Gehetzt

Es passierte in der Nacht. Der gesamte Nordosten wurde von einem Blizzard heimgesucht. Kreaturen, die es vorzogen, erst nach Einbruch der Dämmerung hervorzukommen, hatten es diesmal nicht nur mit der Dunkelheit, sondern auch mit dem Sturm zu tun.

Im Zwielicht begann Schnee zu fallen, als Meg Lassiter mit ihrem Sohn Tommy vom Arzt nach Hause fuhr. Weiße Flocken rieselten vom eisengrauen Himmel, fielen zunächst auf geradem Wege durch die kalte Luft. Als Meg acht Meilen hinter sich gebracht hatte, kam ein starker Wind im Südwesten auf und ließ die Flocken vor den Scheinwerfern ihres Jeeps herumwirbeln.

Hinter ihr auf dem Rücksitz versuchte Tommy, es sich mit seinem Gipsbein so bequem wie möglich zu machen, und seufzte. »Jetzt ist’s wohl Essig mit Schlittenfahren und Skilaufen - und mit Eislaufen wird’s auch nichts mehr.«

»Komm, der Winter hat ja gerade erst angefangen«, sagte Meg. »Bis zum Frühling hast du das Ganze schon wieder vergessen.«

»Ja, vielleicht.« Er hatte sich vor zwei Wochen das Bein gebrochen, und der heutige zweite Besuch bei Dr. Jacklin hatte ergeben, daß das Bein weitere sechs Wochen in Gips bleiben mußte. Ein Splitterbruch, es würde noch einige Zeit dauern, bis er wieder verheilt wäre.

Meg warf einen Blick in den Rückspiegel und lächelte ihm aufmunternd zu. »Du bist gerade zehn Jahre, Schatz. In deinem Alter hat man noch unzählige Winter vor sich - jedenfalls beinahe.«

»Das stimmt nicht, Mam. Bald gehe ich aufs College, und dann habe ich nicht mehr so viel Zeit zum Spielen, weil ich ja dann mehr lernen muß, und .«

»Wie, das ist in acht Jahren!«

»Du sagst doch selbst immer, daß die Zeit um so schneller vergeht, je älter man wird. Und nach dem College muß ich arbeiten und meine Familie ernähren.«

»Glaub mir, Schatz, bevor du dreißig wirst, merkst du kein bißchen, wie die Zeit vergeht.«

Obwohl er genauso unternehmungslustig wie jeder andere Zehnjährige war, legte er von Zeit zu Zeit eine merkwürdige Ernsthaftigkeit an den Tag. Seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren war er immer stiller und ernster geworden.

Sie hielt vor der letzten Ampel an der Ortsgrenze. Es waren noch sieben Meilen bis zu ihrer Farm. Meg schaltete die Scheibenwischer ein, die den feinen, trockenen Schnee von der Windschutzscheibe fegten.

»Wie alt bist du, Mam?«

»Fünfunddreißig.«

»Wow, wirklich?«

»Du tust ja, als ob ich uralt wäre.«

»Gab es schon Autos, als du zehn warst?«

Er lachte hell. Meg liebte den Klang seines Lachens, vielleicht, weil sie ihn in den letzten zwei Jahren so selten gehört hatte.

An der Ecke rechts von ihnen standen zwei Wagen und ein Pick-up vor den Zapfsäulen der Shell-Tankstelle. Eine knapp zwei Meter hohe Kiefer lag quer auf der Ladefläche des Pick-ups. Es waren nur noch acht Tage bis Weihnachten.

Zur Linken lag Haddenbeck’s Tavern, eingerahmt von in den Himmel ragenden Fichten. Im fahlen Licht der Dämmerung sah der Schnee aus wie Ascheteilchen, die nach einer unsichtbaren Explosion zu Millionen vom Himmel herabregneten, aber weiter unten, im bernsteinfarbenen Licht aus den Fenstern der Raststätte, sahen die Flocken wie Goldstaub aus.

»Weißt du, wie ich drauf komme«, sagte Tommy vom Rücksitz, »daß es noch keine Autos gab, als du zehn warst? Ich meine, das Rad ist doch erst erfunden worden, als du elf warst.«

»Weißt du, was es heute zum Abendessen gibt? Wurmkuchen und Käfersuppe.«

»Du bist die gemeinste Mutter der Welt.«

Sie warf wieder einen Blick in den Rückspiegel und sah, daß der Junge trotz seines scherzhaften Tons nicht mehr lächelte, sondern düster zur Raststätte hinüberstarrte.

Vor etwas mehr als zwei Jahren, als Jim Lassiter wegen der Gründung eines Hilfsfonds zur St. Paul’s Church unterwegs gewesen war, hatte kurz vorher ein Betrunkener namens Deke Slater Haddenbeck’s Tavern verlassen, und Slaters Buick war auf der Black Oak Road frontal mit Jims Wagen zusammengestoßen. Jim war sofort tot gewesen, Slater saß seitdem im Rollstuhl - vom Hals abwärts gelähmt.

Wenn sie bei Haddenbeck’s vorbeikamen - und durch die Kurve fuhren, in der Jim umgekommen war -, versuchte Tommy manchmal, seine anhaltende Traurigkeit damit zu überspielen, daß er Meg mit spitzfindigen Bemerkungen aufzog.

»Die Ampel ist grün, Mam.«

Sie fuhr über die Kreuzung, ließ die Ortsgrenze hinter sich. Die Hauptstraße ging in eine zweispurige Landstraße über, die Black Oak Road.

Es war sehr schwer für Tommy gewesen, den Verlust seines Vaters zu verkraften. Im Jahr nach der Tragödie hatte er oft gedankenverloren am Fenster gesessen, während ihm die Tränen über die Wangen gelaufen waren. In den letzten zehn Monaten hatte sie ihn nicht mehr weinen sehen. Zögernd hatte er den Tod seines Vaters akzeptiert. Er würde darüber hinwegkommen.

Was nicht hieß, daß er ganz über den Berg war. Sie konnte das Gefühl der Leere spüren, die ihn beherrschte, und es war nicht absehbar, wann es wieder verschwinden würde. Jim war ein wunderbarer Mann gewesen, aber ein noch besserer Vater, und die Zuneigung zu seinem Sohn war so groß gewesen, daß sie beide ein Teil des anderen gewesen waren. Wie eine Revolverkugel hatte Jims Tod ein Loch in Tommy hinterlassen, mit dem Unterschied, daß - es entschieden länger dauern würde, bis die Wunde verheilt war.

Meg wußte, daß nur die Zeit diese Wunde heilen konnte.

Sie verlangsamte das Tempo, als das Schneegestöber zunahm und die hereinbrechende Dunkelheit die Sicht erschwerte. Auch wenn sie sich über das Steuer lehnte, konnte sie kaum zwanzig Meter weit sehen.

»Ist ja echt beschissen«, sagte Tommy.

»Hab’ schon Schlimmeres gesehen.«

»Wo? Am Yukon?«

»Genau. Im Winter 1849, während des Goldrauschs. Hast du vergessen, wie alt ich bin? Ich bin bereits mit Hundeschlitten gefahren, als die Hunde noch gar nicht erfunden waren.«

Tommy lachte, wenn auch eher pflichtbewußt.

Meg konnte weder die weiten Wiesen zu beiden Seiten der Straße noch das gefrorene Silberband von Seeger’s Creek erkennen obwohl sie die Umrisse der knorrigen Stämme und der schneebeladenen Äste der mächtigen Eichen wahrnahm, die diesen Abschnitt der Straße zu beiden Seiten flankierten. Die Bäume sagten ihr, daß sie etwa eine Viertelmeile von der Stelle entfernt waren, wo Jim gestorben war.

Tommy verfiel in Schweigen.

Dann, als es nur noch Sekunden bis zu der Kurve waren, sagte er: »Eigentlich vermisse ich das Rodeln und das Schlittschuhlaufen gar nicht so sehr. Es ist bloß ... Ich fühl’ mich so hilflos in diesem Gips ... so gefangen.«

Das Wort gefangen gab Meg einen Stich; seine Angst, sich nicht richtig bewegen zu können, hatte mit dem Tod seines Vaters zu tun. Jims Chevy war durch den Aufprall so zerquetscht worden, daß die Polizei und die Leute von der Ambulanz mehr als drei Stunden gebraucht hatten, um seine Leiche aus dem Wrack zu bergen; sie hatten seinen Körper mit Schweißgeräten herausholen müssen. Sie hatte ihr Bestes getan, daß Tommy nichts von den entsetzlichen Details zu Ohren kam, aber als er dann schließlich wieder zur Schule gegangen war, hatten es sich seine Schulkameraden, getrieben von einer morbiden Neugier und jener unschuldigen Grausamkeit, die manchen Kindern eigen ist, nicht nehmen lassen, ihn mit der Nase auf die schauerlichsten Fakten zu stoßen.

»Du bist nicht in dem Gips gefangen«, sagte Meg, während sie den Jeep in die verschneite Kurve lenkte. »Ich bin doch bei dir.«

An seinem ersten Schultag nach der Beerdigung war Tommy früh nach Hause gekommen und hatte sie angeschrien: »Daddy war im Auto gefangen, er konnte sich nicht bewegen, er war eingequetscht in all dem Blech, sie mußten ihn herausschneiden, er war gefangen.« Meg hatte ihn beruhigt und ihm erklärt, daß Jim durch den Aufprall sofort tot gewesen war, daß er nicht gelitten hatte. »Liebling, es war nur sein Körper, der gefangen war, nichts als eine leere Hülle. Seine Seele, dein wirklicher Daddy, war da schon im Himmel.«

Meg bremste, als sie sich dem Scheitelpunkt der Kurve näherten, jener Kurve, die nichts von ihrem Schrecken verloren hatte, so oft sie seitdem auch hindurchgefahren waren.

Plötzlich wurde Meg von zwei wie aus dem Nichts auftauchenden Scheinwerfern die Sicht genommen. Der ihnen entgegenkommende Wagen fuhr viel zu schnell für die Straßenverhältnisse, war zwar nicht außer Kontrolle, aber von einer sicheren Straßenlage konnte bestimmt keine Rede sein; das Heck brach aus, schleuderte über die doppelt gezogene Mittellinie. Meg steuerte hart nach rechts und fürchtete, den Jeep in den Straßengraben zu lenken, als sie auf die Bremse ging. Trotzdem bremste sie weiter, während die Räder Straßendreck und Kiesel aufwirbelten, die gegen den Unterboden der Karosserie prasselten. Der entgegenkommende Wagen schrammte um Haaresbreite an ihnen vorbei und verschwand in Schnee und Nacht.

»Idiot!« sagte sie wütend.

Hinter der Kurve fuhr sie an den Straßenrand und hielt an. »Bist du okay?«

Tommy hatte sich in der Ecke zusammengekauert und den Kopf wie eine Schildkröte in den Kragen seines schweren Wintermantels gezogen. Bleich und zitternd nickte er. »Y-Yeah. Okay.«

Obwohl der Motor lief, der Wind heulte und der Scheibenwischer hektisch hin- und herschlug, schien eine merkwürdige Stille von der Nacht auszugehen.

»Mit diesem verantwortungslosen Scheißkerl würd’ ich gern mal ein Wörtchen reden.« Sie schlug mit der geballten Faust gegen das Armaturenbrett.

»Es war ein Wagen von Biolomech.« Tommy meinte die Firma, deren Forschungslabors auf dem riesigen Gelände eine halbe Meile südlich von ihrer Farm lagen. »Der Name stand auf der Seite. Biolomech.«

Sie holte wieder tief Luft. »Bist du wirklich okay?«

»Yeah. Alles in Ordnung. Ich will bloß ... nach Hause.«

Es war noch stürmischer geworden. Es war, als befänden sie sich unter einem Wasserfall, nur daß es Kaskaden von Schnee waren, Millionen und Abermillionen von pulverigen Flocken, die im Wind taumelten und auf sie herunterrieselten.

Sie setzten ihren Weg fort und krochen mit fünfundzwanzig Meilen über die Black Oak Road. Das Wetter ließ keine höhere Geschwindigkeit zu.

Zwei Meilen weiter, auf der Höhe des Biolomech-Geländes, war die Nacht von seltsamem Licht erhellt. Hinter dem annähernd drei Meter hohen Drahtgeflechtzaun warfen Natriumdampflampen einen unheimlichen, im Schneetreiben seltsam verwaschenen Schein über das Gelände. Obwohl die an sechs Meter hohen Masten befestigten, in Fünfzig-MeterAbständen verteilten Strahler die flachen Bürogebäude und die Forschungslabore sicherten, waren sie selten in Betrieb; in den letzten vier Jahren hatte Meg das Gelände nur einmal beleuchtet gesehen.

Die Gebäude lagen abseits der Straße hinter einer Baumreihe. Selbst bei Tageslicht und gutem Wetter waren sie auf die Distanz nur schwer auszumachen. Die mehr als hundert Lichthöfe ringsherum ließen jetzt überhaupt nichts erkennen.

Männer in schweren Mänteln bewegten sich an der Peripherie des Geländes, leuchteten mit Taschenlampen herum und konzentrierten sich augenscheinlich auf den schneebedeckten Boden entlang der Einfriedung, als würden sie nach einem Loch im Zaun suchen.

»Da wollte bestimmt jemand einbrechen«, sagte Tommy. Das Haupttor war von einer Reihe firmeneigener Wagen und Transporter versperrt. Blaulichtketten säumten beide Seiten der Black Oak Road und führten zu einer Straßensperre, an der drei Männer mit Taschenlampen standen. Drei andere hielten Schrotflinten in ihren Händen.

»Wow!« sagte Tommy. »Da muß irgendwas Großes passiert sein.«

Meg ging auf die Bremse, hielt und kurbelte ihr Fenster hinunter. Schneidend kalter Wind drang ins Wageninnere.

Sie erwartete, daß einer der Männer zum Auto kommen würde. Statt dessen näherte sich ein Mann in Stiefeln, einer grauen Uniformhose und einem schwarzen Mantel mit dem Biolomech-Firmenzeichen von der anderen Seite; er trug eine Stange bei sich, an deren Ende eine von Spiegeln umgebene Lampe befestigt war. Ein größerer, ähnlich gekleideter Mann mit einer Schrotflinte begleitete ihn. Der kleinere Wachmann schob die Stange unter den Jeep und überprüfte den Unterboden in den Spiegeln.

»Die suchen nach Bomben!« sagte Tommy.

»Bomben?« gab Meg ungläubig zurück. »Das glaubst du selbst nicht.«

Der Mann mit der Stange kam langsam um den Wagen herum, während der bewaffnete Begleiter in seiner Nähe blieb. Selbst im Schneetreiben konnte Meg Furcht auf ihren Gesichtern lesen.

Als die beiden um den Jeep herumgegangen waren, gab der Bewaffnete den Leuten an der Sperre ein Handzeichen, daß alles okay sei. Dann kam einer der Männer zum Wagen. Er trug Jeans und eine ausgebeulte braune Lederjacke mit einem Schaffellkragen, aber ohne den Biolomech-Aufnäher. Eine dunkelblaue, schneebedeckte Pudelmütze hatte er sich halb über die Ohren gezogen.

»Sorry, daß wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten müssen«, sagte er, während er sich in das offene Wagenfenster lehnte.

Er war gutaussehend und hatte ein gewinnendes - wenn auch falsches - Lächeln. Die graugrünen Augen ließen keinen Zweifel daran, daß sich das Lächeln auf seine Lippen beschränkte.

»Was ist denn passiert?« fragte sie.

»Nur eine Sicherheitsüberprüfung«, sagte er, während sein Atem in der eiskalten Luft zu sehen war. »Könnte ich bitte mal Ihren Führerschein sehen?«

Es war offenkundig, daß er kein Polizist, sondern ein Firmenangestellter war, aber Meg sah keinen Grund, ihm den Führerschein nicht zu zeigen.

Während der Mann ihn überprüfte, fragte Tommy: »Hat jemand versucht, sich einzuschleichen? Etwa russische Spione?«

Wieder spielte das falsche Lächeln um die Lippen des Mannes, als er antwortete. »Wahrscheinlich nur ein Kurzschluß im Alarmsystem, Sohn. Hier gibt’s nichts, woran die Russen interessiert wären.«

Biolomechs Geschäft war die DNA-Forschung und die Nutzung ihrer Forschungsergebnisse für kommerzielle Zwecke. Meg wußte, daß Genmanipulationsexperimente in den letzten Jahren einen Virus hervorgebracht hatten, der reines Insulin absonderte, darüber hinaus eine ganze Reihe von Wunderdrogen und andere Segnungen. Aber sie wußte auch, daß dieselbe Wissenschaft mit der Entwicklung biologischer Kampfstoffe beschäftigt war - mit neuen Krankheiten, die genauso tödlich waren wie die Atombombe -, auch wenn sie über eine mögliche Verwicklung Biolomechs in solche Geschäfte nie weiter nachgedacht hatte, obwohl sich die Firma nur eine halbe Meile von ihrem Anwesen befand. In der Tat war vor ein paar Jahren das Gerücht aufgekommen, daß Biolomech Lieferant des Verteidigungsministeriums sei, wenngleich die Firma klar und eindeutig versichert hatte, daß sie ihre Forschung niemals in den Dienst der bakteriologischen Kriegsführung stellen würde. Der Gitterzaun und das Sicherheitssystem erregten allerdings einen weit abschreckenderen Eindruck, als es eine dem Gemeinwohl verpflichtete Firma nötig gehabt hätte.

Während er sich Schnee von den Schultern strich, sagte der Mann in der schaffellverbrämten Jacke: »Leben Sie hier in der Nähe, Mrs. Lassiter?«

»Auf der Cascade Farm«, sagte sie. »Etwa eine Meile die Straße runter.«

Er reichte ihr die Brieftasche durchs Wagenfenster zurück.

Hinter ihr sagte Tommy: »Suchen Sie nach Bomben? Sind Sie hinter Terroristen her, die das Gelände in die Luft jagen wollen?«

»Bomben? Wie kommst du auf die Idee, Sohn?«

»Na, wegen den Spiegeln an der Stange«, sagte Tommy.

