Highway ins Dunkel

1

Als Joey Shannon an diesem Herbstnachmittag in seinem Mietwagen die Stadtgrenze von Asherville passierte, brach ihm der kalte Schweiß aus, und ihn überkam plötzlich eine tiefe Hoffnungslosigkeit.

Am liebsten hätte er mitten auf der Straße scharf gewendet, aber er widerstand der Versuchung, aufs Gaspedal zu treten und davonzubrausen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Diese Stadt war so trist wie alle anderen im ehemaligen Kohlerevier von Pennsylvania, wo die Minen schon vor Jahrzehnten geschlossen worden waren, was den Verlust der meisten gutbezahlten Arbeitsplätze zur Folge gehabt hatte. Trotzdem war der Ort nicht so trostlos, daß der bloße Anblick schon genügt hätte, ihm kalte Schauder über den Rücken zu jagen und ihn an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Er war selbst bestürzt über seine heftige Reaktion bei dieser lange aufgeschobenen Heimkehr.

Asherville hatte knapp tausend Einwohner, und in mehreren umliegenden Ortschaften lebten noch etwa 2000 Menschen. Entsprechend bescheiden war das Geschäftsviertel - es erstreckte sich nur über zwei Blocks. Die ein- und zweistöckigen Steinhäuser - Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut und mit dem Schmutz von fast 150 Jahren bedeckt - sahen noch genauso aus wie in Joeys Jugend.

Allerdings war der Stadtrat oder der Handelsverband offenbar bemüht, eine Verschönerung herbeizuführen. Alle Türen, Fensterrahmen, Fensterläden und Dachrinnen waren frisch gestrichen. In den letzten Jahren hatte man auch auf den Gehwegen runde Löcher gegraben und junge Ahorne gepflanzt, die jetzt etwa zweieinhalb Meter hoch waren und immer noch Stützpfosten benötigten.

Das rote und gelbe Herbstlaub hätte die Stadt eigentlich aufheitern müssen, aber Asherville sah an diesem Spätnachmittag düster und abschreckend aus. Sogar die Sonne über den höchsten Berggipfeln im Westen sah seltsam zusammengeschrumpft aus, und ihr unfreundliches gelbes Licht vermochte nichts zu erhellen. Nur die Schatten der jungen Bäume wurden immer länger und fielen wie ausgestreckte Hände auf das rußige Pflaster.

Joey drehte die Heizung auf, doch auch die heiße Luft konnte ihn nicht erwärmen. Über der Turmspitze der Kirche »Unsere schmerzensreiche Mutter« kreiste ein riesiger schwarzer Vogel am Himmel, den die untergehende Sonne in purpurfarbenes Licht hüllte. Das geflügelte Wesen hätte ohne weiteres ein dunkler Engel sein können, der an einem heiligen Ort Zuflucht suchte.

Einige Fußgänger waren auf den Straßen, und auch Autos waren unterwegs, aber Joey erkannte niemanden. Er war lange fortgewesen, und im Laufe der Jahre veränderten sich die Menschen, zogen weg oder starben.

Als er auf den Kiesweg vor dem alten Haus am Ostrand der Stadt abbog, nahm seine Angst noch weiter zu. Das Haus hätte dringend neu verputzt werden müssen, und auch das Schindeldach war reparaturbedürftig, aber es hatte überhaupt nichts Ominöses an sich und war bei weitem nicht so düster wie die Gebäude im Stadtzentrum. Bescheiden, langweilig, schäbig. Sonst nichts. Trotz mancher Entbehrungen hatte er hier eine glückliche Kindheit verlebt. Als Junge war ihm die Armut seiner Familie nicht einmal bewußt gewesen. Erst als er das College besuchte und aus einer gewissen Distanz auf sein Leben in Asherville zurückblickte, hatte er erkannt, in welch beschränkten Verhältnissen er auf gewachsen war. Trotzdem saß er jetzt im Auto und hatte eine unerklärliche Angst davor, auszusteigen und ins Haus zu gehen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Motor abstellte und die Scheinwerfer ausschaltete. Obwohl er trotz der Heizung gefröstelt hatte, wurde ihm nun, ohne die Heizungsluft, noch kälter.

Das Haus wartete.

Vielleicht fürchtete er die Auseinandersetzung mit seinen Gewissensbissen und mit seiner Trauer. Er war kein guter Sohn gewesen. Und jetzt würde er nie mehr die Gelegenheit haben, Sühne für all den Schmerz zu leisten, den er verursacht hatte. Vielleicht fürchtete er sich vor der Erkenntnis, daß er für den Rest seines Lebens mit der Schuld leben mußte, weil er nicht mehr um Verzeihung bitten und keine Absolution mehr erhalten konnte.

Nein. Das war zwar eine schreckliche Bürde, aber nicht die Ursache seiner Ängste. Es waren weder Schuldgefühle noch Trauer, die ihm rasendes Herzklopfen und einen trockenen Mund bescherten, sondern irgend etwas anderes.

Die hereinbrechende Dämmerung führte eine Brise von Nordosten mit sich. Eine Reihe sechs Meter hoher Kiefern säumte die Auffahrt, und ihre Äste gerieten jetzt in Bewegung.

Eine Zeitlang hatte Joey das Gefühl, als stünde ihm ein übernatürliches Erlebnis unmittelbar bevor. So ähnlich hatte er sich vor langer Zeit als Ministrant gefühlt, wenn er hinter dem Priester kniete und den Moment wahrzunehmen versuchte, in dem sich der Wein im Kelch in das heilige Blut Christi verwandelte.

Nach einer Weile sagte er sich aber, daß er einfach töricht war. Seine Furcht war genauso irrational wie die eines Kindes, das glaubt, unter seinem Bett würde im Dunkeln ein Troll lauern.

Joey stieg aus und wollte seinen Koffer holen. Als er den Kofferraum öffnete, hatte er die verrückte Idee, daß er dort etwas Grauenvolles finden würde, und sein Herz klopfte zum Zerspringen, während er den Deckel hob. Er trat vorsichtshalber sogar einen Schritt zurück.

Natürlich lag im Kofferraum nur sein schäbiger, verkratzter Koffer. Er atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen, nahm das Gepäckstück heraus und schlug den Deckel hastig zu.

Er brauchte dringend einen Drink. Er brauchte immer einen Drink. Mit Whisky versuchte er alle Probleme zu lösen, und manchmal klappte das sogar.

Die Stufen waren ausgetreten, die Verandadielen waren seit Jahren nicht gestrichen worden und knarrten laut unter seinen Füßen. Er hätte sich nicht gewundert, wenn das modrige Holz eingebrochen wäre.

In den zwei Jahrzehnten, seit er das Haus zuletzt gesehen hatte, war es ziemlich verwahrlost, und das überraschte ihn, denn seit zwölf Jahren hatte sein Bruder ihrem Vater an jedem Monatsersten einen großzügigen Scheck geschickt. Der alte Mann hätte sich ohne weiteres ein besseres Haus leisten können, oder aber er hätte dieses hier gründlich renovieren lassen können. Was hatte Dad mit dem ganzen Geld gemacht?

Der Schlüssel lag unter der Fußmatte, wie man ihm gesagt hatte. Obwohl Asherville ihm eine Gänsehaut verursachte, war es eine Stadt in der man einen Ersatzschlüssel unter dem Fußabstreifer hinterlegen oder das Haus sogar unverschlossen lassen konnte, ohne Diebe befürchten zu müssen.

Die Haustür öffnete sich direkt ins Wohnzimmer. Er stellte seinen Koffer am Fuß der Treppe ab.

Er machte Licht.

Sofa und Sessel waren nicht dieselben wie vor zwanzig Jahren, aber sie sahen fast genauso aus wie die alten Möbel. Ansonsten schien sich überhaupt nichts verändert zu haben -bis auf den Fernseher, der selbst für Gott groß genug gewesen wäre.

Im Erdgeschoß befand sich ansonsten nur noch die große Wohnküche. An dem grünen Kunststofftisch mit Chromkanten hatte die Familie während Joeys ganzer Kindheit gegessen. Auch die Stühle waren noch dieselben; nur die Stuhlkissen waren erneuert worden.

Er hatte das seltsame Gefühl, als wäre das Haus seit einer Ewigkeit unbewohnt und versiegelt gewesen, als wäre er seit Jahrhunderten der erste, der diese stillen Räume betrat. Seine Mutter war vor 16 Jahren gestorben, sein Vater erst vor anderthalb Tagen, aber beide schienen seit undenklichen Zeiten verschwunden zu sein.

In einer Ecke der Küche war die Kellertür, an der ein Kalender hing - ein Geschenk der First National Bank. Auf dem Oktober-Blatt war ein Stapel organgefarbener Kürbisse inmitten von buntem Herbstlaub zu sehen. Ein Kürbis war in eine Laterne verwandelt worden.

Joey ging zu dieser Tür, öffnete sie aber nicht sogleich.

Er konnte sich ganz genau an den Keller erinnern, der in zwei Räume unterteilt war.

Beide hatten Türen, die ins Freie führten. In einem Raum waren Heizkessel und Heißwasserbereiter installiert. Der andere Kellerraum war das Zimmer von Joeys Bruder gewesen.

Er stand eine Weile da, die Hand auf dem alten gußeisernen Türknopf, der eiskalt war und sich auch unter Joeys Fingern nicht erwärmte.

Der Türknopf quietschte leise, als er ihn endlich drehte.

Er drückte auf den Lichtschalter, aber die zwei schwachen, staubbedeckten nackten Glühbirnen - die eine auf der Kellertreppe, die andere im Heizkeller - vermochten die Dunkelheit nicht zu vertreiben.

Er brauchte jetzt, am Abend, nicht in den Keller zu gehen. Das konnte er genausogut am nächsten Morgen tun. Aber eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, den Keller zu betreten.

Das beleuchtete Stück des Betonbodens am Fuß der Treppe war noch genauso rissig, wie er es in Erinnerung hatte, und die Schatten ringsum schienen aus diesen schmalen Spalten hervorzukriechen und über die Wände zu huschen.

»Hallo?« rief er.

Er war selbst überrascht, als er seine Stimme hörte, denn er wußte genau, daß er allein im Haus war.

Trotzdem wartete er auf eine Antwort, die natürlich ausblieb.

»Ist jemand hier?« fragte er.

Nichts.

Er schaltete das Licht aus und schloß die Kellertür.

Dann trug er seinen Koffer in den ersten Stock hinauf. Ein kurzer schmaler Gang mit schäbigem graugelbem Linoleum führte von der Treppe zum Bad.

Hinter der Tür auf der rechten Gangseite befand sich das Schlafzimmer seiner Eltern. In den letzten sechzehn Jahren, seit dem Tod seiner Mutter, hatte sein Vater dort allein geschlafen. Und jetzt war es ein Niemandsraum.

Die Tür auf der linken Gangseite führte in Joeys ehemaliges Zimmer. Seit zwanzig Jahren hatte er es nicht mehr betreten.

Er verspürte ein Prickeln im Nacken, drehte sich um und blickte ins Wohnzimmer hinab; es hätte ihn gar nicht gewundert, wenn jemand ihm die Treppe hinauf gefolgt wäre. Aber wer sollte das sein? Alle waren tot. Die Treppe war leer.

Dieses Haus war so klein, so eng und bescheiden - doch im Augenblick kam es ihm riesig vor, wie ein Ort mit unerwarteten Dimensionen und verborgenen Räumen, an dem es unbekanntes Leben gab und sich heimlich Dramen abspielten. Die Stille wirkte unnatürlich und quälte ihn, als hätte er den Hilfeschrei einer Frau gehört.

Er öffnete die Tür und betrat sein Zimmer.

Wieder zu Hause.

Er hatte Angst. Und er wußte nicht warum. Oder vielleicht wußte er es - aber nur tief in seinem Unterbewußtsein.

2

In dieser Nacht zog vom Nordwesten ein Sturm auf, und es bestand keine Hoffnung, auch nur einen einzigen Stern zu sehen. Die Dunkelheit erstarrte zu Wolken, die sich an die Berge preßten und zwischen den hohen Hügeln breitmachten, bis der tiefhängende lichtlose Himmel einem kalten, düsteren Steingewölbe glich.

Als Teeneger hatte Joey Shannon manchmal am einzigen Fenster seines Zimmers gesessen und den schmalen Streifen Himmel betrachtet, der über den Bergen zu sehen war. Die Sterne und das kurze Auftauchen des Mondes zwischen den Gipfeln waren eine willkommene Erinnerung daran, daß jenseits von Asherville, Pennsylvania, andere Welten mit unendlichen Möglichkeiten existierten, wo sogar ein armer Junge aus dem Kohlerevier sein Glück machen und alles werden konnte, was er wollte, vor allem wenn dieser Junge hochfliegende Träume hatte und von dem leidenschaftlichen Wunsch beseelt war, sie zu realisieren.

Jetzt, mit vierzig, saß Joey wieder im Dunkeln an jenem Fenster, aber der Anblick von Sternen blieb ihm verwehrt. Statt dessen hatte er eine Flasche Jack Daniel’s.

Im Oktober vor 20 Jahren, als die Welt noch heil zu sein schien, war er für einen Kurzbesuch nach Hause gekommen, was selten vorkam, weil er am Shippensburg State College zwar ein Teilstipendium erhalten hatte, sich aber abends und an den meisten Wochenenden als Aushilfe in einem Supermarkt etwas dazuverdienen mußte. Seine Mutter hatte sein Lieblingsessen gekocht - Hackbraten mit Tomatensauce, Kartoffelbrei und Mais -, und er hatte mit seinem Dad Karten gespielt.

Sein älterer Bruder P. J. (für Paul John) war übers Wochenende ebenfalls nach Hause gekommen, und deshalb hatte es viel Gelächter, Herzlichkeit und Austausch gegeben. Mit P. J. langweilte man sich nie. Er war immer erfolgreich, ganz egal, woran er sich versuchte - sowohl in der High School als auch im College hatte er die Reden bei den Schlußfeiern gehalten, er war ein Footballheld, eine gerissener Pokerspieler, der selten verlor, und ein Bursche, auf den die hübschesten Mädchen flogen. Das Beste an ihm war jedoch sein Talent, mit Menschen umzugehen und überall eine lockere Atmosphäre zu schaffen. P. J. besaß eine natürliche Begabung für Freundschaften und ein unheimliches Gespür, das es ihm ermöglichte, Personen auf den ersten Blick richtig einzuschätzen. In welchen Kreisen er sich auch bewegte, überall stand er nach kurzer Zeit im Mittelpunkt, ohne sich anstrengen zu müssen. Hochintelligent aber bescheiden, gutaussehend aber nicht eitel, witzig aber nie bösartig, war P. J. ein wunderbarer großer Bruder gewesen. Mehr als das - er war für Joey immer das Vorbild gewesen, an dem er sich maß, und er hätte alles darum gegeben, so sein zu können wie P. J.

Selbst heute noch war P. J. sein Vorbild, aber er hatte es in den letzten zwanzig Jahren immer weniger geschafft, seinem Bruder nachzueifern. Während P. J. von Erfolg zu Erfolg schritt, erwies Joey sich als Versager.

Jetzt nahm er einige Eiswürfel aus der Schüssel auf dem Boden neben seinem Stuhl, ließ sie in sein Whiskyglas fallen und schenkte sich gut fünf Zentimeter Jack Daniel’s ein.

Nur beim Trinken hatte er unverändert hohe Maßstäbe. Obwohl er sein Leben lang selten mehr als 2000 Dollar auf dem Bankkonto gehabt hatte, schaffte er es immer irgendwie, sich den besten Whisky zu leisten. Niemand konnte sagen, daß Joey Shannon ein billiger Säufer war.

Als er zuletzt zu Hause gewesen war - am Samstag, den 25. Oktober 1975 - hatte er mit einer Flasche Cola an diesem Fenster gesessen. Damals war er noch kein Trinker gewesen. Damals funkelten Sterne wie Diamanten am Himmel, und jenseits der Berge schien eine unendliche Vielfalt möglicher Leben auf ihn zu warten.

Jetzt hatte er den Whisky. Er war dankbar dafür.

Es war der 21. Oktober 1995 - wieder ein Samstag. Die Samstagabende waren für ihn immer besonders schlimm, obwohl er nicht wußte warum. Vielleicht waren Samstage ihm so zuwider, weil die meisten Leute dann festlich gekleidet ausgingen - zum Abendessen, zum Tanzen oder ins Theater -, um das Ende einer Arbeitswoche zu feiern, während Joey in der Tatsache, daß er wieder einmal sieben Tage eines Lebens ertragen hatte, das für ihn ein Gefängnis war, keinen Grund zum Feiern sah.

Kurz vor elf brach das Gewitter los. Blitze zuckten wie funkelnde Silberketten über den Himmelsstreifen und lieferten ihm unerwünschte flimmernde Spiegelbilder seiner selbst im Fenster. Donner schüttelte grollend die ersten dicken Regentropfen aus den Wolken; sie schlugen an die Scheibe und verwischten gnädig das gespenstische Gesicht im Glas.

Um halb eins stand Joey auf und ging zu seinem Bett. Der Raum war so dunkel wie eine Kohlenmine, doch sogar nach zwanzig Jahren fand er sich mühelos zurecht, ohne Licht machen zu müssen. Vor seinem geistigen Auge sah er das abgenutzte rissige Linoleum, den ovalen Flickenteppich, den seine Mutter angefertigt hatte, das schmale Bett mit dem Kopfende aus bemaltem Eisen, den Nachttisch mit verzogenen Schubladen. In einer Ecke stand der verkratzte Schreibtisch, an dem er zwölf Jahre lang seine Hausaufgaben gemacht und seine ersten Geschichten über magische Königreiche, Monster und Mondreisen geschrieben hatte, im Alter von acht oder neun Jahren.

Als Junge hatte er Bücher geliebt und davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die ihm in den vergangenen zwanzig Jahren nicht mißlungen waren - allerdings nur, weil er es gar nicht erst versucht hatte. Nach jenem Oktoberwochenende von 1975 hatte er aufgehört, Geschichten zu schreiben, und er hatte seinen Traum begraben.

Das Bett war nicht mehr mit einer Tagesdecke aus Chenille zugedeckt, ja es war nicht einmal bezogen. Joey war aber viel zu müde und benommen, um nach Bettwäsche zu suchen.

Deshalb legte er sich in Hemd und Jeans auf die nackte Matratze und zog nicht einmal seine Schuhe aus. Das leise Quietschen der Federn war ein vertrautes Geräusch in der Dunkelheit.

Trotz seiner Erschöpfung wollte Joey nicht schlafen. Die halbe Flasche Whisky hatte weder seine Nerven beruhigt noch seine Ängste gelindert. Er fühlte sich sehr verletzlich. Im Schlaf wäre er völlig wehrlos.

Trotzdem mußte er versuchen, ein wenig auszuruhen. In etwas mehr als zwölf Stunden würde er seinen Dad beerdigen, und er brauchte Kraft für das Begräbnis, das alles andere als leicht für ihn sein würde.

Er trug den Stuhl zur Tür und schob die Rückenlehne unter die Klinke - eine simple, aber wirksame Barrikade.

Sein Zimmer befand sich im ersten Stock. Das Fenster war von draußen schwer zu erreichen. Außerdem war es geschlossen.

Selbst wenn er tief schlafen sollte, konnte jetzt niemand mehr das Zimmer betreten, ohne so viel Lärm zu machen, daß er aufwachen würde. Niemand - nichts.

Wieder im Bett, lauschte er dem unablässigen Prasseln des Regens auf das Dach. Wenn jemand in diesem Moment durchs Haus schlich, konnte Joey ihn nicht hören, denn der Lärm des Gewitters bot einen perfekten Schutz.

»Shannon« murmelte er, »du wirst mit zunehmendem Alter immer verrückter.«

Wie die feierlichen Trommeln bei einem Begräbnis, so geleitete der Regen Joey in die tiefere Dunkelheit des Schlafs.

Im Traum teilte er sein Bett mit einer toten Frau, die ein durchsichtiges blutbeschmiertes Gewand trug. Von dämonischer Energie beseelt, legte sie ihm plötzlich eine Hand aufs Gesicht. Möchtest du mit mir schlafen? fragte sie. Niemand wird je etwas davon erfahren. Nicht einmal ich könnte als Zeugin gegen dich auftreten. Ich bin nicht nur tot, sondern auch blind. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und er sah, daß sie keine Augen mehr hatte. Aus den leeren Augenhöhlen gähnte ihm die tiefste Dunkelheit entgegen, die er je gesehen hatte. Ich gehöre dir Joey. Ich gehöre dir.

Er fuhr nicht mit einem Schrei aus dem Schlaf, sondern mit einem kläglichen Wimmern. Auf der Bettkante sitzend, vergrub er sein Gesicht in den Händen und schluchzte leise.

Obwohl ihm von zuviel Alkohol schwindlig und übel war, wußte er, daß seine Reaktion auf den Alptraum nicht normal war. Zwar hatte er rasendes Herzklopfen, aber seine Trauer war viel größer als seine Angst. Dabei war die Tote keine Frau, die er jemals gekannt hatte, sondern nur ein Phantom, geboren aus zu wenig Schlaf und zuviel Jack Daniel’s. In der vergangenen Nacht, erschüttert über die Nachricht vom Tod seines Vaters und besorgt über die bevorstehende Fahrt nach Asherville, war er nur für wenige Stunden eingedöst. Die natürliche Folge war, daß jetzt Monster seine Träume bevölkerten. Die augenlose Frau war nur ein grotesker Spuk gewesen. Trotzdem lastete die Erinnerung an sie zentnerschwer auf seiner Seele, und er hatte unerklärlicherweise das niederschmetternde Gefühl, einen unersetzlichen Verlust erlitten zu haben.

