, wenn man sich keine Zeit nimmt, es zu genießen.«

Glücklicherweise ist das Personal des Restaurants erstklassig. Neben Carmen, mir und den Kindern - Stacy, Heather und der junge Joe - haben wir zweiundzwanzig Angestellte, und jeder einzelne kennt seine Aufgabe und erledigt sie gewissenhaft. Ich war nicht in Bestform, aber es gab genügend andere, die in die Bresche springen konnten.

Stacy, Heather und Joe. Sehr amerikanische Namen. Komisch. Meine Mutter und mein Vater, Einwanderer, klammerten sich an die Welt, die sie zurückgelassen hatten, indem sie ihren Kindern ausnahmslos traditionelle mexikanische Namen gegeben hatten. Bei Carmens Eltern war es ebenso: Ihre Brüder hießen Juan und Jose, der Name ihrer Schwester ist Evalina. Mein Name lautete ursprünglich Jesus Gonzalez. Ich habe ihn vor Jahren in Jess ändern lassen, obwohl meinen Eltern das weh getan hat. Jesus ist ein gebräuchlicher Name in Mexiko. (Die Spanier sprechen ihn >Hayseuss< aus, aber die meisten Nordamerikaner wie den Namen des christlichen Erlösers. Und wenn man mit einem derart exotischen Namen gestraft ist, kann man unmöglich als einer von den Jungs oder als ernst zu nehmender Geschäftspartner betrachtet werden.) Es ist interessant, daß die Kinder von Einwanderern, Amerikaner der zweiten Generation wie Carmen und ich, ihren Kindern für gewöhnlich die populärsten amerikanischen Namen geben, als wollten sie verbergen, wie kurz die Zeitspanne war, seit unsere Vorfahren vom Schiff gegangen sind - oder, in diesem Fall, den Rio Grande überquert haben. Stacy, Heather, Joe.

So wie es keine eifrigeren Christen gibt als die erst kürzlich zum Glauben bekehrten, so gibt es auch keine geflissentlicheren Amerikaner als diejenigen, deren Anspruch auf Staatsbürgerschaft mit ihnen oder ihren Eltern beginnt. Wir wollen mit aller Verzweiflung Teil dieses großen, weiten, verrückten Landes sein. Anders als viele, deren Wurzeln Generationen zurückreichen, verstehen wir, was für ein Segen es ist, unter dem Sternenbanner zu leben. Wir wissen auch, daß für diesen Segen ein Preis bezahlt werden muß, und der ist manchmal hoch. Teilweise besteht er darin, daß wir alles zurücklassen müssen, was wir einst waren. Manchmal jedoch wird auch ein schmerzlicherer Preis gefordert, wie ich selbst nur zu gut weiß.

Ich habe in Vietnam gedient.

Ich war im Gefecht. Ich habe den Feind getötet.

Und ich war Kriegsgefangener.

Dort habe ich die Suppe mit den verfaulten Fischköpfen gegessen.

Das gehörte zum Preis, den ich bezahlen mußte.

Während ich jetzt an den unmöglichen Keller unter unserem neuen Haus dachte und mich an die Gerüche des Kriegsgefangenenlagers erinnerte, die aus der Dunkelheit am Ende dieser Treppe emporgedrungen waren, fragte ich mich allmählich, ob ich den Preis immer noch bezahlte. Ich war vor sechzehn Jahren nach Hause zurückgekehrt - abgemagert, die Hälfte meiner Zähne verfault. Ich war ausgehungert und gefoltert, aber nicht gebrochen worden. Ich hatte jahrelang Alpträume gehabt, aber keine psychiatrische Behandlung gebraucht. Ich hatte es überstanden, wie viele Jungs in den nordvietnamesischen Höllenlöchern. Schlimm verbogen, vernarbt, angeknackst - aber, verflucht, nicht gebrochen. Irgendwo hatte ich meinen Katholizismus verloren, aber das schien damals ein verschmerzbarer Verlust zu sein. Jahr für Jahr hatte ich die Erfahrung hinter mir gelassen. Teil des Preises. Teil dessen, was wir bezahlen, damit wir sein dürfen, wo wir sind. Vergessen. Aus. Vorbei. Und es schien, als hätte ich es überwunden. Bis jetzt. Der Keller konnte nicht echt sein, was bedeutete, ich mußte lebhafte Halluzinationen haben. Konnte es sein, daß das mit aller Macht unterdrückte emotionale Trauma von Gefangenschaft und Folter nach all den Jahren profunde Veränderungen in mir gewirkte, daß ich das Problem verdrängt hatte, anstatt mich damit auseinanderzusetzen, und es mich nun in den Wahnsinn trieb?

Ich fragte mich, wenn das der Fall war, was meinen geistigen Zusammenbruch so plötzlich ausgelöst hatte. Lag es daran, daß wir das Haus von einem vietnamesischen Flüchtling gekauft hatten? Das schien als Auslöser zu unbedeutend zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Nationalität des Vorbesitzers ausgereicht haben sollte, in meinem Kopf Drähte zu überkreuzen, das System kurzzuschließen und Relais durchschmoren zu lassen. Andererseits, wenn mein Frieden mit den Erinnerungen an Vietnam und meine Vernunft lediglich so stabil wie ein Kartenhaus waren, konnte mich der leiseste Hauch vernichten.