»Ah! Das ist reine Routine bei einer Sicherheitsüberprüfung. Wie ich schon sagte, es handelt sich wahrscheinlich lediglich um falschen Alarm.« Zu Meg sagte er: »Bedaure, daß ich sie aufhalten mußte, Mrs. Lassiter.«

Während er sich umwandte und davonging, warf Meg einen Blick auf die Wachmänner mit den Schrotflinten und die weiter entfernten Gestalten, die das gespenstisch beleuchtete Gelände durchkämmten. Falscher Alarm - das glaubten die doch selbst nicht. Man brauchte nur ihre Gesichter zu sehen, um zu wissen, daß irgend etwas ihnen ernste Sorge machte, und auch die Hektik, mit der sie durch das Gelände streiften, verriet ihre Unruhe.

Sie kurbelte das Fenster hoch und legte den Gang ein.

Als sie losfuhr, sagte Tommy: »Glaubst du, daß er gelogen hat?«

»Das geht uns nichts an, Liebling.«

»Russen oder Terroristen«, sagte Tommy mit jener Begeisterung für gravierende Krisen, wie sie nur Jungen seines Alters aufbringen können.

Sie kamen am Nordende des Biolomech-Geländes vorbei. Der Schein der Natriumdampflampen hinter ihnen wurde schwächer und schwächer, während sie von allen Seiten wieder von Schnee und Dunkelheit eingeschlossen wurden. Die Scheinwerfer des Jeeps malten kurzlebige, huschende Schatten auf die Stämme der Eichen am Straßenrand.

Zwei Minuten später bog Meg von der Landstraße auf den Weg zur Farm ein. Noch etwa eine Viertelmeile. Sie war erleichtert, zu Hause zu sein.

Die Cascade Farm - benannt nach drei Generationen der Cascade-Familie, die einst dort gelebt hatten - lag auf einem etwa fünf Hektar umfassenden Gebiet im ländlichen Connecticut. Der ehemalige Farmbetrieb war stillgelegt. Sie und Jim hatten das Anwesen vor vier Jahren gekauft, nachdem er aus seiner New Yorker Werbeagentur ausgestiegen war und sich von seinen beiden Partnern hatte auszahlen lassen. Die Farm hatte so etwas wie der Beginn eines neuen Lebens sein sollen. Jim harte sich seinem Traum, dem Schreiben, widmen wollen, während Meg sich darauf gefreut hatte, der Malerei in einer ruhigen, friedlichen Umgebung nachgehen zu können.

Vor seinem Tod hatte Jim zwei halbwegs erfolgreiche Kriminalromane auf der Cascade Farm geschrieben. Meg hatte währenddessen einen anderen Stil entwickelt: sie hatte leichtere Töne verwendet, in klareren Farben zu einem neuen Ausdruck gefunden; dann, nach Jims Tod, waren ihre Bilder so düster und trübsinnig geworden, daß sie von ihrem New Yorker Galeristen darauf hingewiesen worden war, ihr veränderter Stil wirke sich mehr und mehr auf den Verkauf aus.

Das einstöckige Haus lag etwa hundert Meter vor der Scheune. Es hatte acht Zimmer, dazu eine geräumige, modern eingerichtete Küche, zwei Badezimmer, zwei Kamine sowie zwei Veranden, auf denen man im Sommer den Tag ausklingen lassen konnte.

Selbst jetzt, in Sturm und Dunkelheit, mit verschneitem Dach und ohne ein einziges erleuchtetes Fenster an der Vorderseite, sah das Haus im Scheinwerferlicht des Jeeps einladend und heimelig aus.

»Endlich zu Hause«, sagte sie. »Magst du Spaghetti zum Abendessen?«

»Kannst du so viele machen, daß ich morgen noch kalte zum Frühstück habe?«

»Klar.«

»Kalte Spaghetti schmecken toll zum Frühstück.«

»Du bist schon ein verrückter Bursche.« Sie fuhr vors Haus, hielt neben der rückwärtigen Veranda und half ihm aus dem Wagen. »Laß die Krücken liegen«, schrie sie gegen den heulenden Wind an. »Halt dich an mir fest.« Die Krücken waren auf dem schneebedeckten Boden sowieso nicht von großem Nutzen. »Ich bring’ sie dir rein, sobald ich den Wagen in der Garage habe.«

Wenn der schwere Gips um sein rechtes Bein nicht von den Zehen bis übers Knie gereicht hätte, wäre sie vielleicht imstande gewesen, ihn zu tragen. Statt dessen hielt er sich an ihr fest und hüpfte auf seinem gesunden Bein.

Sie hatte das Licht in der Küche für Doofus, ihren vier Jahre alten schwarzen Labrador, angelassen. Hinter den eisblumenübersäten Fenstern schimmerte bernsteinfarbenes Licht und warf gedämpften Schein auf die Veranda.

Tommy lehnte sich gegen die Hauswand, während Meg die Tür aufschloß. Als sie die Küche betrat, kam ihr der Hund nicht wie gewöhnlich mit aufgeregt wedelndem Schwanz entgegengelaufen. Statt dessen kam er mit eingekniffenem Schwanz angeschlichen; er hielt den Kopf gesenkt und beäugte sie mit argwöhnischem Blick. Sie schloß die Tür hinter sich und half Tommy auf einen Stuhl am Küchentisch. Dann zog sie ihre Boots aus und stellte sie in die Ecke runter der Tür.

Doofus zitterte, als ob ihn fröstelte, obwohl es in der Küche warm war, der Ölofen bullerte. Der Hund gab ein seltsames, winselndes Geräusch von sich.

»Was ist los, Doofus?« fragte sie. »Was hast du verbrochen? Eine Lampe umgeworfen? Hm? Ein Sofakissen gefressen?«

»He, er ist ein braver Köter«, sagte Tommy. »Wenn er ‘ne Lampe umwirft, zahlt er für den Schaden. Nicht wahr, Doofus?«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz, wenn auch nur zögernd. Er sah nervös zu Meg hinüber, dann zurück in Richtung des Eßzimmers - als würde dort jemand in den Schatten lauern, jemand, vor dem er zuviel Angst hatte, um zu bellen.

Und dann verstand Meg plötzlich.

Ben Parnell entfernte sich von der Straßensperre und lenkte seinen Chevy Blazer Richtung Labor Nummer drei, das im Herz des Biolomech-Komplexes lag. Schnee schmolz auf seiner Pudelmütze und rann ihm in den Kragen der schaffellverbrämten Lederjacke.

Überall suchten Leute im schwefelgelben Schein der Strahler das Gelände ab. Wie sie da mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen durch die Nacht trotteten, erinnerten sie eher an Dämonen als an menschliche Wesen.

In gewisser Weise war er froh über die plötzliche Krise. Andernfalls hätte er zu Hause herumgesessen und so getan, als würde er lesen oder fernsehen, obwohl ihm nichts anderes im Kopf herumging als Melissa, sein vielgeliebtes Kind, das er an den Krebs verloren hatte. Und wenn seine Gedanken nicht um Melissa gekreist wären, hätte er statt dessen über Leah gegrübelt, seine Frau, die er ebenfalls verloren hatte.

Weswegen? Er verstand immer noch nicht ganz, warum ihre Ehe nach dem Unglück mit Melissa zerbrochen war. Soweit er es begreifen konnte, hatte es im Grunde nichts Trennendes zwischen ihnen gegeben als Leahs Trauer, die mehr und mehr von ihr Besitz ergriffen, schwerer und schwerer auf ihr gelastet hatte, bis sie nicht länger fähig gewesen war, überhaupt noch ein anderes Gefühl aufzubringen, geschweige denn Liebe für ihn. Möglich, daß ihre Trennung schon länger in der Luft gelegen hatte und durch Melissas Tod nur beschleunigt worden war; trotzdem hatte er Leah geliebt. Und er liebte sie immer noch, wenn auch nicht mit der einstigen Leidenschaft, sondern eher auf die melancholische Art und Weise, wie man seinen Traum vom Glück träumt. Selbst wenn man weiß, daß er niemals wieder Wirklichkeit werden kann. Genau das war es, was Leah während des vergangenen Jahres für ihn geworden war: keine Erinnerung, ob nun schmerzhaft oder glücklich, sondern ein Traum - der Traum von etwas, das es nie geben würde.

Er parkte den Wagen vor dem Labor, einem fensterlosen Flachbau, der wie ein Bunker aussah. Die Außentür schloß sich mit einem Zischen hinter ihm, und er zog die Handschuhe aus, während er vor der Innentür und der darüber angebrachten Kamera stand. Die Elektronik gab eine in die Wand eingelassene, grün beleuchtete Glasfläche frei, auf der die Umrisse einer Hand zu sehen waren. Ben legte seine Hand auf die Fläche und ließ seine Fingerabdrücke vom Computer überprüfen. Sekunden später, nachdem seine Identität bestätigt worden war, öffnete sich die Innentür zum Hauptflur, der zu den Büros und Labors führte.

Minuten vorher war Dr. John Acuff, der Leiter des Blackberry-Projekts, auf dem Gelände eingetroffen. Ben entdeckte Acuff in einem Korridor des Ostflügels, wo er mit ernster Miene auf drei am Projekt beteiligte Forscher einredete.

Als Ben auf ihn zuging, bemerkte er, daß Acuff der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Der Wissenschaftler - ein hagerer Mann mit schütterem Haar und einem Pfeffer-und-Salz-Bart -war weder ein zerstreuter Professor noch ein kalter Analytiker, entsprach in keiner Weise den üblichen Stereotypen, die man Wissenschaftlern gern zuordnete, besaß tatsächlich eine ganze Menge Sinn für Humor; gewöhnlich waren in seinen Augenwinkeln lebensbejahende, sympathische Lachfältchen zu sehen. Wie auch immer, heute nacht schien ihm das Lächeln restlos vergangen zu sein.

»Ben! Haben Sie unsere Ratten gefunden?«

»Nicht die geringste Spur. Ich brauche dringend ein paar Informationen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin sie verschwunden sein könnten?«

Acuff griff sich mit einer Hand an die Stirn, als wollte er prüfen, ob er Fieber hätte. »Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, Ben. Wenn wir sie nicht finden ... wird es schreckliche Folgen haben.«

Der Hund knurrte zaghaft die unsichtbare Gefahr an, die sich in der Dunkelheit hinter dem Durchgang zum Eßzimmer verbarg, aber schließlich ging das Knurren wieder in ein leises Winseln über.

Zögernd, aber unbeirrt bewegte sich Meg in Richtung des Eßzimmers, tastete an der Wand nach dem Schalter und machte Licht.

Die acht Stühle standen ordentlich um den Queen-Anne-Tisch; matt schimmerten die Teller hinter dem facettierten Glas des großen Geschirrschranks; alles befand sich an seinem Platz. Sie hatte erwartet, einen Einbrecher vorzufinden.

Doofus hielt sich zitternd hinter ihr in der Küche. Er war kein Hund, der sich leicht bange machen ließ, aber irgend etwas mußte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt haben.

»Mam?«

»Bleib da«, sagte sie.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«

Nacheinander betrat Meg die anderen Räume, machte Licht und sah sich um. Sie sah in die Schränke und hinter die größeren Möbelstücke. Oben hatte sie eine Waffe, die sie aber nicht holen wollte, bevor sie nicht sicher sein konnte, daß Tommy allein im Erdgeschoß war.

Megs Sorge um Tommys Gesundheit und Sicherheit war nach Jims Tod größer und größer geworden, nahm zuweilen übertriebene Formen an. Sie wußte, daß es so war, aber sie konnte nichts dagegen machen. Sobald er einen Schnupfen hatte, war sie sicher, daß daraus eine Lungenentzündung würde. Wenn er sich schnitt, schlug ihr das Herz bis zum Hals, als könnte ihn ein Teelöffel Blut gleich das Leben kosten. Als er beim Klettern vom Baum gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte, war sie beim Anblick seines verdrehten Gelenks fast ohnmächtig geworden. Sie liebte Tommy mit jeder Faser ihres Herzens, und der Verlust ihres Sohnes hätte bedeutet, auch noch das letzte zu verlieren, was von Jims Leben geblieben war. Meg Lassiter hatte gelernt, den Tod der ihr am nächsten stehenden Menschen mehr zu fürchten als ihren eigenen.

Daß Tommy schwer erkranken oder bei einem Unfall umkommen würde, war immer eine ihrer größten Ängste gewesen - aber obwohl sie sich aus Gründen des Selbstschutzes eine Waffe gekauft hatte, war sie nie auf die Idee gekommen, daß ihr Sohn Opfer einer verbrecherischen Absicht werden könnte. Verbrecherische Absicht: das klang melodramatisch, lächerlich. Schließlich wohnten sie auf dem Land, wo von Gewalt, wie sie in New York zum alltäglichen Leben gehört hatte, nichts zu spüren war.

Aber irgend etwas hatte den sonst so ausgelassenen und mutigen Labrador verstört. Wenn es kein Einbrecher war - was dann?

Sie ging in die Diele und spähte die dunkle Treppe hinauf. Sie drückte auf den Schalter für das Flurlicht im Obergeschoß.

Langsam verließ sie der Mumm. Sie war durch die Räume im Erdgeschoß gestürmt, ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken, rein aus Sorge um Tommys Wohlergehen. Jetzt begann sie sich zu fragen, was sie tun sollte, wenn sie plötzlich wirklich Auge in Auge einem Einbrecher gegenüberstand.

Kein Geräusch drang aus der oberen Etage zu ihr herunter. Sie hörte nur das Heulen und Pfeifen des Windes. Trotzdem hatte sie das dumpfe Gefühl, daß sie die Treppe besser nicht betreten sollte.

Vielleicht war es am klügsten, wenn sie den Wagen aus der Garage holten und ihre nächsten Nachbarn aufsuchten, die eine Viertelmeile weiter nördlich lebten. Von dort konnte sie dann auch den Sheriff anrufen und darum bitten, daß ihr Haus durchsucht wurde.

Andererseits war es ziemlich gefährlich, während eines Blizzards mit dem Auto unterwegs zu sein, selbst mit einem Jeep mit Allradantrieb.

Außerdem hätte Doofus bei einem Einbrecher wie wild gebellt. Der Hund mochte manchmal etwas tolpatschig sein, aber ein Feigling war er bestimmt nicht.

Vielleicht hatte sein Verhalten nichts mit Angst zu tun; vielleicht hatte sie die Anzeichen nur falsch gedeutet. Sein eingezogener Schwanz, sein hängender Kopf und das Zittern konnten ja auch heißen, daß er krank war.

»Jetzt mach dir nicht gleich in die Hose«, sagte sie wütend und lief die Treppe hinauf.

Der Flur war leer.

Sie ging in ihr Zimmer und holte die zwölfkalibrige Mossberg, eine Schrotflinte mit Pistolengriff und kurzem Lauf, unter dem Bett hervor. Es war die ideale Waffe, was die eigene häusliche Sicherheit anging, leicht zu handhaben, aber gleichzeitig von genug Durchschlagskraft, um potentielle Angreifer nachhaltig abzuschrecken. Man brauchte kein großartiger Schütze zu sein, um mit ihr umgehen zu können, weil die Streuung der Schrotkugeln schon Treffer garantierte, wenn man die Waffe nur in die grobe Richtung des Ziels hielt. Außerdem konnte man einen Angreifer mit leichterer Ladung kampfunfähig machen, ohne ihn gleich zu vernichten. Es lag nicht in ihrer Absicht, irgend jemanden zu töten.

Eigentlich haßte sie Waffen und hätte die Mossberg nie gekauft, wenn sie sich nicht solche Sorgen um Tommy gemacht hätte.

Sie sah im Kinderzimmer nach. Niemand da.

Die beiden Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses waren durch einen großen Türbogen miteinander verbunden und bildeten ihr Atelier. Niemand hatte sich an der Staffelei, dem Zeichenbrett und den weiß lackierten Schränkchen mit ihrem Malzubehör zu schaffen gemacht.

Es lauerte auch niemand in den beiden Badezimmern.

Der letzte Raum, den sie aufsuchte, Jims Büro, war ebenfalls leer. Anscheinend hatte sie sich getäuscht, was das Verhalten des Labradors anging, und ihre Reaktion kam ihr jetzt ziemlich übertrieben vor.

Sie senkte die Schrotflinte, atmete tief durch und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte nichts in Jims Büro verändert, benutzte seinen Computer zum Briefeschreiben und seinen Schreibtisch für die geschäftlichen Angelegenheiten. Aber es gab auch Gefühlsgründe, warum sie seine Sachen unberührt gelassen hatte. Das Zimmer rief ihr in Erinnerung, wie glücklich Jim gewesen war, während er an seinen Romanen geschrieben hatte. Die jungenhaften Züge seines Wesens waren nie sichtbarer gewesen als in jenen Momenten, wenn er über eine neue Idee völlig aus dem Häuschen geraten war. Seit seiner Beerdigung war sie oft in sein Zimmer gegangen, um sich an ihn zu erinnern.

Zuweilen fühlte sie sich wie gefangen, wenn sie an Jims Tod dachte; es kam ihr vor, als wäre eine Tür zugeschlagen und hinter ihm abgeschlossen worden, seitdem er ihr Leben verlassen hatte, und als befände sie sich nun in einem winzigen Raum hinter dieser Tür, ohne jede Möglichkeit, jemals wieder daraus zu entkommen.

Wie konnte sie ein neues Leben beginnen oder neues Glück finden, nachdem sie den Mann verloren hatte, den sie so sehr geliebt hatte? Mit Jim war es perfekt gewesen. Wie sollte eine künftige Beziehung all das vergessen machen?

Sie seufzte, löschte das Licht und schloß die Tür hinter sich. Sie brachte die Schrotflinte wieder in ihr Zimmer zurück.

Während sie durch den Flur zur Treppe ging, hatte sie plötzlich das eigentümliche Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Sie glaubte, den Blick fremder Augen zu spüren, und wandte sich abrupt um. Der Flur war leer. Außerdem hatte sie alle Räume abgesucht. Sie war sicher, daß Tommy und sie allein waren.