Dank der Leuchtziffern seiner Uhr konnte er sehen, daß es halb vier war. Er hatte weniger als drei Stunden geschlafen.

Die Dunkelheit preßte sich immer noch ans Fenster, und endlose Regenströme zerteilten die Nacht.

Er stand vom Bett auf und ging zum Schreibtisch, wo die halbvolle Flasche Jack Daniel’s stand. Ein kleiner Schluck konnte nicht schaden. Irgendwie mußte er die Zeit bis zum Tagesanbruch überstehen.

Während er die Flasche aufschraubte, verspürte er einen heftigen Drang, zum Fenster zu gehen. Er fühlte sich magisch davon angezogen, widerstand jedoch, weil er absurderweise befürchtete, hinter der regennassen Scheibe die tote Frau zu sehen, ein Stockwerk über der Erde schwebend, mit wirren blonden Haaren, pechschwarzen leeren Augenhöhlen, in einem durchsichtigen Gewand, die Arme ausgestreckt, so als würde sie ihn stumm anflehen, das Fenster zu öffnen und mit ihr ins Unwetter hinaus zu fliegen.

Überzeugt davon, daß sie tatsächlich wie ein Geist dort draußen schwebte, traute er sich nicht einmal, aus dem Augenwinkel heraus einen Blick auf das Fenster zu werfen. Sie könnte selbst den flüchtigsten Blickkontakt als Einladung auffassen, zu ihm zu kommen. Wie ein Vampir würde sie an die Scheibe klopfen und um Einlaß bitten, aber ohne Einladung konnte sie seine Schwelle nicht übertreten.

Das Gesicht von dem rechteckigen Rahmen abgewandt, kehrte er zum Bett zurück, die Flasche in der Hand.

Er frage sich, ob er nur betrunkener als sonst war oder aber den Verstand verlor.

Zu seiner eigenen Überraschung schraubte er die Flasche wieder zu, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

3

Morgens hörte es auf zu regnen, aber der Himmel blieb wolkenverhangen und düster.

Joey hatte keinen Kater. Er wußte genau, wieviel Alkohol er vertragen konnte, ohne unter unangenehmen Nachwirkungen zu leiden. Und er schluckte jeden Tag mehrere Vitamin-B-Tabletten, um zu ersetzen, was der Whisky zerstörte; extremer Vitamin-B-Mangel war die Hauptursache für einen Kater. Er kannte alle Tricks. Sein Trinken war methodisch und durchorganisiert - er betrieb es so, als wäre es sein Beruf.

In der Küche fand er etwas zum Frühstücken - eine trockenes Stück Kuchen und ein halbes Glas Orangensaft.

Er duschte und zog seinen einzigen Anzug mit weißem Hemd und dunkelroter Krawatte an. Den Anzug hatte er seit fünf Jahren nicht mehr getragen, und er war ihm jetzt viel zu weit. Auch der Hemdkragen war eine Nummer zu groß. Er sah wie ein Fünfzehnjähriger aus, der sich die Kleidung seines Vaters ausgeliehen hatte.

Die endlose Alkoholzufuhr beschleunigte offenbar seinen Stoffwechsel: Er verbrannte alles, was er aß und trank, so schnell, daß er jedes Jahr am 31. Dezember ein Pfund weniger wog als am 1. Januar. In 150 Jahren würde er sich einfach in Luft auflösen.

Um zehn Uhr fuhr er zu Devokowskis Bestattungsinstitut in der Main Street. Es war geschlossen, aber Joey wurde von Mr. Devokowski erwartet.

Louis Devokowski war seit 35 Jahren der Bestattungsunternehmer von Asherville. Er entsprach nicht im geringsten dem Bild, das Filme und Comics von Männern seines Berufsstandes vermittelten - bleich, mager, mit gebeugten Schultern. Ganz im Gegenteil: Er war stämmig, hatte ein rosiges Gesicht und dunkle Haare ohne jedes Grau -so als wäre die Arbeit mit Toten ein Rezept für langes Leben und Vitalität.

»Joey!«

»Mr. Devokowski!«

»Es tut mir ja so leid.«

»Mir auch.«

»Die halbe Stadt hat ihm hier gestern abend die letzte Ehre erwiesen.«

Joey schwieg.

»Alle haben deinen Vater geliebt.«

Joey sagte nichts, weil auf seine Stimme kein Verlaß war.

»Ich bringe dich jetzt zu ihm«, sagte Devokowski.

Die Aufbahrungshalle war ein pietätvoller Raum -burgunderroter Teppich, burgunderrote Vorhänge, beige Wände, gedämpftes Licht. Große Rosenbuketts verströmten einen süßlichen Duft.

Der Sarg war aus Bronze, mit Griffen und Beschlägen aus glänzendem Kupfer. Joey hatte Mr. Devokowski telefonisch instruiert, das Beste zu nehmen. So würde P. J. es gewollt haben - und P. J. würde diesen Sarg ja auch bezahlen.

Joey näherte sich der Bahre so zögernd wie ein Mann, der im Traum befürchtet, sich selbst im Sarg liegen zu sehen.

Doch es war Dan Shannon, der in einem dunkelblauen Anzug friedlich dalag, auf cremefarbenes Satin gebettet. Die letzten zwanzig Jahre waren nicht freundlich mit ihm umgesprungen: Er sah so besorgt und erschöpft aus, daß man fast glauben konnte, er wäre über seinen Tod glücklich gewesen.

Mr. Devokowski hatte sich diskret entfernt. Joey war mit seinem Dad allein.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Es tut mir so leid, daß ich nie zurückgekommen bin, daß ich dich und Mom nie wiedergesehen habe«.

Zögernd berührte er die bleiche Wange des alten Mannes. Sie war kalt und trocken.

Er zog seine Hand zurück. »Ich habe einfach den falschen Weg eingeschlagen.« Seine Stimme zitterte. »Einen seltsamen Highway ... und irgendwie ... irgendwie gab es nie ein Zurück. Ich kann es dir nicht erklären, Dad. Ich verstehe es selbst nicht.« Eine Weile konnte er nicht sprechen. Der Rosenduft schien immer intensiver zu werden.

Man hätte Dan Shannon ohne weiteres für einen Bergmann halten können, obwohl er nie in den Kohlegruben gearbeitet hatte, nicht einmal als Junge. Breite schwere Gesichtszüge. Mächtige Schultern. Kräftige Hände mit plumpen Fingern, von vielen Narben überzogen. Er war Automechaniker gewesen, ein guter Automechaniker - aber zu einer Zeit und an einem Ort, wo es nie genug Arbeit für ihn gab.

»Du hättest einen liebenden Sohn verdient«, flüsterte Joey endlich wieder. »Ein Glück, daß du zwei Söhne hattest, stimmt’s?« Er schloß die Augen. »Es tut mir leid. O Gott, es tut mir so wahnsinnig leid!«

Das Herz war ihm vor Gewissensbissen so schwer wie ein Amboß, aber Unterhaltungen mit dem Toten konnten keine Absolution bewirken. Nicht einmal Gott könnte ihm jetzt noch eine Absolution erteilen.

Mr. Devokowski hatte in der Vorhalle auf ihn gewartet. »Weiß P. J. schon Bescheid?« fragte er.

Joey schüttelte den Kopf. »Ich konnte ihn noch nicht erreichen.«

»Wie ist das möglich? Er ist doch dein Bruder.« Für einen Moment machte die professionell teilnahmsvolle Mine unverhohlener Verachtung Platz.

»Er ist ständig auf Reisen, Mr. Devokowski, das wissen Sie doch. Immer unterwegs, um irgend etwas Neues zu erkunden. Es ist nicht meine Schuld, daß wir keinen Kontakt haben.«

Devokowski nickte widerwillig. »Ich habe vor ein paar Monaten den Artikel über ihn in People gelesen.«

P. J. Shannon war ein Schriftsteller, der das Leben auf den Straßen schilderte, der berühmteste Literaturzigeuner seit Jack Kerouac.

»Er sollte für eine Weile nach Hause kommen«, sagte Devokowski, »vielleicht ein zweites Buch über Asherville schreiben. Ich finde immer noch, daß das sein bestes Buch war. Wenn er erfährt, daß euer Dad tot ist, wird der arme P. J. ganz gebrochen sein. Er hat euren Dad wirklich geliebt.«

Ich auch, dachte Joey, aber er sprach es nicht aus. In Anbetracht seines Verhaltens während der letzten zwanzig Jahre würde ihm das niemand glauben. Aber er hatte Dan Shannon geliebt. Und er hatte auch seine Mutter Kathleen geliebt - obwohl er nicht an ihr Krankenlager geeilt und auch ihrem Begräbnis ferngeblieben war.

»P. J. war im August zu Besuch«, berichtete Devokowski. »Er hat etwa eine Woche hier verbracht. Euer Dad war mächtig stolz auf ihn und hat mit ihm sämtliche Bekannte besucht.«

Devokowskis Assistent, ein ernsthafter junger Mann in dunklem Anzug, betrat die Vorhalle und sagte gedämpft: »Sir, es wird Zeit, den Verstorbenen in die Kirche zu überführen.«

Devokowski warf einen Blick auf seine Uhr und fragte Joey: »Kommst du zur Messe?«

»Ja, natürlich.«

Der Bestattungsunternehmer nickte und wandte sich von Joey ab. Seine Körpersprache verriet deutlich, daß dieser Sohn von Dan Shannon eigentlich kein Recht hatte, seiner Antwort ein »natürlich« hinzuzufügen.

Draußen sah der Himmel verbrannt aus, wie schwarze Kohle und dichte graue Asche, aber er war regenschwer.

Joey hoffte, daß der nächste Wolkenbruch bis nach der Messe und dem Begräbnis auf sich warten lassen würde.

Als er von hinten auf sein am Straßenrand geparktes Auto zuging, sprang der Kofferraum von selbst auf, und der Deckel hob sich einige Zentimeter. Aus dem dunklen Inneren streckte sich ihm eine schlanke Hand entgegen, schwach, flehend, verzweifelt. Eine Frauenhand. Der Daumen war gebrochen und hing in groteskem Winkel herab, und von den eingerissenen Fingernägeln tropfte Blut.

Um Joey herum schien Asherville plötzlich unter einen düsteren Zauberbann geraten zu sein. Der Wind erstarb. Die Wolken, die rastlos von Nordwesten her über den Himmel gezogen waren, standen still. Alles war leblos, kein Laut zu hören. Joey war vor Schreck wie gelähmt. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er hatte das Gefühl, unter der gewölbten Decke der Hölle zu stehen. Nur die Hand bewegte sich, nur die Hand war lebendig, und nur diese um Rettung flehende Hand war von Bedeutung in einer Welt, die sich in Stein verwandelt hatte.

Joey konnte den Anblick des herabhängenden Daumens, der eingerissenen Nägel und des langsam herabtropfenden Blutes nicht ertragen - aber etwas zwang ihn hinzusehen. Er wußte, daß das die Frau in dem durchsichtigen Gewand war; sie war aus seinem nächtlichen Alptraum in die reale Welt gekommen, obwohl so etwas nicht möglich sein dürfte.

Die Hand schob sich etwas weiter aus dem Schatten des Kofferraumdeckels hervor und dreht die Innenfläche nach oben. In der Mitte war eine blutige Wunde, die von einem Nagel herrühren konnte.

Seltsamerweise konnte Joey, als er entsetzt die Augen schloß, den Altar der Kirche »Unsere schmerzensreiche Mutter« so deutlich vor sich sehen, als stünde er in diesem Moment auf den Altarstufen. Ein silberheller Glockenton durchbrach die Stille, aber es war kein reales Geräusch an diesem Oktobernachmittag, sondern ein Klang aus ferner Vergangenheit, aus den Morgenmessen seiner Kindheit. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. Er sah den funkelnden Kelch, in dem sich Kerzenflammen spiegelten. Der Priester hob die Hostie mit beiden Händen. Joey versuchte den Moment der Wandlung wahrzunehmen, einen Moment, da die Hoffnung sich erfüllte, da der Glaube belohnt wurde. Das perfekte Mysterium, das sich im Bruchteil einer Sekunde vollzog: aus Wein wurde Blut.

Besteht noch Hoffnung für die Welt, für verlorene Menschen wie mich?

Die Bilder vor seinem geistigen Auge wurden genauso unerträglich wie der Anblick der blutigen Hand. Joey öffnete die Augen. Die Hand war verschwunden. Der Kofferraum war geschlossen. Der Wind wehte wieder, die dunklen Wolken fegten von Nordwesten her über den Himmel, und in der Ferne bellte ein Hund. Der Kofferraum war nie aufgegangen, die Hand hatte sich ihm nie entgegengestreckt. Er litt unter Halluzinationen.

Joey hob seine eigenen Hände und starrte sie an, als würden sie einem Fremden gehören. Sie zitterten sehr stark.

Delirium tremens. Zittern. Visionen von Dingen, die aus den Wänden krochen. In diesem Fall aus einem Kofferraum. Alle Säufer erlebten so etwas von Zeit zu Zeit - speziell, wenn sie versuchten, das Trinken aufzugeben.

Im Wagen holte er einen Flachmann aus der Innentasche seines Sakkos, betrachtete die Flasche, schraubte sie endlich auf, schnupperte an dem Whisky und führte die Flasche an seine Lippen.

Entweder hatte er sehr lange wie gelähmt neben dem Kofferraum gestanden, oder aber er hatte sehr lange den Flachmann angestarrt und dabei dem Verlangen nach einem Schluck zu widerstehen versucht. Jedenfalls fuhr der Leichenwagen mit dem Sarg seines Vaters schon an ihm vorbei und bog nach rechts ab, in Richtung Kirche.

Joey wollte während des Requiems nüchtern sein. Seit langem hatte er nichts mehr so sehr gewollt.

Ohne einen Schluck getrunken zu haben, schraubte er die Flasche zu und verstaute sie in seiner Tasche.

Er ließ den Motor an, holte den Leichenwagen ein und folgte ihm zur Kirche.

Während der Fahrt glaubte er mehrmals, dumpfe Geräusche aus dem Kofferraum zu hören. Ein leises Klopfen. Ein Kratzen. Einen schwachen, hohen Schrei.

4

Die Pfarrkirche »Unsere schmerzensreiche Mutter« sah noch genauso wie in seiner Erinnerung aus: dunkles Holz, liebevoll zu satinartigem Glanz poliert; Buntglasfenster, die bei Sonnenschein die Kirchenbänke in warmes Licht tauchten und von Nächstenliebe und Erlösung kündeten; Deckengewölbe, die in blaue Schatten gehüllt waren; die mit verschiedenen Gerüchen geschwängerte Luft - Zitronenölpolitur, Weihrauch, heißes Kerzenwachs.

Joey saß in der letzten Reihe und hoffte, daß niemand ihn erkennen würde. Er hatte in Asherville keine Freunde mehr. Und ohne einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann konnte er die zornigen und verächtlichen Blicke nicht ertragen, die ihn mit Sicherheit streifen würden - und die er zweifellos auch verdient hatte.

Mehr als 200 Personen wohnten der Messe bei, und Joey hatte den Eindruck, als wäre die Stimmung noch gedrückter als bei anderen Begräbnissen. Dan Shannon war allgemein beliebt gewesen, und viele würden ihn vermissen.

Viele Frauen wischten sich mit ihren Taschentüchern die Tränen von den Wangen, aber alle Männer hatten trockene Augen. - Asherville weinten Männer nie in der Öffentlichkeit -und sogar heimlich nur sehr selten. Obwohl seit über 20 Jahren niemand mehr in den Bergwerken arbeitete, stammten sie doch alle von Generationen von Bergleuten ab, die jederzeit mit Tragödien rechnen mußten, mit dem Verlust geliebter Menschen oder guter Freunde durch Explosionen, Verschüttungen oder Lungenkrankheiten. Ohne Stoizismus hätten diese Menschen nie überleben können.

Behalte deine Gefühle für dich. Belaste deine Freunde und deine Familie nicht mit deinen Sorgen und Ängsten. Steh alles allein durch. Das war die Weltanschauung von Asherville, und diese Wertvorstellungen hatten sogar noch mehr Gewicht als die Moral, die der zweitausend Jahre alte christliche Glaube lehrte und die jeder Priester von der Kanzel predigte.

Joey harte seit zwanzig Jahren keine Messe mehr besucht. Dieses Totenamt war - offenbar auf Wunsch der Gemeinde -eine klassische lateinische Messe, mit der ganzen Ausdruckskraft und Feierlichkeit, die verlorengegangen waren, als die Kirche sich in den 60er Jahren dem Zeitgeist anpaßte.

Die Schönheit der Messe rührte Joey nicht an, wärmte ihm nicht das Herz. Durch seine Lebensweise während der letzten zwanzig Jahre hatte er den Glauben verloren, und jetzt konnte er die Zeremonie nur noch äußerlich nachvollziehen, etwa so wie jemand, der ein schönes Gemälde durch das Galeriefenster betrachtet und wegen der Spiegelungen im Glas alles nur verzerrt und verschwommen sieht.

Die Messe war erhebend, aber es war eine kalte Schönheit. Wie Winterlicht auf glänzendem Stahl. Wie eine arktische Landschaft.

Von der Kirche fuhr Joey zum Friedhof, der auf einem Hügel lag. Das Gras war noch grün, mit Laub übersät, das unter seinen Füßen knisterte.

Sein Vater würde neben seiner Mutter beerdigt werden. Auf der zweiten Hälfte des Doppelgrabsteins war noch kein Name eingemeißelt.

Zum erstenmal am Grab seiner Mutter zu stehen und ihren Namen sowie das Todesdatum in Granit gemeißelt zu sehen, löste in Joey keine besondere Erschütterung aus. Es war nicht so, als würde er erst jetzt begreifen, daß sie wirklich tot war. Er war sich des Verlustes in den letzten sechzehn Jahren stets schmerzhaft bewußt gewesen.

Doch im Grunde hatte er sie schon vor zwanzig Jahren verloren, denn seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen.

Der Leichenwagen hielt auf der Straße, nicht weit vom Grab entfernt. Lou Devokowski und sein Assistent überwachten das Ausladen des Sarges.

Das offene Grab, das auf Dan Shannon wartete, war von einem etwa meterhohen Plastikvorhang umgeben, um sensiblen Trauergästen den Anblick der bloßen Erde an den Wänden des Grabes zu ersparen, einen Anblick, der sie brutal mit der düsteren Realität konfrontieren würde. Auch der ausgehobene Erdhügel war pietätvoll mit schwarzem Plastik verhüllt und mit Blumensträußen und Farnwedeln geschmückt.

So als wollte er sich selbst bestrafen, trat Joey dicht an die gähnende Grube heran und spähte über den Vorhang hinweg, um genau zu sehen, wohin sein Dad gleich verschwinden würde.

Auf dem Boden des Grabes, von loser Erde halb bedeckt, lag eine Leiche, in blutbeschmiertes Plastik gehüllt. Eine nackte Frau. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber nasse blonde Haarsträhnen.

Joey taumelte rückwärts und prallte gegen andere Trauergäste.

Er bekam keine Luft. Seine Lungen schienen mit der Erde aus dem Grab seines Vaters verstopft zu sein.

Mit ernsten, feierlichen Mienen, die gut zum düsteren Himmel paßten, stellten die Träger den Sarg vorsichtig auf die Bretter über der Grube.

Joey wollte ihnen zurufen, daß sie den Sarg zur Seite schieben und in die Tiefe blicken sollten, wo die in Plastikfolie gehüllte Frau lag.

Er brachte kein Wort hervor.

Der Priester war eingetroffen. Seine schwarze Soutane und der weiße Chorrock flatterten im Wind. Die Beerdigung würde gleich beginnen.

Wenn der Sarg erst einmal in die zweieinhalb Meter tiefe Grube hinabgesenkt wurde, auf die tote Frau, wenn das Grab erst einmal zugeschüttet war, würde niemand je erfahren, daß sie dort lag. Für jene Menschen, die sie liebten und verzweifelt nach ihr suchten, würde sie immer spurlos verschwunden bleiben.

Wieder versuchte Joey zu sprechen, und wieder brachte er keinen Laut hervor. Er zitterte am ganzen Leibe.

Auf einer bestimmten Bewußtseinsebene wußte Joey, daß die Leiche auf dem Boden des Grabes nicht wirklich existierte. Sie war nur ein Phantom, eine Halluzination. Delirium tremens. Wie die Käfer die Ray Milland in Lost Weekend aus den Wänden kriechen sah.

Trotzdem wollte er schreien, und er hätte es getan, wenn es ihm nur gelungen wäre, den Würgegriff eisigen Schreckens abzuschütteln. Er wollte die Sargträger anbrüllen, daß sie ins Grab schauen sollten, obwohl er wußte, daß sie dort nichts finden und ihn für verrückt halten würden.

Aus dem offenen Grab stieg ein Geruch von feuchter Erde und Verwesung herauf, und das erinnerte ihn an all die kleinen Kreaturen, von denen es unter dem Rasen wimmelte - Käfer, Würmer und sonstige wuselnde Wesen, die er nicht benennen konnte.

Joey wandte sich vom Grab ab, schob sich durch die mehr als hundert Trauergäste, die von der Kirche zum Friedhof gekommen waren, stolperte zwischen den Grabsteinen hügelabwärts und suchte Zuflucht in seinem Mietwagen.

Plötzlich konnte er wieder tief Luft holen, und endlich fand er auch seine Stimme wieder. »O Gott, o Gott, o Gott!«

Offenbar verlor er den Verstand. Zwanzig Jahre Trunksucht hatten sein Gehirn wohl irreparabel geschädigt. Zu viele graue Gehirnzellen waren durch den Alkohol zerstört worden.