Verdammt, ich fühlte mich nicht wahnsinnig. Ich fühlte mich stabil ängstlich, aber völlig beherrscht. Die vernünftigste Erklärung für den Keller waren Halluzinationen. Aber ich war weitgehend überzeugt, daß die unmöglichen unterirdischen Treppen echt waren, daß der Bruch mit der Realität äußerlich und nicht innerlich war.

Um acht Uhr traf Horace Dalcoe mit einer siebenköpfigen Gruppe zum Essen ein, was mich fast von dem Keller ablenkte. Als unser Pächter glaubt er nicht, daß er in unserem Lokal einen Cent für das Essen bezahlen muß. Wenn wir ihn und seine Freunde nicht bedienen, würde er Mittel und Wege finden, uns das Leben schwer zu machen, daher fügen wir uns.

Er sagt nie Danke und findet normalerweise immer etwas, worüber er sich beschweren kann.

An diesem Dienstagabend beschwerte er sich über die Margeritas - nicht genügend Tequila, sagte er. Er machte ein Aufhebens wegen den Maisfladen - nicht knusprig genug, sagte er. Und er nörgelte an der Rinderbrühe herum - nicht genügend Fleischbällchen, sagte er.

Ich wollte dem Dreckskerl den Hals umdrehen. Statt dessen brachte ich Margeritas mit mehr Tequila - ausreichend, eine beängstigende Zahl Gehirnzellen pro Minute zu vernichten -und neue Maisfladen sowie eine Schüssel Fleischbällchen als Ergänzung zu der ohnehin schon überreichlich mit Fleisch bestückten Suppe.

Als ich in jener Nacht im Bett lag und an Dalcoe dachte, fragte ich mich, was passieren würde, wenn ich ihn in unser neues Haus einlud, ihn in den Keller stieß, die Tür verriegelte und eine Weile da unten schmoren ließ. Ich hatte das bizarre, aber unerschütterliche Gefühl, daß etwas tief unten in dem Keller lebte . etwas Gräßliches, das in der undurchdringlichen Dunkelheit, welche das Licht der Taschenlampe verschluckt hatte, nur wenige Schritte von mir entfernt gewesen war. Wenn etwas da unten war, würde es die Treppe heraufklettern und Dalcoe schnappen. Dann würde er uns keinen Ärger mehr machen.

In dieser Nacht schlief ich nicht gut.

Am Mittwochmorgen, dem 14. Mai, kehrte ich in das Haus zurück, um mit dem Vorbesitzer, Nguyen Quang Phu, meinen Rundgang zu machen. Ich kam eine Stunde früher, falls die Kellertür da sein sollte.

Sie war da.

Plötzlich dachte ich, ich sollte der Tür den Rücken zukehren, weggehen, sie gar nicht beachten. Ich spürte, ich konnte sie für immer verschwinden lassen, indem ich mich einfach weigerte, sie zu öffnen. Und ich wußte - ohne eine Ahnung zu haben, woher ich das wußte, daß mein Leib und meine Seele auf dem Spiel standen, wenn ich der Versuchung, diese unterirdischen Gefilde zu erforschen, nicht widerstehen konnte.

Ich stemmte sie mit dem Brett auf. Ich ging mit der Taschenlampe in die Dunkelheit hinab.

Mehr als zehn Stockwerke unter der Erde blieb ich wieder auf dem Absatz mit den gegenüberliegenden Torbögen stehen. Der Gestank von verfaultem Gemüse drang von der abzweigenden Treppe links herauf, der faulige Geruch verwesender Fischköpfe von rechts.

Ich zwang mich weiterzugehen und stellte fest, daß die eigentümlich greifbare Dunkelheit nicht so schnell dichter wurde wie gestern. Ich konnte tiefer hinuntergehen als würde mich die Dunkelheit heute besser kennen und in den intimeren Bereichen ihrer Domäne willkommen heißen.

Nach weiteren fünfzig oder sechzig Stufen kam ich wieder zu einem Absatz. Auch hier boten gegenüberliegende Torbögen Zugang zu beiden Seiten.

Links fand ich einen weiteren kurzen Flur, welcher zu einer weiteren Treppe führte, die in einer pulsierenden, wabernden, tückischen Schwärze verschwand, die für das Licht so undurchdringlich war wie eine Öllache. Der Strahl meiner Taschenlampe verblaßte nicht in dieser dichten Düsternis, sondern endete tatsächlich in einem Kreis reflektierten Lichts, als würde er eine Wand beleuchten, und die wirbelnde Schwärze glänzte schwach wie geschmolzener Teer. Es war etwas von großer Macht - und über die Maßen abstoßend. Und doch wußte ich, es war nicht bloß Öl oder eine andere Flüssigkeit, sondern vielmehr die Essenz einer jeglichen Dunkelheit; es war das sirupartige Destillat von einer Million Nächte, einer Milliarde Scharten. Dunkelheit ist ein Zustand, keine Substanz, und kann daher nicht destilliert werden. Und doch sah ich hier eben diesen unmöglichen Extrakt, uralt und pur: Konzentrat der Nacht, der unermeßlichen Schwärze des interstellaren Raums, verdickt, bis ein öliger Schleim entstanden war. Und es war böse.