Du bist bloß so nervös wegen dem Irren, der dir vorhin beinahe in den Wagen gefahren wäre, beruhigte sie sich.

Als sie in die Küche zurückkam, saß Tommy, so wie sie ihn zurückgelassen hatte, auf dem Stuhl. »Was ist los?« fragte er besorgt.

»Nichts, Schatz. Doofus hat sich nur so komisch benommen, und da dachte ich, daß vielleicht jemand eingebrochen wäre.«

»Hat Doofus irgendwas angestellt?«

»Nein«, sagte sie. »Jedenfalls hab’ ich nichts bemerkt.«

Der Labrador schlich nicht länger mit gesenktem Kopf herum. Er zitterte auch nicht mehr. Er hatte auf dem Boden neben Tommys Stuhl gehockt, als Meg hereingekommen war, und kam jetzt schwanzwedelnd auf sie zu und leckte ihr die Finger, als sie ihm die Hand hinhielt. Dann lief er auf den Flur und kratzte mit einer Pfote an der Haustür, um zu zeigen, daß er nach draußen mußte.

»Zieh den Mantel und die Handschuhe aus«, sagte sie zu Tommy, »aber bleib bloß sitzen, bis ich dir die Krücken gebracht habe.«

Sie zog wieder ihre Boots über und ging mit dem Hund nach draußen in den tobenden Sturm. Die Schneeflocken waren kleiner und härter, fast wie Sand geworden, und prasselten mit winzigen, millionenfach klickenden Geräuschen auf das Verandadach.

Doofus stürmte unverdrossen in den Hof.

Meg fuhr den Wagen in die Scheune, die als Garage diente. Als sie aus dem Jeep stieg warf sie einen Blick hinauf zu den im Dunkel liegenden Dachsparren, die im Sturm knarrten. Die Scheune roch nach verschüttetem Öl und Wagenschmiere; trotzdem lag immer noch ein vager Geruch nach Heu und Vieh in der Luft, den auch all die Jahre nicht ganz hatten verdrängen können.

Als sie Tommys Krücken aus dem Wagen nahm, spürte sie wieder, wie es ihr eiskalt den Nacken hochkroch: ihre körperliche Reaktion auf das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie spähte ins Innere der Scheune, das nur von einer schwachen Leuchte über dem Tor erleuchtet wurde. Es hätte sich jemand hinter den Trennwänden der Pferdeboxen an der Südseite verbergen oder oben auf dem Heuboden lauern können, aber sie entdeckte weit und breit nichts, was ihren Verdacht bestätigte und auf einen Eindringling hinwies.

»Meg, du hast in letzter Zeit zu viele Krimis gelesen«, sagte sie laut, versuchte, sich mit dem Klang ihrer Stimme Mut zu machen.

Tommys Krücken in der Hand, verließ sie die Scheune, drückte auf den Knopf für die Torautomatik und sah zu, wie sich die Metallrolläden senkten, bis sie mit einem Klonk auf dem Boden aufsetzten.

Auf halbem Wege durch den Hof blieb sie stehen, berührt von der Schönheit der Winterlandschaft. Der Schnee auf dem Boden schimmerte in einem geisterhafte Glanz, ähnlich dem des Mondes, und ließ trotz des Sturms alles ruhig und friedlich erscheinen. Am nördlichen Ende des Hofs ragten die schwarzen Äste fünf kahler Ahornbäume in die Nacht; Schnee bedeckte ihre rauhe Borke.

Wenn sie Pech hatten, waren sie und Tommy morgen eingeschneit. Jeden Winter war die Black Oak Road ein paarmal wegen Schneeverwehungen nicht befahrbar. Es gab Schlimmeres, als für kurze Zeit von der Zivilisation abgeschnitten zu sein. In bestimmter Hinsicht war es sogar ein reizvoller Gedanke.

Trotz der seltsamen Schönheit der Nacht war es bitter kalt; die sturmgepeitschten Schneeflocken stachen ihr wie Nadeln ins Gesicht.

Sie rief nach Doofus, und der Labrador kam um die Hausecke gelaufen, war nur schemenhaft im Dunkel zu erkennen, mehr ein Phantom als ein Hund. Er schien über den Boden zu gleiten, als sei er kein lebendes Wesen, sondern eine zurückgekehrte Totenseele. Völlig unbeeindruckt vom Wetter, japste er und wedelte mit dem Schwanz, genauso munter und unternehmungslustig wie sonst auch.

Meg öffnete die Küchentür. Tommy saß immer noch am Tisch. Hinter ihr verharrte Doofus auf dem obersten Treppenabsatz der Veranda.

»Komm schon, Alter, es ist kalt.«

Der Labrador winselte, als hätte er Angst, zurück ins Haus zu müssen.

»Komm jetzt, es ist Zeit zum Abendessen.«

Er nahm die letzte Treppenstufe und setzte zögernd seine Vorderpfoten über die Schwelle. Er steckte den Kopf durch den Türrahmen und beäugte die Küche mit unerklärlichem Argwohn, witterte in der warmen Luft, schüttelte sich.

Sanft versuchte Meg, den Hund mit dem Fuß in die Küche zu schieben.

Er sah mit vorwurfsvollem Blick zu ihr hoch und bewegte sich nicht vom Fleck.

»Jetzt komm aber endlich, Bursche. Willst du uns hier allein lassen?« sagte Tommy von seinem Stuhl aus.

Langsam kam der Hund über die Schwelle, als hätte er verstanden, daß sein Ruf auf dem Spiel stand.

Meg kam ebenfalls herein und schloß die Tür hinter sich.

Sie nahm ein Handtuch von der Wand und sagte: »Wag bloß nicht, dich hier auszuschütteln, bevor ich dich abgenibbelt habe.«

Als sie sich mit dem Handtuch zu ihm hinunterbeugte, schüttelte sich Doofus energisch, geschmolzener Schnee spritzte ihr ins Gesicht und über die Küchenmöbel.

Tommy lachte, so daß der Hund ihn verwundert ansah, worauf Tommy noch mehr lachen mußte, und als Meg sich auch noch anstecken ließ, faßte Doofus wieder Mut. Er richtete sich auf, wedelte, wenn auch zaghaft, mit dem Schwanz und kam zu Tommy herüber. Als sie und Tommy nach Hause gekommen waren, hatten sie sich nach dem gerade noch vermiedenen Zusammenstoß auf der Black Oak Road ziemlich angespannt gefühlt, und vielleicht hatte Doofus instinktiv gespürt, daß ihnen immer noch der Schrecken in den Knochen saß, genau wie er sich jetzt von ihrer Fröhlichkeit anstecken ließ. Hunde sind feinfühlige Tiere, die genau spüren, was in einem Menschen vorgeht, und es gab einfach keine andere Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten.

Die Fenster waren vereist, draußen heulte der Wind, aber das unfreundliche Wetter ließ das Haus nur noch heimeliger erscheinen.

Meg und Tommy saßen am Küchentisch und aßen Spaghetti.

Doofus benahm sich nicht mehr so komisch wie vorher, war aber immer noch nicht wieder der alte. Er wich nicht von ihrer Seite, wollte nicht einmal allein fressen. Überrascht und amüsiert beobachtete Meg, wie der Hund seinen Chappi-Napf mit der Nase über den Boden stupste, bis er neben Tommys Stuhl gerutscht war.

»Demnächst will er wahrscheinlich einen Stuhl und einen eigenen Teller«, sagte Tommy.

»Zuerst muß er mal lernen, wie man eine Gabel hält«, sagte Meg. »Seine Tischmanieren sind nicht die besten.«

»Wir schicken ihn zur Schule«, sagte Tommy und drehte Spaghetti auf seine Gabel. »Vielleicht lernt er, auf Hinterbeinen zu stehen und wie ein Mensch zu gehen.«

»Wenn er erstmal stehen kann, will er bestimmt auch tanzen.«

»Er würde bestimmt keine schlechte Figur auf dem Tanzparkett machen.«

Sie grinsten sich über den Abendbrottisch hinweg an, und Meg genoß das Gefühl der Nähe, das sich einstellt, wenn man einfach hemmungslos herumalbert. In den letzten zwei Jahren war Tommy nur selten in der Laune dafür gewesen.

Doofus war mit seinem Chappi beschäftigt, verschlang es aber nicht wie sonst. Zögernd zerkaute er kleine Bissen, als hätte er keinen Hunger, und zwischendurch hob er immer wieder den Kopf und spitzte die Ohren, als wollte er dem heulenden Wind zuhören.

Später, als Meg das Geschirr wusch und Tommy mit einem Abenteuerroman am Küchentisch saß, sprang Doofus unvermittelt auf und stieß ein unterdrücktes Bellen aus. Stocksteif und mit hoch erhobener Rute fixierte er den Küchenschrank, der sich zwischen dem Kühlschrank und der Kellertür befand.

»Mäuse?« fragte Tommy hoffnungsvoll, weil er nichts so gräßlich wie Ratten fand.

»Hört sich ein bißchen groß für Mäuse an.«

Sie hatten schon früher Ratten gehabt. Immerhin lebten sie auf einer Farm, und Nagetiere suchten immer wieder in der Scheune nach Futter. Obwohl die Scheune nur noch den Jeep und einen anderen Wagen beherbergte, kamen die Ratten jeden Winter wieder, als erinnerten sie sich daran, daß die Cascade Farm einst ihr Zufluchtsort gewesen war.

Aus dem Küchenschrank war ein Kratzen zu hören, gefolgt von einem dumpfen Poltern, als irgend etwas umfiel, und den unverwechselbaren Geräuschen eines geschmeidigen Rattenkörpers, der zwischen den Konservendosen über die Einlegeböden lief.

»Total groß«, sagte Tommy mit weit aufgerissenen Augen.

Statt laut zu bellen, fing Doofus zu winseln an und zog sich ans andere Küchenende zurück, so weit nur weg, wie nur möglich vom rattenbehausten Küchenschrank. Und das, obwohl er sonst immer ganz wild darauf gewesen war, den Ratten an den Kragen zu gehen, auch wenn er selten eine gefangen hatte.

Während sie sich die Hände abtrocknete, fragte sich Meg wieder, warum der Hund plötzlich keinerlei Jagdinstinkt mehr zeigte. Sie ging zum Küchenschrank, legte das Ohr an die mittlere der drei Doppeltüren und horchte. Nichts.

»Es ist weg«, sagte sie nach langen Sekunden des Schweigens.

»He, du willst den Schrank doch jetzt nicht aufmachen«, sagte Tommy.

»Na sicher. Ich muß doch nachsehen, wie das Vieh da hineingekommen ist. Vielleicht hat es ein Loch in die Rückwand genagt.«

»Und was ist, wenn es noch da ist?« fragte der Junge.

»Es ist nicht mehr da, Liebling. He, Ratten sind vielleicht ekelhaft, aber sie sind nicht gefährlich. Nichts ist so feige wie eine Ratte.«

Sie klopfte laut an die Schranktür, um das Vieh zu verscheuchen, falls es tatsächlich noch da war. Sie öffnete die mittleren Türen, sah, daß alles an seinem Platz war, und öffnete den unteren Schrankteil. Ein paar Konservendosen waren umgestoßen. Ein Tüte Salzstangen war aufgerissen und geplündert worden.

Doofus gab ein hohes Wimmern von sich.

Sie griff in den Schrank, räumte ein paar von den Dosen beiseite und nahm ein paar Packungen Makkaroni heraus, um einen besseren Blick auf die Rückwand zu haben. Aus der Küche fiel gerade so viel Licht auf die Einlegeböden, daß sie das Loch in der Sperrholzrückwand erkennen konnte, wo sich die Ratte in den Schrank genagt hatte. Durch das Loch strömte ein kalter Luftzug herein.

Sie stand auf, wischte sich den Staub von den Händen und sagte: »Na, jedenfalls war das ganz bestimmt nicht Mickey Mouse, sondern eine große, garstige, fette Ratte. Besser, wir holen eine von den Fallen.«

Als sie zur Kellertür ging, sagte Tommy: »He, du willst mich doch nicht allein lassen.«

»Ich geh’ nur die Falle holen, Liebling.«

»Aber ... was ist, wenn die Ratte wiederkommt, während du weg bist?«

»Wird sie nicht. Ratten bleiben da, wo’s dunkel ist.«

Der Junge wurde rot; es war offensichtlich, daß ihm seine Angst peinlich war. »Es ist bloß . mit dem Bein . ich kann ja nicht weglaufen.«

Sie verstand den Jungen, war sich aber andererseits bewußt, daß es seine Furcht nur steigern würde, wenn sie ihn jetzt in die Arme nahm. Also sagte sie: »Es ist nur eine Ratte, Tommy. Sie hat Angst vor uns, verstehst du?«

Sie ließ Tommy mit Doofus in der Küche, knipste das Kellerlicht an und ging die Stufen hinunter. Zwei trübe Birnen erhellten das Kellergewölbe. Sie nahm die Fallen - große Geräte mit Stahlzangen, die den Ratten das Rückgrat brachen, keine harmlosen Mausefallen - und eine Schachtel mit vergiftetem Rattenfutter mit nach oben, ohne dabei irgend etwas von ihrem ungebetenen Gast zu sehen oder zu hören.

Tommy gab einen erleichterten Seufzer von sich, als sie zurückkam. »Irgendwas ist komisch an diesen Ratten.«

»Wahrscheinlich ist es nur eine«, sagte sie, als sie die Fallen auf die Arbeitsfläche neben der Spüle stellte. »Was meinst du denn mit >komisch

»Du weißt doch, wie nervös Doofus war, als wir nach Hause gekommen sind. Es müssen die Ratten gewesen sein, die ihm Angst eingejagt haben. Aber wieso - er ist doch sonst auch nicht so leicht zu erschrecken?«

»He«, berichtigte ihn Meg, »bis jetzt haben wir nur eine Ratte gesehen. Ich hab’ auch keine Ahnung, was ihm so unter die Haut gegangen ist. Aber das heißt doch nichts. Erinnerst du dich noch, wie er sich früher naßgemacht hat, wenn ich staubgesaugt habe?«

»Ja, aber da war er ja noch ein Welpe.«

»Komm, mit drei hatte er immer noch eine Heidenangst vor dem Staubsauger.« Sie nahm eine Packung geräucherten Schinken aus dem Kühlschrank, um damit die Fallen zu präparieren.

Doofus hielt sich weiter neben Tommys Stuhl, warf Meg einen bettelnden Blick zu und winselte leise.

Sie konnte nicht zugeben, daß das Verhalten des Labradors sie genauso nervös wie Tommy machte, weil sie die Angst des Jungen nicht noch schüren wollte.

Sie verteilte das vergiftete Rattenfutter auf zwei Teller, stellte den einen in den Stauraum unter der Spüle, den anderen in das Schränkchen mit den Salzstangen. Sie ließ die angebrochene Packung, wo sie war, und hoffte darauf, daß die Ratte zurückkommen und das Gift mitfressen würde.

Dann präparierte sie die Fallen mit dem Schinken. Zwei plazierte sie unter der Spüle und im Schrank bei den restlichen Salzstangen, die dritte in der Diele und die vierte unten im Keller.

Als sie in die Küche zurückkam, sagte sie: »Laß mich eben das bißchen Geschirr abwaschen, bevor wir ins Wohnzimmer rübergehen. Wetten, daß das Biest spätestens morgen früh in eine der Fallen läuft?«

Zehn Minuten später löschte Meg das Küchenlicht und hoffte, die Dunkelheit werde die Ratte aus ihrem Versteck locken und in die Falle laufen lassen. Tommy und sie würden besser schlafen, wenn sie wußten, daß das Biest tot war.

Sie machte Feuer im Wohnzimmerkamin, und Doofus ließ sich vor den prasselnden Flammen nieder. Tommy saß, seine Krücken in Reichweite, in einem Lehnsessel, hatte das eingegipste Bein auf einen Fußschemel gelegt und den Abenteuerroman aufgeschlagen. Meg legte eine Platte in den CD-Player ein und ließ sich dann mit dem neuen Roman von Mary Higgins Clark in ihren Sessel sinken.

Draußen heulte der Wind, aber hier drinnen war es warm und gemütlich. Eine halbe Stunde später war Meg in ihren Roman vertieft, als sie plötzlich ein hartes Zuschnappen aus der Küche hörte.

Doofus hob den Kopf.

Tommy sah sie mit großen Augen an.

Dann ein zweites Geräusch. Schnack!

»Zwei«, rief der Junge. »Wir haben zwei auf einen Schlag erwischt!«

Meg legte ihr Buch zur Seite und griff nach dem gußeisernen Schürhaken, für den Fall, daß die Ratten noch nicht tot waren Gott, wie sie diesen Teil der Rattenjagd haßte!

Sie ging in die Küche, machte Licht und sah zuerst unter die Spüle. Das Rattenfutter auf dem Teller war fast ganz aufgefressen; der Schinken war ebenfalls verschwunden; nur eine Ratte lag nicht in der Falle, obwohl die Zange zugeschnappt war.

Trotzdem war die Falle nicht leer. Unter dem Stahlbügel befand sich ein etwa fünfzehn Zentimeter langes Stück Holz, und es sah fast so aus, als wäre er zum Auslösen des Mechanismus verwendet worden, damit die Ratte gefahrlos an den Köder konnte.

Nein. Das war doch lächerlich.

Meg griff nach der Falle, um sie sich genauer anzusehen. Das Holzstäbchen war auf der einen Seite dunkel gebeizt, auf der anderen Seite naturbelassen, und sah ganz so aus wie ein Stück Sperrholz von der rückwärtigen Schrankwand, durch die sich die Ratte genagt hatte.

Ein Schauder durchlief sie, und sie verdrängte den furchterregenden Gedanken, der ihn ausgelöst hatte.

Im Schrank war das vergiftete Rattenfutter ebenfalls vom Teller verschwunden. Der Mechanismus der zweiten Falle war auf die gleiche Weise ausgelöst worden. Mit einem Stück Sperrholz. Der Köder war fort.