Nur indem er seinem Laster weiter frönte, konnte er einen klaren Kopf bewahren. Er holte den Flachmann aus der Sakkotasche.

Die bestürzten Trauergäste hatten seine hastige Flucht, die ihnen Gesprächsstoff für mindestens einen Monat liefern würde, mit großem Interesse verfolgt, und zweifellos starrten auch jetzt viele zu seinem Mietwagen hinüber, um nichts zu verpassen. Die Mißbilligung des Priesters nahmen sie dabei in Kauf.

Joey war es egal, was sie von ihm halten würden. Ihm war alles egal. Nur noch der Whisky zählte.

Aber sein Dad war noch nicht beerdigt. Er hatte sich geschworen, bis nach dem Begräbnis nüchtern zu bleiben. Im Laufe der Jahre hatte er unzählige Schwüre dieser Art gebrochen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen war dieses Versprechen ihm wichtiger als alle anderen.

Er schraubte die Flasche nicht auf.

Auf dem Hügel zwischen den ihres Laubs schon halb beraubten Bäumen, unter einem bleischweren Himmel, wurde der Sarg langsam in die teilnahmslose Erde hinabgelassen.

Die ersten Trauergäste gingen auseinander und blickten mit unverhohlener Neugier zu Joeys Wagen hinüber.

Als auch der Priester sich vom Grab entfernte, wirbelte ein heftiger Windstoß die welken Blätter auf; sie fegten über die Grabsteine hinweg, als wären irgendwelche böse Geister plötzlich aus unruhigem Schlaf erwacht.

Donner grollte zum erstenmal seit Stunden, und die restlichen Trauergäste eilten zu ihren Autos.

Während das Gewitter näher kam, entfernte ein Friedhofsarbeiter in gelbem Regenmantel die Plastikplane über dem Erdhaufen. Ein zweiter Arbeiter saß am Steuer eines kleinen Baggers, der genauso gelb wie sein Regenmantel war.

Noch bevor es in das offene Grab hineinregnen konnte, wurde dieses mit Erde aufgefüllt, die man anschließend feststampfte.

»Leb wohl«, murmelte Joey.

Er hätte eigentlich das Gefühl haben müssen, am Ende eines wichtigen Lebensabschnitts angelangt zu sein, etwas abgeschlossen zu haben. Aber er fühlte sich nur leer und unvollkommen. Falls er je gehofft hatte, einen endgültigen Schlußstrich ziehen zu können, so war es ihm nicht gelungen.

5

Wieder zurück in seinem Elternhaus, ging Joey die schmale Kellertreppe hinab. Vorbei am Heizkessel. Vorbei an dem kleinen Heißwasserboiler.

Die Tür zu P. J.’s ehemaligem Zimmer war durch Alter und Feuchtigkeit verzogen. Sie quietschte in den Angeln und schabte über die Schwelle, als Joey sie aufriß.

Regen trommelte an die zwei schmalen Klappfenster, die hoch an der Außenwand angebracht waren, und das graue Tageslicht vermochte den Raum nicht zu erhellen. Er drückte auf den Lichtschalter neben der Tür, und eine nackte Glühbirne an der Decke spendete Licht.

Der kleine Raum war leer. Vor vielen Jahren hatten seine Eltern das Bett und die anderen Möbel wohl für ein paar Dollar verkauft. Wenn P. J. in den letzten zwanzig Jahren nach Hause gekommen war, hatte er in Joeys Zimmer im ersten Stock geschlafen, denn Joey kam ja ohnehin nie zu Besuch.

Staub. Spinnweben. Unten an den Wänden: dunkle Schimmelflecken.

Das einzige, was noch darauf hindeutete, daß P. J. früher einmal hier gewohnt hatte, waren einige Filmposter, die mit Reißzwecken an die Wände geheftet waren - vergilbte, eingerissene und an den Ecken aufgerollte grelle Plakate, die für miserable Filme Reklame gemacht hatten.

An der High Shool hatte P. J. davon geträumt, aus Asherville und aus der Armut herauszukommen und Filmregisseur zu werden. »Aber diese Poster sollen mich immer daran erinnern«, hatte er Joey einmal erklärt, »daß Erfolg um jeden Preis sich nicht lohnt. In Hollywood kann man sogar mit solch billigem Schund reich und berühmt werden. Wenn ich es jedoch nicht schaffe, wirklich gute Arbeit zu leisten, werde ich hoffentlich den Mut haben, meinen Traum ganz aufzugeben, anstatt mich zu verkaufen.«

Entweder hatte das Schicksal P. J. nie eine Chance in Hollywood gegeben, oder aber er hatte irgendwann einfach das Interesse am Filmemachen verloren. Statt dessen war er als Schriftsteller zu Ruhm und Ehren gelangt und hatte somit Joeys Träume verwirklicht, nachdem Joey sie aufgegeben hatte.

Die Literaturkritiker hielten sehr viel von P. J.’s Werken. Aus dem Material, das er auf seinen Reisen kreuz und quer durch die USA sammelte, entstand eine geschliffene Prosa, die unter einer scheinbar simplen Oberfläche geheimnisvolle Tiefen verbarg.

Joey beneidete seinen Bruder - aber ohne jede Mißgunst. Er gönnte P. J. den wohlverdienten Ruhm und das wohlverdiente Vermögen, und er war stolz auf ihn.

In ihrer Kindheit und Jugend hatten sie eine sehr enge Bindung gehabt, und daran hatte sich im Grunde bis jetzt nichts geändert, obwohl ihr Kontakt sich jetzt größtenteils auf Ferngespräche beschränkte. P. J. rief aus Montana, Maine, Key West oder aus irgendeiner verschlafenen Kleinstadt auf der texanischen Hochebene an, und manchmal schneite er auch unangemeldet bei Joey herein; aber das kam nur alle drei oder vier Jahre einmal vor, und auch dann blieb er nie länger aus zwei Tage, meistens sogar nur einen Tag.

Kein Mensch hatte Joey jemals so viel bedeutet wie P. J., und daran würde sich nie etwas ändern. Seine Gefühle für den älteren Bruder waren viel zu tief und komplex, als daß er sie jemandem hätte erklären können.

Der Regen hämmerte auf den Rasen jenseits der Kellerfenster. Vom Himmel - so weit oben, daß es sich in einer anderen Welt abzuspielen schien - krachte wieder der Donner.

Er war in den Keller gekommen, weil er ein Einmachglas suchte. Doch der Raum war bis auf die Filmposter völlig leer.

Dicht neben seinem Schuh huschte eine fette schwarze Spinne über den Betonboden. Er zertrat sie nicht, sondern beobachtete ihre Flucht, bis sie in einem Riß Zuflucht fand. Dann machte er das Licht aus, ließ die verzogene Tür offenstehen und durchquerte den Heizungsraum.

Auf den obersten Treppenstufen, fast schon in der Küche, sagte er vor sich hin: »Ein Einmachglas? Was für ein Einmachglas?«

Verwirrt blieb er stehen und blickte die Treppe hinab.

Ein Einmachglas mit irgend etwas. Oder für etwas?

Er konnte sich nicht erinnern, wozu er ein Einmachglas benötigte haben könnte oder nach was für einem Glas er gesucht hatte.

Ein weiteres Anzeichen von geistiger Verwirrung?

Er hatte viel zu lange nichts getrunken.

Das Unbehagen und die Desorientierung, die ihn seit seiner Ankunft in Asherville am Vortag quälten, wurden immer stärker. Er ging rasch die letzten Stufen hinauf und schaltete das Kellerlicht aus.

Sein Koffer stand gepackt im Wohnzimmer. Er trug ihn auf die Veranda, schloß die Haustür hinter sich ab und legte den Schlüssel unter die Matte, wo er ihn vor nicht einmal 24 Stunden gefunden hatte.

Etwas knurrte hinter ihm, und als er sich umdrehte, sah er einen nassen, räudigen schwarzen Hund auf den Verandastufen stehen, der die Zähne fletschte und ihn aus schwefelgelben Augen anstarrte.

»Verschwinde«, sagte Joey, nicht drohend, sondern ganz sanft.

Der Hund knurrte wieder, senkte den Kopf und spannte die Muskeln an, so als wolle er Joey anspringen.

»Du gehörst genausowenig hierher wie ich« erklärte Joey ihm.

Das Tier wirkte verunsichert, schüttelte sich, leckte sich das Maul und trat den Rückzug an.

Mit seinem Koffer in der Hand blickte Joey dem Hund von der obersten Verandastufe aus nach, der durch den schrägen grauen Regen lief, um die Ecke bog und sich am Ende des Blocks scheinbar in Luft auflöste, so als wäre er nur eine Fata Morgana gewesen. Unwillkürlich fragte Joey sich, ob er wieder eine Halluzination gehabt hatte.

6

Die Anwaltskanzlei befand sich im ersten Stock eines Ziegelbaues in der Main Street, über der Old Town Tavern. Das Lokal war an Sonntagnachmittagen geschlossen, doch die kleinen Neonschilder, die in den Fenstern für Rolling Rock und Pabst Blue Ribbon warben, färbten den Regen vor den Scheiben grün und blau.

Der schwach beleuchtete Korridor diente auch als Zugang zu einem Zahnarzt und einem Immobilienmakler. Henry Kadinskas Kanzlei bestand aus zwei Räumen. Die Tür zum Empfangszimmer stand offen.

Joey trat ein und rief: »Hallo?«

Die innere Tür war angelehnt, und von dort antwortete ein Mann: »Kommen Sie bitte herein, Joey.«

Der zweite Raum war größer als der erste, aber alles andere als imposant. Bücherregale mit juristischer Fachliteratur nahmen zwei Wände ein; zwei Diplome hingen leicht schief an der dritten Wand. Die herabgelassenen Holzjalousien an den Fenstern waren sehr alt - solche Modelle wurden seit mindestens 50 Jahren nicht mehr hergestellt. Zwischen den horizontalen Lamellen war von dem regnerischen Tag nicht viel zu sehen.

Zwei gleiche Mahagonischreibtische standen einander gegenüber. Früher hatte Henry Kadinska mit seinem Vater Lev zusammengearbeitet, der ursprünglich Ashervilles einziger Anwalt gewesen war. Lev war gestorben, als Joey die letzte Klasse der High Shool besuchte, aber sein unbenutzter Schreibtisch blieb, auf Hochglanz poliert, als Erinnerungsstück in der Kanzlei stehen.

Henry legte seine Pfeife in einen großen Aschenbecher aus geschliffenem Glas, stand auf und reichte Joey über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Ich habe Sie bei der Messe gesehen, wollte aber nicht stören.«

»Ich habe niemanden bewußt wahrgenommen«, entschuldigte sich Joey.

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Ich kann nicht klagen.«

Sie standen einen Augenblick lang etwas unbeholfen da und wußten nicht, was sie sagen sollten. Dann ließ Joey sich in einem der großen Sessel vor dem Schreibtisch nieder.

Kadinska nahm ebenfalls wieder Platz und griff nach seiner Pfeife. Er war Mitte fünfzig, ein schmaler Mann mit vorstehendem Adamsapfel. Sein Kopf schien im Verhältnis zum Körper etwas zu groß geraten, und dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß er eine Stirnglatze hatte. Seine nußbraunen Augen hinter den dicken Brillengläsern sahen freundlich aus.

»Haben Sie den Hausschlüssel unter der Matte gefunden?«

Joey nickte.

»Im Haus hat sich wenig verändert, stimmt’s?« fragte Henry Kadinska.

»Weniger als ich erwartet hatte. So gut wie nichts.«

»Ihr Vater hatte früher nie Geld für irgendwelchen Luxus, und als er dann endlich zu etwas Geld kam, wußte er nicht, wofür er es ausgeben sollte.« Er zündete seine Pfeife an. »Es hat P. J. ganz verrückt gemacht, daß Dan sich kaum etwas gönnte.«

Joey rutschte unbehaglich im Sessel hin und her. »Mr. Kadinska, ich verstehe nicht, warum Sie mich sehen wollten ...«

»Weiß P. J. immer noch nicht, daß Ihr Vater gestorben ist?«

»Ich habe mehrmals in seiner New Yorker Wohnung angerufen, konnte aber nur auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. Er verbringt höchstens einen Monat im Jahr in New York.«

Die Pfeife brannte wieder. Es roch nach Tabak mit Kirscharoma. Trotz der Diplome und Bücher hatte der Raum wenig von einer durchschnittlichen Anwaltskanzlei an sich. Er war gemütlich - ein wenig schäbig, aber gemütlich. Und Henry Kadinska lehnte so entspannt in seinem Schreibtischsessel, als säße er im Pyjama vor dem Fernseher.

»Manchmal ruft er den Anrufbeantworter tage- oder sogar wochenlang nicht ab.«

»Komische Lebensweise - fast immer unterwegs. Aber für ihn scheint es das Richtige zu sein.«

»Er genießt dieses Leben.«

»Und das Resultat sind dann seine wundervollen Bücher«, sagte Kadinska. »Ja.«

»Ich liebe seine Bücher sehr.«

»Alle lieben seine Bücher.«

»Sie vermitteln einem ein herrliches Gefühl von Freiheit, und sie sind so ... so geistsprühend.«

»Mr. Kadinska, bei diesem miserablen Wetter möchte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg nach Scranton machen. Das Flugzeug startet morgen in aller Herrgottsfrühe.«

»Ja selbstverständlich«, murmelte Kadinska, sichtlich enttäuscht. Plötzlich wirkte er wie ein einsamer Mensch, der sich auf eine freundschaftliche Unterhaltung gefreut hatte.

Während der Anwalt eine Schreibtischschublade öffnete und nach etwas suchte, fiel Joey auf, daß eines der schief aufgehängten Diplome von der Harvard University stammte. Für einen Kleinstadtanwalt im Kohlerevier war das eine höchst ungewöhnliche Alma Mater.

Jetzt bemerkte Joey auch, daß nicht alle Bücherregale mit juristischer Fachliteratur gefüllt waren. Es gab auch viele philosophische Werke. Plato, Sokrates, Aristoteles, Kant, Augustinus, Kierkegaard, Bentham, Santayana, Schopenhauer, Empedokles, Heidegger, Hobbes und Francis Bacon.

Vielleicht fühlte Henry Kadinska sich als Kleinstadtanwalt doch nicht so wohl, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte; vielleicht hatte er einfach irgendwann resigniert, weil die Macht der Gewohnheit ihn daran hinderte, aus der Kanzlei seines Vaters auszubrechen.

Manchmal - besonders im Whiskyrausch - vergaß Joey allzu leicht, daß er nicht der einzige Mensch auf der Welt war, dessen Träume im Nichts zerronnen waren.

»Der letzte Wille Ihre Vaters«, sagte Kadinska, während er eine Faltmappe öffnete. »Sein Testament.«

»Eine Testamentseröffnung?« frage Joey. »Ich glaube, daß dafür P. J. hier sein müßte, nicht ich.«

»Im Gegenteil. Das Testament hat mit P. J. nichts zu tun. Ihr Vater hat alles Ihnen hinterlassen.«

Von unerträglichen Schuldgefühlen geplagt, murmelte Joey: »Warum hätte er das tun sollen?«

»Warum nicht? Sie sind sein Sohn.«

Joey zwang sich, dem Anwalt direkt in die Augen zu blicken. Wenigstens an diesem einen Tag wollte er ganz aufrichtig sein, wollte seinem Vater mit einem würdigen Benehmen Ehre machen.

»Wir kennen beide die bittere Antwort auf Ihre Frage, Mr. Kadinska. Ich habe meinem Vater das Herz gebrochen, und ebenso meiner Mutter. Sie siechte über zwei Jahre an Krebs dahin, aber ich bin nie gekommen, habe nie ihre Hand gehalten, habe meinen Dad nie getröstet. Ich habe ihn in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens kein einziges Mal besucht und insgesamt höchstens sechs- oder achtmal angerufen. Oft wußte er nicht einmal, wie er mich erreichen konnte, weil ich ihm weder meine Adresse noch meine Telefonnummer gab. Und auch wenn er meine Nummer hatte, war bei mir immer der Anrufbeantworter eingeschaltet, damit ich nicht mit ihm zu reden brauchte. Ich war ein erbärmlicher Sohn, Mr. Kadinska. Ich bin ein Säufer, ein Egoist und Versager, und ich verdiene keine Erbschaft, so klein sie auch sein mag.«

Joeys unerbittliche Selbstkritik schien Henry Kadinska zu verstören. »Jetzt sind Sie aber nicht betrunken, Joey, und der Mann, den ich vor mir sehe, ist mit Sicherheit kein schlechter Mensch.«

»Spätestens heute abend werde ich betrunken sein, Sir, das versichere ich Ihnen«, sagte Joey ruhig. »Und wenn Sie mich nicht so sehen, wie ich mich beschrieben habe, sind Sie ein sehr schlechter Menschenkenner. Sie wissen überhaupt nichts von mir - und das ist Ihr Glück.«

Kadinska legte seine Pfeife wieder in den Aschenbecher. »Nun, Ihr Vater hatte Ihnen jedenfalls verziehen, und er wollte, daß Sie alles erben.«

Joey stand abrupt auf. »Nein, ich kann dieses Erbe nicht annehmen. Ich will es nicht haben.« Er ging auf die Tür zu. »Bitte warten Sie«, rief der Anwalt. Joey blieb stehen und drehte sich um. »Das Wetter ist miserabel, und die Fahrt durchs Gebirge nach Scranton wird kein reines Vergnügen sein.«

In seinen Sessel zurückgelehnt, griff Henry Kadinska wieder nach seiner Pfeife. »Wo wohnen Sie, Joey?«

»Das wissen Sie doch - in Las Vegas. Dort haben Sie mich ja erreicht.«

»Ich meine - wo in Las Vegas?«

»Warum?«

»Ich bin Anwalt. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Fragen zu stellen, und jetzt kann ich es mir einfach nicht mehr abgewöhnen. Verzeihen Sie bitte.«

»Ich lebe in einer Wohnwagenkolonie.«

»In einer dieser tollen Anlagen mit Swimmingpool und Tennisplätzen?«

»Alte Wohnwagen«, sagte Joey unverblümt. »Schäbige alte Wohnwagen.«

»Kein Pool? Kein Tennis?«

»Nein, verdammt, nicht einmal Gras.«

»Und womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

»Als Croupier. Bei Kartenspielen wie Blackjack, manchmal auch beim Roulette.«

»Arbeiten Sie regelmäßig?«

»Nur wenn ich unbedingt muß.«

»Wenn das Trinken Sie nicht daran hindert?«

Joey dachte daran, daß er sich selbst versprochen hatte, heute ausnahmsweise einmal nur die Wahrheit zu sagen. »Ja, wenn ich arbeiten kann. Man verdient ganz gut, weil die Spieler hohe Trinkgelder geben. Ich kann immer etwas sparen, für die Zeiten, wo ich ... wo ich etwas Urlaub nehmen muß. Ich komme gut zurecht.«

»Aber in den schicken Casinos finden Sie wohl nicht mehr oft einen Job, wenn Ihre Arbeitspapiere immer wieder Lücken aufweisen?«

»Stimmt.«

»Sie müssen sich mit immer schäbigeren Arbeitsplätzen begnügen, ja?«

»Für einen Mann, der sich noch vor kurzem so teilnahmsvoll anhörte, sind Sie plötzlich ganz schön grausam.«

Kadinska errötete vor Verlegenheit. »Entschuldigen Sie bitte, Joey, aber ich möchte Ihnen nur klarmachen, daß Sie es sich eigentlich nicht erlauben können, eine Erbschaft auszuschlagen.«

Joey blieb hart. »Ich verdiene sie nicht, ich will sie nicht, und ich werde sie nicht annehmen. Das ist mein letztes Wort. Außerdem würde sowieso niemand das alte Haus kaufen, und ich habe wirklich nicht die Absicht, nach Asherville zurückzukehren und dort zu wohnen.«

Kadinska klopfte auf die Dokumente in der Faltmappe. »Sie haben recht - das Haus ist nicht viel wert. Aber Sie erben erheblich mehr: über eine Viertelmillion Umlaufvermögen in Wertpapieren aus günstigen Kapitalanlagen.«

Joey bekam einen trockenen Mund und rasendes Herzklopfen. Die gemütliche Kanzlei verwandelte sich schlagartig in einen düsteren Ort des Schreckens, an dem er zu ersticken glaubte.

»Das ist doch absurd! Dad war ein armer Mann.« »Aber Ihr Bruder ist schon seit langer Zeit sehr erfolgreich. In den letzten vierzehn Jahren hat er Ihrem Vater jeden Monat einen Scheck geschickt. Tausend Dollar. Wie schon gesagt - es hat P. J. ganz verrückt gemacht, daß Ihr Dad nur einen kleinen Teil davon ausgab. Meistens reichte er einfach einen Scheck nach dem anderen bei seiner Bank ein, und durch Zins und Zinseszins ist das Kapital erheblich angewachsen.«

»Dieses Geld gehört nicht mir, sondern P. J.«, brachte Joey mit zittriger Stimme hervor. »Es stammte von ihm, und er sollte es jetzt zurückbekommen.«

»Aber Ihr Vater hat es Ihnen hinterlassen. Nur Ihnen. Und sein Testament ist gültig.«

»Geben Sie es P. J. sobald er sich hier blicken läßt«, beharrte Joey und ging wieder auf die Tür zu.

»Ich vermute, daß P.J. den letzten Willen Ihres Vaters achten und sagen wird, daß Sie alles bekommen sollen.«

»Ich will es aber nicht!« schrie Joey.