Ich wich zurück und begab mich wieder zur Haupttreppe. Ich begutachtete die abzweigende Treppe im rechten Flur nicht, weil ich wußte, ich würde dasselbe bösartige Destillat dort unten vorfinden, das langsam wirbelte, kreiste.

Auf der Haupttreppe ging ich nur ein kleines Stück hinunter, bis ich auf dieselbe üble Präsenz stieß. Sie ragte wie eine Mauer vor mir auf. Ich stand zwei Schritte davon entfernt und zitterte unkontrolliert vor Angst.

Ich streckte den Arm aus.

Ich legte eine Hand auf die pulsierende Masse der Schwärze.

Sie war kalt.

Ich streckte die Hand etwas weiter aus. Die Hand verschwand bis zum Gelenk. Die Dunkelheit war so solide, so klar umrissen, daß mein Handgelenk wie der Stumpf eines Amputierten aussah; eine haarscharfe Linie kennzeichnete die Stelle, wo meine Hand in der pechartigen Masse verschwand.

Voll Panik riß ich sie zurück. Meine Hand war nicht amputiert. Sie war noch da und mit dem Ende meines Arms verbunden. Ich bewegte die Finger.

Ich sah von meinen Fingern auf in die gelatineartige Dunkelheit vor mir, und mit einemmal wußte ich, sie war sich meiner bewußt. Ich hatte sie als böse betrachtet, aber irgendwie nicht als bewußte Kreatur. Als ich ihr in das konturlose Antlitz starrte, spürte ich, wie sie mich in einem Keller willkommen hieß, den ich noch nicht einmal erreicht hatte, in den Kammern tief unten, die noch zahllose Stufen unter mir waren. Ich wurde eingeladen, die Dunkelheit zu umarmen, ganz über die Schwelle in die Finsternis zu treten, in der meine Hand verschwunden war, und einen Augenblick überkam mich das Verlangen, genau das zu tun, aus dem Licht zu treten hinab, hinab.

Dann dachte ich an Carmen. Und meine Töchter - Heather und Stacy. Meinen Sohn Joe. Alle Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Das brach den Bann augenblicklich. Die hypnotische Faszination der Dunkelheit verlor ihren Einfluß auf mich, ich drehte mich um und rannte zu der hellen Küche hinauf, so daß meine Schritte auf der schmalen Treppe hallten.

Sonne strömte durch die großen Fenster herein.

Ich zog das Brett aus dem Weg, schlug die Kellertür zu. Ich zwang sie im Geiste zu verschwinden, aber sie blieb da.

»Ich bin verrückt«, sagte ich laut. »Vollkommen verrückt.«

Aber ich wußte, daß ich normal war.

Die Welt war verrückt geworden, nicht ich.

Zwanzig Minuten später traf Mr. Nguyen Quang Phu planmäßig ein, um die Eigenheiten des Hauses zu erklären, das wir von ihm gekauft hatten. Ich empfing ihn an der Eingangstür, und in dem Augenblick, als ich ihn sah, wurde mir klar, warum die unmögliche Kellertür aufgetaucht war und welchem Zweck sie dienen sollte.

»Mr. Gonzalez?«

»Ja.«

»Ich bin Nguyen Quang Phu.«

Er war nicht nur Nguyen Quang Phu. Er war darüber hinaus der Foltermeister.

In Vietnam hatte er befohlen, daß ich auf eine Bank gefesselt wurde und man mir länger als eine Stunde die Fußsohlen mit einem Holzpflock schlug - bis jeder Hieb durch die Knochen meiner Beine und Hüften drang, durch den Rippenkasten, die Wirbelsäule entlang bis zu meinem Kopf, der sich anfühlte, als würde er explodieren. Er hatte mich an Händen und Füßen fesseln und gewaltsam in einen Tank tauchen lassen, der vom Urin anderer Gefangener verseucht war, die die Tortur vorher über sich ergehen lassen mußten; und wenn ich gerade dachte, ich könnte den Atem nicht mehr anhalten, meine Lungen würden brennen, wenn meine Ohren klingelten, wenn mein Herz pochte und jede Faser meines Wesens sich nach dem Tod sehnte, wurde ich an die Luft gezogen und durfte ein paar Atemzüge machen, bevor man mich erneut unter die Oberfläche tauchte. Er hatte befohlen, daß Drähte an meinen Genitalien befestigt und zahllose Stromstöße durchgejagt wurden. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie er einen Freund von mir zu Tode geprügelt hatte, und ich hatte auch gesehen, wie er einem anderen Freund von mir das rechte Auge mit einem Stilett ausstach, nur weil dieser den Soldaten verflucht hatte, der ihm wieder einmal eine Schüssel mit vom Rüsselkäfer befallenen Reis servierte.

Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an seiner Identität. Die Erinnerung an das Gesicht des Foltermeisters war für alle Zeiten in mein Gedächtnis eingebrannt, war mit der schlimmsten Hitze von allen ins Gewebe meines Gehirns selbst gesengt worden - mit Hass. Er war ungleich gnädiger gealtert als ich. Er sah nur zwei oder drei Jahre älter aus als bei unserer letzten Begegnung.

»Freut mich, Sie zu sehen«, sagte ich.

»Ebenso«, antwortete er, während ich ihn ins Haus führte.

Seine Stimme war so einprägsam wie sein Gesicht: sanft, leise, irgendwie kalt - die Stimme, die eine Schlange gehabt haben könnte, könnten Schlangen sprechen.

Wir schüttelten einander die Hände.

Er war einen Meter fünfundsiebzig groß, groß für einen Vietnamesen. Er hatte ein langes Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen, einer scharfgeschnittenen Nase, einem dünnen Mund und dem feinen Kiefer einer Frau. Seine Augen waren tiefliegend - und so seltsam, wie sie schon in Nam gewesen waren.

In jenem Gefangenenlager hatte ich seinen Namen gekannt. Vielleicht war er Nguyen Quang Phu gewesen. Oder vielleicht war das eine falsche Identität, die er angenommen hatte, als er um Asyl in den Vereinigten Staaten bat.

»Sie haben ein wunderbares Haus gekauft«, sagte er.

»Es gefällt uns sehr gut«, sagte ich.

»Ich war hier glücklich«, sagte er, lächelte, nickte, sah sich in dem leeren Wohnzimmer um. »Sehr glücklich.«

Warum hatte er Nam verlassen? Er war auf der Seite der Sieger gewesen. Nun, vielleicht waren er und seine Kumpane in Ungnade gefallen. Oder der Staat hatte ihm harte Farmarbeit oder Dienst in den Minen oder eine andere Aufgabe zugewiesen, die seine Gesundheit ruiniert und ihn vor seiner Zeit ins Grab gebracht hätte. Vielleicht hatte er beschlossen, mit einem winzigen Boot in See zu stechen, als der Staat ihm keine Position großer Macht und Autorität mehr zugebilligt hatte.

Für mich war der Grund seiner Emigration unwichtig. Es zählte nur, daß er hier war.

In dem Augenblick, als ich ihn sah und erkannte, wer er war, wußte ich, daß er dieses Haus nicht lebend verlassen würde. Ich würde nicht zulassen, daß er entkam.

»Viel gibt es nicht zu zeigen«, sagte er. »Im Bad des Elternschlafzimmers ist eine Schublade, die aus der Führungsschiene springt und repariert werden müßte. Und die Ziehtreppe zum Dachboden im Schrank hat manchmal ein kleines Problem, aber auch das sollte sich leicht aus der Welt schaffen lassen. Ich zeige es Ihnen.«

»Das wäre nett.«

Er erkannte mich nicht.

Ich vermutete, er hatte so viele Männer gefoltert, daß er sich nicht mehr an jedes einzelne Opfer seiner sadistischen Neigungen erinnern konnte. Sämtliche Gefangenen, die unter seinen Händen gestorben waren, waren wahrscheinlich zu einem einzigen Opfer ohne Gesicht verschmolzen. Dem Folterer lag nichts am Individuum, dem er einen Vorgeschmack der Hölle zuteil werden ließ; für Nguyen Quang Phu war jeder Mann auf der Folterbank wie der vorherige, bei dem nicht seine einzigartigen Fähigkeiten zählten, sondern seine Gabe zu schreien und zu bluten, sein Eifer, vor den Füßen seines Peinigers zu kriechen.

Während er mich durch das Haus führte, nannte er mir auch die Namen von zuverlässigen Klempnern und Elektrikern und Wartungsleuten für die Klimaanlage in der Nachbarschaft, sowie den des Künstlers, der die Buntglasfenster in einigen Zimmern entworfen hatte. »Wenn eines beschädigt wird, möchten Sie es sicher von dem Mann reparieren lassen, der es angefertigt hat.«

Ich werde nie verstehen, wie ich mich beherrschen konnte, ihn nicht mit bloßen Händen anzugreifen. Noch unglaublicher: Weder mein Gesicht noch meine Stimme verrieten meine innere Anspannung. Er hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte.

Als er mir in der Küche die ungewöhnliche Stellung des Einschaltknopfs des Müllzerkleinerers unter der Spüle gezeigt hatte, fragte ich ihn, ob es bei Regen Probleme mit Feuchtigkeit im Keller gab.

Er sah mich blinzelnd an. Seine sanfte, kalte Stimme klang ein wenig heller. »Keller? Oh, aber es gibt keinen Keller.«

Ich heuchelte Überraschung und sagte: »Aber gewiß doch. Die Tür ist ja gleich da drüben.«

Er betrachtete sie fassungslos.

Ich nahm die Taschenlampe von der Arbeitsfläche und machte die Tür auf.

Mit dem Einwand, diese Tür habe nicht existiert, solange er in dem Haus gewohnt hatte, ging der Foltermeister in einem Zustand höchster Verblüffung und Neugier an mir vorbei. Er ging durch die Tür auf den oberen Treppenabsatz.