Welche Ratte war gerissen genug, um .?

Sie richtete sich auf und öffnete die mittleren Türen des Küchenschranks. Die Dosen, Jell-O-Packungen, Rosinenbeutel und Haferflockentüten sahen auf den ersten Blick unberührt aus.

Dann sah sie das dunkelbraune, erbsengroße Stück Rattenfutter, das auf dem Regal vor einer offenen All-Bran-Packung lag. Aber sie wußte genau, daß sie kein Rattengift auf dem Regal mit den Haferflocken ausgelegt hatte. Die Ratte hatte das Rattenfutter auf das höher liegende Regalbrett mitgeschleppt.

Wäre sie nicht dadurch alarmiert gewesen, hätte sie die Kratz- und Bißspuren auf der All-Bran-Packung wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Mit klopfendem Herzen starrte sie eine Ewigkeit lang auf die Packung, bevor sie sie vom Regal und mit zur Spüle nahm.

Mit zitternden Händen nahm sie den Schürhaken von der Arbeitsfläche und starrte in die Packung. Sie schüttete ein paar Haferflocken in die Spüle. Zwischen den Flocken befanden sich vergiftete Getreidekörner. Sie leerte die ganze Packung ins Spülbecken. Das gesamte Rattenfutter von den beiden Tellern war unter die Haferflocken gemischt worden.

Ihr Herz raste, klopfte so sehr, daß sie ihren eigenen Puls an den Schläfen spüren konnte.

Was ging hier vor?

Dann hörte sie ein hohes, schrilles Kreischen hinter ihrem Rücken. Ein merkwürdiges, drohendes Geräusch.

Sie drehte sich um und sah die Ratte. Eine gräßliche weiße Ratte.

Sie reckte sich auf den Hinterbeinen und sah vom Einlegeboden, auf dem das All-Bran gestanden hatte, zu ihr herüber. Der Raum über dem Regalbrett maß fünfunddreißig Zentimeter, und die Ratte hatte sich nicht ganz aufgerichtet, weil sie fast einen halben Meter groß war, zwanzig Zentimeter größer als eine normale Ratte, den Schwanz nicht mitgerechnet. Aber es war nicht die Größe der Ratte, die Meg das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das, was ihr wirklich angst machte, war der Kopf des Biests: Er war doppelt so groß wie der Kopf einer gewöhnlichen Ratte, stand in keinem Verhältnis zu ihrem übrigen Körper. Er wölbte sich an der Schädelrundung, während Augen, Nase und Mund merkwürdig zusammengepresst aussahen.

Die Ratte starrte sie an und schlug mit ihren erhobenen Vorderpfoten in die Luft. Sie bleckte die Zähne und gab ein bösartiges Zischen von sich, wie das Fauchen einer Katze, kreischte dann wieder, und es lag soviel Feindseligkeit in ihrem schrillen Schrei und in ihrer Körperhaltung, daß Meg panisch nach dem Schürhaken neben sich auf der Arbeitsfläche griff.

Obwohl die Augen rund und rot waren wie bei jeder Ratte, spiegelte sich etwas im Blick der Ratte, das Meg nicht sofort identifizieren konnte. Es war schrecklich, wie das Biest sie fixierte. Sie sah auf den unförmig großen Schädel - je größer der Schädel, desto größer das Gehirn -, und mit einem Schlag wurde ihr klar, was diesen scharlachroten Blick so anders machte: ein unvorstellbar hoher Intelligenzgrad, der mit dem einer normalen Ratte nichts mehr gemein hatte.

Die Ratte stieß wieder ein herausforderndes Kreischen aus.

Haus- und Wanderratten waren nicht weiß. Laborratten waren weiß.

Jetzt wußte sie, wonach sie bei Biolomech gesucht hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie und warum die dortigen Forscher eine derartige Bestie gezüchtet hatten. Aber sie hatte genug über Genmanipulation gelesen, um zweifelsfrei zu wissen, daß das Biest aus den Labors von Biolomech stammte. Es gab keinen anderen Ort der Erde, von dem dieses Tier kommen konnte.

Sie hatten zu spät reagiert. Während die Biolomech-Sicherheitsleute mit dem Absuchen des Geländes beschäftigt gewesen waren, hatte die Ratte bereits ihr Lager in ihrem Haus aufgeschlagen.

Auf den drei unteren Einlegeböden kämpften sich jetzt andere Ratten durch das Gewirr aus Dosen, Flaschen und Packungen, widerliche, riesige Albinoratten, die genauso aussahen wie das mutierte Biest, das seine Zähne in ihre Richtung fletschte.

Hinter sich hörte sie Krallen über den Boden huschen.

Meg drehte sich nicht einmal um; sie wußte, daß sie sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, mit dem Schürhaken etwas ausrichten zu können. Sie warf die nutzlose Waffe auf den Boden und rannte nach oben, um ihre Schrotflinte zu holen.

Der Raum hatte keine Fenster. In einer Ecke kauerten Ben Parnell und Dr. Acuff vor dem Käfig - einem Zwei-mal-zwei-Meter-Würfel mit einem Metallblechboden, auf den man, damit er nicht zu rutschig war, eine Lage aus weichem, gelbbraunem Heu gestreut hatte. Die Futter- und Wasserbehälter wurden von außen aufgefüllt, die Tiere im Käfig konnten jederzeit Nahrung oder Flüssigkeit zu sich nehmen. Etwa ein Drittel des vergitterten Gehäuses war mit kleinen Holzleitern und einem Klettergestänge als Spielecke eingerichtet. Die Käfigtür stand offen.

Acuff deutete auf die Käfigtür. »Sehen Sie? Der Bolzen hier wird automatisch verriegelt, wenn man die Tür zudrückt. Er kann also nicht aus Versehen oben geblieben sein. Und sobald die Verriegelung eingerastet ist, kann sie nur mit einem Schlüssel gelöst werden. Wir haben das für absolut sicher gehalten. Ich meine, wir konnten doch nicht damit rechnen, daß sie schlau genug sind, ein Schloß zu knacken.«

»So schlau sind sie bestimmt nicht. Wie hätten sie das denn fertigbringen sollen - ohne Hände?«

»Haben Sie sich mal ihre Füße aus der Nähe angesehen? Zugegeben, Rattenfüße sind nicht wie Hände, aber einfach nur mit Pfoten haben wir’s auch nicht zu tun. Es gibt Ansätze einer Fingerbildung, so daß sie durchaus in der Lage sind, nach Dingen zu greifen. Bei den meisten Nagetieren ist das so. Eichhörnchen zum Beispiel - die haben Sie doch bestimmt schon mal aufrecht sitzen und ein Stück Obst in den Vorderpfoten halten sehen.«

»Ja, aber ohne Daumen, der dagegendrücken kann .«

»Natürlich«, sagte Acuff, »besonders weit her ist es mit ihrer Geschicklichkeit nicht, verglichen mit uns. Aber hier haben wir es nicht mit gewöhnlichen Ratten zu tun. Bedenken Sie, daß wir sie genetisch erheblich weiterentwickelt haben. Bis auf die Körperlänge und die Größe des Schädels unterscheiden sie sich nicht sonderlich von anderen Ratten, aber sie sind schlauer. Erheblich schlauer.«

Acuff beschäftigte sich mit Experimenten zur Steigerung der Intelligenz. Er wollte herausfinden, ob bei künftigen Generationen niederer Arten - bei Ratten zum Beispiel - nach entsprechender Genveränderung eine nennenswerte Steigerung der Gehirnkapazität erreicht werden könnte, und das Ganze in der Hoffnung, durch erfolgreiche Laborversuche mit Tieren den Schlüssel zu Verfahren zu finden, mit denen eine Steigerung der menschlichen Intelligenz möglich würde. Seine Versuchsreihe trug die Projektbezeichnung Blackberry - nach dem schlauen, unerschrockenen Hasen in Richard Adams Watership Down.

Ben hatte auf Acuffs Empfehlung Adams’ Buch gelesen, und zwar mit großem Vergnügen, aber zu einem persönlichen Urteil, ob er das Projekt Blackberry gutheißen sollte oder nicht, hatte er sich bis jetzt nicht durchringen können.

»Gut«, fuhr Acuff fort, »lassen wir’s dahingestellt sein, ob sie imstande gewesen sind, das Schloß zu knacken. Vielleicht waren sie’s gar nicht. Nur das hier - das sollte uns zu denken geben.« Er deutete auf den Führungszylinder für den dicken Kupferbolzen im Rahmen der Käfigtür. Die Aushöhlung war mit einer körnigen braunen Masse vollgepackt. »Futterreste. Sie haben die Körner weichgekaut, den Zylinder mit Brei vollgestopft und so den Bolzen und damit die automatische Verriegelung blockiert.«

»Aber ... Das hätten sie nur tun können, solange die Tür offen stand.«

»Nun, da haben wir doch diesen Irrgarten, den wir - jedes mal ein bißchen verändert - von Zeit zu Zeit für sie aufbauen. Durchsichtige Plastikrohre mit komplizierten Hindernissen. Der Irrgarten zieht sich praktisch durch den ganzen Raum. Die Einstiegsröhre verbinden wir mit der Käfigtür, und wenn wir die Tür dann öffnen, können sie direkt in den Irrgarten klettern. Gestern haben wir das Experiment zum letztenmal gemacht, da stand die Käfigtür also längere Zeit offen. Nehmen wir einmal an, ein paar von ihnen hätten sich, statt sofort in die Röhre zu klettern, eine Weile am Einstieg herumgetrieben, ein bißchen geschnüffelt, auch am Zylinder für den Bolzen . Da hätte sich keiner was dabei gedacht, wir haben uns ja ganz darauf konzentriert, was sie im Röhrensystem treiben.«

Ben kam aus der Hocke hoch. »Mir ist eine Idee gekommen, wie sie ins Freie gelangt sein können. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ja.« Acuff stand ebenfalls auf, und sie gingen gemeinsam zur gegenüberliegenden Wand. Dicht über dem Boden war -hinter einem fünfzig-mal-fünfzig-Zentimeter großen Gitter -die Rohrverbindung zum Ventilationssystem in die Wand eingelassen. Das Gitter, gewöhnlich mit einfachen Federkrampen gesichert, war gelockert worden. Acuff fragte: »Haben Sie schon einen Blick in die Austauschkammer geworfen?«

Wegen der speziellen Versuche im Labor Nummer drei mußte die Luft, bevor sie ins Freie geblasen wurde, chemisch dekontaminiert werden. In der fünflagigen Austauschkammer, einer Installation von den Ausmaßen eines großen Pick-ups, wurde die Abluft unter hohem Druck durch mehrere chemische Bäder gejagt.

Acuff war überzeugt: »Durch die Austauschkammer - das haben sie nicht überlebt. Da müssen acht tote Ratten in den Austauschwannen schwimmen.«

»Eben nicht. Wir haben das überprüft. Und die Gitter an den Rohrverbindungen in allen anderen Räumen sitzen fest, da können sie also auch nicht rausgeschlüpft sein.«

Acuff hob die Augenbrauen. »Glauben Sie etwa, daß sie sich immer noch im Ventilationssystem aufhalten?«

»Nein, sie müssen irgendeinen anderen Weg nach draußen gefunden haben, durch die Wände.«

»Aber wie denn? Das ganze unterirdische System besteht aus PVC-Rohren, sämtliche Ventile sind druckversiegelt und absolut hitzebeständig.«

Ben nickte. »Wir vermuten, daß sie an irgendeiner Stelle den Adhäsionskleber aufgekaut und die Röhrenverbindung so weit gelockert haben, daß sie durchschlüpfen konnten. Auf dem Dachboden, unter dem Kniestock, haben wir Rattenkot gefunden. Und eine Stelle, die so aussieht, als hätten sie sich dort durchs Unterdach und die Schindel gefressen. Wenn sie erstmal auf dem Dach waren, kann es nicht besonders schwierig gewesen sein, nach unten zu kommen - an den Regenrinnen entlang und durch die Abwasserrohre.«

John Acuffs Gesicht war bleicher als die salzweißen Flechten in seinem Pfeffer-und-Salz-Bart. »Hören Sie«, sagte er, »wir müssen sie noch heute nacht wieder einfangen, ganz egal, wie. Noch heute nacht.«

»Wir werden’s versuchen.«

»Versuchen genügt nicht, wir müssen es schaffen. Ben, in dem Rudel sind drei Männchen und fünf Weibchen, alle im fortpflanzungsfähigen Alter. Wenn wir sie nicht einfangen, und sie vermehren sich unkontrolliert irgendwo da draußen . Das Ende vom Lied wäre, daß die normalen Ratten ausgerottet würden, und auf einmal wären wir mit einer nie gekannten Bedrohung konfrontiert. Stellen Sie sich das mal vor: Ratten, die so schlau sind, daß sie jede Falle erkennen und sofort merken, ob das, was wie Futter aussieht, in Wirklichkeit vergifteter Köder ist! Sie sind praktisch unausrottbar. Schon jetzt verliert die Welt durch Ratten riesige Mengen an Nahrungsmitteln, in hochentwickelten Ländern wie unserem zehn bis fünfzehn Prozent aller verfügbaren Ressourcen, in manchen Ländern der Dritten Welt sogar fünfzig Prozent. Ben, das sind die Verlustraten bei ganz gewöhnlichen dämlichen Ratten. Wie hoch wären sie bei der Sorte, mit der wir’s jetzt zu tun haben? Sogar hier in den Staaten könnten wir uns einer Hungersnot gegenübersehen, im Falle von Ländern mit niedrigerem Entwicklungsstand müßten wir davon ausgehen, daß eine unvorstellbare Zahl von Menschen zum Hungertod verurteilt ist.«

Ben runzelte die Stirn. »Jetzt malen Sie aber den Teufel an die Wand.«

»Absolut nicht. Ratten sind Parasiten. Sie sind Kämpfernaturen, und diese hier, unsere Ratten, werden viel heftiger und entschiedener kämpfen, wenn es darum geht, eher als andere an den Futtertrögen zu sein.«

Ben spürte, wie ihn schauderte. Er hatte das Gefühl, daß ihm moderiges Herbstlaub am Rückgrat klebte. »Nur weil sie ein bißchen gerissener sind als gewöhnliche Ratten .«

»Nicht ein bißchen. Verdammt viel gerissener.«

»Mein Gott, aber längst nicht so schlau wie wir.«

»Immerhin etwa halb so schlau wie ein durchschnittlich veranlagter Mensch«, sagte Acuff.

Ben blinzelte verblüfft.

Acuff bekräftigte: »Und das ist vielleicht noch untertrieben.« In seinen Augen, in jeder Falte seines zerfurchten Gesichts spiegelte sich Furcht wider. »Und wenn Sie zusätzlich noch ihre angeborene Verschlagenheit berücksichtigen und den Vorteil, den sie durch ihre Größe haben .«

»Durch ihre Größe? Wir sind doch viel größer!«

Acuff wiegte den Kopf hin und her. »Wer kleiner ist, kann daraus durchaus Vorteile ziehen. Weil sie kleiner sind, sind sie schneller als wir. Sie können durch jede Ritze in der Wand schlüpfen, durch jede Regenrinne. Mit einer Körperlänge von fünfzig Zentimetern sind sie zwar anderthalbmal so groß wie gewöhnliche Ratten, aber trotzdem noch so klein, daß sie unbemerkt durchs Dunkel huschen können. Und das ist beileibe nicht ihr einziger Vorteil. Sie können bei Nacht genausogut sehen wie am Tag.«

»Jetzt wollen Sie mir Angst einjagen, Doc.«

»Sie können gar nicht genug Angst haben, Ben. Denn diese Ratten, die wir geschaffen haben, diese neue Spezies, unsere Züchtung, sieht in uns ihre Feinde.«

In diesem Augenblick war sich Ben endlich klar darüber, was er von dem Projekt Blackberry zu halten hatte - es verdiente keine, aber auch gar keine Unterstützung. »Was ... was genau meinen Sie damit?« fragte er. Aber er war sich durchaus nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.

Acuff drehte sich um, ging ein paar Schritte, blieb mitten im Raum stehen, stemmte die Hände auf einen Labortisch, stand da wie ein gebrochener Mann, mit hängendem Kopf und geschlossenen Augen. »Wir wissen nicht, warum sie uns feindlich gesonnen sind. Es ist eben so. Eine Fehlschaltung in der genetischen Anlage? Oder sind sie inzwischen einfach intelligent genug, um zu begreifen, daß wir ihre Herren sind, und lehnen sie sich deshalb gegen uns auf? Was immer der Grund sein mag, sie sind aggressiv. Fanatisch aggressiv. Ein paar aus dem Forschungsteam haben schlimme Bißwunden davongetragen. Früher oder später wäre irgend jemand getötet worden, wenn wir nicht extreme Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätten. Wir fassen sie nur noch mit bißfesten Schutzhandschuhen an, tragen Gesichtsmasken aus Plexiglas und Kevlar-Overalls mit hohem Rollkragen. Kevlar! Das Material, aus dem schußsichere Westen gemacht werden! Und wir müßten so etwas anziehen, weil die Biester es mit aller Entschlossenheit darauf angelegt hatten, uns zu verletzen.«

Erstaunt fragte Ben: »Aber warum haben Sie sie dann nicht einfach vernichtet?«

»Wir konnten doch nicht unseren eigenen Erfolg vernichten.«

Ben war verblüfft. »Erfolg?«

»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus fiel ihre Feindseligkeit nicht so sehr ins Gewicht, solange sie nur schlau waren. Wir waren darauf aus, schlaue Ratten zu züchten, und das war uns gelungen. Was die Feindseligkeit angeht, rechneten wir damit, im Laufe der Zeit den Grund feststellen und entsprechend reagieren zu können. Deshalb haben wir ja alle in einen Käfig sperrt. Wir dachten, die Isolierung in Einzelkäfigen könnte mit für ihre Aggressivität verantwortlich sein. Wir nahmen an, sie seien schon so intelligent, daß ein adäquates soziales Umfeld für sie zur unabdingbaren Notwendigkeit geworden wäre. Und wir haben gehofft, daß sie durch Geselligkeit - nun ja, irgendwie sanfter gestimmt würden.«

»Statt dessen ist es ihnen im Rudel nur leichter geworden zu entkommen.«

Acuff nickte. »Und nun sind sie frei.«

Meg hastete durch den Flur und sah, als sie am Wohnzimmer vorbeikam, gerade noch, daß Tommy sich unbeholfen vom Stuhl hochstemmte und nach seinen Krücken langte. Doofus winselte aufgeregt. Tommy rief nach ihr, aber sie nahm sich keine Zeit, stehenzubleiben. Es kam auf jede Sekunde an.