Kadinska holte ihn im Empfangszimmer ein, packte ihn am Arm und hielt ihn fest. »Joey, so einfach geht das nicht.«

»Warum nicht?«

»Wenn Sie das Geld wirklich nicht wollen, müssen Sie das Erbe ausschlagen.«

»Ich schlage es aus. Ich will es nicht haben.«

»Dazu muß ein Dokument aufgesetzt, von Ihnen unterschrieben und notariell beglaubigt werden.«

Obwohl es im Büro kalt war, brach Joey der Schweiß aus. »Wie lange brauchen Sie, um diese Papiere aufzusetzen?«

»Wenn Sie morgen nachmittag wiederkommen .«

»Nein.« Joeys Herz hämmerte gegen seinen Brustkasten, so als wollte es diesen Käfig zertrümmern. »Nein, Sir, ich übernachte nicht noch einmal hier in Asherville. Ich fahre jetzt nach Scranton, fliege morgen früh nach Pittsburgh und von dort weiter nach Las Vegas. Schicken Sie mir die Papiere zu.«

»Das ist wahrscheinlich die vernünftigste Lösung«, stimmte Kadinska zu. »Auf diese Weise haben Sie Zeit, sich alles noch einmal gründlich zu überlegen.«

Joey hatte den Anwalt zunächst für einen freundlichen, gebildeten Mann gehalten. Jetzt nicht mehr. Kadinska hatte nichts Gütiges mehr an sich. Der Kerl hatte es auf Joeys Seele abgesehen, er war schlau und gerissen. Unter der tarnenden Menschenhaut verbarg sich bestimmt ein Schuppenpanzer, und bei anderer Beleuchtung hätte er zweifellos die gleichen schwefelgelben Augen wie der räudige Hund auf der Veranda.

Joey riß sich von dem Anwalt los, stieß in beiseite und rannte aus der Kanzlei, einer Panik nahe.

»Was haben Sie denn, Joey?« rief Kadinska hinter ihm her.

Der Korridor. Das Immobilienbüro. Der Zahnarzt. Er rannte auf die Treppe zu. Was er brauchte, war frische Luft. Und den Regen, der in vielleicht reinwaschen konnte.

»Joey, was ist nur mit Ihnen los?«

»Bleiben Sie mir vom Leibe!« schrie er.

Als er die Treppe erreichte, blieb er so abrupt stehen, daß er fast das Gleichgewicht verloren und hinabgestürzt wäre. Im letzten Moment konnte er sich am Geländer festhalten.

Am Fuß der Treppe lag die tote Blondine, in eine durchsichtige blutbeschmierte Plane gehüllt. Ihre nackten Brüste waren regelrecht eingeschnürt. Die Brustwarzen waren zu sehen, nicht aber ihr Gesicht.

Ein weißer Arm war aus der Hülle geglitten; obwohl sie tot war, streckte sie flehend die Hand aus.

Er konnte den Anblick dieser verstümmelten Hand mit der blutigen Nagelwunde nicht ertragen. Doch am meisten fürchtete er sich davor, daß sie ihn plötzlich durch ihren Plastikschleier hindurch ansprechen würde, daß er Dinge erfahren könnte, die er nicht wissen durfte.

Joey wimmerte wie ein in die Enge getriebenes Tier und wirbelte auf dem Absatz herum.

»Joey?«

Herne Kadinska stand auf dem schwach erleuchteten Korridor und versperrte ihm den Weg zurück. In den dicken Brillengläsern des Anwalts spiegelte sich das gelbe Deckenlicht. Er kam immer näher, erfreut über die Chance, seinen Seelenhandel noch einmal anbieten zu können.

Joeys Verlangen nach frischer Luft und reinigendem Regen wurde übermächtig. Er wandte sich wieder der Treppe zu.

Die Blondine lag immer noch unten, mit ausgestrecktem Arm und offener Hand. Sie schien um Gnade zu flehen.

»Joey?«

Wieder Kadinskas Stimme. Dicht hinter ihm.

Er wagte sich zögernd auf die steile Treppe. Wenn die Tote tatsächlich dort unten lag, würde er über sie hinwegspringen, und wenn sie ihn festzuhalten versuchte, würde er nach ihr treten. Ohne sich am Geländer festzuhalten, nahm er jetzt zwei Stufen auf einmal. Ein Drittel der Treppe hatte er schon hinter sich. Die Hälfte. Sie lag immer noch dort, acht Stufen unter ihm, sechs, vier ... und die roten Stigmata glänzten auf ihrer Hand, die sie flehentlich nach ihm ausstreckte. Auf der letzten Stufe schrie er auf, und plötzlich verschwand die Tote. Er hetzte zur Tür und taumelte auf den Gehweg vor der Old Town Tavern hinaus.

Erleichtert hielt er sein Gesicht in den blau und grün getönten Regen, der so kalt war, daß es vielleicht bald graupeln würde. Innerhalb von Sekunden war er völlig durchnäßt - aber er fühlte sich noch immer nicht rein.

Im Mietwagen holte er den Flachmann unter dem Fahrersitz hervor, wo er ihn vor einer Weile verstaut hatte.

Innerlich hatte der Regen ihn nicht reinigen können. Er hatte Korruption eingeatmet und geschluckt. Whisky war ein ausgezeichnetes Antiseptikum.

Er öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck. Dann einen zweiten.

Der Alkohol benahm ihm den Atem. Hustend und nach Luft ringend, schraubte er die Flasche rasch wieder zu, weil er befürchtete, den kostbaren Inhalt zu verschütten.

Kadinska war ihm nicht in den Regen hinaus gefolgt, aber Joey hatte es trotzdem eilig wegzukommen. Er ließ den Motor an, passierte eine halb überflutete Kreuzung und fuhr auf der Main Street stadtauswärts.

Er glaubte nicht, daß es ihm gelingen würde, Asherville zu verlassen. Irgend etwas würde ihn daran hindern. Der Motor des Mietwagens würde plötzlich stottern, ausfallen und sich nicht wieder in Gang setzen lassen. An einer Kreuzung würde ein Auto mit dem seinigen kollidieren, obwohl auf den Straßen wenig Verkehr herrschte. Ein Telefonmast würde, vom Blitz getroffen, die Straße blockieren. Irgend etwas würde dafür sorgen, daß er diese Stadt nicht verlassen konnte. Warum er davon so überzeugt war, konnte er sich selbst nicht erklären, aber er konnte diese fixe Idee auch nicht abschütteln.

Trotz seiner Befürchtungen erreichte er unbehelligt die Stadtgrenze. Anstelle der deprimierenden Gebäude von Asherville säumten jetzt Wälder und Felder die Bundesstraße.

Ihn fröstelte, nicht nur, weil der kalte Regen ihn durchnäßt hatte, sondern auch vor Angst. Erst nachdem die Stadt fast zwei Kilometer hinter ihm lag, begann er darüber nachzudenken, warum er auf die Aussicht, eine Viertelmillion Dollar zu erhalten, so entsetzt reagiert hatte. Warum war er sofort überzeugt gewesen, daß dieser unverhoffte Glücksfall seine Seele verderben würde?

So wie er bisher gelebt hatte, würde er eines Tages ohnehin in der Hölle schmoren, falls sie existierte.

Fünf Kilometer hinter Asherville gelangte Joey an eine Kreuzung. Die Bundesstraße führte weiter geradeaus - ein glänzendes schwarzes Band, das sich einen Abhang hinabschlängelte und in der frühen Dämmerung verschwand.

Nach links zweigte die Coal Valley Road ab, die in die Kleinstadt Coal Valley führte.

An jenem Sonntagabend vor zwanzig Jahren, auf der Rückfahrt ins College, hatte er wie immer zwanzig Kilometer auf der Coal Valley Road zurücklegen wollen, die zum dreispurigen Black Hollow Highway führte, auf dem man nach 15 Kilometern in westliche Richtung die gebührenpflichtige Autobahn, den Pennsylvania Turnpike, erreichte. Er fuhr immer diese Strecke, weil sie am kürzesten war.

Doch an jenem Abend war er aus irgendwelchen Gründen, an die er sich später nie erinnern konnte, nicht auf die Coal Valley Road abgebogen. Er war geradeaus weitergefahren, knapp 30 km auf der Bundesstraße, und dann hatte er die Interstate genommen, die in weitem Bogen zum Black Hollow Highway führte. Auf dieser Interstate hatte er den Unfall gehabt, und seitdem war alles schief gegangen, sein ganzes Leben.

Er hatte damals einen zehn Jahre alten Ford Mustang gefahren, den er von einem Autofriedhof gerettet und mit Hufe seines Vaters instandgesetzt hatte. O Gott, wie hatte er jenes Auto geliebt! Es war der einzige wirklich schöne Gegenstand gewesen, den er je besessen hatte. Was aber noch wichtiger war - er hatte es mit eigenen Händen aus einem Wrack in ein Prachtstück verwandelt.

Während er an jenen alten Mustang zurückdachte, berührte er zögernd seine linke Schläfe direkt unter dem Haaransatz. Die zweieinhalb Zentimeter lange Narbe war kaum zu sehen, aber leicht zu ertasten. Er erinnerte sich plötzlich wieder lebhaft daran, wie sein Auto auf der regennassen Interstate ins Schleudern geraten und gegen einen Wegweiser geprallt war.

Das Klirren des Fensters. Das viele Blut. Jetzt saß er im Mietwagen an der Kreuzung und starrte die Coal Valley Road zu seiner Linken an, und er wußte plötzlich, wenn er diesen Weg einschlug, wie er es vor zwanzig Jahren hätte tun sollen, hätte er endlich eine Chance, alles in Ordnung zu bringen, sein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken. Das war ein verrückter Einfall, genauso abergläubisch wie seine Einbildung, daß etwas ihn daran hindern würde, Asherville zu verlassen. Trotzdem zweifelte er nicht daran, daß er unerwartet eine zweite Chance bekam. Er wußte, daß irgendeine übernatürliche Kraft am Werke war, er wußte, daß er irgendwo auf dieser einspurigen Bergstraße den Sinn seines Lebens finden würde - denn die Coal Valley Road war vor mehr als neunzehn Jahren geschlossen und aufgerissen worden. Und doch wartete sie jetzt zu seiner Linken, genau wie in jener Nacht. Sie war auf wundersame Weise instand gesetzt worden.

7

Joey lenkte den gemieteten Chevrolet am STOP-Schild vorbei und parkte auf dem schmalen Seitenstreifen, genau gegenüber der Coal Valley Road. Er schaltete die Scheinwerfer aus, ließ aber den Motor laufen.

Von Blumen gesäumt, schimmerte die schmale Straße in der Dämmerung und wurde ein Stück weiter von Schatten verschluckt, die so schwarz wie die lauernde Nacht waren. Das nasse Pflaster war mit bunten Blättern übersät, die im Zwielicht geheimnisvoll schimmerten, so als würden sie indirekt angestrahlt.

Joeys Herz klopfte laut.

Er schloß die Augen und lauschte dem Regen.

Als er seine Augen wieder öffnete, rechnete er halb damit, daß die Coal Valley Road nicht mehr da sein würde, daß er wieder eine Halluzination gehabt hatte. Doch sie war nicht verschwunden, sondern glitzerte silbrig, während das rote und gelbe Herbstlaub funkelnden Edelsteinen glich, die ihn verführen sollten, diesen Weg zwischen den Bäumen einzuschlagen, in die Dunkelheit hinein.

Unmöglich.

Aber wahr.

Vor 21 Jahren war in Coal Valley ein sechsjähriger Junge namens Rudy DeMarco in einen Spalt gestürzt, der plötzlich unter ihm aufbrach, als er im Garten spielte. Mrs. DeMarco stürzte aus dem Haus, als sie ihren Sohn schreien hörte, und fand ihn in einer zweieinhalb Meter tiefen Grube, aus der Schwefeldämpfe aufstiegen. Sie kletterte zu ihm hinunter und hatte den Eindruck, in der Hölle gelandet zu sein, so intensiv war die Hitze. Der Boden dieses Schachts hatte Ähnlichkeit mit einem Feuerrost; Rudys Beine waren zwischen dicken Steinbarren eingeklemmt. Der dichte Rauch verhüllte das Inferno in der Tiefe. Hustend und von den giftigen Dämpfen halb benommen, befreite Mrs. DeMarco ihr Kind, und während der Boden unter ihren Füßen bebte, krachte und zu zerbersten drohte, schleppte sie Rudy zur Seitenwand, krallte ihre Finger in die heiße Erde und versuchte, dieser Hölle zu entkommen. Der Boden brach endgültig ein, der Spalt wurde immer breiter, die Erde rutschte unter ihr weg, aber irgendwie gelang es ihr, mit Rudy den rettenden Rasen zu erreichen. Seine Kleider brannten. Sie warf sich über ihn und versuchte die Flammen zu ersticken, und nun fingen ihre eigenen Kleider Feuer. Den Jungen an sich gepreßt, wälzte sie sich im Gras, und ihre Hilfeschreie klangen besonders laut, weil das Kind verstummt war. Nicht nur seine Kleider hatten gebrannt, - die Haare waren versengt, eine Gesichtshälfte war mit Brandblasen bedeckt, und der kleine Körper wies ebenfalls katastrophale Verbrennungen auf. Drei Tage später erlag Rudy DeMarco im Krankenhaus von Pittsburgh, wohin er mit einem Rettungshubschrauber gebracht worden war, seinen schweren Verletzungen.

Vor dem Tod des kleinen Jungen hatten die Einwohner von Coal Valley schon sechzehn Jahre über einem unterirdischen Feuer gelebt, das sich durch die Labyrinthe ehemaliger Minen fraß, und sich von übriggebliebenem Anthrazit nährte, wodurch die unterirdischen Schächte immer breiter wurden. Während auf Regierungs- und Landesebene darüber debattiert wurde, ob dieser unsichtbare Brandherd irgendwann von allein erlöschen würde, oder ob - und mit welchen Strategien - man ihn bekämpfen mußte, während Unsummen für immer neue Gutachten und Anhörungen ausgegeben wurden, während heftig darüber gestritten wurde, welche Instanz die finanziellen Mittel aufbringen mußte - während dieser Zeit lebten die Menschen in Coal Valley mit Kohlenmonoxid-Monitoren, um nicht nachts durch Dämpfe vergiftet zu werden, die durch die Fundamente ihrer Häuser drangen. Überall im Ort gab es Ventilationsrohre, die in die Tunnels hinabführten, damit der Rauch abziehen konnte. Auf diese Weise hoffte man, die Konzentration giftiger Gase in den Häusern zu vermindern. Eines dieser Rohre ragte sogar auf dem Spielplatz der Grundschule aus dem Boden.

Nach dem Tod des kleinen Rudy DeMarco waren die Politiker und Bürokraten gezwungen, endlich etwas zu unternehmen. Die Bundesregierung erwarb die gefährdeten Immobilien, als erstes die Häuser, die sich direkt über den brennenden Schächten befanden, dann auch die angrenzenden. Innerhalb eines Jahres zogen die meisten Familien weg, und Coal Valley verwandelte sich in eine Geisterstadt.

An jenem regnerischen Oktoberabend vor 20 Jahren, als Joey auf der Fahrt ins College den falschen Weg eingeschlagen hatte, wohnten nur noch drei Familien in Coal Valley, und auch sie sollten vor dem Thanksgiving Day ihre Häuser räumen.

Im Jahr darauf wurden alle Gebäude abgerissen und die Straßen, die vom Druck des unterirdischen Feuers ohnehin schon voller Spalten und Bodenwellen waren, wurden aufgerissen. Dann wurde überall Gras ausgesät, damit der verwüstete Ort sich allmählich nach außen hin in eine friedliche Landschaft verwandelte - während es unter der Erde weiterhin brannte.

Geologen, Bergwerksingenieure, Umweltschützer und andere Experten glaubten, daß dieses Feuer erst nach 100 oder sogar 200 Jahren erlöschen würde, wenn auch die letzte Kohlenader verbraucht war. Sie waren überzeugt, daß mit der Zeit ein Gebiet von mindestens 16 Hektar unterminiert sein würde - und diese Fläche war viel größer als die der zerstörten Ortschaft Coal Valley. Folglich mußte auch auf der Coal Valley Road mit plötzlichen Einbrüchen gerechnet werden -eine tödliche Gefahr für Autofahrer. Deshalb war die Straße vor über neunzehn Jahren gesperrt und aufgerissen worden.

Als Joey am Vortag nach Asherville gefahren war, hatte es die Coal Valley Road nicht gegeben. Doch jetzt war sie wieder da und schien auf ihn zu warten. Die Straße, die aus der regengepeitschten Dämmerung in eine unbekannte Dunkelheit führte. Der nicht eingeschlagene Weg.

Joey umklammerte den Flachmann. Die Flasche war geöffnet, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie aufgeschraubt zu haben.

Wenn er den Rest Jack Daniel’s austrank, würde die Straße vielleicht verschwimmen und sich schließlich in Luft auflösen. Vielleicht war es klüger, nicht auf eine wundersame zweite Chance und auf eine übernatürliche Erlösung zu hoffen. Höchstwahrscheinlich würde sich sein Leben, wenn er diese seltsame Straße einschlug, nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren wenden.

Er führte die Flasche an seine Lippen.

Donner rollte über einen kalten Himmel, und das Prasseln des Regens übertönte sogar den laufenden Motor.

Der Whisky roch verheißungsvoll.

Regen, Regen, sintflutartiger Regen, der das letzte trübe Tageslicht hinwegschwemmte.

Vor dem Regen war er im Wagen geschützt, aber dem dichten Schleier der hereinbrechenden Dunkelheit konnte er nicht entrinnen. Sie drang sogar ins Auto ein, aber sie war eine vertraute Gefährtin, mit der er unzählige einsame Stunden zugebracht hatte, während er über sein verpfuschtes Leben nachdachte.

Er und die Nacht - sie hatten zusammen viele Flaschen Whisky geleert, und immer hatte der Schlaf ihm letztlich ein gnädiges Vergessen beschert. Auch jetzt brauchte er den Flachmann nur an seine Lippen zu führen und den Rest Whisky zu trinken. Dann würde die gefährliche Versuchung, an eine zweite Chance zu glauben und neue Hoffnung zu schöpfen, bestimmt an ihm vorübergehen, die mysteriöse Straße würde verschwinden, und er könnte sein gewohntes Leben weiterführen, das zwar ohne jede Hoffnung, aber durchaus erträglich war, solange er sich mit Alkohol betäuben konnte.

Er saß lange mit der Flasche in der Hand da. Wollte trinken

- trank aber nicht.

Das Auto, das hinter ihm auf der Bundesstraße angebraust kam, nahm er erst wahr, als die Scheinwerfer seinen Chevrolet durchs Heckfenster mit grellem Licht überfluteten. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, wurde aber schmerzhaft geblendet, fast so, als käme eine Lokomotive mit einem riesigen flammenden Zyklopenauge direkt auf ihn zu.

Das Auto bog scharf in die Coal Valley Road ab und die quietschenden Reifen wirbelten soviel schmutziges Wasser aus den tiefen Pfützen auf, daß Joey weder die Marke erkennen noch einen Blick auf den Fahrer werfen konnte.

Als die Sicht wieder halbwegs klar war, stellte Joey fest, das das andere Fahrzeug langsamer wurde und nach etwa hundert Metern unter den Bäumen am Straßenrand stehenblieb.

»Nein«, murmelte Joey. Die roten Standlichter sahen auf der Coal Valley Road wie die funkelnden Augen eines Dämons aus

- furchterregend, aber doch faszinierend und regelrecht hypnotisch.

»Nein!«

Er dreht den Kopf und betrachtete die dunkle Bundesstraße, die direkt vor ihm lag, jene Straße, für die er sich vor zwanzig Jahren entschieden hatte. Damals war das der falsche Weg gewesen, aber jetzt war es der einzig richtige. Schließlich wollte er nicht wie damals ins College; er war jetzt vierzig Jahre alt und mußte nach Scranton, von wo aus er morgen früh nach Pittsburgh fliegen würde.

Auf der Coal Valley Road glühten die Rücklichter. Der seltsame Wagen wartete. Scranton. Pittsburgh. Las Vegas. Die Wohnwagenkolonie. Ein schäbiges, aber sicheres Leben. Ohne Hoffnung aber auch ohne unangenehme Überraschungen.

Rote Lichter. Leuchtsignale inmitten der Sintflut.

Joey schraubte den Flachmann zu, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

Er schaltete die Scheinwerfer ein.

»Gott steh mir bei«, murmelte er.

Er fuhr über die Kreuzung und bog in die Coal Valley Road ab.

Vor ihm setzte sich das andere Auto wieder in Bewegung.

Wurde immer schneller.

Joey Shannon folgte dem Geisterfahrer aus der Realität hinaus zu einer Stadt, die es nicht mehr gab, einem unbekannten und gänzlich unvorstellbaren Schicksal entgegen.

8

Wind und Regen rissen Blätter von den Bäumen und schleuderten sie auf die Straße. Einige landeten auch auf der Windschutzscheibe und klebten daran fest, fledermausförmige Gebilde, die ihre Flügel zusammenrollten und abfielen, wenn die Scheibenwischer sie streiften.

Joey blieb etwa hundert Meter hinter dem anderen Auto, und aus dieser Entfernung konnte er die Marke und das Modell nicht erkennen. Er redete sich ein, daß er immer noch umkehren und auf der Bundesstraße nach Scranton fahren könnte, wie ursprünglich geplant. Aber diese Möglichkeit umzukehren hätte er nicht mehr, wenn er das andere Fahrzeug deutlicher zu sehen bekäme. Er begriff intuitiv, daß sein Schicksal endgültig besiegelt würde, wenn er mehr über das mysteriöse Geschehen erführe. Kilometer um Kilometer entfernte er sich von der realen Welt und fuhr in das unwirkliche Land der zweiten Chance hinein. Und schließlich würde die Kreuzung zwischen Bundesstraße und Coal Valley Road, die nun schon weit hinter ihm lag, sich im Dunkeln einfach auflösen.