»Der Lichtschalter funktioniert nicht«, sagte ich, drängte mich hinter ihn und hielt den Strahl der Taschenlampe auf die Stufen gerichtet. »Aber damit werden wir genug sehen.«

»Aber ... wo ... wie ... ?«

»Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Ihnen diese Kellertür nie aufgefallen ist?« sagte ich und zwang mir ein Lachen ab. »Kommen Sie. Wollen Sie mich verulken, oder was?«

Er schwebte wie schwerelos vor Erstaunen von einer Stufe zur nächsten hinunter.

Ich folgte ihm dichtauf.

Bald wußte er, daß etwas überhaupt nicht stimmte, denn die Stufen verliefen viel zu weit nach unten, ohne daß eine Kellertür in Sicht kam. Er blieb stehen, drehte sich um und sagte: »Das ist merkwürdig. Was geht hier vor. Um Himmels willen, was haben Sie .«

»Weiter«, sagte ich rauh. »Gehen Sie weiter runter, Sie Dreckskerl.«

Er versuchte, sich an mir vorbeizudrängen.

Ich stieß ihn rückwärts die Treppe hinunter. Er polterte schreiend bis zum ersten Absatz, der von den Torbögen flankiert wurde. Als ich bei ihm ankam, sah ich, daß er benommen war und starke Schmerzen litt. Er gab einen dünnen, wimmernden Laut von sich. Seine Unterlippe war aufgeplatzt; Blut rann ihm am Kinn herab. Er hatte sich die rechte Handfläche aufgeschürft. Ich glaube, ein Arm war gebrochen.

Er weinte vor Schmerzen, hielt sich den Arm, sah verwirrt und ängstlich zu mir auf.

Ich haßte mich für das, was ich tat.

Aber ich haßte ihn noch mehr.

»Im Lager«, sagte ich, »haben wir Sie >die Schlange< genannt. Ich kenne Sie. O ja, ich kenne Sie. Sie waren der Foltermeister.«

»O Gott«, sagte er. Er fragte weder, wovon ich redete, noch versuchte er, es zu leugnen. Ich wußte, wer er war, was er war, und er wußte, was aus ihm werden würde.

»Diese Augen«, sagte ich mittlerweile vor Wut schlotternd. »Diese Stimme. Die Schlange. Eine ekelhafte, auf dem Bauch kriechende Schlange. Verabscheuenswert. Aber sehr, sehr gefährlich.«

Einen Augenblick schwiegen wir beide. Ich für meinen Teil war vorübergehend sprachlos, weil ich ehrfürchtig an die Maschinerie des Schicksals dachte, die uns zu dieser Zeit, an diesem Ort zusammengeführt hatte.

Von unten drang ein Geräusch aus der Dunkelheit herauf: kehliges Flüstern, ein feuchtes Gleiten, bei dem ich zitterte. Jahrtausendealte Dunkelheit hatte sich in Bewegung gesetzt und strömte empor, die Verkörperung der endlosen Nacht, kalt und tief und . gierig.

Der Foltermeister, der in die Rolle des Opfers gedrängt worden war, sah sich bestürzt um, durch einen Torbogen, durch den anderen, dann die Treppe hinab, die von dem Absatz, auf dem er lag, weiter abwärts führte. Seine Angst war so groß, daß sie die Schmerzen überwand; er weinte nicht mehr, gab auch dieses Wimmern nicht mehr von sich. »Was ... was ist das für ein Ort?«

»Der, wohin Sie gehören«, sagte ich.

Ich wandte mich von ihm ab und ging die Treppe hinauf. Ich blieb nicht stehen oder drehte mich um. Ich ließ die Taschenlampe bei ihm, denn ich wollte, daß er das Ding sah, das ihn holen kam.

(Dunkelheit wohnt in uns allen.)

»Warten Sie!« rief er runter mir her.

Ich hielt nicht inne.

»W-w-was ist das für ein Geräusch?« fragte er.

Ich ging weiter nach oben.

»Was wird mit m-mir geschehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich zu ihm. »Aber was auch immer ... es wird das sein, was Sie verdienen.«

Schließlich regte sich Wut in ihm. Er sagte: »Sie sind nicht mein Richter!«

»O doch, das bin ich.«

Oben betrat ich die Küche und machte die Tür hinter mir zu. Sie hatte kein Schloß. Ich lehnte mich zitternd dagegen.

Offenbar sah Phu etwas die Treppe unter ihm heraufkommen, denn er heulte vor Entsetzen und hastete mit viel Poltern und Dröhnen die Stufen herauf.

Als ich ihn kommen hörte, drückte ich mich fest gegen die Tür. Er hämmerte gegen die andere Seite. »Bitte. Bitte, nein. Bitte, um Gottes willen, nein, um Gottes willen, bitte!«

Ich hatte meine Freunde aus der Armee ebenso verzweifelt flehen gehört, wenn der Foltermeister ihnen rostige Nägel unter die Fingernägel oder durch die von Klammern gehaltenen Zungen gebohrt hatte. Ich klammerte mich an diese Schreckensbilder, die ich hinter mir gelassen zu haben glaubte, sie gaben mir die Willenskraft, mich Phus bemitleidenswerten Schreien zu widersetzen.