Am Fuß der Treppe, schon auf den ersten Stufen, warf sie einen Blick zurück. Keine Ratten. Jedenfalls sah sie keine. Die Flurlampe hatte sie allerdings nicht eingeschaltet. Ausgeschlossen war es nicht, daß da unten im Halbdunkel irgend etwas herum wieselte.

Sie nahm zwei Stuten auf einmal und war völlig außer Atem, als sie im oberen Stock ankam. Hastig zog sie in ihrem Zimmer die Schrotflinte unter dem Bett hervor und lud die fünf Magazinkammern: Klacketi-klack.

Im Geiste sah sie ganze Rattenschwärme durchs Zimmer flitzen - eine Vision, die sie auf den Gedanken brachte, sie werde vielleicht noch mehr Munition brauchen. Im Kleiderschrank lag eine Schachtel mit fünfzig Patronen. Sie schob die Tür auf - und stieß einen entsetzten Schrei aus, als sie zwei große weiße Ratten über den Schrankboden huschen sah. Die Biester kletterten über ihre Schuhe und verdrückten sich durch ein Loch in der Rückwand. Alles ging so schnell, daß sie, selbst wenn sie in der ersten Verblüffung auf die Idee gekommen wäre, keine Zeit gehabt hätte, einen Schuß abzugeben.

Die Schachtel mit den Patronen hatte auf dem Schrankboden gestanden, und die Ratten hatten sie gefunden, den Karton durchgenagt, sich die Patronen geholt, eine nach der anderen, und in ein Versteck in der Wand geschleppt. Nur vier Schuß waren übriggeblieben. Meg raffte sie zusammen und stopfte sie sich in die Taschen ihrer Jeans.

Wenn die Ratten es geschafft hatten, sich mit fast dem gesamten Munitionsvorrat auf und davon zu machen, konnte es dann nicht sein, daß sie irgendwann einen Weg fanden, ihr auch die fünf Patronen aus der Magazinkammer der Schrotflinte wegzunehmen? Mußte sie nicht damit rechnen, daß die Biester alles versuchen würden, sie wehrlos zu machen? Die Frage war nur, wie gerissen sie waren. Nein, das war keine Frage mehr, Meg kannte die Antwort. Zu gerissen, viel zu gerissen.

Tommy rief nach ihr, und Doofus bellte ärgerlich. Sie rannte aus dem Schlafzimmer und so hastig die Treppenstufen hinunter, daß sie einen verstauchten Knöchel riskierte.

Der Labrador lag in der kleinen Diele beim vorderen Flur, alle viere von sich gestreckt, den kantigen Schädel tief nach unten gedrückt, die Ohren angelegt, und starrte zur Küche hinüber. Aus dem Bellen war ein gefährliches Knurren geworden, nur, daß er dabei am ganzen Leib zitterte. Tommy, auf seine Krücken gestützt, stand im Wohnzimmer. Der tiefe, erleichterte Atemzug, mit dem Meg feststellte, daß er nicht von wütenden Ratten eingekreist war, kam ihr wie ein stummer Schrei vor.

»Mam, was ist los? Was ist denn passiert?«

»Die Ratten . Ich glaube - nein, ich weiß, daß sie von Biolomech kommen. Das war der Grund für die Straßensperre. Danach haben die Männer mit den Taschenlampen gesucht -und mit den Spiegeln unter dem Wagenboden.« Verstohlen suchte sie das Wohnzimmer ab, jeden Augenblick darauf gefaßt, irgendwo eine huschende Bewegung auszumachen.

»Woher willst du das wissen?« fragte der Junge.

»Ich hab’ sie gesehen. Sobald du sie gesehen hast, weißt du’s auch.«

Doofus lag immer noch in der Diele, aber Meg mußte sich eingestehen, daß sein drohendes Knurren keine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Der Hund war den Ratten - diesen Ratten - nicht gewachsen. Sie würden ihn mit List oder mit Gewalt ausschalten, sobald sie sich zum Angriff entschlossen.

Und irgendwann würden sie angreifen. Das war nach allem, was sie gesehen hatte, keine Ahnung mehr, es war eine Gewißheit. Die Biester waren genetisch verändert, mit ungewöhnlich großen Köpfen und Gehirnen, und sie unterschieden sich durch ihr ganzes Verhalten von normalen Ratten. Die lebten gewöhnlich nur von Abfällen, nicht von der Jagd. Ihr Erfolg beruhte auf der Fähigkeit, ungesehen durchs Dunkel huschen und sich im Mauerwerk der Häuser oder in Kloaken verstecken zu können.

Einen Menschen anzugreifen, wagten sie nie, es sei denn, er war hilflos - ein sinnlos Betrunkener oder ein Baby in der Wiege. Aber die Biolomech-Ratten, die sie in der Küche gesehen hatte, waren frech und aggressiv, Jäger und Aasfresser zugleich, und die Raffinesse, mit der sie ihr die Schrotpatronen gestohlen und sie wehrlos gemacht hatten, konnte nichts anderes bedeuten, als daß sie sich auf einen Angriff vorbereiteten.

»Aber wenn sie nicht wie normale Ratten sind, wie sind sie denn dann?« fragte Tommy mit zitternder Stimme.

Meg sah den abscheulich großen Schädel vor sich, die scharlachroten Augen, in denen sie so viel bösartige Intelligenz gelesen hatte, und die plumpen, weißen, irgendwie abartig wirkenden Körper. »Das erklär’ ich dir später«, sagte sie. »Komm, Liebling, wir sehen zu, daß wir wegkommen.«

Sie hätten durch die Vordertür gehen können, ums Haus herum, über den Hinterhof zur Scheune, wo der Jeep stand, aber das wäre ein langer Weg durchs Schneetreiben gewesen -vor allem für einen Jungen auf Krücken. Also entschied sie sich für den Weg durch die Küche und durch die Hintertür. Zumal sie auf dem Kleiderständer beim Hinterausgang die Jacken zum Trocknen aufgehängt hatte und der Autoschlüssel in ihrer Jackentasche steckte.

Doofus eskortierte sie mutig den Flur entlang und weiter bis in die Küche, nur daß er es offensichtlich nicht gern tat.

Meg hielt sich - die Schrotflinte fest in der Hand, den Finger am Abzug - dicht neben Tommy. Fünf Patronen im Magazin, vier in den Taschen. Reichte das? Wie viele Ratten waren bei Biolomech ausgebrochen? Ein halbes Dutzend, zehn, zwanzig? Sie würde es sich kaum leisten können, auf eine einzelne Ratte zu feuern, statt auf die Gelegenheit zu warten, zwei oder drei mit einem Schuß zu erledigen. Gut, aber wenn sie nun gar nicht im Rudel angriffen? Was, wenn sie einzeln auf sie losgingen, aus verschiedenen Richtungen, so daß sie die Waffe bald nach links, bald nach rechts schwenken mußte und jedesmal nur eine einzige Ratte aufs Korn nehmen konnte - so lange, bis sie die Munition verschossen hatte? Eins stand fest: Sie mußte sie aufhalten, bevor sie ihr oder Tommy zu nahe kamen, auch wenn die Ratten eine nach der anderen angriffen, denn wenn die Biester sie oder Tommy erst einmal angesprungen hatten, würde die Schrotflinte nutzlos sein. Dann blieb ihnen nur noch, sich mit bloßen Händen gegen die scharfen Zähne und Krallen zu wehren. Und in einem solchen Kampf waren sie nicht einmal einem halben Dutzend großer, unerschrockener und unheimlich schlauer Ratten gewachsen, wenn die Tiere es darauf anlegten, ihnen die Kehle aufzureißen.

In der Küche war es still, bis auf das Heulen des Windes und den klumpigen Schnee, der gegen die Scheiben klatschte. Die Schranktüren standen immer noch offen, auf den Einlegeböden waren momentan keine Ratten zu sehen.

Das alles war verrückt! Seit zwei Jahren machte sie sich Sorgen, ob sie auch wirklich in der Lage war, Tommy allein großzuziehen, ohne Jims Hilfe. Zerbrach sich den Kopf, wie sie ihm beibringen sollte, was ein Leben rechtschaffen und anständig macht. Erschrak zu Tode über jede Verletzung und jede noch so harmlose Krankheit. Zermarterte sich das Hirn, was sie tun sollte, wenn eines Tages schwerwiegende Probleme auftauchten - weiß Gott, was es da geben mochte. Aber so etwas - so etwas hatte sie nicht erwartet, darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Oft genug hatte sie es als glückliche Fügung empfunden, daß sie und Tommy auf dem Land lebten, wo die Bedrohung durch Verbrechen nicht zur alltäglichen Sorge gehörte wie in der Stadt, aber jetzt war die idyllische Cascade Farm, friedlich in die Wiesen am Rande der Black Oak Road gebettet, auf einmal ein schlimmerer Ort als das finsterste Viertel in irgendeiner Großstadt.

»Zieh deine Jacke an«, sagte sie zu Tommy.

Doofus stellte die Ohren auf. Schnüffelte. Sein Blick irrte suchend umher, hakte sich einen Moment auf der Anrichte fest, wanderte weiter zum Kühlschrank, konzentrierte sich auf den offenen, dunklen Einbauschrank unter der Spüle.

Die Waffe fest in der rechten Hand, angelte Meg mit der linken ihre Jacke vom Haken, brauchte eine Weile, bis sie es geschafft hatte, in den Ärmel zu fahren, nahm die Schrotflinte in die linke Hand, schlüpfte in den rechten Ärmel. Auch als sie die Gummistiefel anzog, benutzte sie nur eine Hand, um keinen Preis der Welt hätte sie die Waffe weggelegt.

Tommy starrte auf die Rattenfalle, die ursprünglich unter der Spüle gestanden und die Meg später auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte. Das Stück Holz, mit dem die Ratten den Mechanismus der Falle ausgelöst hatten, steckte immer noch unter dem gezahnten Schlaghammer. Tommy runzelte die Stirn.

Aber bevor er dazu kam, weiter darüber nachzudenken oder gar Fragen zu stellen, sagte Meg: »Du schaffst das kurze Stück draußen auch ohne Gummistiefel. Und laß die Krücken hier, mit denen kommst du im Schnee sowieso nicht zurecht. Du stützt dich besser auf mich.«

Urplötzlich erstarrte Doofus.

Meg brachte die Waffe hoch, ihr Blick suchte die Küche ab.

Der Labrador knurrte - ein Grollen, das tief aus seiner Kehle kam, aber von Ratten war weit und breit nichts zu sehen.

Meg zog die Tür auf, und steifer Wind wehte herein. »Komm, gehen wir«, sagte sie, »beeilen wir uns.«

Tommy stolperte nach draußen, suchte am Türrahmen Halt, tastete sich an der Wand der Veranda entlang. Der Hund drückte sich hinter ihm ins Freie. Meg folgte als letzte und zog die Tür hinter sich zu.

In der Rechten hielt sie die Waffe, mit der Linken stützte sie Tommy. Sie führte ihn über die Veranda und die schneebedeckten Stufen hinunter in den Hof. Es war kalt, und der schneidende Wind tat ein übriges; die Temperatur mußte inzwischen weit unter Null liegen. Ihre Augen tränten, ihr ganzes Gesicht fühlte sich taub an. Sie hatte sich keine Zeit genommen, Handschuhe anzuziehen, und nun kroch ihr die Kälte in die Finger. Trotzdem, hier draußen war ihr wohler zumute, hier fühlte sie sich sicherer als im Haus. Daß die Ratten sie hierher verfolgen würden, glaubte sie nicht. Der Sturm, gegen den sich schon Meg und Tommy anstemmen mußten, war für relativ kleine Lebewesen wie Ratten sicher eine unüberwindbare Barriere.

Es war nahezu unmöglich, sich zu unterhalten, so heftig fegte der Wind übers flache Land. Er fing sich heulend unter den Dachkanten und zauste die kahlen Äste der Ahornbäume. Tommy und Meg stopften schweigend durch den Schnee, Doofus blieb an ihrer Seite. Obwohl sie ein paarmal ins Rutschen gerieten und um ein Haar gestürzt wären, legten sie den Weg zur Scheune schneller zurück, als sie gedacht hatten. Meg drückte den Schalter für die Torautomatik, und sie und Tommy huschten gebückt in die Scheune, ehe der Metallrolladen noch ganz oben war. Im schwachen Lichtschein der einzigen Glühbirne gingen sie auf den Geländewagen zu.

Meg fischte die Autoschlüssel aus der Jackentasche, schloß die rechte Wagentür auf, ließ den Sitz so weit wie möglich zurückrutschen und half Tommy hinein. Sie wollte ihn dicht neben sich haben, auf dem Beifahrersitz, obwohl er es hinten auf der Rückbank bequemer gehabt hätte. Als sie sich nach dem Hund umdrehte, sah sie, daß er draußen stehengeblieben war, direkt vor dem Tor, und offensichtlich nicht vorhatte, ihnen zu folgen.

»Doofus, bei Fuß, schnell!« rief sie.

Der Labrador winselte und starrte ins Halbdunkel. Nicht lange, und sein Winseln ging in ein tief grollendes Knurren über.

Meg erinnerte sich an das Gefühl, heimlich beobachtet zu werden - vorhin, als sie den Jeep geparkt hatte. Sie spähte in die dunklen Winkel und hoch zu den Brettern des Heubodens. Aber da rührte sich nichts, da huschten keine bleichen Schatten geduckt durchs Dunkel. Und sie entdeckte auch nicht die gespenstisch rot leuchtenden Augen, an denen man Nagetiere bei Nacht zuerst ausmachen kann.

Der Labrador war wahrscheinlich nur nervös und übertrieben vorsichtig. Verständlich, aber sie hatte es eilig, sie mußte hier weg. Deshalb rief sie ihn noch einmal - und diesmal energischer: »Doofus, komm her, aber sofort!«

Er trottete zögernd in die Scheune, witterte, zog schnüffelnd die Nase über den Boden, kam schließlich angerannt und sprang mit einem Satz auf die Rückbank des Jeeps.

Meg schloß die Tür, ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite und rutschte hinters Lenkrad. »Wir fahren zurück zu Biolomech«, sagte sie. »Wir sagen ihnen, daß wir gefunden haben, was sie suchen.«

»Was ist denn mit Doofus los?« fragte Tommy.

Der Hund tänzelte unruhig auf den Rücksitzen hin und her, drückte sich bald links, bald rechts die Nase am Seitenfenster platt und stieß kläglich-ängstliche Laute aus.

»Na ja, du kennst doch Doofus«, sagte Meg.

Tommy - tief in den Sitz geduckt, ein wenig verrenkt, weil er irgendwie mit dem Gipsbein zurechtkommen mußte - kam ihr auf einmal jünger vor als ein Zehnjähriger. Sie spürte, wieviel Angst sich in ihm aufgestaut hatte, wieviel Schutz er brauchte.

»Alles in Ordnung«, sagte sie, »wir sind so gut wie weg.«

Sie schob den Schlüssel ins Zündschloß, drehte ihn. Nichts. Sie versuchte es noch einmal. Der Jeep sprang nicht an.

Am Nordrand des Biolomech-Geländes kauerte Ben Parnell am Zaun und inspizierte den Kriechgang in der halb gefrorenen Erde - der Größe nach konnte er von Ratten stammen. Einige seiner Männer standen bei ihm, einer hielt die Taschenlampe auf das Loch im Boden gerichtet. Den Männern vom Suchtrupp war es erst beim zweiten Rundgang aufgefallen, und sogar das war ein Glücksfall, denn hätte es in einer Mulde gelegen, vor dem Wind geschützt, wäre es von einer Schneewehe zugedeckt gewesen.

Steve Harding mußte gegen den Sturm anschreien, als er fragte: »Meinen Sie, die haben sich eine Höhle gebuddelt und sind noch da drin?«

»Nein.« Bens Atem hing wie Rauch in der arktisch kalten Luft. Wenn er mit der Möglichkeit gerechnet hätte, daß die Ratten sich da unten versteckten, hätte er sich nicht so unbekümmert vor das Loch gekauert, wo sie ihn jederzeit anfallen und ihm direkt ins Gesicht springen konnten.

Feindselig, hatte John Acuff gesagt. Extrem feindselig.

»Nein«, sagte Ben, »sie haben sich nicht hier eingegraben. Der Gang führt nur unter dem Zaun durch. Auf der anderen Seite sind sie wieder herausgekrochen und wer weiß wohin verschwunden.«

Ein hochgewachsener, schlaksiger junger Mann, dem Ärmelabzeichen nach ein Deputy des County Sheriffs, stieß zu der Gruppe und fragte: »Heißt hier jemand Parnell?«

»Ja, ich.«

»Ich bin Joe Hockner.« Auch er mußte fast schreien, um sich verständlich zu machen. »Vom Sheriffsbüro. Ich hab’ den Spürhund dabei, den Sie angefordert haben. Was ist denn hier eigentlich los?«

»Ich erklär’s Ihnen gleich«, versprach Ben und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kriechgang zu, der unter dem Zaun ins freie Gelände führte.

George Yancy, einer aus Bens Gruppe, meinte skeptisch:

»Woher wollen wir wissen, daß sie’s waren, die das Loch gegraben haben? Es können doch genausogut andere Tiere gewesen sein.«

»Kommt mal mit der Lampe näher ran«, verlangte Ben.