Nach etwa fünf Kilometern sah Joey am Straßenrand einen weißen zweitürigen Plymouth Valiant stehen - ein Modell, das er als Junge sehr bewundert hatte, das nun aber schon seit einer Ewigkeit von den Straßen verschwunden war. Drei Warndreiecke waren aufgestellt worden, und in ihrem grellen roten Licht schien sich der strömende Regen in Blut zu verwandeln - eine düstere Abart der Transsubstantiation.

Das Fahrzeug, dem Joey bisher gefolgt war, hielt neben dem Plymouth Valiant fast an, beschleunigte dann aber wieder.

Neben dem Valiant stand eine Gestalt in schwarzem Regenmantel mit Kapuze, eine Taschenlampe in der Hand, und winkte heftig.

Joey blickte den Rücklichtern des anderen Autos nach, die in der Ferne immer kleiner wurden. Bald würde es um eine Kurve biegen oder einen Hügel hinabfahren, und dann würde sich seine Spur verlieren.

Als er an dem Plymouth vorbeifuhr, sah er, daß die Gestalt im Regenmantel eine Frau war. Besser gesagt ein Mädchen, kaum älter als sechzehn oder siebzehn. Ein sehr hübsches Mädchen.

Im Schein der roten Warnlichter erinnerte ihr Gesicht ihn plötzlich seltsamerweise an die Madonnenstatue in der Kirche »Unsere schmerzensreiche Mutter«. Von den Opferkerzen in roten Gläsern beleuchtet, wirkte das glatte Keramikgesicht der heiligen Jungfrau manchmal gespenstisch lebendig und vom Leid gezeichnet.

Das Mädchen warf ihm einen flehenden Blick zu, und plötzlich hatte er eine gräßliche Vorahnung, nein, eher eine Vision: Er sah dieses liebliche Gesicht, blutüberströmt und ohne Augen. Und er wußte plötzlich, daß sie den nächsten Morgen nicht mehr erleben, sondern noch in dieser düsteren Nacht eines gewaltsamen Todes sterben würde, wenn er nicht anhielt, wenn er ihr nicht half.

Er parkte vor dem Valiant am Straßenrand und stieg aus. Der strömende Regen störte ihn nicht, weil er ohnehin schon durchnäßt war, und die kalte Nachtluft ließ ihn bei weitem nicht so frösteln wie die Nachricht von seiner Erbschaft.

Das Mädchen lief ihm entgegen. Sie trafen sich vor dem Valiant.

»Gott sei Dank haben Sie angehalten«, sagte sie. Durch den Regen, der von ihrer Kapuze perlte, wirkte ihr Gesicht wie verschleiert.

»Was ist passiert?« fragte Joey.

»Das Auto ist plötzlich stehengeblieben.«

»Während der Fahrt?«

»Ja, aber es liegt nicht an der Batterie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Das Licht brennt noch.«

Ihre Augen waren dunkel und sehr groß. Ihr Gesicht schien im Licht der Warndreiecke zu glühen, und die Regentropfen auf ihren Wangen glänzten wie Tränen.

»Vielleicht liegt es an der Lichtmaschine«, sagte Joey.

»Kennen Sie sich mit Autos aus?«

»Ja.«

»Ich überhaupt nicht«, gestand sie. »Ich fühle mich so hilflos.«

»Das geht uns allen so«, murmelte Joey. Sie warf ihm einen forschenden Blick zu. Sie war ein naives Mädchen, und in ihrem Alter konnte sie natürlich noch nicht wissen, wie grausam die Welt war. Aber ihre Augen hatten einen seltsam unergründlichen Ausdruck.

»Ich fühle mich irgendwie verloren«, sagte sie.

Joey öffnete die Motorhaube. »Geben Sie mir Ihre Taschenlampe.«

Sie gehorchte, meinte aber: »Ich glaube, daß es hoffnungslos ist.«

Der Regen trommelte auf Joeys Rücken, während er den Verteiler, die Zündkerzen und die Batteriekabel in Augenschein nahm.

»Wenn Sie mich vielleicht nach Hause fahren«, bat sie, »kann mein Vater sich das Auto morgen ansehen.«

»Versuchen wir’s erst mal«, meinte Joey.

»Sie haben nicht einmal einen Regenmantel«, sagte sie besorgt.

»Das macht nichts.«

»Sie werden sich den Tod holen.«

»Aber nein, das ist doch nur Wasser - man tauft sogar Babys damit.«

Über ihren Köpfen rauschten die Berglorbeerbäume, und ein besonders heftiger Windstoß riß welkes Laub von den Ästen. Es wirbelte kurz durch die Luft, sank dann aber müde zu Boden, und Joey sah in dieser deprimierenden Szene eine Parallele zu verlorenen Hoffnungen, die auf dem Grund eines schweren Herzens dahinwelken.

Er öffnete die Fahrertür, setzte sich ans Steuer und legte die Taschenlampe auf den Beifahrersitz. Der Zündschlüssel steckte, doch als er den Motor anzulassen versuchte, tat sich überhaupt nichts. Hingegen funktionierten die Scheinwerfer tadellos.

Das Mädchen vor dem Auto wurde von dem grellen Licht erfaßt. Der schwarze Regenmantel umgab sie wie eine Mönchskutte, und Gesicht und Hände hoben sich strahlend weiß davon ab.

Während er sie betrachtete, fragte er sich, warum er zu ihr geführt worden war, und er fragte sich auch, wo sie beide am Ende dieser seltsamen Nacht sein würden. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus.

Nun stand das Mädchen wieder im funkelnden Licht der Warnleuchten und wurde von rotem Regen gepeitscht.

Joey beugte sich über den Sitz, verschloß die Beifahrertür und stieg aus, Taschenlampe und Schlüssel in der Hand. »Was auch kaputt sein mag - ohne entsprechendes Werkzeug kann ich nichts reparieren.« Er verschloß die Fahrertür. »Sie haben recht - das Beste ist, wenn ich Sie nach Hause fahre. Wo wohnen Sie?«

»Coal Valley. Ich war auf dem Heimweg, als der Wagen plötzlich stehenblieb.«

»In Coal Valley wohnt doch kaum noch jemand.«

»Stimmt. Außer uns nur noch zwei Familien. Es ist fast eine Geisterstadt.«

Naß bis auf die Haut und völlig durchgefroren, wollte Joey möglichst schnell zurück in den Mietwagen, wo er die Heizung voll aufdrehen würde. Doch als er in ihre dunklen Augen blickte, hatte er noch stärker als zuvor das Gefühl, daß sie der Grund war, weshalb ihm eine zweite Chance geboten wurde, die Straße nach Coal Valley einzuschlagen, wie er es vor zwanzig Jahren hätte tun sollen. Anstatt mit ihr zum Chevrolet zu rennen, stand er zögernd da, weil er befürchtete, etwas Falsches zu tun. Es könnte sogar falsch sein, sie nach Hause zu fahren, und sobald er sich für eine bestimmte Handlungsweise entschied, könnte er seine letzte Chance auf Rettung verspielen.

»Was ist los?« fragte sie.

Joey hatte sie starr angesehen, während er über die möglichen Konsequenzen seines Handelns nachdachte, und sein leerer Blick mußte sie verstört haben, so wie ihn die Vorstellung verstörte, eine falsche Entscheidung zu treffen.

Er war selbst überrascht, als er sich plötzlich sagen hörte: »Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

»Meine Hände?«

»Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

Der Wind sang in den Bäumen, und die Nacht war eine Kapelle, in der nur sie beide standen.

Verwirrt streckte sie ihm ihre zarten Hände entgegen.

»Mit der Innenseite nach oben«, befahl er.

Sie gehorchte, und in dieser Haltung glich sie mehr denn je der Mutter Gottes, die alle Menschen einlud, an ihrer Brust den ewigen Frieden zu finden.

Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können.

Zitternd richtete Joey die Taschenlampe auf ihre Hände. Im ersten Moment wirkten sie völlig unversehrt. Doch dann tauchten in der Mitte beider regennasser Hände schwache blaue Flecke auf.

Er schloß die Augen und hielt den Atem an. Als er wieder hinschaute, waren die Flecke dunkler geworden.

»Sie machen mir Angst«, murmelte sie.

»Wir haben allen Grund zur Angst.«

»Sie sind mir früher nie merkwürdig vorgekommen.«

»Schauen Sie sich Ihre Hände an!«

Sie senkte den Blick.

»Was sehen Sie?« fragte er.

»Sehen? Ich sehe nur meine Hände, was denn sonst?«

Der in den Bäumen heulende Wind war die Stimme von einer Million Opfer, und die Nacht war erfüllt von Ihrem Seufzen und Flehen um Gnade.

Joey hätte wie Espenlaub gezittert, wenn er vor Angst nicht wie gelähmt gewesen wäre.

»Sehen Sie die Flecke nicht?«

»Welche Flecke?«

Sie schaute von ihren Händen auf, und ihre Blicke trafen sich wieder.

»Sehen Sie wirklich nichts?« fragte er.

»Nein.«

»Und Sie spüren auch nichts?«

Die Flecke hatten sich inzwischen in Wunden verwandelt, aus denen Blut hervorzusickern begann.

»Ich sehe nicht das, was jetzt ist«, erklärte Joey, zu Tode erschrocken. »Ich sehe das, was sein wird

»Sie machen mir Angst«, sagte sie wieder.

Sie war nicht die tote Blondine in der blutbeschmierten Plastikhülle. Unter der Kapuze war ihr Gesicht von rabenschwarzem Haar umrahmt.

»Aber Sie könnten so enden wie sie«, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen.

»Wie wer?«

»Ich kenne ihren Namen nicht. Aber ich weiß jetzt, daß sie nicht nur eine Halluzination war. Nicht die Einbildung eines Säufers. Nein, sie war ... etwas anderes. Was, weiß ich nicht.«

Die Stigmata an den Händen des Mädchens sahen mit jeder Sekunde schlimmer aus, obwohl sie die Wunden weder sehen konnte noch Schmerz empfand.

Plötzlich begriff Joey, was diese grausige Vision bedeutete: Das Mädchen schwebte in immer größerer Gefahr. Das ihr vorbestimmte Schicksal - das Schicksal, das er irgendwie aufgeschoben hatte, als er sich für die Coal Valley Road entschied und anhielt, um ihr zu helfen - hing nun wieder wie ein Damoklesschwert über ihr. Es war offenbar falsch, am Straßenrand herumzustehen.

»Vielleicht kommt er zurück«, sagte Joey. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, so als wäre es ihr unangenehm, daß er irgendwelche Wunden anstarrte, die sie nicht sehen konnte. »Wer?«

»Ich weiß nicht«, gab er zu, während er die Coal Valley Road betrachtete, deren regennasse Fahrbahn schon nach wenigen Metern von Regen und Dunkelheit verschluckt wurde. »Das andere Auto?« fragte sie.

»Ja. Konnten Sie den Fahrer erkennen?«

»Nein. Es war ein Mann, aber ich habe ihn nicht deutlich gesehen. Nur umrißhaft, wie einen Schatten. Warum ist das so wichtig?«

»Das weiß ich selbst nicht.« Er griff nach ihrem Arm. »Kommen Sie, machen wir, daß wir von hier wegkommen.«

Während sie zu seinem Wagen rannten, sagte sie: »Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte.«

Das war eine seltsame Bemerkung, doch bevor er sie fragen konnte, was sie damit meinte, erreichten sie den Chevrolet -und er blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, so perplex, daß er ihre Worte völlig vergaß.

»Joey?«

Der Chevrolet war verschwunden. Statt dessen stand ein Ford Mustang da, Baujahr 1965. Sein Mustang. Das Wrack, das er als Teenager mit Hilfe seines Vaters liebevoll instandgesetzt hatte. Mitternachtsblau mit weißen Reifen.

»Joey, was ist los?« fragte sie.

In jener Nacht vor zwanzig Jahren, als er auf der Interstate einen Unfall gehabt hatte, war sein heißgeliebter Mustang schwer beschädigt worden.

Jetzt war der Wagen völlig unbeschädigt. Das Seitenfenster das zersplittert war, als er mit dem Kopf dagegenprallte, war wieder ganz. Der Mustang war das alte Prachtstück.

Der Wind heulte so, als hätte die Nacht plötzlich den Verstand verloren. Silberne Regenpeitschen wirbelten umher und knallten aufs Pflaster.

»Wo ist der Chevrolet?« fragte Joey mit schwankender Stimme.

»Was?«

»Der Chevrolet«, schrie er laut, um den Sturm zu übertönen.

»Welcher Chevrolet?«

»Der Mietwagen, mit dem ich unterwegs war.«

»Aber ... Sie waren mit dem Mustang unterwegs.«

Er sah sie ungläubig an.

Wieder kamen ihre Augen ihm irgendwie rätselhaft vor, aber er hatte nicht den Eindruck, daß sie ihn belog.

Er ließ ihren Arm los und ging um den Mustang herum, strich mit der Hand über den hinteren Kotflügel, über die Fahrertür, über den vorderen Kotflügel. Das Metall war kalt, glatt und naß, so stabil wie die Straße, auf der er stand, so real wie das Herz, das in seiner Brust schlug.

Nach jenem Unfall vor zwanzig Jahren war das Auto arg verbeult und der Lack zerkratzt gewesen, aber Joey hatte damit noch zum College zurückkehren können. Er erinnerte sich noch genau an das Klappern und Dröhnen während der Fahrt nach Shippensburg, ominöse Geräusche, die zu untermalen schienen, daß sein junges Leben zerstört worden war.

Er erinnerte sich an das viele Blut.

Als er jetzt zögernd die Fahrertür öffnete, ging im Innern das Licht an, und er konnte sehen, daß das Polster keine Blutflecken aufwies. Die Schnittwunde an der Schläfe hatte stark geblutet, bis er in ein Krankenhaus gefahren war, um sie nähen zu lassen, und bis dahin war sein Sitz schon stark mit Blut befleckt gewesen. Doch jetzt war er makellos sauber.

Das Mädchen war auf die andere Seite des Wagens gegangen, öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Nachdem er nun allein draußen stand, kam die Nacht ihm so völlig leblos vor wie ein unentdecktes Pharaonengrab, irgendwo tief unter dem Sand Ägyptens. Die ganze Welt schien tot zu sein, und nur Joey Shannon konnte noch das Wüten des Sturms vernehmen.

Es widerstrebte ihm, sich ans Steuer zu setzen. Das alles war viel zu seltsam. Er hatte das Gefühl, endgültig dem Delirium tremens verfallen zu sein - aber er wußte, daß er völlig nüchtern war.

Dann fielen ihm die Wunden ein, die er als Vision in ihren zarten Händen gesehen hatte, und er erinnerte sich an seine Vorahnung, daß die Gefahr für sie mit jeder Sekunde, die sie hier am Straßenrand verbrachten, größer wurde. Er stieg ein, schloß die Tür und gab ihr die Taschenlampe.

»Schalten Sie bitte die Heizung ein«, bat sie. »Ich bin am Erfrieren.«

Er selbst spürte kaum noch, daß er fror und völlig durchnäßt war. Starr vor Staunen, nahm er im Moment nur die Formen und Gerüche des mystischen Mustang wahr.

Der Zündschlüssel steckte.

Er ließ den Motor an, der einen unvergleichlichen Klang hatte und ihm so wohlvertraut wie seine eigene Stimme war. Dieses herrliche Geräusch übte auf ihn eine solche nostalgische Kraft aus, daß seine Stimmung sich schlagartig hob. Trotz der Unheimlichkeit des Geschehens, trotz der Angst, die ihn verfolgte, seit er am Vortag nach Asherville gekommen war, war er plötzlich fast glücklich.

Die Jahre schienen von ihm abzufallen. All die falschen Entscheidungen existierten nicht mehr. In diesem Moment lag die Zukunft so verheißungsvoll vor ihm wie damals, als er siebzehn gewesen war.

Das Mädchen fummelte an der Ventilation herum. Heiße Luft strömte ins Wageninnere.

Er löste die Handbremse und legte den Gang ein, fuhr aber noch nicht los. »Zeigen Sie mir Ihre Hände«, forderte er sie statt dessen wieder auf.

Obwohl sie ihn mit verständlichem Unbehagen anblickte, kam sie seiner Bitte nach.

Die Nagelwunden, die nur er sehen konnte, waren immer noch vorhanden, aber sie sahen nicht mehr ganz so schlimm aus und bluteten kaum noch.

»Wir tun das Richtige, indem wir von hier verschwinden«, sagte er, obwohl ihm klar war, daß seine Bemerkung für sie keinen Sinn ergab.

Er schaltete die Scheibenwischer ein und fuhr los, in Richtung Coal Valley. Der Wagen bewegte sich mit jener perfekten Eleganz, an die er sich noch so gut erinnern konnte, und sein Glücksgefühl wurde noch stärker.

Ein, zwei Minuten genoß er es einfach, am Steuer zu sitzen und durch die Nacht zu fahren. Seit seiner Teenagerzeit hatte er diese freudige Erregung nie mehr verspürt, Die Magie des Mustang. Ein junger Bursche und sein Wagen. Die Romantik der Straße.

Dann fiel ihm plötzlich ein, was sie gesagt hatte, als er total perplex vor dem Mustang stehengeblieben war. Joey? Sie hatte ihn mit seinem Namen angeredet. Joey, was ist los? Dabei wußte er genau, daß er sich ihr nicht vorgestellt hatte.

»Musik?« fragte sie nervös, so als würden sein Schweigen und die Faszination des Mustang sie stärker verunsichern als alles, war er vorher gesagt oder getan hatte.

Sie beugte sich vor, um das Radio einzuschalten. Die Kapuze ihres Regenmantels hatte sie zurückgeschoben. Ihr Haar war dicht, seidig und schwärzer als die Nacht.

Plötzlich fiel ihm wieder ein, daß sie noch etwas Merkwürdiges gesagt hatte: Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hatte. Und davor: Sie sind mir früher nie merkwürdig vorgekommen.

Das Mädchen hatte einen Sender gefunden, der Bruce Springsteens »Thunder Road« spielte.

»Wie heißen Sie?« fragte er.

»Celeste. Celeste Baker.«

»Woher kannten Sie meinen Namen?«

Sichtlich verlegen wich sie seinem Blick aus, und er konnte sogar im schwachen Licht des Armaturenbretts erkennen, daß sie errötete.

»Ich weiß, daß Sie mich nie bemerkt haben«, murmelte sie.

Er runzelte die Stirn. »Bemerkt?«

»Sie waren in der High School zwei Klassen über mir.«

Joey wandte seinen Blick länger von der Straße ab, als bei der gefährlich nassen Fahrbahn vernünftig war. »Wovon reden Sie?« fragte er total verwirrt.

Sie starrte die beleuchtete Skala des Radios an. »Ich war in der zweiten High-School-Klasse, Sie in der vierten, und ich war wahnsinnig in Sie verknallt. Als Sie die Abschlußprüfung machten und aufs College gingen, war ich völlig verzweifelt.«

Es fiel ihm schwer, seinen Blick wieder auf die Straße zu richten.

Hinter einer Kurve fuhren sie an einem stillgelegten Bergwerk vorbei. Ein Förderturm ragte in der Dunkelheit empor wie das unvollständige Skelett eines prähistorischen Tieres. Viele Generationen hatten in seinem Scharten Schwerstarbeit verrichtet, doch jetzt waren diese Menschen entweder tot, oder aber sie hatten irgendwelche Jobs in den Großstädten. Joey verlangsamte das Tempo von achtzig auf sechzig Stundenkilometer, weil die Worte des Mädchens ihn so verwirrt hatten, daß er befürchtete, bei höherer Geschwindigkeit die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.

»Wir haben uns nie unterhalten«, fuhr Celeste fort. »Ich war zu schüchtern, um Sie anzusprechen. Ich habe Sie nur . na ja . aus der Ferne bewundert. Mein Gott, das hört sich schrecklich albern an!« Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, um zu sehen, ob er sich auf ihre Kosten amüsierte.

»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, sagte Joey.

»Wieso?«

»Wie alt sind Sie? Sechzehn?«

»Siebzehn, fast achtzehn. Mein Vater, Carl Baker, ist der Schuldirektor, und das macht für mich alles besonders schwierig. Ich fühle mich immer irgendwie ausgeschlossen, und deshalb habe ich es nie über mich gebracht, einen so attraktiven Jungen wie Sie anzusprechen.«

Joey hatte das Gefühl, in ein Spiegelkabinett geraten zu sein, in dem nicht nur die Bilder, sondern auch die Worte gräßlich verzerrt wurden.

»Wo soll da der Witz sein?«

»Witz?«

Er fuhr immer langsamer, hielt nicht einmal mehr mit den gurgelnden Wassermassen im Straßengraben Schritt, die im Scheinwerferlicht silbrig schimmerten.

»Celeste, verdammt, ich bin vierzig Jahre alt. Wie könnte ich da in der High School zwei Klassen über Ihnen sein?«

Ihre Miene verriet zunächst Erstaunen und Beunruhigung, aber gleich darauf hauptsächlich Ärger. »Warum sagen Sie so was? Wollen Sie mich veräppeln?«

»Nein, nein. Ich .«

»Wollen Sie die unansehnliche Tochter des Schulleiters zur Schnecke machen?«

»Nein, hören Sie zu .«

»Sind sie immer noch so unreif, obwohl Sie schon eine ganze Weile das College besuchen? Vielleicht sollte ich froh sein, daß ich nie den Mut hatte, Sie anzusprechen.«

In ihren Augen schimmerten Tränen.