Zusätzlich zu seiner Stimme hörte ich nun die schleimartige Dunkelheit hinter ihm emporsteigen, kalte Lava, die bergauf flöß: feuchte Laute und dieses bedrohliche Flüstern .

Der Foltermeister hörte auf, gegen die Tür zu klopfen, und stieß einen Schrei aus, der mir sagte, daß die Dunkelheit ihn gepackt hatte.

Ein großes Gewicht fiel gegen die Tür und wurde dann wieder entfernt.

Die schrillen Schreie des Foltermeisters schwollen an und ab und wieder an, und mit jedem Zyklus des Schreiens, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, wurde sein Entsetzen akuter. Anhand des Klangs seiner Stimme und seiner Füße, die gegen die Wände und Treppenstufen traten, konnte ich hören, daß er nach unten gezogen wurde.

Mir war der Schweiß ausgebrochen.

Ich konnte nicht atmen.

Plötzlich riß ich die Tür auf und betrat den Absatz auf der anderen Seite. Ich glaube, ich hatte vor, ihn in die Küche zu ziehen, ihn doch noch zu retten. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber was ich auf der Treppe sah, nur wenige Stufen unten, war so schockierend, daß ich stehenblieb - und nichts tat.

Der Foltermeister war nicht von der Dunkelheit selbst ergriffen worden, sondern von den Händen bis zum Skelett abgemagerter Männer, die aus der unablässig wirbelnden schwarzen Masse nach ihm griffen. Tote Männer. Ich kannte sie. Sie waren amerikanische Soldaten, die im Lager durch die Hände des Foltermeisters gestorben waren, während ich dort gewesen war. Keiner war mit mir befreundet gewesen; tatsächlich waren sie alle selbst Bösewichter, böse Menschen, denen der Krieg Spaß gemacht hatte, ehe sie vom Vietcong gefaßt und gefangengenommen worden waren, von dem verabscheuenswerten Typ, der gerne tötet, Schwarzmarktgeschäfte betreibt und nach Dienstende Profit scheffelt. Ihre Augen waren eisig, milchig. Wenn sie den Mund aufmachten, um zu sprechen, kamen keine Laute heraus, nur leises Zischen und ein fernes Wimmern, das mich zur Überzeugung brachte, daß das Geräusch nicht aus ihren Körpern, sondern aus ihren Seelen kam, die tief unten in dem Keller angekettet waren. Sie quälten sich aus dem zähen Destillat der Dunkelheit heraus, ohne ihm gänzlich entrinnen zu können, nur in dem Maß entblößt, das ausreichte, Nguyen Quang Phu an beiden Beinen und Armen festzuhalten.

Sie zogen ihn vor meinen Augen kreischend in die dickliche Absonderung der Nacht, die ihr ewiges Zuhause geworden war. Als alle drei in der pulsierenden Düsternis verschwanden, floß die wogende, teerähnliche Masse von mir weg und zurück. Stufen kamen in Sicht wie Strand, wenn die Flut zurückgeht.

Ich stolperte durch die Tür, quer durch die Küche und zum Spülbecken. Ich hing den Kopf darüber und übergab mich. Ließ das Wasser laufen. Spritzte mir welches ins Gesicht. Spülte mir den Mund aus. Lehnte mich keuchend gegen die Arbeitsplatte.

Als ich mich schließlich umdrehte, stellte ich fest, daß die Kellertür verschwunden war. Sie hatte den Foltermeister gewollt. Darum war die Tür erschienen, darum hatte sich ein Zugang aufgetan zu ... zu ... zu dem Ort da unten. Sie hatte den Foltermeister so sehr gewollt, daß sie es nicht erwarten konnte, ihn im natürlichen Lauf der Ereignisse zu bekommen, nach seinem vorbestimmten Tod, daher hatte sie eine Tür zu dieser Welt aufgetan und ihn verschlungen. Jetzt hatte sie ihn, und meine Begegnung mit dem Übernatürlichen war sicher zu Ende.

Das dachte ich.

Ich verstand einfach nicht.

Gott helfe mir, ich verstand einfach nicht.

Nguyen Quang Phus Auto - ein neuer weißer Mercedes -parkte in unserer Einfahrt, die abgeschirmt ist. Ich stieg ein, ohne gesehen zu werden, fuhr das Auto weg und stellte es auf dem Parkplatz eines öffentlichen Strands ab. Ich ging die paar Meilen zum Haus zu Fuß zurück, und später, als sich die Polizei um das Verschwinden von Phu kümmerte, behauptete ich, er habe unsere Verabredung nicht eingehalten. Man glaubte mir. Sie verdächtigten mich nicht im geringsten, denn ich bin ein angesehener Bürger, ein erfolgreicher Geschäftsmann und habe einen ausgesprochen guten Ruf.

In den nächsten drei Wochen tauchte die Kellertür nicht mehr auf. Ich glaubte nicht, daß ich mich in unserem neuen Traumhaus jemals völlig wohl fühlen würde; aber allmählich schwand mein schlimmstes Grauen, und ich vermied es nicht mehr, die Küche zu betreten.