Das Loch mochte einen Durchmesser von zwölf Zentimetern haben. Steve Harding richtete den Lichtstrahl direkt auf das Zentrum.

Ben beugte sich weiter vor, kniff die Augen zusammen und entdeckte etwas, was auf den ersten Blick aussah wie weiße Zwirnschnipsel. Sie klebten an der feuchten Erde, eine Handbreite im Inneren der Aushöhlung, nur deshalb hatte der Wind sie nicht weggetragen. Ben streifte den rechten Handschuh ab, langte mit spitzen Fingern hin und erwischte zwei Fäden.

Keine Fäden. Weiße Haare.

Tommy und der Hund blieben im Geländewagen, Meg nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg - die Schrotflinte im Arm - aus, um einen Blick unter die Motorhaube zu werfen. Sie knipste die Lampe an. Ein wirres Durcheinander von zerrissenen, ineinander verschlungenen Kabelverbindungen - am Zündverteiler, unter den Zündkerzen, überall. Die Isolierungen waren aufgenagt, Öl und Kühlflüssigkeit tropften auf den Boden unter dem Jeep.

Bisher hatte ihr das Ganze Angst eingejagt, jetzt packte sie das blanke Entsetzen. Aber es war ihr auch klar, daß sie ihre Panik vor Tommy nicht zeigen durfte.

Sie schloß die Motorhaube, ging zur Fahrerseite und öffnete die Tür. »Ich weiß nicht, was los ist, aber da tut sich nichts mehr.«

»Vorhin auf dem Heimweg war doch noch alles in Ordnung.«

»Ja, stimmt. Aber jetzt nicht mehr. Komm, laß uns gehen.«

Der Junge ließ sich von ihr aus dem Wagen helfen, und als sie ihn festhielt und ihre Gesichter sich ganz nahe waren, fragte er: »Die Ratten haben sich drüber hergemacht, nicht wahr?«

»Die Ratten? Die treiben sich im Haus rum. Und wie ich schon sagte, es sind gräßliche Viecher, aber ...«

Er wollte sich nicht beschwindeln lassen. »Du willst es mich nicht merken lassen«, fiel er ihr ins Wort, »aber du hast Angst vor ihnen, mächtige Angst. Also können sie nicht nur ein bißchen anders sein als normale Ratten, denn so leicht geht dir nichts unter die Haut - dir nicht. Als Dad gestorben ist - das ist dir unter die Haut gegangen. Aber nicht lange, dann hast du wieder Mut gefaßt. Mir zuliebe, weil du wolltest, daß ich mich geborgen fühle. Und wenn Dads Tod dich nicht aus der Fassung gebracht hat, dann denk’ ich mir, so schnell läßt du dich nicht umwerfen, von gar nichts. Aber diese Ratten von Biolomech, die gehen dir mehr unter die Haut als irgendwas je zuvor.«

Sie zog ihn fest an sich. Die Liebe, mit der sie an ihm hing, tat weh, fast wie ein körperlicher Schmerz. Trotzdem, die Schrotflinte legte sie nicht aus der Hand.

»Mom«, sagte er, »ich hab’ die Falle mit dem Stück Holz gesehen, und die Haferflocken im Spülbecken mit den Giftkörnern dazwischen auch. Ich hab’ über alles nachgedacht, und ich glaube, das mit den Ratten . Es hat etwas damit zu tun, daß sie unheimlich schlau sind, nicht wahr? Sie sind’s, weil sie im Labor irgendwas mit ihnen angestellt haben. Sie sind schlauer, als Ratten eigentlich sein können. Und jetzt haben sie uns den Jeep kaputtgemacht.«

»Sie sind nicht schlau genug. Nicht für uns, Liebling.«

»Was wollen wir denn jetzt machen?« flüsterte er.

Auch sie senkte die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern, obwohl sie in der Scheune keine Ratten gesehen hatte und sich nicht vorstellen konnte, warum die Biester sich, nachdem sie den Geländewagen unbrauchbar gemacht hatten, noch länger hier draußen herumtreiben sollten. Und selbst wenn sie noch im Dunkel gelauert hätten, die menschliche Sprache verstanden sie bestimmt nicht. Egal, was die Burschen bei Biolomech mit ihnen angestellt hatten, irgendwo war allem eine Grenze gesetzt. Trotzdem war ihre Stimme nur ein Hauch, als sie antwortete: »Wir gehen ins Haus und ...«

»Aber vielleicht warten sie nur darauf.«

»Vielleicht. Aber ich muß versuchen zu telefonieren.«

»Ans Telefon haben sie bestimmt längst gedacht.«

»Kann sein. Vielleicht aber auch nicht. Ich meine, wie schlau können die Biester denn sein?«

»Schlau genug, um an den Jeep zu denken.«

Hinter dem Zaun erstreckte sich eine knapp hundert Meter lange Wiese, danach begannen tiefe, dunkle Wälder.

Die Chance, die Ratten irgendwo aufzuspüren, war verschwindend klein, dennoch schwärmten die Männer in Zweier- und Dreiergruppen aus und suchten das offene Gelände ab. Dabei wußten sie im Grunde nicht, wonach sie eigentlich Ausschau halten sollten. Sogar bei gutem Wetter, an trockenen, sonnigen Tagen, war es nahezu unmöglich, Spuren von so kleinen Tieren wie Ratten zu verfolgen. Und jetzt - wo sollten sie nach diesem Sturm noch Spuren finden?

Ben Parnell führte vier Männer direkt zum Waldrand jenseits der Wiese. Sie sollten dort, wo der Baumwuchs und das wuchernde Gebüsch anfingen, mit Hilfe des Spürhundes alles absuchen. Der Hund hörte auf den Namen Max. Er war kräftig gebaut, nicht sehr groß, mit riesigen Ohren und einem Gesicht, das eher ein bißchen komisch wirkte. Aber wer ihm bei der Arbeit zusah, dem verging das Lachen schnell. Max war mit großem Ernst und mit Eifer bei der Sache. Deputy Joe Hockner, der Hundeführer, hatte Max am Kot aus dem Käfig schnuppern lassen und eine Stelle im Gras entdeckt, an der der Hund die Witterung aufnehmen konnte. Man sah es Max an, daß ihm der Geruch, den er in der Nase hatte, gar nicht schmeckte, aber die Fährte war offensichtlich so intensiv, daß einer wie er - ein Hund mit ausgeprägtem Jagdinstinkt, der immer sein Bestes geben wollte, egal, wie sehr der Wind heulte und wie dicht das Schneegestöber war - ihr leicht folgen konnte.

Es dauerte nur zwei Minuten, bis er in winterdürrem Gestrüpp fündig geworden war. Er zerrte an der Leine und zog Hockner hinter sich her in den Wald, Ben und seine Männer schlossen sich an.

Meg hielt Doofus die Wagentür auf, und sie, Tommy und der Hund eilten auf das weit offenstehende Scheunentor zu. Draußen formte der Sturm weiße Spukgestalten aus den wirbelnden Flocken. Er war stärker geworden, fuhr mit wütender Gewalt in die Dachziegel, zerrte an ihnen, daß sie klapperten und klirrten; ein paar hatte er schon herausgerissen. Die Dachsparren ächzten, und die Lukentür schwang lose in den Angeln.

»Tommy, du bleibst auf der Veranda. Ich gehe in die Küche, nur bis zum Telefon. Wenn es nicht funktioniert, schlagen wir uns zur Straße durch und halten einen Wagen an.«

»Bei so einem Sturm ist doch niemand unterwegs.«

»Irgend jemand wird schon vorbeikommen. Der Schneepflug oder der Streuwagen.«

Er blieb am offenen Scheunentor stehen. »Mam, bis zur Black Oak Road - das ist eine dreiviertel Meile. Ich glaub’ nicht, daß ich mit dem Gipsverband so weit gehen kann, auch wenn du mir hilfst. Bei so einem Sturm! Ich bin jetzt schon müde, ich hab’ Muskelkater, weil das eine Bein alles allein schaffen muß. Wenn ich überhaupt bis zur Straße komme, dauert es bestimmt sehr, sehr lange.«

»Wir schaffen es«, sagte sie, »und es ist ganz egal, wie lange es dauert. Bis zur Straße verfolgen sie uns nicht, da bin ich ganz sicher. Der Sturm ist unser bester Schutz - wenigstens vor ihnen.« Und dann fiel ihr der Schlitten ein. »Ich kann dich bis zur Straße ziehen.«

»Ziehen? Mich?«

Sie nahm in Kauf, daß sie Tommy unter Doofus’ Obhut so lange allein lassen mußte, bis sie zurück in die Scheune gerannt war, zur Bretterwand an der Nordseite, wo neben dem Spaten, der Hacke und dem Rechen der Schlitten hing - der Midnight Flyer, wie der Schriftzug auf der Sitzschale verhieß. Ohne die Waffe aus der Hand zu legen, hakte sie den Schlitten los und schleppte ihn zum Scheunentor, wo Tommy wartete.

»Aber Mam, du kannst mich nicht ziehen, ich bin zu schwer.«

»Hab’ ich dich nicht schon wer weiß wie oft durch den dicksten Schnee gezogen - kreuz und quer übers Farmgelände?«

»Ja, aber das war vor Jahren, da war ich noch klein.«

»He, Cowboy, ein Riese bist du jetzt auch noch nicht. Na, komm schon!«

Gut, daß ihr der Schlitten eingefallen war. Einen Vorteil habe ich gegenüber den Hightech-Gespenstern aus dem Biolomech-Labor, dachte sie. Ich bin eine Mutter, die ihr Kind beschützen will, und das macht mich stark. Die Biester müssen mit mir rechnen.

Sie stellte den Schlitten draußen ab und half Tommy in die Sitzschale. Links stemmte er den Schuh gegen die Führungskufen. Der rechte Fuß steckte im Gips, bis auf die Zehen. Der dicke Wollstrumpf, den sie ihm über den Gips und die nackten Zehen gezogen hatte, war völlig durchweicht, die nasse Wolle fing schon zu gefrieren an. Trotzdem schaffte es Tommy irgendwie, sich auch mit dem rechten Bein so abzustemmen, daß er festen Halt hatte.

Doofus strich ängstlich um den Schlitten herum und bellte ein paarmal laut die offene Scheune an, aber Meg, die jedesmal aufsah und das Dunkel absuchte, konnte nichts entdecken.

Sie nahm das steifgefrorene Nylonseil, betete stumm, daß das Telefon nicht tot war, und zog Tommy auf dem Schlitten über den langgestreckten Hof. An manchen Stellen - Gott sei Dank nur an wenigen - schnitten die Kufen so tief in den Schnee, daß sie sich sekundenlang im halb gefrorenen Boden festgruben, aber sie bekam den Schlitten jedesmal wieder flott. Im allgemeinen lag die frische Schneedecke so hoch, daß die Kufen leicht und geschmeidig darüber hinwegglitten. Das bestärkte sie in der Hoffnung, daß sie es, wenn nötig, bis zur Straße schaffen und nicht auf halbem Wege vor Erschöpfung zusammenbrechen würde.

Das Unterholz war nicht sehr dicht, und die Ratten schienen sich auf ihrer Flucht vorwiegend an die Pfade gehalten zu haben, die das Rotwild ins Dickicht getreten hatte, denn der Spürhund jagte, ohne erst lange suchen zu müssen, in einem solchen Tempo los, daß die Männer Mühe hatten, ihm zu folgen. Zum Glück war der meiste Schnee in den Baumkronen hängengeblieben, weswegen es nicht nur den Männern, sondern auch Max mit seinem gedrungenen Körperbau erspart blieb, sich mühsam durch hohe Verwehungen zu kämpfen. Ben wunderte sich, daß der Hund während der Verfolgungsjagd nicht laut bellte; in alten Filmen, erinnerte er sich, stieß die Meute immer ein gräßliches Gebell aus, wenn sie hinter Cagney oder Bogart herjagte. Von Max war nichts als das unablässige Hecheln und Schnüffeln zu hören.

Sie mochten etwa fünfhundert Meter vom Zaun entfernt sein und stolperten auf unebenem Boden von einer Furche zur anderen, während sie immer wieder unwillkürlich zurückschraken, wenn das schwankende Taschenlampenlicht ihnen jäh bizarre Gestalten vorgaukelte.

Auf einmal wurde Ben klar, daß die Ratten sich hier im Wald bestimmt keine Winterhöhle gegraben hatten. Wenn sie das vorgehabt hätten, hätten sie es gleich am Waldrand tun können, dicht hinter der ersten Baumreihe. Aber sie waren immer tiefer in den Wald eingedrungen, und das konnte nur bedeuten, daß sie auf einen bequemeren Unterschlupf aus waren als auf eine Erdhöhle mitten in der Wildnis. Eigentlich ganz logisch, da sie doch an ein Leben in der freien Natur überhaupt nicht gewöhnt waren. Die Generation am Ende einer langen Kette von Laborversuchen - zeitlebens war ihre vertraute Umgebung der Käfig gewesen, in dem immer frisches Futter und Wasser für sie bereitstand. So schlau sie auch sein mochten, im Wald wären sie verloren gewesen. Deshalb kämpften sie sich durch den Schnee - in der Hoffnung, irgendwo eine menschliche Behausung zu finden, in der sie sich verkriechen konnten. Und auf dem Weg zu diesem Ziel hätten nur ein rapider Temperatursturz oder völlige Erschöpfung sie aufhalten können.

Cascade Farm.

Mit einem Mal fiel ihm die attraktive junge Frau im Geländewagen ein. Kastanienfarbenes Haar, mandelbraune Augen, ein Gesicht wie aus Porzellan; wären da nicht ein paar hübsche Sommersprossen gewesen, hätte es fast eine Spur zu puppenhaft gewirkt. Der Junge hinten im Wagen, mit dem Bein im Gipsverband - neun oder zehn mochte er gewesen sein -, hatte Ben an seine eigene Tochter erinnert. Melissa war auch neun gewesen, als sie nach einem langen vergeblichen Kampf ihr Leben an den Krebs verloren hatte. In den Augen des Jungen hatte Ben dieselbe Unschuld gelesen wie seinerzeit bei Melissa, dieses grenzenlose, trügerische Vertrauen, das von dem Gefühl herrührte, in der Nähe eines liebenden Menschen geborgen zu sein. Vorhin auf der Straße, als Ben Mutter und Sohn durchs offene Wagenfenster gemustert hatte, war so etwas wie Neid in ihm wach geworden: zwei, die ein Leben in der Geborgenheit einer Familie führten, ohne von den düsteren Schatten eines Schicksalsschlages bedroht zu sein.

Jetzt, während er sich hinter Deputy Hockner und dem Hund seinen Weg durch den Wald bannte, wuchs plötzlich die Gewißheit in ihm, daß die Ratten, die wenige Stunden vor Beginn des Schneefalls aus dem Biolomech-Labor entkommen waren, ihr Ziel gefunden hatten: die Cascade Farm, den am nächsten gelegenen Ort, der von Menschen bewohnt wurde. Und er wußte, daß sich die Familie, die er vorhin noch beneidet hatte, auf einmal in tödlicher Gefahr befand. Lassiter - so hießen die Leute auf der Farm. Er wußte es: Die Ratten hatten sich bei den Lassiters eingenistet. Er war sich so sicher, als hätte er es mit eigenen Augen gesehen.

Feindselig, hatte Acuff gesagt. Extrem feindselig. Von dumpfer Wut getrieben, unerbittlich, teuflisch feindselig.

»Haltet mal an! Wartet! Bleibt stehen!« rief er.

Deputy Hockner zerrte Max an der Leine zurück, auch die anderen Männer blieben stehen, und schließlich versammelten sich alle auf einer kleinen Lichtung. Ringsum bogen sich die Pinienstämme im peitschenden Wind. Der Atemhauch der Männer schien in der Luft zu gefrieren. Fragend sahen sie Ben an.

»Steve«, ordnete Ben an, »gehen Sie zurück zum Haupttor, nehmen Sie sich einen Lastwagen und eine Handvoll Männer und fahren Sie zur Cascade Farm. Sie wissen, wo das ist?«

»Ja, ein Stück weit die Black Oak Road hinunter.«

»Gott möge den Leuten dort beistehen. Ich bin so gut wie sicher, daß die Ratten sich da verkrochen haben. Es ist der einzige warme Unterschlupf in erreichbarer Nähe. Wenn sie’s nicht bis zur Farm geschafft haben, kommen sie im Sturm um, aber an so viel Glück wage ich nicht zu glauben.«

Steve drehte sich um. »Bin schon unterwegs.«

Zu Deputy Hockner sagte Ben: »Okay, machen wir uns auch auf den Weg. Hoffen wir, daß ich falsch liege.«

Hockner gab die straffgezogene Leine frei, an der er Max zu sich herangezogen hatte. Und dieses Mal bellte der Hund, als wollte er mit seinem tiefen, langgezogenen Laut signalisieren, daß er die Fährte wieder aufgenommen hatte.

Zur selben Zeit hatte Meg, den Schlitten im Schlepp, die Stufen zur Veranda erreicht. Ihr Herz schlug wild, und ihre Kehle brannte von der rauhen, eiskalten Luft, mit der sie sich die Lungen vollgepumpt hatte. Von ihrer Zuversicht, Tommy notfalls auf dem Schlitten bis zur Landstraße ziehen zu können, war nicht viel übriggeblieben. Irgendwann später, wenn sich der Sturm gelegt hatte, mochte das nicht so schwierig sein, aber wie es jetzt aussah, bezweifelte sie, daß ihre Kräfte ausreichten, um den Jungen auf dem Schlitten - noch dazu ständig gegen den wütenden Sturm gestemmt - über eine so lange Strecke hinter sich herzuschleppen. Außerdem war der Schlitten noch gar nicht für den Winter hergerichtet: Die Kufen mußten mit Sandpapier entrostet, mit Öl und danach mit Seife eingerieben werden - und sie war fest davon überzeugt gewesen, daß das noch ein paar Wochen Zeit haben würde.