Verdutzt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Straße zu

- gerade als der Springsteen-Song verklang.

Der Moderator sagte: »Das war >Thunder Road< aus Born to Run dem neuen Album von Bruce Springsteen.«

»Neu?« rief Joey.

»Ist das eine heiße Scheibe oder nicht?« fuhr der Diskjockey fort. »Man o Mann, dieser Bursche wird ganz groß rauskommen.«

»Das ist doch kein neues Album«, sagte Joey.

Celeste wischte sich die Augen mit einem Kleenextuch ab.

»Spielen wir noch einen Song von Springsteen - >She’s the One<, aus dem gleichen Album«, kündigte der Diskjockey an.

Mitreißende Rock’n’Roll-Klänge erschollen aus dem Radio. »She’s the One« war genauso frisch und kraftvoll wie vor zwanzig Jahren, als Joey den Song zum erstenmal gehört hatte.

»Wovon redet dieser Kerl?« sagte Joey.

»Born to Run ist doch kein neues Album - es ist zwanzig Jahre alt.«

»Hören Sie auf!« rief Celeste, halb wütend, halb verletzt. »Hören Sie auf damit, okay?«

»Es war damals der absolute Renner. Die ganze Welt war verrückt nach Born to Run.«

»Geben Sie es auf!« sagte Celeste scharf. »Sie machen mir keine Angst mehr, und heulen werde ich Ihretwegen auch nicht mehr.«

Sie reckte energisch ihr Kinn und preßte ihre Lippen fest zusammen.

»Born to Run ist zwanzig Jahre alt«, beharrte er.

»Blödsinn!«

»Zwanzig Jahre!«

Celeste rückte so weit wie möglich von ihm ab, an die Beifahrertür gepreßt.

Springsteen sang.

Joeys Gehirn arbeitete fieberhaft.

Ihm fielen mögliche Antworten ein, aber er wollte sie lieber nicht in Betracht ziehen, aus Angst, daß sie sich als falsch erweisen könnten, daß seine jähen Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen würden.

Die Straße verengte sich beträchtlich, und links und rechts ragten über zehn Meter hohe Felsen in die Dunkelheit empor. Ein Sperrfeuer aus kaltem Regen prasselte gegen den Mustang.

Die Scheibenwischer pochten eintönig - tapp, tapp -, so als wäre das Auto ein großes Herz, durch das anstelle von Blut Zeit und Schicksale gepumpt würden.

Endlich wagte Joey einen Blick in den Rückspiegel.

Im schwachen Licht des Armaturenbretts konnte er wenig erkennen, aber was er sah, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Staunen, Ehrfurcht, wildem Jubel, Angst und Entzücken. Diese Nacht und dieser Highway waren ein Wunder, das wußte er, denn er sah im Spiegel, daß seine Augen ganz klar waren, daß das Weiße wirklich strahlend weiß und nicht von zwanzig Jahren Suff trübe und blutunterlaufen war. Und seine Stirn war glatt und faltenlos, unberührt von zwei Jahrzehnten Sorgen, Bitterkeit und Selbstvorwürfen.

Er trat hart auf die Bremse, und der Mustang geriet mit quietschenden Reifen ins Schleudern.

Celeste schrie auf und stemmte sich am Armaturenbrett ab. Bei höherem Tempo wäre sie vermutlich gegen die Windschutzscheibe geprallt.

Der Wagen schlitterte auf die Gegenfahrbahn, kam der Felswand bedrohlich nahe, dreht sich dann aber um 180, rutschte auf die rechte Fahrbahn zurück und kam zum Stehen, allerdings in der falschen Fahrtrichtung.

Joey hantierte am Rückspiegel herum, stellte ihn höher und tiefer, um seinen Haaransatz und sein Gesicht zu betrachten. Keine Tränensäcke, keine Stirnglatze.

»Was machen Sie da?« wollte Celeste wissen.

Obwohl seine Hand heftig zitterte, gelang es ihm, das Standlicht einzuschalten.

»Joey, jemand könnte uns rammen!« beschwor sie ihn, obwohl keine anderen Scheinwerfer in Sicht waren.

Er beugte sich zu dem kleinen Spiegel vor, drehte ihn hin und her und verrenkte sich fast den Hals, um in dem schmalen Rechteck jede Partie seines Gesichts erkennen zu können.

»Joey, verdammt, wir können hier nicht einfach herumsitzen!«

»O Gott! O mein Gott!«

»Sind Sie verrückt?«

»Bin ich verrückt?« fragte er sein jugendliches Spiegelbild.

»Sorgen Sie dafür, daß wir von der Straße wegkommen!«

»Welches Jahr haben wir?«

»Lassen Sie doch endlich diesen Blödsinn!«

»Welches Jahr haben wir?«

»Das ist nicht komisch.«

»Welches Jahr haben wir?« beharrte er.

Sie wollte die Beifahrertür öffnen.

»Nein«, rief Joey, »warten Sie! Sie haben ja recht, ich muß weg von der Straße. Bitte warten Sie!«

Er wendete den Mustang und hielt dann am Straßenrand wieder an.

»Celeste, bitte seien Sie nicht böse auf mich, haben Sie keine Angst und verlieren Sie nicht die Geduld. Sagen Sie mir, welches Jahr wir haben. Bitte! Ich muß es aus Ihrem Mund hören, damit ich es glauben kann. Sagen Sie mir, welches Jahr wir haben, und dann werde ich Ihnen alles erklären - soweit ich es erklären kann.«

Celestes schwärmerische Verliebtheit war immer noch stärker als Furcht und Ärger. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher.

»Welches Jahr?« wiederholte er.

»1975«, sagte sie.

Im Radio verklang >She’s the One<.

Es folgte eine Werbung für den neuesten Filmhit: Al Pacino in Dog Day Afternoon.

Letzten Sommer war es Jaws gewesen. Steven Spielberg machte sich gerade einen Namen als Regisseur.

Im letzten Frühjahr war Vietnam aufgegeben worden.

Nixon hatte im Vorjahr das Weiße Haus verlassen.

Der liebenswürdige Gerald Ford war Präsident eines zutiefst verunsicherten Landes. Im September waren zwei Attentate auf ihn fehlgeschlagen: Lynnette Fromme hatte in Sacramento auf ihn geschossen, und Sara Jane Moore hatte ihn in San Francisco angegriffen.

Elizabeth Sedon war als erste Amerikanerin von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochen worden.

Jimmy Hoffa war gestorben. Muhammad Ali war Weltmeister im Schwergewicht.

Doctorows Roman Ragtime. Judith Rossners Looking for Mr. Goodbar.

Disco. Donna Summers. Die Bee Gees.

Erst jetzt fiel Joey auf, daß er zwar immer noch durchnäßt war, aber nicht mehr den Anzug trug, den er beim Begräbnis und beim Besuch in Kadinskas Kanzlei angehabt hatte. Er trug Stiefel, Blue Jeans, ein kariertes Flanellhemd und eine Jeansjacke mit Lammfellfutter.

»Ich bin zwanzig Jahre alt«, flüsterte Joey so ehrfürchtig, wie er früher in einer stillen Kirche zu Gott geredet hätte.

Celeste berührte sein Gesicht. Ihre Hand fühlte sich an seiner kalten Wange sehr warm an, und diese Hand zitterte nicht vor Angst, sondern vor freudiger Erregung - ein Unterschied, den er nur spüren konnte, weil er wieder jung war und feine Antennen für die Gefühle eines jungen Mädchens hatte.

»Ganz bestimmt keine vierzig«, sagte sie.

Im Autoradio sang jetzt Linda Ronstadt den Titelsong aus ihrem neuen Erfolgsalbum »Heart Like a Wheol«.

»Zwanzig«, murmelte er noch einmal und verspürte eine überwältigende Dankbarkeit gegenüber der unbekannten Macht, die ihn durch ein Wunder an diesen Ort und in diese Zeit zurückversetzt hatte.

Er bekam nicht nur eine zweite Chance. Ihm wurde die Gelegenheit zu einem totalen Neuanfang gegeben.

»Ich muß jetzt nur das Richtige tun«, sagte er. »Aber woher soll ich wissen, was richtig ist?«

Regen trommelte unablässig auf den Wagen.

Celeste strich ihm die nassen Haare aus der Stirn. »Jetzt bist du an der Reihe.« Sie duzte ihn plötzlich.

»Womit?«

»Ich habe dir gesagt, welches Jahr wir haben. Jetzt mußt du mir alles erklären.«

»Womit soll ich anfangen? Es ist alles so ... so phantastisch! Du wirst mir nicht glauben.«

»Doch, ich werde dir glauben«, versicherte sie ihm sanft.

»Eines weiß ich sicher: Wozu auch immer ich hierher zurückgeführt wurde, was auch immer ich anders machen soll

- es geht im Grunde um dich. Du stehst im Mittelpunkt des Geschehens. Du bist der Grund dafür, daß ich plötzlich Hoffnung auf ein neues Leben habe, und es hängt nur von dir ab, ob mir eine bessere Zukunft beschieden sein wird.«

Celeste hatte ihre warme, tröstende Hand zurückgezogen und preßte sie auf ihr eigenes Herz. Das Atmen schien ihr Mühe zu bereiten. Doch dann seufzte sie: »Du hörst dich immer seltsamer an aber allmählich gefällt mir das.«

»Zeig mir deine Hand.«

Sie hielt ihm ihre rechte Hand hin.

Trotz des Standlichts konnte er nicht genug erkennen. »Gib mir die Taschenlampe.«

Celeste gehorchte.

Im Schein der Taschenlampe betrachtete er ihre Handflächen. Als er das zuletzt getan hatte, waren die Wunden ein wenig verheilt gewesen. Jetzt bluteten sie wieder.

Celeste konnte ihm die Angst vom Gesicht ablesen. »Was siehst du, Joey?«

»Wunden. Von Nägeln.«

»Meine Hände sind völlig unversehrt.«

»Sie bluten.«

»Aber nein!«

»Du kannst es nicht sehen, aber du mußt mir glauben.«

Zögernd berührte er ihre Hand. Als er seinen Finger hob, glänzte die Fingerspitze von ihrem Blut.

»Ich kann es sehen. Ich kann es fühlen«, sagte er. »Für mich ist es so erschreckend real.«

Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen seine rote Fingerspitze an. Ihr Mund war halb geöffnet. »Du ... du mußt dich geschnitten haben.«

»Kannst du es sehen?«

»An diesem Finger«, flüsterte sie mit zittriger Stimme.

»Und in deiner Hand?«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Hände sind nicht verletzt.«

Er berührte ihre Handfläche mit einem anderen Finger und zeigte ihn ihr. Auch daran klebte ihr Blut.

»Ich sehe es«, sagte sie erschüttert. »Zwei Finger.«

Transsubstantiation. Seine Vision von ihrer blutigen Hand war durch seine Berührung - und durch irgendein Wunder - in wirkliches Blut verwandelt worden.

Sie legte die Finger ihrer linken Hand auf die Innenfläche der rechten Hand, fand dort aber kein Blut.

Im Radio sang Jim Croce - der noch nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war - »Time in a Bottle.«

»Vielleicht kannst du dein eigenes Schicksal nicht vorhersehen«, sagte Joey. »Wer von uns kann das schon? Aber irgendwie . durch mich . durch meine Berührung . ich weiß auch nicht so recht . aber irgendwie scheinst du . ein Zeichen zu bekommen.«

Er drückte einen dritten Finger in die imaginäre Wunde, und wieder wurde seine Fingerspitze feucht von ihrem Blut.

»Ein Zeichen«, wiederholte sie, ohne es zu verstehen.

»Damit du mir glaubst«, erklärte er. »Ein Zeichen, damit du mir glaubst. Denn wenn du mir nicht glaubst, werde ich dir vielleicht nicht helfen können. Und wenn ich dir nicht helfen kann, kann ich auch mir selbst nicht helfen.«

»Deine Berührung«, flüsterte sie und umfaßte seine linke Hand mit beiden Händen. »Deine Berührung.« Sie blickte ihm in die Augen. »Joey . was wird mir widerfahren . was wäre mir widerfahren, wenn du nicht gekommen wärest?«

»Vergewaltigung«, erwiderte er überzeugt, obwohl er selbst nicht verstand, woher er das wußte. »Vergewaltigung. Folterqualen. Tod.«

»Der Mann in dem anderen Wagen«, murmelte sie, und während sie auf den dunklen Highway hinausstarrte, überlief ein heftiger Schauder ihren ganzen Körper.

»Ja, höchstwahrscheinlich«, bestätigte Joey. »Ich glaube, er hat schon eine andere Frau ermordet. Die Blondine in der Plastikhülle.«

»Ich habe Angst.«

»Wir haben eine Chance.«

»Du hast es mir immer noch nicht erklärt. Was hat es mit dem Chevrolet auf sich? Warum dachtest du, daß du damit unterwegs wärest? Und warum dachtest du, daß du vierzig Jahre alt bist?«

Sie ließ seine Hand los. Ihr Blut klebte daran.

Er wischte es an seinen Jeans ab. Mit der rechten Hand richtete er den Strahl der Taschenlampe auf ihre Handflächen. »Die Wunden werden schlimmer. Dein Schicksal ... deine Bestimmung . wie immer man es nennen mag . es rückt wieder näher.«

»Kommt der Mann zurück?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Jedenfalls - wenn wir fahren, scheinst du sicherer zu sein. Dann schließen sich die Wunden und verblassen. Solange wir in Bewegung bleiben, besteht Hoffnung, dein Schicksal zu wenden.«

Er knipste die Taschenlampe aus und gab sie ihr. Dann löste er die Handbremse und fuhr weiter.

»Vielleicht sollten wir nicht denselben Weg nehmen wie er«, sagte Celeste. »Vielleicht sollten wir zur Bundesstraße zurückfahren, nach Asherville oder sonstwohin, nur weg von ihm.«

»Ich glaube, das wäre unser Ende. Wenn wir flüchten . wenn wir den falschen Highway benützen, so wie ich es schon einmal getan habe . dann wird der Himmel kein Erbarmen haben.«

»Vielleicht sollten wir Hilfe holen.«

»Wer würde uns glauben?«

»Vielleicht, wenn sie . meine Hände sehen. Das Blut an deinen Fingern, wenn du mich berührst.«

»Das glaube ich nicht. Es geht mir um dich und mich. Nur wir beide gegen alles andere.«

»Gegen alles andere?«

»Gegen diesen Mann, gegen das Schicksal, das dich erwartet hätte, wenn ich nicht in die Coal Valley Road abgebogen wäre - das Schicksal, das dir in jener Nacht widerfahren ist, als ich auf der Bundesstraße weitergefahren bin. Du und ich gegen die Zeit und gegen die Zukunft, gegen diese riesige Lawine, die uns unter sich zu begraben droht.«

»Was können wir machen?«

»Ich weiß es nicht. Ihn finden? Ihn stellen? Wir müssen das Spiel einfach mitmachen tun, was uns richtig erscheint, Minute um Minute, Stunde um Stunde.«

»Wie lange werden wir . werden wir das Richtige tun müssen, was auch immer das sein mag? Das Richtige, das unser Schicksal zu verändern vermag.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht bis zum Morgengrauen. Was in jener Nacht geschah, geschah im Dunkeln. Vielleicht muß ich nur verhindern, was dir damals widerfahren ist, und wenn es uns gelingt, dich bis Sonnenaufgang am Leben zu erhalten, wird vielleicht alles für immer anders sein.«

Aus den tiefen Pfützen auf der Straße spritzten Wasserfontänen hoch, die im Scheinwerferlicht wie weiße Engelsflügel aussahen.

»Was ist in jener >anderen Nacht< geschehen, von der du dauernd redest?« fragte Celeste.

Sie umklammerte die Taschenlampe auf ihrem Schoß mit beiden Händen, so als befürchtete sie, daß aus der Dunkelheit irgendein Monster auf den Mustang zugeflogen kommen könnte, irgendeine Kreatur, die vor einem grellen Lichtstrahl die Flucht ergreifen würde.

Während sie durchs Gebirge auf die fast verlassene Ortschaft Coal Valley zufuhren, erzählte Joey Shannon: »Als ich heute Morgen aufstand, war ich vierzig Jahre alt, ein Säufer mit angegriffener Leber und mit einer Zukunft, die kein Mensch haben möchte. Und heute Nachmittag stand ich am Grab meines Vaters, und ich wußte, daß ich ihm und meiner Mutter das Herz gebrochen hatte .«

Celeste hörte aufmerksam zu und glaubte ihm, weil sie ein Zeichen erhalten hatte, das ihr bewies, daß es auf der Welt Dimensionen gab, die man nicht sehen und berühren konnte.

9

Aus dem Autoradio ertönte »One of these Nights« von den Eagles, »Pick Up the Pieces« von der Average White Band, »When Will I Be Loved« von Ronstadt, »Rosalita« von Springsteen, »Black Water« von den Doobie Brothers - alles brandneue Lieder, die großen Hits des Tages, obwohl Joey diese Songs an anderen Orten und in anderen Radios während der letzten zwanzig Jahre unzählige Male gehört hatte.

Als er bei dem Bericht über seine merkwürdigen Erlebnisse an den Punkt gelangte, wo er Celeste neben ihrem liegengebliebenen Valiant gesehen hatte, waren sie nicht mehr weit von Coal Valley entfernt: Der Ort lag vor ihnen in einem tiefen Tal. Joey hielt oben auf dem Hügel am Straßenrand an, neben mehreren großen Berglorbeerbäumen, obwohl er wußte, daß sie nicht lange stehenbleiben durften, weil sie andernfalls riskierten, daß ihrer beider Schicksal sich doch noch erfüllte -Celestes Ermordung und seine Rückkehr in die Hölle eines sinnlosen Lebens.

Coal Valley war eher ein Dorf als ein Städtchen. Sogar bevor das unersättliche Grubenfeuer ein Labyrinth von Tunnels in die Erde unter dem Ort gefressen hatte, hatten hier nicht einmal 500 Menschen gelebt.

Einfache Holzhäuser mit Schindeldächern. Gärten mit Pfingstrosen und üppigen Heidelbeerbüschen, die im Winter unter einer tiefen Schneedecke verborgen waren. Hartriegelbäume, die im Frühling mit weißen, rosafarbenen und roten Blüten übersät waren. Eine kleine Filiale der County First National Bank. Eine Mannschaft der freiwilligen Feuerwehr, die über einen einzigen Löschwagen verfügte. Polanskis Taverne, wo selten etwas anderes als Bier oder Bier zusammen mit einem Gläschen Whisky verlangt wurde, und wo riesige Behälter mit eingelegten Eiern und heißen Würsten in würziger Brühe auf der Theke standen. Ein Supermarkt, eine Tankstelle, eine kleine Grundschule.

Für eine Straßenbeleuchtung war der Ort nicht groß genug, doch bevor die Regierung endlich mit der Umsiedlung begonnen hatte, war Coal Valley in seinem gemütlichen Nest zwischen den Hügeln nachts ein einladender heller Fleck gewesen, weil die Lampen in den Häusern und Geschäften ein warmes Licht verbreiteten. Doch jetzt waren alle öffentlichen Gebäude geschlossen und dunkel. Die Glaubensleuchte im Glockenturm war erloschen. Nur in drei Häusern brannte noch Licht, und auch dort würde es demnächst für immer ausgehen, wenn die letzten Einwohner noch vor Thanksgiving ihre Heimat verlassen mußten.

Am Dorfrand war ein heller orangefarbener Schein zu sehen: Hier hatte sich das Feuer in einem Stollen bis dicht unter die Erdoberfläche gefressen, und eine Grube war plötzlich aufgebrochen. Seitdem war das unterirdische Inferno an dieser Stelle den Blicken zugänglich, während es ansonsten unter den unbewohnten Häusern und rissigen Straßen verborgen blieb.

»Ist er dort unten?« fragte Celeste, so als könnte Joey die Nähe ihres unbekannten Feindes hellseherisch wahrnehmen.

Die Visionen, die er gehabt hatte, ließen sich jedoch nicht bewußt herbeiführen, und sie waren außerdem viel zu rätselhaft, als daß sie ihm den Weg zum Versteck des Mörders hätten weisen können. Zudem vermutete er, daß ihm zwar diese zweite Chance geboten wurde, sich zu bewähren und das Richtige zu tun, daß er dabei aber seine eigene Weisheit, sein Urteilsvermögen und seinen Mut unter Beweis stellen mußte. Coal Valley war sozusagen sein Testgelände. Kein Schutzengel würde ihm Anweisungen ins Ohr flüstern oder zwischen ihn und ein scharfes Messer treten, das plötzlich im Dunkeln aufblitzte.

»Er könnte durch das Städtchen gefahren sein, ohne anzuhalten«, sagte Joey. »Er könnte zum Black Hollow Highway und vielleicht zur Autobahn weitergefahren sein. Das war meine übliche Route ins College. Aber . aber ich glaube, daß er irgendwo dort unten ist und wartet.«

»Auf uns?«

»Er hat auf mich gewartet, nachdem er von der Bundesstraße auf die Coal Valley Road abgebogen war. Ist am Straßenrand stehengeblieben und hat abgewartet, ob ich ihm folgen würde.«

»Aber warum sollte er so etwas tun?«

Joey spürte, daß ihm die Antwort auf diese Frage im Grunde bekannt war. Unterdrücktes Wissen schwamm wie ein Hai mit mörderischen Zähnen im lichtlosen Meer seines Unterbewußtseins umher, wollte aber noch nicht auftauchen. Es würde ihn überfallen, wenn er am wenigsten damit rechnete.