Ich hatte einen Frontalzusammenstoß mit dem Übernatürlichen gehabt, aber die Möglichkeit einer weiteren Begegnung war gering bis nichtexistent. Eine Menge Menschen sehen einmal in ihrem Leben ein Gespenst, werden in ein übersinnliches Ereignis verwickelt, das ihren Glauben an die wahre Natur der Wirklichkeit erschüttert, aber sie haben keine weiteren okkulten Erlebnisse. Ich bezweifelte, ob ich die Kellertür je Wiedersehen würde.

Dann fand Horace Dalcoe heraus, daß ich im geheimen über den Kauf des Landes verhandelte, das er gepachtet hatte, und er schlug zurück. Brutal. Er hat politische Beziehungen. Ich glaube, er hatte kaum Schwierigkeiten, den Gesundheitsinspektor dazu zu bringen, uns nichtexistierender Verstöße gegen Hygienevorschriften anzuklagen. Wir haben stets ein makelloses Restaurant geführt; unsere eigenen Maßstäbe für den Umgang mit Lebensmitteln und für Reinlichkeit waren stets deutlich über den Vorschriften des Gesundheitsamts. Daher beschlossen Carmen und ich, mit der Sache vor Gericht zu gehen, anstatt das Bußgeld zu bezahlen -und da wurden wir des Verstoßes gegen die Brandschutzvorschriften bezichtigt. Und als wir unsere Absicht verkündeten, dafür zu sorgen, daß diese ungerechtfertigten Vorwürfe zurückgezogen wurden, brach jemand an einem Donnerstagmorgen um drei Uhr in das Restaurant ein, verwüstete es und richtete einen Sachschaden von fünfzigtausend Dollar an.

Mir wurde klar, daß ich diese Schlachten alle gewinnen und den Krieg trotzdem verlieren konnte. Wäre ich imstande gewesen, Horace Dalcoes niederträchtige Methoden anzuwenden, hätte ich Regierungsbeamte bestechen und Schurken anheuern können, hätte ich auf eine Weise zurückschlagen können, die Dalcoe begriff, und er hätte zweifellos einen Waffenstillstand verkündet. Aber obwohl meine Seele von Sünden nicht unbefleckt war, konnte ich mich nicht auf Dalcoes Niveau hinabbegeben.

Vielleicht war mein Widerstreben, die Sache brutal zu regeln, mehr eine Frage des Stolzes als aufrichtigen Ehrgefühls, obwohl ich gerne letzteres von mir glaube.

Gestern morgen (als ich dies in das Tagebuch der Verdammnis schrieb, das ich angefangen habe zu führen), besuchte ich Dalcoe in seinem plüschigen Büro. Ich erniedrigte mich vor ihm und willigte ein, meine Bemühungen aufzugeben, das gepachtete Gelände zu kaufen, auf dem sein kleines Einkaufszentrum steht. Ich willigte auch ein, ihm dreitausend bar und unter der Hand zu zahlen, damit ich ein größeres, ansprechenderes Schild für unser Restaurant aufstellen durfte.

Er war verschmitzt, überheblich, nervtötend. Er behielt mich länger als eine Stunde dort, obwohl wir unser Geschäft binnen zehn Minuten hätten erledigen können, weil er sich an meiner Demütigung weiden wollte.

Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Das Bett war bequem, das Haus still, die Luft angenehm kühl - alles ideale Umstände für einen zufriedenen, tiefen Schlaf -, aber ich mußte unablässig an Horace Dalcoe denken. Der Gedanke, in Zukunft weiter unter seiner Knute zu leben, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich drehte und wendete die Situation im Geiste und suchte nach einer Handhabe, nach einem Weg, Oberwasser zu gewinnen, ehe er herausbekam, was ich vorhatte, aber mir fielen keinerlei brillanten Ränke ein.

Schließlich stahl ich mich aus dem Bett, ohne Carmen zu wecken, ging nach unten, um ein Glas Milch zu trinken, weil ich hoffte, das Calcium würde mich soweit beruhigen. Als ich, immer noch an Dalcoe denkend, die Küche betrat, war die Tür da.

Ich betrachtete sie und hatte große Angst, denn ich wußte, was ihr pünktliches Erscheinen zu bedeuten hatte. Ich mußte mit Horace Dalcoe fertig werden und bekam die endgültige Lösung des Problems präsentiert. Ich konnte Dalcoe unter dem einen oder anderen Vorwand ins Haus locken. Ihm den Keller zeigen. Und ihn der Dunkelheit überlassen.

Ich machte die Tür auf.

Ich sah die Stufen hinunter, in die Schwärze tief unten.

Längst tote Gefangene, Opfer der Folter, hatten auf Nguyen Quang Phu gewartet. Was würde da unten warten, um Dalcoe zu packen?

Ich zitterte.

Nicht wegen Dalcoe.

Wegen mir.