Doofus hielt sich dicht am Schlitten und wollte gar nicht mehr aufhören, sich zu schütteln. Nicht mal sein dichtes Fell bot genug Schutz vor dem Blizzard. Im Lichtschimmer, der durch die Küchenfenster nach draußen fiel, bis auf die Stufen vor der Veranda, sah Meg die Eiskristalle glitzern, die ihm das Fell verklebten.

Tommy hatte - die Kapuze der Jacke über den Kopf gezogen, tief nach vorn gebeugt und das Gesicht vor dem schneidenden Wind geschützt - den Weg von der Scheune zum Haus besser überstanden als der Labrador. Aber es ging ihm wohl nicht anders als ihr selbst, da sie ja beide keine dicken Thermohosen, sondern nur leichte Jeans trugen: Sie waren durchweicht bis auf die Haut. Meg konnte sich ausmalen, daß es nicht mehr lange bis zum Beginn einer gefährlichen Unterkühlung gedauert hätte - wieder etwas, was dagegen sprach, den weiten Weg bis zur Black Oak Road zu wagen.

Stumm wiederholte sie ihr Stoßgebet, daß um Himmels willen das Telefon funktionieren möge.

Tommy sah zu ihr hoch - ein blasses Gesicht, eingemummt vom hochgeschlagenen Jackenkragen. Sie schrie gegen das häßliche Heulen der Sturmböen an, als sie ihm auftrug, hier draußen zu warten, und versprach, gleich wieder zurück zu sein (obwohl sie beide nur zu gut wußten, daß ihr im Haus Gott weiß was zustoßen konnte).

Die Waffe in der Hand, stieg sie die Stufen hoch und öffnete vorsichtig die Hintertür. Ein unvorstellbares Durcheinander in der Küche. Sämtliche Päckchen, Tüten und sogar Gläser mit Vorräten waren aus den Schränken gezerrt worden und lagen aufgerissen oder zerschlagen auf dem Boden - Haferflocken, Müsli, Zucker, Mehl, Maisstärke, Crackers, Plätzchen, Makkaroni und Spaghetti, alles war durcheinandergemengt, mit dem Sud aus den Gläsern und mit Makkaronisoße bekleckert, grausig garniert mit Kirschen, Oliven und Mixed Pickles.

Ein Bild der Verwüstung - ohne Zweifel hatte sich hier sinnlose Wut ausgetobt. Wäre es das Werk eines Menschen gewesen, hätte man von einem Psychopathen gesprochen. Die Ratten hatten die Päckchen und Tüten nicht aufgerissen, um sich am Inhalt gütlich zu tun. Es machte ihnen einfach Spaß, etwas zu zerstören, was anderen gehörte. Dahinter steckte dieselbe unbeherrschte Wut, die manche Menschen zu Raserei und Vandalismus trieb. Die Gremlins der uralten Sagen schienen in Rattengestalt auferstanden zu sein.

Waren nicht auch die Gremlins Geschöpfe der Menschen gewesen? In welcher Welt lebten sie, wenn Menschen sich selbst die Spukgestalten schufen, von denen ihnen Verderben drohte? Oder war es vielleicht so, daß die Menschen das Unheil über ihren Häuptern schon immer selbst heraufbeschworen hatten?

Von den Ratten, die hier gehaust hatten, konnte Meg weit und breit nichts entdecken. Da huschte nichts Weißes über die Einlegeböden im Küchenschrank, da wieselte kein heller Schatten an der Wand entlang. Zögernd, einen Fuß vor den anderen gesetzt, betrat sie das Haus.

Hinter ihr wehte eisiger Wind herein, ein naßkalter Schwall, der mit der Gewalt einer Wasserwoge durch die Tür schwappte. Mehl stäubte hoch, Zuckerkörner wirbelten durch die Küche, Kekskrümel und zerbrochene Spaghetti tanzten durch die Luft.

Körner, Flocken, Teigwaren und Glasscherben knirschten unter Megs Schritten, als sie sich ihren Weg zum Telefon bahnte, das ziemlich weit hinten hing, neben dem Kühlschrank. Dreimal war sie ganz sicher, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen - eine Ratte natürlich, was sonst -, aber jedesmal, wenn sie blitzschnell den Lauf der Schrotflinte aufs Ziel richten wollte, sah sie, daß es nur der abgerissene Deckel von einem Päckchen oder ein Stück Zellophanpapier war, mit dem der Wind spielte.

Endlich stand sie vor dem Telefon und nahm den Hörer ab. Kein Freizeichen, nichts. Die Leitung war tot. Entweder hatte der Sturm sie gekappt ... Oder die Ratten. Niedergeschlagen legte sie den Hörer auf die Gabel.

Und dann verebbte der Sturm urplötzlich - wie von einem gewaltigen Sog schien der wirbelnde Wind aus der Küche gezogen zu werden, von einem Augenblick zum anderen. Und da nahm sie den beißenden Geruch wahr. Irgendein Gas. Nein, kein Gas, irgend etwas anderes. Mehr wie . Wie Benzin?

Heizöl.

Alle Glocken ihres inneren Alarmsystems läuteten Sturm.

Jetzt, nachdem der Wind nicht mehr durch die Küche wirbelte, merkte sie, daß das ganze Haus nach Heizöl roch. Die Schwaden mußten von unten kommen, aus dem Keller. Und das konnte nur bedeuten, daß die Leitung zwischen dem Tank und dem Heizkessel gebrochen war.

Sie war blindlings in eine Falle gerannt.

Diese Gremlins in Rattengestalt schreckten nicht einmal davor zurück, das Haus, in dem sie gerade erst Zuflucht gesucht hatten, in die Luft zu sprengen. Sie mußten von einer so dämonischen Feindseligkeit beherrscht sein, daß sie wirklich alles in Kauf nahmen, wenn es nur dem Ziel diente, Menschen zu töten.

Hastig trat sie einen Schritt zurück, wandte sich zur Tür um. Und in diesem Augenblick hörte sie das leise, wohlvertraute Geräusch - dieses dumpf im Keller widerhallende Klicken der elektronischen Zündvorrichtung am Heizungskessel: der Zündfunke, der die Heizung anspringen ließ.

Den zweiten Schritt auf die Tür zu schaffte sie nicht mehr. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, bis das Haus explodierte.

Vor sich den Spürhund und Deputy Hockner, hinter sich drei seiner Männer, erreichte Ben Parnell den nördlichen Waldrand und sah - knapp zweihundert Meter entfernt, kaum auszumachen durch den Schleier aus umherwirbelndem Schnee

- den schwachen Lichtschein, der aus den Fenstern der Cascade Farm drang.

»Ich weiß es genau«, murmelte er, »dort stecken sie, das war ihr Ziel.«

Er mußte wieder an die Frau und den Jungen im Geländewagen denken und empfand plötzlich den beiden gegenüber eine zwingende Verpflichtung. Das Gefühl, persönlich für die Lassiters verantwortlich zu sein, hatte nichts damit zu tun, daß er bei Biolomech angestellt war. Vor zwei Jahren hatte er sich eingeredet, seiner eigenen Tochter Melissa gegenüber versagt zu haben. Ein ganz unbegründetes Schuldgefühl, natürlich, denn er war kein Arzt, er hätte sie nicht vor dem Krebs bewahren können - wie denn auch? Aber gegen Schuldgefühle helfen keine Argumente. Sein Verantwortungsbewußtsein für andere war schon immer stark ausgeprägt gewesen. Eine Tugend mochten das manche nennen, aber sie konnte schnell zur Last werden. Genau wie jetzt, als er am Waldrand stand, zur Farm hinübersah und es, ohne lange nachzudenken, für seine selbstverständliche Pflicht hielt, sich um die Frau dort drüben und ihren Sohn zu kümmern

- und um alle, die noch in dem Haus leben mochten.

»Vorwärts!« rief er seinen Männern zu.

Deputy Hockner gab Ben ein Zeichen. »Geht schon voraus«, sagte er, kniete sich auf den Boden und breitete eine Decke aus federleichtem Isoliermaterial aus - eines jener Produkte, die erst durch Entwicklungen im Zusammenhang mit der Raumfahrtforschung möglich geworden waren. Fast liebevoll hüllte er Max in die Decke. »Mein Hund muß sich aufwärmen. So einem lausigen Wetter darf er nicht zu lange ausgesetzt sein. Wenn er ein bißchen aufgetaut ist, kommen wir nach.«

Ben nickte und drehte sich um. Er war gerade zwei Schritte weit gekommen, als drüben in der Ebene das Farmhaus in die Luft flog. Ein zuckender Lichtblitz, schmutziges Orange mischte sich mit grellem Gelb. Danach kam die Druckwelle wie ein tief grollendes Wham. Sie sahen und hörten die Explosion nicht nur, sie spürten sie auch. Aus den zerschmetterten Fenstern drang Feuerschein, die Flammen wogten wie Banner im Wind, und die ersten Zungen leckten schon an der Hauswand hoch.

Der Fußboden kam ihr entgegen, eine unsichtbare Kraft riß sie von den Beinen. Und dann fielen die Dielenbretter, die sich sekundenlang unter ihr aufgebäumt hatten, in sich zusammen, und sie fiel mit. Vornüber kippte Meg in das Durcheinander aus verstreuten Lebensmitteln, aufgerissenen Verpackungen und Glasscherben. Sie bekam auf einmal keine Luft mehr, und der ungeheure Druck raubte ihr fast das Bewußtsein. Aber die Flammen, die an den Wänden hochzüngelten und sich mit rasender Geschwindigkeit auf dem Boden ausbreiteten, nahm sie trotzdem wahr. Die Feuerzungen kamen ihr vor wie gierige Raubtiere, die nur das Ziel kannten, ihr den Fluchtweg zur Tür zu versperren.

Als sie es endlich geschafft hatte, sich auf die Knie zu stemmen, sah sie, daß Blut aus ihrer linken Hand sickerte. Keine Verletzung, an der sie verbluten konnte, nur eine Schnittwunde, die sich quer durch das weiche Fleisch des linken Handballens zog, aber immerhin so tief, daß es weh tun mußte. Nur stand sie noch so unter Schock, daß sie den Schmerz gar nicht spürte.

Die Schrotflinte fest in der rechten Hand, rappelte sie sich vollends hoch. Ein Zittern lief durch ihre Beine, aber sie durfte keine Zeit verlieren. Das Feuer fraß sich an allen vier Wänden hoch, und auf dem Fußboden gab es kaum noch eine Stelle, an der nicht schon Flammen züngelten. Es konnte nur eine Frage von Sekunden sein, bis sie von lodernder Glut und sengender Hitze eingeschlossen war. Hastig stolperte sie auf die Tür zu.

Mit knapper Not schaffte sie es über die Schwelle, ehe hinter ihr der Küchenfußboden einbrach. Die Druckwelle der Explosion hatte die Veranda übel zugerichtet, das Vordach war in der Mitte eingesackt. Meg war kaum die Treppenstufen hinuntergehastet, als der erste Stützpfosten umstürzte. Und dann gab es kein Halten mehr, die ganze Konstruktion mußte durch die Wucht der Explosion so baufällig geworden sein, daß Megs hastige Schritte und ihr Gewicht genügt hatten, um alles zusammenbrechen zu lassen.

Tommy war, als ihn die Druckwelle vom Schlitten gefegt hatte, instinktiv weiter vom Haus weggekrochen. Jetzt lag er erschöpft bäuchlings im Schnee, während der Labrador treu bei ihm Wache hielt. Meg rannte zu ihm, so schnell sie konnte. Ihr erster Gedanke war, daß der Junge sich irgendwie verletzt haben mußte, obwohl ihm die Flammen oder herabfallende Dachziegel hier draußen nichts anhaben konnten. Gott sei Dank, es war ihm nichts passiert. Der Schrecken saß ihm in den Knochen, aber das war zum Glück alles. »Sei ganz ruhig, Kleiner«, sagte sie, es wird alles gut werden.« Und noch während sie beruhigend auf ihn einredete, wurde ihr klar, daß er bei dem heulenden Sturm und dem Prasseln der Flammen ihr Gemurmel wahrscheinlich gar nicht hören konnte.

Sie nahm ihn in die Arme, spürte das Leben in ihm pulsieren. Sie war unendlich dankbar und erleichtert, doch dann schlich sich ein anderes Gefühl ein: Wut. Unbändige Wut auf die Ratten und die Männer, die diese Gremlins geschaffen hatten.

Irgendwann früher hatte sie geglaubt, ihr Erfolg als Künstlerin wäre das Wichtigste in ihrem Leben. Dann, als Jim und sie gerade geheiratet hatten und sich abrackern mußten, um aus der kleinen Werbeagentur ein florierendes Unternehmen zu machen, war ihr der finanzielle Erfolg am wichtigsten erschienen. Aber inzwischen hatte sie schon lange begriffen, daß es nichts Wichtigeres gab als die Familie - das Band inniger Zuneigung zwischen Verheirateten, Eltern und Kindern. Nur, in einer Welt zwischen Himmel und Hölle wissen die Menschen sich oft nicht zu wehren gegen das, was ihr Leben in Liebe und Geborgenheit zerstört. Manches wird vom Schicksal bestimmt, Krankheit und Tod vor allem. Anderes mag an eigenem Verschulden liegen, Krieg und Fanatismus. Armut kann die Ursache sein, daß eine Familie plötzlich von Haß, Gewalt und Besitzgier beherrscht wird. Und mitunter sind es unbeherrschte Gefühle, die eine Familie zerbrechen lassen, Neid, Eifersucht, sexuelle Begierde. Sie selbst hatte die Hälfte ihrer Familie verloren, ihren Mann Jim, aber sie und Tommy hatten aneinander Halt gesucht und hier -in diesem Haus, das ihr jetzt von den Ratten, diesen Ausgeburten menschlichen Forschungswahns, genommen worden war - ihre Erinnerungen an glücklichere Zeiten wachgehalten. Nun gut, sie hatten es ihr genommen, und dafür würden die Biester büßen.

Sie half Tommy, noch ein Stück weiter vom brennenden Haus fortzuhumpeln. Vielleicht waren die Eiseskälte und der Sturm draußen auf dem offenen Hof der beste Schutz vor den Ratten. Dann ließ sie Tommy allein. Den Weg, der jetzt vor ihr lag, mußte sie ohne ihn gehen: nach hinten, zur Scheune.

Dort mußten die Ratten sein. Sie war sicher, daß die Biester sich nicht selbst in die Luft gesprengt hatten. Das mit der Heizung, die Manipulation an der Ölleitung, das war nur ein Intermezzo gewesen, um ihr eine tödliche Falle zu stellen. Im Freien drängten die Ratten sich bei dem Wetter bestimmt nicht zusammen. Also blieb nur die Scheune. Sie vermutete, daß sie sich einen Gang zwischen dem Haus und der Scheune gegraben hatten. Sie mußten irgendwann am späten Nachmittag auf der Cascade Farm angekommen sein, hatten also genug Zeit gehabt, alles auszukundschaften und ihre Vorbereitungen zu treffen. Einen unterirdischen Kriechgang zu graben, das konnte für sie nicht allzu schwierig gewesen sein, schließlich waren sie entschieden größer und kräftiger als normale Ratten. Schön einfach hatten die Biester es sich gemacht. Während sie und Tommy mühsam über den schneeverwehten Hof und durch den Sturm zur Scheune und zurück stolpern mußten, waren die Ratten warm und trocken durch ihren Gang hin und her gehuscht.

Nicht allein Rachegefühle und Mordlust trieben sie in die Scheune, sie mußte die Ratten vernichten, denn die Scheune war der einzige Ort, der ihr und Tommy eine Chance zum Überleben bot. Die Schnittwunde in der linken Hand war ein Handicap, genauso wie der Schock, der immer noch in ihr nachwirkte. Den Gedanken, sich bei Temperaturen weit unter Null und einem Sturm, der mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometern übers Land fegte, bis zur Black Oak Road durchzuschlagen, um dann weiß Gott wie lange dort herumstehen zu müssen, bis irgendwann ein Fahrzeug vorbeikam, hatte sie längst aufgegeben. In der Verfassung, in der sie sich befand, hatte sie nicht die Kraft dazu, und auch Tommy würde es nicht schaffen. Das Haus war verloren, also blieb die Scheune der einzige Zufluchtsort. Sie mußte ihn von den Ratten zurückerobern, sie mußte die Biester töten, damit sie und Tommy überleben konnten.

Auf die Hoffnung, irgend jemand werde den Feuerschein sehen und herkommen, um zu helfen, wollte sie nicht vertrauen. Die Cascade Farm lag sehr einsam, und im Schneetreiben war die Feuersbrunst sicher nicht weit zu sehen.

Am offenen Scheunentor zögerte sie. Die Glühbirne, die einzige Lichtquelle, warf immer noch ihren trüben Schein, aber es kam Meg vor, als wären die Schatten, in die der größte Teil der Scheune getaucht war, inzwischen tiefer geworden. Dann gab sie sich einen Ruck. Den Sturm und den orangefarbenen Feuerschein im Rücken, wagte sie sich in die Höhle der Gremlins.

Ben Parnell merkte schnell, daß wegen der tiefen, kreuz und quer verlaufenden Bewässerungsgräben an ein schnelles Vorwärtskommen nicht zu denken war. Der Weg durchs unwegsame Gelände war nicht ungefährlich, weil man im dichten Schneegestöber oft nicht die Hand vor Augen sah. Ein paarmal war Ben schon blindlings in einen Graben gestolpert. Hast wäre sträflicher Leichtsinn gewesen; wer sich hier nicht vor jedem Schritt sorgfältig vergewisserte, wohin er führte, riskierte seine Knochen. Ob sie wollten oder nicht. Ben und die drei Männer, die ihn begleiteten, mußten es, immer das Bild des brennenden Hauses vor Augen, langsam angehen lassen.