»Früher oder später werden wir das erfahren«, sagte er.

Er wußte, daß eine Konfrontation unvermeidlich war. Sie wurden von der ungeheuren Schwerkraft eines schwarzen Lochs angezogen, auf eine unentrinnbare vernichtende Wahrheit zu.

Am Rand von Coal Valley glühte die offene Grube jetzt heller als zuvor. Rote Funken flogen aus der Erde empor wie riesige Schwärme von Leuchtkäfern, und sie wurden mit solcher Kraft ausgespien, daß sie mindestens dreißig Meter hoch durch den Regen schossen, bevor sie erloschen.

Weil er befürchtete, daß das flaue Gefühl in seinem Magen sich schnell in lähmende Schwäche verwandeln könnte, schaltete er das Standlicht aus und steuerte den Mustang auf das trostlose Dorf zu.

»Wir fahren direkt zu meinem Elternhaus«, sagte Celeste.

»Ich weiß nicht, ob wir das tun sollen.«

»Warum denn nicht?«

»Es scheint mir keine gute Idee zu sein.«

»Bei meinen Eltern werden wir in Sicherheit sein.«

»Es geht nicht nur darum, in Sicherheit zu sein.«

»Worum denn sonst?«

»Dich am Leben zu erhalten.«

»Das ist doch dasselbe.«

»Und ihm Einhalt zu gebieten.«

»Wem? Dem Mörder?«

»Ja. Das ergibt einen Sinn. Ich meine - wie könnte es eine Erlösung geben, wenn ich vor dem Bösen wissentlich die Augen verschließe und mich einfach aus dem Staube mache? Dich zu retten, ist nur die eine Hälfte meiner Aufgabe. Ihm Einhalt zu gebieten, ist die andere.«

»Das hört sich für mich jetzt wieder viel zu mystisch an. Wann rufen wir den Exorzisten, damit er mit Weihwasser ans Werk geht?«

»Es ist aber so. Ich kann nichts daran ändern.«

»Hör zu, Joey, ich werde dir sagen, was einen Sinn ergibt. Mein Vater hat einen Waffenschrank voller Jagdgewehre, auch eine Schrotflinte. Das ist es, was wir brauchen.«

»Aber wenn er uns nun dorthin folgt? Damit bringen wir auch deine Eltern in Gefahr, die ihm andernfalls vielleicht nie begegnen werden.«

»Scheiße, das hört sich alles total verrückt an«, sagte Celeste. »Und du kannst mir glauben, daß ich das Wort >Scheiße< nicht oft in den Mund nehme.«

»Die brave Tochter des Schulleiters«, neckte er sie.

»So ist es.«

»Übrigens hast du vor einer Weile etwas über dich gesagt, was nicht stimmt.«

»Was denn?«

»Du bist nicht unansehnlich. Du bist schön.«

»Na klar, eine zweite Olivia Newton-John«, spottete sie.

»Und du hast ein gutes Herz - viel zu gut, als daß du dein eigenes Schicksal auf Kosten des Lebens deiner Eltern abwenden würdest.«

Einen Moment lang war nur das Trommeln des Regens zu hören. Dann sagte Celeste: »Nein, um Gottes willen, das will ich auf gar keinen Fall. Aber es würde so wenig Zeit in Anspruch nehmen, das Haus zu betreten, ein Gewehr aus dem Schrank zu holen und zu laden.«

»Alles, was wir heute Nacht tun, jede Entscheidung, die wir treffen, hat weitreichende Konsequenzen. Übrigens wäre das in einer ganz normalen Nacht auch nicht anders. Das ist etwas, was ich einmal vergessen habe - daß es immer moralische Konsequenzen gibt; und dafür habe ich einen hohen Preis bezahlt. Heute trifft diese Wahrheit mehr denn je zu.«

Während sie das letzte Stück des langen Hügels hinabfuhren, auf den Ortsrand zu, fragte Celeste: »Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun - einfach durch die Gegend fahren, in Bewegung bleiben und darauf warten, daß die Lawine uns trifft?«

»Wir müssen einen Zug nach dem anderen machen und sehen, wie das Spiel läuft.«

»Aber wir kennen das Spiel ja nicht einmal!« rief sie frustriert.

»Zeig mir deine Hände.«

Sie knipste die Taschenlampe an und ließ ihn zuerst die eine, dann die andere Handfläche sehen.

»Jetzt sind es nur dunkle Flecken«, klärte er sie auf. »Kein Blut. Wir tun offenbar etwas Richtiges.«

Der Wagen fuhr über eine Vertiefung im Straßenpflaster. Keine tiefe Grube mit Flammen auf dem Grund, sondern nur ein Riß von etwa zwei Meter Länge. Trotzdem wurden sie kräftig durchgerüttelt, die Federung quietschte, und das Handschuhfach öffnete sich.

Celeste zuckte erschrocken zusammen, als die Klappe aufsprang, und richtete automatisch die Taschenlampe auf das Handschuhfach. Der Lichtstrahl wurde von einem Glas reflektiert. Es war ein zehn oder zwölf Zentimeter hohes Glas mit einem Durchmesser von etwa acht Zentimetern. Wahrscheinlich hatte es einmal Mixed Pickles oder Erdnußbutter enthalten. Das Etikett war entfernt worden. Jetzt war es mit einer Flüssigkeit gefüllt, die im Schein der Taschenlampe milchig trüb aussah. Irgend etwas schwamm darin herum, etwas Seltsames, Unheimliches.

»Was ist das?« fragte Celeste und griff ängstlich, aber ohne zu zögern in das Handschuhfach. Wider besseres Wissen war sie einfach gezwungen, das Zeug im Glas genauer zu betrachten.

Sie holte das Glas heraus.

Hielt es hoch.

In der rosa verfärbten Flüssigkeit schwammen zwei blaue Augen.

10

Kies spritzte gegen das Fahrwerk, der Mustang schoß über eine Vertiefung hinweg, und Joey riß seinen Blick gerade noch rechtzeitig von dem Glas los, um zu sehen, wie die vordere Stoßstange einen Briefkasten umriß. Der Wagen fuhr über den Rasen des ersten Hauses von Coal Valley und kam nur Zentimeter vor der Veranda zum Stehen.

Schlagartig kehrte seine Erinnerung an jene andere Nacht zurück, als er es versäumt hatte, in die Coal Valley Road abzubiegen.

... er braust mit seinem Mustang rücksichtslos über die Interstate, obwohl es regnet und graupelt, er rast so, als wäre er auf der Flucht, als würde ein Dämon ihn verfolgen, er ist über irgend etwas verstört, er verflucht Gott und betet im nächsten Moment zu Ihm. Zuviel Magensäure verursacht ihm Beschwerden. Im Handschuhfach muß eine Rolle Tums liegen. Er steuert mit einer Hand, beugt sich nach rechts, öffnet das Handschuhfach, greift hinein, tastet nach den Lutschbonbons -und findet das Glas. Glatt und kühl. Er hat keine Ahnung, was das sein könnte. Er holte es heraus. Die Scheinwerfer eines großen Wagens, der ihm jenseits der Leitplanke entgegenkommt, sind so hell, daß er erkennen kann, was sich in dem Glas befindet. Augen! Entweder er reißt das Steuer vor Entsetzen herum, oder aber es ist Aquaplaning; jedenfalls gerät der Mustang plötzlich völlig außer Kontrolle, schleudert. Der Wegweiser. Ein gräßliches Krachen. Sein Kopf wird gegen das Seitenfenster geschleudert. Das Sicherheitsglas zerbricht, aber er trägt trotzdem eine Schnittwunde davon. Der Wagen prallt von dem Stahlschild ab, rammt die Leitplanke. Kommt zum Stehen. Er öffnet die beschädigte Tür und springt in den Sturm hinaus. Er muß das Glas loswerden, o Gott, er muß dieses Glas loswerden, bevor jemand anhält, um ihm zu helfen.

Bei diesem mörderischen Wetter herrscht zwar nicht viel Verkehr, aber bestimmt wird jemand den guten Samariter spielen wollen - ausgerechnet jetzt, wo er das am allerwenigsten gebrauchen kann. Er hat das Glas verloren. Nein. Er kann es nicht verloren haben. Er tastet verzweifelt den Boden vor dem Fahrersitz ab. Kühles Glas. Unbeschädigt. Der Deckel ist immer noch fest zugeschraubt. Gott sei Dank, Gott sei Dank! Er rennt mit dem Glas in der Hand zur Leitplanke. Dahinter ist freies Gelände, ein mit Gestrüpp und Unkraut überwuchertes Feld. Mit aller Kraft schleudert er das Glas in die Dunkelheit. Und dann vergeht die Zeit, und er steht immer noch am Straßenrand, völlig verwirrt, ohne zu wissen, warum er dort herumsteht. Graupel peitscht sein Gesicht und seine Hände. Er hat wahnsinnige Kopfschmerzen, berührt seine Schläfe, entdeckt die Wunde. Er braucht ärztliche Betreuung. Vielleicht muß die Wunde genäht werden. Bis zur nächsten Ausfahrt sind es nur zwei Kilometer. Er kennt die Stadt. Er kann das Krankenhaus finden. Kein Samariter hat angehalten. So sind nun einmal die Zeiten. Er steigt wieder in seinen beschädigten Mustang, stellt erleichtert fest, daß der Wagen noch anspringt, daß der eingedrückte Kotflügel den Reifen nicht behindert. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Alles wird wieder gut werden.

Vor dem Haus in Coal Valley, wo Stücke des zertrümmerten Briefkastens den Rasen verunzierten, begriff Joey, daß er das Glas mit den Augen vergessen hatte, als er vor zwanzig Jahren vom Unfallort weggefahren war. Entweder hatte die Kopfverletzung zu teilweisem Gedächtnisverlust geführt, oder aber er hatte sich gezwungen, alles zu vergessen. Die Erkenntnis, daß die zweite Erklärung eher zutraf als die erste, machte ihn ganz krank: Nicht sein Körper hatte ihn damals im Stich gelassen; ihm hatte es einfach an moralischem Mut gefehlt.

In jener alternativen Realität lag das Glas irgendwo im Gestrüpp, aber jetzt hielt Celeste es mit beiden Händen krampfhaft fest, weil sie befürchtete, daß der Deckel aufgehen und der Inhalt auf ihrem Schoß landen könnte. In einem plötzlichen Entschluß schob sie den Behälter ins Handschuhfach zurück und schlug die schmale Klappe zu.

Nach Luft ringend, halb schluchzend, schlang sie ihre Arme um sich und beugte sich auf dem Sitz nach vorne: »O Scheiße, Scheiße, Scheiße!« flüsterte sie.

Joey umklammerte das Lenkrad, so als wollte er es zerbrechen. In seinem Innern tobte ein Aufruhr, der viel schlimmer war als der Sturm. Er stand an der Schwelle des Begreifens: Was es mit dem Glas auf sich hatte, wie es in sein Auto gekommen war, wessen Augen es waren, warum er die Erinnerung daran zwanzig Jahre lang total verdrängt hatte. Aber er brachte es nicht fertig, über diese Schwelle zu treten, hinaus in die Kälte und Leere der Wahrheit, vielleicht, weil er wußte, daß er sie noch nicht verkraften konnte.

»Ich war es nicht«, murmelte er jämmerlich.

Celeste wiegte sich mit verschränkten Armen auf dem Sitz vor und zurück und stieß einen leisen gequälten Laut aus.

»Ich hab’s nicht getan«, wiederholte Joey.

Langsam hob sie den Kopf.

Ihre schönen Augen spiegelten immer noch ungewöhnliche Charakterstärke und ein Wissen wider, das weit über ihr Alter hinausging, aber nun stand noch etwas Neues in ihnen geschrieben - die ungewollte Erkenntnis, zu welchem Ausmaß an Bösem der Mensch fähig war. Oberflächlich betrachtet, sah sie noch wie das Mädchen aus, das er vor kurzem kennengelernt hatte, aber sie war nicht mehr jenes Mädchen, weil ihr in dieser Nacht schlagartig die geistige Unschuld geraubt worden war. Sie war nicht mehr das Schulmädchen, das ihm errötend von ihrer Verliebtheit erzählt hatte - und das war unsagbar traurig.

»Ich habe das Glas nicht dort versteckt«, sagte er. »Ich habe die Augen nicht in das Glas getan. Ich bin es nicht gewesen.«

»Das weiß ich«, erwiderte sie ruhig und mit einer Überzeugung, die ihn glücklich machte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Handschuhfach und sah dann wieder ihn an. »Du könntest so etwas niemals tun. Du nicht. Niemals, Joey. Du wärest zu so etwas niemals fähig.«

Wieder schwankte er am Abgrund einer Erkenntnis, doch eine Flutwelle von Seelenqual warf ihn zurück. »Es müssen ihre Augen sein«, murmelte er.

»Die Augen der Blondine in der Plastikhülle?«

»Ja. Und ich glaube, irgendwo weiß ich, wer sie ist, wie sie ihr schreckliches Ende gefunden hat ... Aber ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Du hast vorhin gesagt, sie wäre nicht nur eine Halluzination gewesen, nicht nur das Phantasiegespinst eines Alkoholikers.«

»Ja, davon bin ich überzeugt. Es ist eine Erinnerung. Irgendwann und irgendwie habe ich sie gesehen.« Er preßte eine Hand so fest gegen seine Stirn, als könnte er das vergessene Wissen aus seinem Schädel herausdrücken.

»Wer könnte das Glas denn in deinem Wagen versteckt haben?« fragte Celeste.

»Ich weiß es nicht.«

»Wo warst du an jenem Abend, bevor du ins College zurückgefahren bist?«

»Zuhause. In Asherville. Und während der Fahrt habe ich nirgends angehalten.«

»Stand der Mustang in eurer Garage?«

»Wir haben gar keine.«

»War der Wagen abgeschlossen?«

»Nein.«

»Dann hätte doch jeder das Glas dort hineinlegen können.«

»Ja, möglicherweise.«

Niemand war aus dem Haus gekommen, dessen Veranda sie um ein Haar gerammt hätten: Es hatte als eines der ersten Häuser in Coal Valley geräumt werden müssen und stand nun schon seit Monaten leer. Auf die weiße Aluminiumverkleidung hatte jemand eine große »4« gesprüht und mit einem Kreis umgeben. Die Ziffer, die im Scheinwerferlicht des Mustangs blutrot leuchtete, war kein Graffiti, sondern eine offizielle Markierung, die bedeutete, daß dieses Haus als viertes abgerissen werden würde, sobald die letzten Einwohner von Coal Valley ausgezogen waren und die Bulldozer anrückten.

Mit der Entscheidung, was mit dem Grubenfeuer geschehen sollte, hatten die staatlichen Institutionen sich so viel Zeit gelassen, bis es das ganze Tal unterhöhlt hatte und nicht mehr gelöscht werden konnte, doch die Zerstörung des Dorfes sollte jetzt so ordentlich und rasch wie eine Militäroperation vonstatten gehen.

»Wir dürfen hier nicht länger herumsitzen«, sagte er, überzeugt davon, daß die Wundmale in Celestes Händen durch dieses Verweilen an einem Ort wieder schlimmer geworden waren. Er verzichtete darauf, sie zu betrachten, legte den Rückwärtsgang ein und durchquerte den Rasen, wobei er befürchtete, daß sie in der aufgeweichten Erde steckenbleiben könnten. Zum Glück erreichten sie die Straße jedoch problemlos.

»Und wohin jetzt?« fragte Celeste.

»Wir sehen uns ein wenig in der Stadt um.«

»Und wonach halten wir Ausschau?«

»Nach etwas Ungewöhnlichem.«

»Hier ist jetzt alles ungewöhnlich.«

»Wir werden es erkennen, wenn wir es sehen.«

Er fuhr langsam die Coal Valley Road entlang, die zugleich die Hauptstraße des Ortes war.

An der ersten Kreuzung deutete Celeste auf eine schmale Straße zur Linken. »Dort drüben ist unser Haus.«

Obwohl Regenschleier und einige große Tannen die Sicht behinderten, konnte Joey doch einen Block entfernt mehrere Fenster erkennen, die hell erleuchtet waren. Kein anderes Haus in dieser Richtung schien bewohnt zu sein.

»Alle Nachbarn sind schon ausgezogen«, bestätigte Celeste. »Mom und Dad sind jetzt ganz allein.«

»Gerade dadurch könnten sie sicher sein«, brachte er ihr in Erinnerung und fuhr langsam an dem Sträßchen vorbei.

Obwohl die Coal Valley Road auch in andere Ortschaften führte, war ihnen während der ganzen Fahrt kein einziges Auto entgegengekommen, und das würde wahrscheinlich auch so bleiben. Zahlreiche Experten hatten der Öffentlichkeit zwar versichert, daß der Highway völlig sicher sei, daß keinerlei Gefahr eines plötzlichen Einbruchs ins Inferno bestünde. Trotzdem sollte die Straße nach der Zerstörung von Coal Valley geschlossen werden, und die Bewohner der umliegenden Bergdörfer und -städte waren schon seit langer Zeit sehr skeptisch in bezug auf alles, was die Experten von sich gaben, und fuhren deshalb lieber andere Strecken.

Auf der linken Straßenseite kam jetzt St. Thomas in Sicht, die katholische Kirche, in der bis vor kurzem jeden Samstag und Sonntag Gottesdienste stattgefunden hatten. Die Priester der Pfarrei »Unsere schmerzensreiche Mutter« in Asherville hatten diese Gemeinde - ebenso wie zwei andere kleine Ortschaften - betreut. Es war kein prächtiges Gotteshaus, sondern ein schlichter Holzbau, sogar ohne Buntglasfenster.

Flackerndes Licht in den Kirchenfenstern erregte Joeys Aufmerksamkeit. Eine Taschenlampe. Jedesmal, wenn der Strahl bewegt wurde, sprangen Schatten umher wie gepeinigte Geister.

Er parkte direkt vor der Kirche, schaltete die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab.

Die zweiflügelige Tür über den Betonstufen war weit geöffnet.

»Das ist eine Einladung«, sagte Joey.

»Glaubst du, daß er in der Kirche ist?«

»Darauf könnte ich jede Wette eingehen.«

In der Kirche erlosch das Licht.

»Bleib hier«, sagte Joey, während er die Wagentür öffnete.

»Den Teufel werde ich tun.«

»Bitte!«

»Nein«, sagte sie hart.

»Dort drin könnte alles mögliche passieren.«

»Hier draußen auch.«

Womit sie natürlich völlig recht hatte.

Als Joey ausstieg und nach hinten zum Kofferraum ging, folgte Celeste ihm. Sie hatte die Kapuze wieder über den Kopf gezogen.

Der Regen war jetzt mit Graupel vermischt, wie in jener Nacht vor zwanzig Jahren, als er den Unfall auf der Interstate gehabt hatte. Die kleinen Hagelkörner hörten sich auf dem Metall so an, als würden Krallen gewetzt.

Als er den Kofferraum öffnete, rechnete er halb damit, dort die tote Blondine zu finden.

Sie war nicht da.

Er holte den Wagenheber heraus. Das Ding war beruhigend schwer.

Im schwachen Kofferraumlicht sah Celeste den Werkzeugkasten, öffnete ihn und griff nach einem großen Schraubenzieher.

»Das ist zwar kein Messer«, sagte sie, »aber immerhin besser als gar nichts.«

Joey wünschte, sie würde im Auto bleiben und die Türen verschließen. Wenn Gefahr drohte, könnte sie laut hupen, und dann wäre er innerhalb von Sekunden bei ihr.

Doch obwohl er sie erst seit einer knappen Stunde kannte, wußte er genau, daß es sinnlos wäre, sie davon abhalten zu wollen, ihn zu begleiten. Trotz ihrer zarten Schönheit war sie ungemein zäh und stur. Und die Erkenntnis, daß ihr Vergewaltigung und Ermordung beschieden sein könnten, hatte ihr auch die letzten Spuren jugendlicher Unsicherheit genommen - diese Erkenntnis und die Augen im Glas. Die Welt hatte sich in einen viel düstereren und grausameren Ort verwandelt, als sie noch am Morgen für möglich gehalten hätte, aber sie stellte sich dem mit erstaunlicher, bewundernswerter Tapferkeit.

Joey gab sich keine Mühe, den Kofferraum leise zu schließen. Die offenen Kirchentüren verrieten nur allzu deutlich, daß der Mann, der ihn auf die Coal Valley Road geführt hatte, damit rechnete, daß er ihm auch in die Kirche folgen würde.

»Bleib dicht neben mir«, sagte er.

Sie nickte grimmig. »Darauf kannst du dich verlassen.«

Im Hof von St. Thomas ragte ein Lüftungsrohr von etwa dreißig Zentimetern Durchmesser gut zwei Meter in die Höhe, umgeben von einem Stacheldrahtzaun als Schutzbarriere. Rauchwolken stiegen daraus empor, verursacht von dem unterirdischen Feuer. Diese Maßnahme hatte verhindern sollen, daß die Konzentration giftiger Dämpfe in der Kirche und in den umliegenden Häusern zu hoch wurde. In den letzten zwanzig Jahren waren fast zweitausend solcher Belüftungsschächte angelegt worden.

Trotz des unablässigen Regens stank die Luft in der Umgebung von St. Thomas nach Schwefel.

Auf die Kirchenfassade war mit roter Farbe eine große »13« gesprüht.

Seltsamerweise mußte Joey an Judas denken, an den dreizehnten Apostel, der Jesus verraten hatte.

Die Ziffer an der Wand bedeutete nur, daß die Kirche als dreizehntes Gebäude zerstört werden würde, aber Joey wurde das Gefühl nicht los, als hätte diese Ziffer auch noch eine andere - tiefere - Bedeutung. Tief im Herzen ahnte er, daß es eine Warnung war, vor Verrat auf der Hut zu sein. Aber Verrat von welcher Seite?