Plötzlich begriff ich, daß die Dunkelheit da unten mich mehr wollte als den Foltermeister Phu oder Horace Dalcoe. Diese Männer waren keine nennenswerte Beute. Sie würden ohnehin in der Hölle enden. Wenn ich Phu nicht in den Keller begleitet hätte, würde die Dunkelheit ihn früher oder später, nach seinem Tod, so oder so bekommen haben.

Ebenso würde Dalcoe nach seinem Tod in den Tiefen von Gehenna enden. Aber indem ich sie vorzeitig dem vorbestimmten Schicksal zuführte, ergab ich mich den dunklen Neigungen in mir und brachte dadurch meine eigene Seele in Gefahr.

Als ich die Kellertreppe hinuntersah, hörte ich die Dunkelheit meinen Namen rufen, mich willkommen heißen, mir ewige Kommunikation anbieten. Ihre flüsternde Stimme war verführerisch, ihre Versprechungen wie Balsam. Über das Schicksal meiner Seele war noch nicht entschieden, und die Dunkelheit sah die Möglichkeit eines kleinen Triumphs, wenn sie mich eroberte.

Ich spürte, daß ich noch nicht verderbt genug war, zu der Dunkelheit zu gehören. Was ich Phu angetan hatte, konnte man als Ausübung einer längst überfälligen Gerechtigkeit ansehen, denn er war ein Mann, dem weder in dieser noch in der nächsten Welt eine Belohnung zustand. Und indem ich Dalcoe vorzeitig seinem vorbestimmten Schicksal zuführte, würde mich wahrscheinlich auch das nicht ewiger Verdammnis anheimfallen lassen.

Aber wen mochte ich, wenn ich der Versuchung erlag, nach Horace Dalcoe in diesen Keller locken? Wie viele und wie oft? Es würde jedesmal leichter werden. Früher oder später würde ich den Keller dazu benützen, Leute loszuwerden, die mich nur geringfügig erbost hatten. Manche waren vielleicht Grenzfälle, Menschen, die die Hölle verdienten, aber eine Chance auf Erlösung hatten, und wenn ich ihr Ende vorzeitig herbeiführte, würde ich ihnen die Möglichkeit nehmen, ihr Leben ins rechte Lot zu bringen und alles wieder gutzumachen. Ihre Verdammnis wäre teilweise meine Schuld. Und dann wäre auch ich verloren . und die Dunkelheit würde die Treppe heraufwallen und ins Haus kommen und mich holen, wann es ihr beliebte.

Unten flüsterte dieses schleimige Destillat von einer Milliarde Neumondnächten mir zu, flüsterte.

Ich wich zurück. Ich machte die Tür zu.

Sie verschwand nicht.

Dalcoe, dachte ich verzweifelt, warum bist du so ein gemeiner Schuft gewesen? Warum hast du dafür gesorgt, daß ich dich so hasse?

Dunkelheit wohnt in den Besten von uns. In den Schlimmsten von uns wohnt die Dunkelheit nicht nur, dort regiert sie.

Ich bin ein guter Mensch. Ein harter Arbeiter. Ein liebender und treuer Ehemann. Ein strenger, aber gerechter Vater. Ein guter Mensch.

Doch ich habe menschliche Schwächen - von denen Rachegelüste nicht die geringsten sind. Ein Teil des Preises, den ich bezahlt habe, war der Verlust meiner Unschuld in Vietnam. Dort habe ich gelernt, daß viel Böses auf der Welt existiert, nicht im abstrakten Sinne, sondern leibhaftig, und als böse Menschen mich gefoltert haben, steckte ich mich bei diesem Kontakt an. Dort habe ich meine Rachegelüste entwickelt.

Ich rede mir ein, daß ich es nicht wage, der einfachen Lösung zu verfallen, welche der Keller darstellt. Wo sollte das enden? Eines Tages, wenn ich genügend Männer und Frauen in diese lichtlose Kammer da unten geschickt habe, werde ich so verderbt sein, daß es leicht sein wird, den Keller für Dinge zu benützen, die vorher undenkbar gewesen waren.

Was, zum Beispiel, wenn Carmen und ich stritten? Könnte es bis zu dem Punkt kommen, an dem ich sie bitten würde, die dunklen Tiefen mit mir zu ergründen? Und wenn meine Kinder mich erzürnen, wie es Kinder weiß Gott manchmal tun? Wo würde ich die Trennlinie ziehen? Und würde ich die Trennlinie ständig neu ziehen?

Ich bin ein guter Mensch.

Ich gebe der Dunkelheit wohl ab und an Wohnstatt, aber freilich habe ich ihr nie ein Königreich angeboten. Ich bin ein guter Mensch.

Aber die Versuchung ist groß.

Ich habe angefangen, eine Liste von Menschen zu machen, die mir hier und da einmal das Leben schwergemacht haben.

Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, etwas gegen sie zu unternehmen. Die Liste ist lediglich ein Spiel. Ich erstelle sie, und dann zerreiße ich sie und spüle sie die Toilette hinunter.

Ich bin ein guter Mensch.

Die Liste bedeutet nichts.

Die Kellertür wird für immer geschlossen bleiben.

Ich werde sie nicht noch einmal aufmachen.

Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.

Ich bin ein guter Mensch.

Die Liste ist länger, als ich gedacht habe.

Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber

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