Ben war sich sicher, daß die Ratten die Schuld an dem Feuer trugen. Er hatte keine Ahnung, wie sie es gelegt hatten und warum, aber daß der Brand gerade jetzt ausgebrochen war und daß die Flammen derartig schnell um sich griffen, konnte kein Zufall sein. Vor seinem inneren Auge stiegen Schreckensbilder auf - die Frau und der Junge inmitten der lodernden Flammen, beide schon von den Ratten angenagt.

Sie hatte furchtbare Angst, aber es war eine Angst ganz besonderer Art, die ihr, statt sie mutlos zu machen, zusätzliche Kräfte zu verleihen schien - und eine wilde Entschlossenheit. Eine Ratte mochte vielleicht in Panik geraten, wenn sie in die Enge getrieben wurde. Eine Frau, die auf sich allein gestellt war, konnte ganz anders reagieren. Nicht jede Frau, aber manche eben doch.

Meg ging in die Scheune, bis dahin, wo der Jeep stand. Ihr Blick suchte das Halbdunkel der Stallboxen ab, den offenen Heuboden, die einstige Futterkrippe. Sie spürte es: Die Ratten waren da und beobachteten sie.

Sie dachten nicht daran, sich offen zu zeigen, dafür war ihr Respekt vor der Schrotflinte zu groß. Meg mußte es irgendwie schaffen, sie aus ihren Verstecken zu locken. Mit Futter ließen sie sich - so schlau, wie sie waren - bestimmt nicht ködern. Wenn also List nicht half, mußte sie vielleicht versuchen, sie mit Gewalt aus dem Dunkel herauszutreiben - mit ein paar gutgezielten Schüssen aus der großkalibrigen Waffe.

Langsam ging sie auf die Wand gegenüber dem Scheunentor zu. Als sie an den Stallboxen vorbeikam, schielte sie - jeden Augenblick darauf gefaßt, irgendwo das gespenstische Glühen kreisrunder roter Augen zu sehen - verstohlen ins Dunkel. Mindestens ein, zwei Biester mußten sich dort drüben verkrochen haben.

Sie konnte nichts Verdächtiges entdecken, dennoch riß sie, als sie kehrtgemacht hatte und zurück zum Jeep ging, plötzlich die Waffe hoch und feuerte in die Stallboxen: Blam, blam, blam - drei Schüsse aus nächster Nähe, einer dicht neben dem anderen. Das Mündungsfeuer riß das Dunkel auf wie grell zuckender Blitzschlag, der Explosionsknall hallte von den Bretterwänden wider wie grollender Donner. Als sie den dritten Schuß abgab, kam ein quiekendes Rattenpärchen aus der vierten Stallbox gerannt, zwei weiße Schatten huschten auf den Jeep zu, unter dem sie offenbar Deckung nehmen wollten. Zweimal zog Meg blitzschnell den Abzug durch, zweimal traf sie ihr Ziel - die Biester waren auf der Stelle tot, auch wenn ihre Kadaver sich endlos lange purzelnd und kugelnd überschlugen.

Sie hatte das Magazin verschossen. Rasch kramte sie - egal, wie sehr die Schnittwunde schmerzte - mit der linken Hand in den Jeans nach den vier Patronen, die ihr noch blieben, und lud die Waffe nach. Als sie die vierte Patrone ins Magazin schob, hörte sie hinter sich ein vielstimmiges schrilles Quieken. Sie fuhr herum. Sechs große weiße Ratten mit unförmigen Schädeln fauchten sie an.

Vier der Biester schienen zu begreifen, daß sie keine Chance hatten, rechtzeitig zum Biß zu kommen. Sie drehten ab und verschwanden unter dem Geländewagen. Die beiden anderen kamen so unglaublich schnell auf sie zu, daß Meg keine Zeit blieb, lange zu zielen. Sie konnte nur noch abdrücken - einmal, zweimal . Und sie hatte Glück, sie erwischte beide Angreifer.

In wilder Hast hetzte sie um den Jeep herum und sah, wie die vier Ratten unter dem Wagenboden hervorhuschten und auf ihr Versteck unter der alten Futterkrippe zurannten. Sie feuerte zwei Schüsse hinter ihnen her, aber diesmal verschwanden die Biester ungeschoren unter dem Lattengestell der Futterkrippe.

Nun hatte sie keine Munition mehr. Dennoch lud sie die Waffe durch, als könnte wie von Zauberhand doch noch eine Patrone in den Lauf gerutscht sein. Eine trügerische Hoffnung, wie ihr klarwurde, als sie das trockene, leer hallende Klacketi-klack hörte.

Entweder hatten auch die Ratten an dem Geräusch gemerkt, daß das Magazin leer war, oder sie hatten von Anfang an mitgezählt: neun Schuß - fünf im Magazin und die vier aus der Schachtel im Schlafzimmerschrank, die letzten vier die sie noch nicht fortgeschleppt hatten. Jedenfalls tauchten die vier Biester, die gerade erst unter der Futterkrippe verschwunden waren, sofort wieder auf. Vier bleiche Schatten kamen angehuscht und bauten sich vor Meg auf, mitten im trüben Lichtkreis, den die nackte Glühbirne auf den Scheunenboden malte.

Meg drehte die Schrotflinte um und packte sie wie eine Keule am Lauf. Sie biß die Zähne zusammen, versuchte, den Schmerz in der linken Hand zu vergessen, und schwang die Waffe mit beiden Händen hoch über dem Kopf.

Die Ratten kamen langsam näher ... Und dann wurden sie schneller.

Meg warf rasch einen Blick über die Schulter, innerlich darauf gefaßt, ein Dutzend anderer Ratten zu sehen, die sie von hinten angriffen. Aber sie war nicht eingekreist, sie hatte es nur mit vier Tieren zu tun. Nur? Genausogut hätten es tausend sein können. Sie wußte, daß sie sowieso nur einmal dazu kommen würde, mit dem Schaft zuzuschlagen, bevor die anderen heran waren und an ihr hochkletterten. Und wenn sie erstmal an ihr hingen, sich festbissen und ihr die Krallen ins Fleisch schlugen, waren auch drei zuviel. Wie hätte sie sich denn mit bloßen Händen gegen sie wehren sollen?

Sie schielte zum offenen Scheunentor. Aber sie wußte, wenn sie die Schrotflinte fallen ließ und losrannte - hinaus in die eisige Winternacht, in der sie vielleicht vor den Ratten sicher war -, war sie erst recht verloren. Die Biester würden über sie herfallen, bevor sie das Tor erreicht hatte.

Als ahnten sie, daß Meg ihnen wehrlos ausgeliefert war, stießen die vier Ungeheuer gellend spitze Schreie aus - ein schrilles Triumphgeheul. Sie reckten die unförmigen Schädel, schnupperten gierig, peitschten mit ihren dicken Rattenschwänzen den Boden und stießen unablässig ohrenbetäubende Schreie aus.

Und dann gingen sie auf sie los.

Der Versuch, bis zum rettenden Scheunentor zu kommen, war aussichtslos, das hatte sie begriffen. Trotzdem, versuchen

- wenigstens versuchen - mußte sie es. Denn wenn die Ratten sie töteten, lag Tommy mit seinem gebrochenen Bein hilflos draußen im Schnee. Bis der Morgen graute, war er längst erfroren. Es sei denn, daß sogar Kälte und Sturm die Ratten nicht davon abhielten, auch über ihn herzufallen.

Sie wirbelte herum, drehte dem angreifenden Rudel den Rücken zu, wollte auf das Tor zurennen - und erstarrte. Da stand jemand. Die Flammen waren schwächer geworden, aber der Feuerschein des brennenden Hauses leuchtete noch so hell, daß sich die Silhouette des Mannes im offenen Scheunentor scharf wie ein Scherenschnitt abzeichnete.

Ein Fremder. Er hielt einen Revolver in der Hand. Und rief ihr zu: »Gehen Sie aus dem Weg!«

Meg ließ sich zur Seite fallen. Der Fremde feuerte, vier Schuß in schneller Folge. Er traf nur eine Ratte, die Biester waren zu klein und zu schnell - kein ideales Ziel für jemanden, der nur eine Pistole zur Hand hatte. Immerhin, die übriggebliebenen drei suchten ihr Heil in der Flucht und verschwanden schleunigst unter der Futterkrippe.

Der Mann lief auf Meg zu, und als er näher kam, sah sie, daß es kein Fremder war. Sie erkannte ihn an der schaffellverbrämten Jacke und der dunkelblauen Pudelmütze wieder; es war der, mit dem sie an der Straßensperre gesprochen hatte.

»Alles in Ordnung, Mrs. Lassiter?«

Sie ging nicht darauf ein, sondern fragte statt dessen hastig: »Mit wie vielen haben wir’s zu tun? Ich habe vier getötet, Sie eine - also, wie viele sind noch übrig?«

»Acht waren es insgesamt.«

»Dann sind also nur noch drei übrig?«

»Ja ... He, Ihre Hand blutet ja. Sind Sie sicher, daß Sie .«

»Ich glaube, sie haben sich einen Gang zwischen dem Haus und der Scheune gegraben«, fiel sie ihm ins Wort. »Der Eingang muß irgendwo da hinten unter der alten Futterkrippe sein.« Der Rest war gestammelte Wut, und sie merkte selbst, wie sie jedes Wort zwischen den Zähnen zerbiß. »Die Biester sind widerlich. Abartige Monster. Ich will sie vernichten, alle -ohne Ausnahme. Sie sollen dafür büßen, daß sie mir mein Zuhause genommen und meinem Jungen Angst und Schrecken eingejagt haben. Nur, wenn sie sich unter der Erde verkrochen haben, wie erwischen wir sie dann?«

Er deutete nach draußen, wo gerade ein großer Lastwagen auf das Farmgelände einbog. »Wir haben damit gerechnet, daß wir sie aus einer Höhle rausholen müssen. Wir haben die nötige Ausrüstung dabei, wir können sie mit Gas ausräuchern.«

»Ich will, daß sie umkommen«, sagte Meg und erschrak selbst über die Wut in ihrer Stimme.

Eine Gruppe von Männern sprang von der Ladefläche des Lastwagens und kam auf die Scheune zu. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten Schneeflocken, vermischt mit Aschepartikeln, die der Wind vom ausgebrannten Farmhaus herüberwehte.

»He, bringt die Gasflaschen mit!« rief ihnen der Mann in der schaffellverbrämten Jacke zu.

Einer der Männer schrie irgend etwas zurück. Meg wartete nicht ab, was jetzt geschehen würde. Sie rannte hinaus in den Hof, um nach Tommy zu sehen.

Sie, Tommy und Doofus genossen die Wärme in der Fahrerkabine des Lastwagens, während die Männer von Biolomech draußen die letzten Vorbereitungen trafen, um das Rattengeschmeiß auszurotten. Tommy drängte sich an sie. Er zitterte immer noch, obwohl die Heißluft, die aus den Heizschlitzen strömte, ihm bestimmt längst den Eishauch aus den Knochen getrieben hatte. Doofus hatte es - wie alle Tiere -einfacher. Seine Ängste waren von einer Sekunde zur nächsten verflogen; er brachte es sogar fertig einzuschlafen, und so ruhig, wie er dalag, schienen ihn nicht einmal böse Träume zu plagen.

Die Männer vom Biolomech-Trupp rechneten zwar nicht damit, daß die Ratten ausgerechnet im heruntergebrannten Farmhaus Zuflucht suchen würden, dennoch stellten sich ein paar von ihnen an der Brandstelle im Halbkreis auf, die Waffen im Anschlag und fest entschlossen, sofort zu feuern, wenn eines der Biester es wagen sollte, auch nur die Nase aus dem Kriechgang zu stecken. Auch drüben im Schuppen standen ein paar Bewaffnete bereit, um den Ratten notfalls den Fluchtweg abzuschneiden.

Ben Parnell kam ein paarmal zum Lastwagen, kletterte aufs Trittbrett, wartete, bis Meg das Fenster heruntergekurbelt hatte, und erzählte ihr, wie weit sie inzwischen waren.

Sie hatten den Einstieg zum unterirdischen Gang der Ratten tatsächlich da gefunden, wo Meg ihn vermutet hatte. Seine Männer durch Gasmasken geschützt - hatten gerade das tödliche Gas nach unten gepumpt. »Eine extra große Dosis«, berichtete er. »Es ist ihnen bestimmt keine Zeit geblieben, sich einen neuen Fluchtweg zu graben. Jetzt sind wir dabei, den Tunnel aufzuschaufeln. Wird wohl nicht lange dauern. Die Biester brauchten ja nur einen unterirdischen Laufgang zwischen dem Haus und der Scheune. Ich vermute, sie haben sich nicht die Mühe gemacht, allzu tief zu graben. Wir heben erst mal die obere Erdschicht ab, ungefähr eine Spatentiefe. Hinten an der Scheune fangen wir an, und dann buddeln wir weiter, bis wir sie ausgegraben haben.«

»Und wenn Sie sie nicht finden?« fragte Meg.

»Ich bin sicher, daß wir sie finden.« Eigentlich hätte sie die Männer hassen müssen, besonders Parnell, denn der leitete ja die Suchaktion und war damit von allen Männern mit dem Biolomech-Abzeichen im Augenblick der ranghöchste Verantwortliche - der, an dem sie ihren Ärger auslassen konnte. Aber sie hätte es nicht fertiggebracht, ihn, der so offensichtlich um sie und Tommy besorgt war, barsch anzufahren oder ihn auch nur durch wütende Blicke spüren zu lassen, wie es in ihr kochte. Eine innere Stimme sagte ihr, daß die Männer, mit denen sie es zu tun hatte, nicht die eigentlich Verantwortlichen waren. Sie hatten die Ungeheuer nicht herangezüchtet, und sie waren auch nicht schuld daran, daß die Ratten entkommen waren. Sie waren nur die, die nachträglich dafür sorgen mußten, daß alles wieder in Ordnung kam. Die sprichwörtlichen kleinen Leute, die immer, wenn die Verantwortlichen irgendwas vermasselt hatten, in die Hände spucken und Ordnung schaffen mußten. Das uralte, immer gleiche Spiel - schon seit Jahrhunderten. Die kleinen Leute waren es, die ihre Haut zu Markte tragen und die Kriege zu Ende kämpfen mußten, damit wieder Frieden werden konnte. Sie waren es, die durch ihre Steuern, ihre Arbeitsleistung und ihre persönlichen Opfer jene Fortschritte möglich machten, mit denen die Politiker sich hinterher brüsteten.

Und sie war beeindruckt von dem aufrichtigen, verständnisvollen Mitgefühl, das Parnell zeigte, als er erfuhr, daß sie und Tommy seit dem Unfalltod ihres Mannes allein waren. Wenn er vom Alleinsein sprach, vom Verlust eines lieben Menschen und der Leere, die zurückblieb, hörte es sich an, als würde er all das nur zu gut aus eigener Erfahrung kennen.

Er beugte sich durch das offene Wagenfenster. Und was er Meg zu erzählen begann, hörte sich seltsam rätselhaft an. »Da war einmal eine Frau, die hatte ihre Tochter verloren - durch Krebs. Der Kummer hat sie so überwältigt, daß sie meinte, sie müsse ihr ganzes Leben ändern. Zu neuen Horizonten aufbrechen, sagt man, glaube ich. Sie konnte die Gegenwart ihres Mannes nicht mehr ertragen, obwohl er sie sehr liebte. Sie konnte es nicht, weil er es war, mit dem sie die Erinnerung an ihre Tochter teilen mußte, und immer, wenn sie ihn ansah ... Nun ja, sie sah eben jedesmal ihr Kind wieder vor sich - und all das, was das Mädchen durchgemacht hatte. Gerade weil es gemeinsame Erinnerungen waren, Erinnerungen an gemeinsames Leid, kam ihr die Ehe wie ein Gefängnis vor, aus dem sie um jeden Preis entrinnen wollte. Tja . Die Scheidung und ein Umzug, möglichst weit weg, schienen ihr die einzige Lösung zu sein. Aber Sie, Mrs. Lassiter, Sie haben offenbar Ihren Kummer besser bewältigt. Ich weiß, wie schwer es in den letzten Jahren für Sie gewesen sein muß. Aber wenn es Ihnen ein Trost sein kann, lassen Sie sich sagen, daß es genug Menschen gibt - Menschen, die nicht so stark sind wie Sie -, für die alles noch viel schwerer ist.«

Zehn Minuten nach elf, knapp eine Stunde vor Mitternacht, fanden die Männer die drei toten Ratten im Kriechgang; drei Viertel der Strecke von der Scheune zum abgebrannten Haus hatten sie noch zurückgelegt. Die Männer legten die Kadaver neben die der fünf anderen, denen die Schrotkugeln den Garaus gemacht hatten.

Ben Parnell kam zum Lastwagen. »Wir haben jetzt alle acht. Ich dachte, daß Sie sie vielleicht mit eigenen Augen sehen wollen.«

»Ja«, sagte Meg, »das will ich. Dann werde ich mich sicherer fühlen.«

Tommy stieg mit aus. »Ich will sie auch sehen. Sie wollten uns in die Enge treiben, aber nun ist es anders gekommen.« Er sah zu seiner Mutter hoch. »Egal, wie tief wir in der Patsche sitzen, wir kommen immer davon, wenn wir nur zusammenhalten, stimmt’s?«

»Darauf kannst du wetten«, sagte sie.

Ben Parnell hob den Jungen hoch und trug ihn auf seinen Armen in die Scheune.

Meg - die Hände in den Jackentaschen vergraben, weil der Wind immer noch eisig war - lächelte stumm in sich hinein. Endlich hatte sie mal jemanden an ihrer Seite, der ihr die Last abnahm, wenigstens einen Augenblick lang.

Tommy reckte den Hals und sah zu ihr hinüber. »Du und ich, Mam«, sagte er.

»Darauf kannst du wetten«, wiederholte sie. Sie scheute sich nicht mehr, ihr Lächeln offen zu zeigen. Es kam ihr vor, als wäre das Tor eines Käfigs, dessen Enge sie mehr geahnt als gespürt hatte, auf einmal weit aufgestoßen. Eine neue Freiheit lag vor ihr.

Aus dem Amerikanischen von Robert Vito und Klaus Fröba

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