Die Totenmesse für seinen Vater an diesem Morgen war der erste Gottesdienst gewesen, den er seit zwanzig Jahren besucht hatte. Jahrelang hatte er sich als Agnostiker - und manchmal als Atheisten - bezeichnet, doch plötzlich schien alles, was er sah, und alles, was geschah, eine religiöse Assoziation zu haben. Natürlich war er in gewissem Sinne kein zynischer und ungläubiger Mann von vierzig mehr, sondern ein zwanzigjähriger Student, der noch vor zwei Jahren als Ministrant gedient hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er sich dem Glauben seiner Jugend näher fühlte.

Dreizehn.

Judas.

Verrat.

Anstatt diesen Gedanken als lächerlichen Aberglauben abzutun, nahm er ihn ernst und beschloß, noch vorsichtiger zu sein.

Der Weg war noch nicht vereist. Die Graupeln knirschten unter ihren Füßen.

Sie gingen die Stufen hinauf. Vor der offenen Tür knipste Celeste ihre kleine Taschenlampe an. Nebeneinander traten sie über die Schwelle. Celeste leuchtete nach rechts und links: In der Vorhalle lauerte ihnen niemand auf.

Am Eingang zum Kirchenschiff stand ein Weihwasserbecken aus weißem Marmor. Es war leer, wie Joey feststellte, als er mit den Fingern über den trockenen Boden strich. Trotzdem bekreuzigte er sich.

Den Wagenheber mit beiden Händen schlagbereit festhaltend, ging er weiter. Er hatte nicht die Absicht, sich auf die Gnade Gottes zu verlassen.

Celeste leuchtete mit der Taschenlampe so geschickt nach allen Seiten, als wäre sie daran gewöhnt, wahnsinnige Mörder zu suchen.

Obwohl in St. Thomas seit fünf oder sechs Monaten keine Messen mehr gefeiert wurden, vermutete Joey, daß die Stromversorgung aus Sicherheitsgründen nicht unterbrochen worden war. Ein leerstehendes Gebäude barg alle möglichen Gefahren, und da wollte man bestimmt nicht das zusätzliche Risiko der Dunkelheit eingehen.

Ein schwacher Weihrauchduft lag noch in der Luft, aber er wurde vom Geruch nach feuchtem Holz und Schimmel fast überdeckt. Außerdem stank es nach Schwefel, und dieser Gestank schien immer stärker zu werden, bis der würzige Weihrauchduft überhaupt nicht mehr wahrzunehmen war.

Obwohl die harten Graupeln auf das Dach und gegen die Fenster prasselten, strahlte St. Thomas die Stille und erhabene Würde aller Kirchen aus. Normalerweise war das die Erwartung einer göttlichen Präsenz; in diesem Fall war es aber die Furcht vor dem Einbruch eines Dämons in diesem einst heiligen Ort.

Joey hielt den Wagenheber vorübergehend mit einer Hand, um an der Wand nach den Lichtschaltern zu tasten. Als er sie fand, knipste er alle vier auf einmal an.

Kegelförmige Deckenlampen warfen ihr gelbes Licht auf die Bankreihen, und abgeschirmte Wandleuchter erhellten die vierzehn Kreuzwegstationen und den staubigen Holzboden.

Das eigentliche Heiligtum blieb in Schatten gehüllt. Trotzdem konnte Joey erkennen, daß alle geweihten Gegenstände, alle Statuen und sogar das große Kruzifix an der Wand hinter dem Altar entfernt worden waren.

Als Junge war er manchmal mit dem Priester von Asherville nach Coal Valley gefahren, wenn die hiesigen Ministranten krank oder anderweitig verhindert waren. Deshalb wußte er genau, wie St. Thomas vor der Schließung ausgesehen hatte. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert hatte ein Dorfbewohner das dreieinhalb Meter hohe Kruzifix geschnitzt, und obwohl es im Grunde eine grobe Arbeit war, hatte sie Joey immer fasziniert, weil sie eine besondere Kraft ausstrahlte, die er bei kunstvolleren Ausführungen nie gespürt hatte.

Als er seinen Blick von der kahlen Wand abwandte, wo früher das Kruzifix hing, sah er, daß auf dem erhöhten Altarsockel etwas Großes lag. Ein weicher Glanz schien davon auszugehen, aber er wußte, daß das nur eine Lichtspiegelung war - oder aber seine Phantasie spielte ihm einen Streich.

Sie gingen vorsichtig den Mittelgang entlang und spähten in die Bankreihen auf beiden Seiten, wo jemand kauern könnte, ohne sofort gesehen zu werden. Die Kirche war klein; sie hatte höchstens zweihundert Sitzplätze, aber nun, da sie leer war, wirkte sie größer.

Als Joey das Altargitter öffnete, quietschte es in den Angeln.

Nach schier unmerklichem Zögern betrat Celeste noch vor ihm das Heiligtum. Auch ihr fiel auf, daß auf dem Altarsockel etwas Groteskes lag, aber sie richtete ihre Taschenlampe nicht darauf. Offenbar zog sie es - ebenso wie Joey - vor, den unvermeidlichen Schock noch etwas aufzuschieben.

Während das niedrige Gitter hinter ihm zufiel, warf Joey einen Blick zurück ins Kirchenschiff. Niemand war ihnen gefolgt.

Vor ihnen lag der Chor. Stühle, Notenständer und Orgel waren entfernt worden.

Sie gingen durch den Wandelgang nach links, um den Chor herum. Obwohl sie leise aufzutreten versuchten, hallten ihre Schritte auf dem Eichenboden dumpf in der leeren Kirche wider.

An der Wand neben der Tür zur Sakristei gab es weitere Lichtschalter. Joey knipste sie an, und nun wurde auch der Altarraum schwach beleuchtet.

Er bedeutete Celeste, sich etwas von der Tür zu entfernen, und sobald sie aus dem Weg war, trat er gegen die Tür, wie er es in unzähligen Filmen gesehen hatte, stürzte über die Schwelle und schwang den Wagenheber von rechts nach links und wieder zurück, weil er vermutete, daß jemand dort auf ihn gewartet hatte. Er hoffte, den Mistkerl überraschen und mit einem wuchtigen Schlag außer Gefecht setzen zu können, aber die Metallstange fuhr nur durch die Luft.

Im Licht aus dem Altarraum konnte er erkennen, daß die Sakristei leer war. Die Außentür stand offen, als er eintrat, aber ein kalter Windstoß warf sie zu.

»Er ist schon verschwunden«, sagte Joey zu Celeste, die schreckensstarr auf der Schwelle stand.

Sie kehrten in die Kirche zurück und blieben am Fuß der drei Altarsrufen stehen.

Joeys Herz klopfte zum Zerspringen.

Neben ihm stieß Celeste einen leisen Klagelaut aus - nicht vor Entsetzen, sondern vor Mitleid, Bedauern und Verzweiflung. »O nein!«

Der geschnitzte Hochaltar war nicht mehr da. Nur der Sockel.

Die groteske Form, die sie vom Kirchenschiff aus im Halbdunkel gesehen hatten, war jetzt deutlich zu erkennen. Viel zu deutlich. Die Leiche in der dicken zerknitterten Plastikfolie lag da wie ein Fötus. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber blonde Haarsträhnen.

Das war keine Vision.

Auch keine Halluzination.

Auch keine Erinnerung.

Diesmal war die Leiche real.

Trotzdem ließen die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden Joey daran zweifeln, was real war und was nicht. Er mißtraute seinen eigenen Sinnen und wollte deshalb von Celeste eine Bestätigung hören. »Du siehst es auch, oder?«

»Ja.«

»Die Leiche?«

»Ja.«

Er berührte die dicke Plastikfolie, die unter seinen Fingern knisterte.

Ein schlanker weißer Arm war aus der Hülle geglitten. Die leicht gewölbte Hand wies in der Mitte eine Nagelwunde auf. Die Fingernägel waren eingerissen und blutverkrustet.

Obwohl er wußte, daß die Blondine tot war, hegte Joey doch noch die völlig absurde Hoffnung, daß die Augen im Glas nicht ihr gehörten, daß ein Funke Leben sie noch mit dieser Welt verband, daß sie auferweckt werden konnte. Er kniete auf der obersten Altarstufe nieder, legte seine Fingerspitzen auf ihr Handgelenk, suchte nach einem noch so schwachen Puls.

Er fand keinen Puls, doch der Kontakt mit ihrem kalten Fleisch wirkte auf ihn wie ein Stromschlag und löste eine weitere, lange Zeit verdrängte Erinnerung aus:

... Er will nur helfen, als er die beiden Koffer durch den eisigen Regen zum Auto trägt und auf dem Kies abstellt, um den Kofferraum zu öffnen. Er hebt den Deckel, und die kleine Glühbirne im Innern ist so schwach wie eine halb geschmolzene Votivkerze in einem rubinroten Glas. Das Licht im Kofferraum ist rot verfärbt, weil die Glühbirne blutbeschmiert ist. Der Geruch von frischem Blut steigt ihm in die Nase, und er muß würgen. Sie liegt da. Sie liegt tatsächlich da. Dieser Anblick ist so total unerwartet, daß er sie für eine Halluzination halten könnte, aber sie ist so real wie Granit oder wie ein Schlag ins Gesicht. Nackt, aber in eine halb durchsichtige Folie gehüllt. Das Gesicht unter langen blonden Haaren und unter Blutflecken auf der Innenseite des Plastiks verborgen. Ein nackter Arm ragt aus der Hülle hervor, und die zarte Hand weist eine grausige Wunde auf. Eine flehentliche Geste, die vergebliche Bitte, Gnade walten zu lassen. Sein Herz schwillt bei jedem lauten Schlag so stark an, daß seine Lungen zusammengepresst werden und er nicht tief Luft holen kann. Während Donner über die Berge rollt, hofft er, daß ihn ein Blitz treffen möge, damit er so tot wie die Blondine ist, denn nach dieser Entdeckung weiterzuleben, wird viel zu hart, viel zu schmerzhaft, viel zu freudlos und sinnlos sein. Dann sagt jemand hinter ihm seinen Namen, kaum lauter als das säuselnde Lied von Wind und Regen. »Joey!« Wenn er nicht auf der Stelle tot umfallen darf, bittet er Gott wenigstens, ihn taub werden und erblinden zu lassen, damit er von den Pflichten eines Zeugen befreit ist. »Joey, Joey!« Die Stimme klingt so traurig. Er wendet sich von dem mißhandelten Körper im Kofferraum ab, und er weiß, daß außer dem Leben dieser Frau auch vier andere vernichtet worden sind - sein eigenes, das seiner Mutter, seines Vaters und seines Bruders. »Ich wollte doch nur helfen«, stammelt er. »Ich wollte dir doch nur helfen.«

Joey atmete tief aus, holte Luft. »Es war mein Bruder. Er hat sie umgebracht.«

11

Zwei fette Ratten huschten quiekend durch den Altarraum, warfen grotesk lange Schatten und verschwanden in einem Loch in der Wand.

»Dein Bruder? P. J.?« fragte Celeste ungläubig.

Obwohl sie in der High School fünf Klassen unter P. J. gewesen war, kannte sie ihn. Das war nicht weiter verwunderlich, denn in Asherville und Umgebung hatte jeder P. J. Shannon gekannt, lange bevor er ein weltberühmter Schriftsteller wurde. Er war der jüngste Quarterback gewesen, den das Footballteam der High School je gehabt hatte, ein phantastischer Spieler, der seiner Mannschaft dreimal zur Regionalmeisterschaft verhalf. Er hatte immer die besten Zeugnisse, und bei der Schlußfeier durfte er die Schülerrede halten, doch trotz seiner Begabung, seines guten Aussehens und seiner vielen Erfolge blieb er ein umgänglicher Bursche, charmant und amüsant, aber auch freundlich und hilfsbereit. Bei den Wohltätigkeitsveranstaltungen der Pfarrei setzte er sich voll ein. Wenn ein Freund krank war, besuchte P. J. ihn stets als erster, brachte ein kleines Geschenk mit und munterte ihn auf. Hatte ein Freund irgendwelche Probleme, stand P. J. ihm mit Rat und Tat zur Seite. Im Gegensatz zu vielen anderen beliebten Schülern war P. J. überhaupt nicht arrogant; er unterhielt sich mit dem mageren und kurzsichtigen Leiter des Schachklubs genauso gern wie mit Sportkanonen, und er lehnte es kategorisch ab, Schulkameraden zu hänseln oder zu quälen.

P. J. war der beste Bruder auf der ganzen Welt gewesen.

Aber er war auch ein brutaler Mörder.

Joey konnte diese beiden Tatsachen einfach nicht in Einklang miteinander bringen, und er hatte das Gefühl, daß er den Verstand verlieren könnte, wenn er es allzu lange versuchte.

Immer noch auf der Altarstufe kniend, ließ Joey das kalte Handgelenk der Toten los. Die Berührung mit ihrem Fleisch hatte ihm auf geradezu mystische Weise zu einer schrecklichen Offenbarung verhelfen. Er hätte nicht erschütterter sein können, wenn er bei der Eucharistie tatsächlich gesehen hätte, wie sich die Hostie in den Leib Christi verwandelte.

»P. J. war an jenem Wochenende aus New York nach Hause gekommen«, erzählte er Celeste. »Nach dem College hatte er bei einem großen Verlag eine Stelle als Redaktionsassistent angenommen, und er wollte dort arbeiten, bis es ihm irgendwie gelingen würde, ins Filmgeschäft einzusteigen. Am Samstag hatten wir alle - die ganze Familie - viel Spaß gehabt. Doch nach der Messe am Sonntagmorgen setzte P. J. sich für den ganzen Tag ab. Er wollte Schulfreunde besuchen, um über die guten alten Zeiten zu plaudern, und er wollte ein bißchen in der Gegend herumfahren, um das bunte Herbstlaub zu bewundern.

>Ich möchte ein ausgiebiges Nostalgiebad nehmenc, erklärte er uns.«

Celeste drehte dem Altarsockel den Rücken zu, entweder weil sie den Anblick der Toten nicht mehr ertragen konnte, oder weil sie befürchtete, daß P. J. unbemerkt in die Kirche zurückkehren könnte.

»Sonntags haben wir normalerweise immer schon um fünf zu Abend gegessen«, fuhr Joey fort, »aber Mom wollte unbedingt auf P. J. warten. Er kam erst um sechs nach Hause, als es draußen schon eine ganze Weile dunkel war. Er war ganz zerknirscht, entschuldigte sich wortreich und erzählte, er hätte mit seinen alten Freunden so viel Spaßgehabt, daß er die Zeit ganz vergessen hätte. Wahrend des ganzen Abendessens war er unheimlich gut drauf, witzig und voller Elan, so als hätte das Wiedersehen mit seinem Heimatort ihn mit neuer Energie erfüllt.«

Joey zog die Plastikhülle über den nackten Arm der Toten. Er empfand es als obszön, ihre Hand mit dem Wundmal auf dem Altar liegen zu sehen, obwohl St. Thomas ja im Grunde keine Kirche mehr war.

Celeste wartete geduldig auf die Fortsetzung der Geschichte.

»Wenn ich es mir jetzt überlege, dann hatte er an jenem Abend vielleicht etwas Seltsames an sich, eine geradezu unheimliche Energie. Nach dem Essen rannte er in seinen Kellerraum, packte und stellte seine Koffer neben die Hintertür. Er wollte möglichst schnell losfahren, weil das Wetter so schlecht war, daß er frühestens um zwei Uhr nachts in New York ankommen würde. Aber Dad wollte ihn noch nicht fortlassen; er liebte P. J. sehr und war mächtig stolz auf ihn. Deshalb holte er die alten Alben mit P. J.s Footballtriumphen hervor und wollte in Erinnerungen schwelgen. Und P. J. zwinkerte mir zu, so als wollte er sagen: Verdammt, auf eine halbe Stunde kommt es jetzt auch nicht mehr an, wenn es Dad glücklich macht. Sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa im Wohnzimmer und schauten sich die alten Alben an, und ich dachte, ich könnte P. J. wenigstens ein wenig Zeit ersparen, wenn ich sein Gepäck im Kofferraum verstaute. Die Wagenschlüssel lagen auf der Küchenanrichte.«

»Es tut mir so leid, Joey«, sagte Celeste. »Es tut mir so wahnsinnig leid für dich.«

Joey konnte sich noch immer nicht mit dem Anblick der ermordeten Frau in der blutigen Plastikhülle abfinden. Der Gedanke, was sie erlitten hatte, drehte ihm fast den Magen um, machte ihm das Herz bleischwer und ließ seine Stimme schwanken, obwohl er nicht einmal wußte, wer sie war. Er konnte nicht einfach aufstehen und ihr den Rücken zuwenden. Er mußte an ihrer Seite knien. Sie verdiente seine Aufmerksamkeit und seine Tränen. Wenigstens in dieser Nacht mußte er Zeugnis von ihrem grauenvollen Tod ablegen -etwas, das er vor zwanzig Jahren versäumt hatte.

Wie seltsam, daß er jede Erinnerung an sie zwanzig Jahre lang verdrängt hatte - und doch war sie jetzt, während er die schlimmste Nacht seines Lebens noch einmal durchlebte, erst seit wenigen Stunden tot.

Doch ob es nun zwanzig Jahre oder nur wenige Stunden waren - retten konnte er sie jedenfalls nicht mehr.

»Der Regen hatte ein wenig nachgelassen«, erzählte er weiter, »und deshalb zog ich nicht einmal meine Windjacke an. Ich griff einfach nach den Schlüsseln, schnappte mir die beiden Koffer und trug sie zu P. J.s Wagen, der hinter meinem Mustang auf der Einfahrt stand. Ich nehme an, daß Mom etwas zu ihm gesagt hat, jedenfalls begriff er, was ich machte, ließ Dad mit den Alben sitzen und rannte mir nach. Aber es war schon zu spät.«

. ein leichter, aber bitterkalter Regen, das blutig verfärbte Licht der kleinen Glühbirne im Kofferraum, und P. J. steht da, so als wäre nicht die ganze Welt soeben zusammengebrochen, und Joey sagt wieder: »Ich wollte doch nur helfen.«

P. J.s Augen sind weit aufgerissen, und Joey hofft einen Moment lang verzweifelt, daß sein Bruder die Frau im Kofferraum ebenfalls zum erstenmal sieht, daß er entsetzt ist und keine Ahnung hat, wie die dorthin gekommen ist. Doch dann sagt P. J.: »Joey, hör zu, es ist nicht, was du glaubst. Ich weiß, daß es schlimm aussieht, aber es ist nicht das, was du glaubst.«

»O Gott, P. J.! O mein Gott!«

P. J. wirft einen Blick zum Haus hinüber, das nur fünfzehn oder zwanzig Meter entfernt ist, vergewissert sich, daß die Eltern nicht auf der Veranda stehen. »Ich kann es dir erklären, Joey. Gib mir eine Chance, verurteile mich nicht voreilig, gib mir eine Chance!«

»Sie ist tot! Sie ist tot!«

»Ich weiß.«

»Sie ist ganz blutig!«

»Beruhige dich, Joey.«

»Was hast du getan? Allmächtiger, was hast du getan?«

P. J. tritt dicht an ihn heran, drängt ihn gegen den Wagen. »Ich habe nichts getan. Jedenfalls nichts, wofür ich ins Gefängnis müßte.«

»Warum, P. J.? Nein, versuch nicht, es zu erklären. Das ist unmöglich. Für so etwas kann es keine harmlose Erklärung geben. Sie liegt tot in deinem Kofferraum, tot und blutig.«

»Schrei nicht so, Junge! Nimm dich zusammen.« P. J. packt seinen Bruder bei den Schultern, und seltsamerweise ist dieser körperliche Kontakt Joey nicht zuwider. »Ich habe es nicht getan. Ich habe sie nicht angerührt.«

»Aber sie liegt da, P. J., das kannst du doch nicht leugnen!«

Joey weint. Der kalte Regen, der ihm ins Gesicht peitscht, macht seine Tränen unsichtbar, aber er weint.

P. J. schüttelt ihn leicht bei den Schultern. »Für wen hältst du mich, Joey? Um Himmels willen, für wen hältst du mich? Ich bin dein Bruder, dein großer Bruder, oder etwa nicht? Glaubst du, ich hätte mich in New York in ein Monster verwandelt?«

»Sie liegt in deinem Kofferraum«, ist alles, was Joey hervorbringen kann.

»Ja, okay, sie liegt da drin, und ich habe sie reingelegt, aber ich habe ihr nichts angetan, ich habe sie nicht verletzt.«

Joey versucht sich loszureißen.

P. J. hält ihn fest, preßt ihn gegen die Stoßstange, so als wollte er ihn zu der Toten im Kofferraum stoßen. »Verlier nicht die Nerven, Junge. Ruiniere nicht uns alle. Bin ich dein großer Bruder? Kennst du mich nicht mehr? Bin ich nicht immer für dich dagewesen? Ich bin immer für dich dagewesen, und jetzt mußt du für mich dasein, nur dieses eine Mal.«

Schluchzend sagt Joey: »Nein, P. J., bei so etwas kann ich nicht für dich dasein. Bist du verrückt?«

P. J. redet eindringlich auf ihn ein, mit einer Leidenschaft, der Joey sich nicht entziehen kann. »Ich habe immer auf dich aufgepaßt, ich habe dich immer geliebt, mein kleiner Bruder! Wir beide gegen den Rest der Welt. Hörst du? Ich liebe dich, Joey. Weißt du nicht, daß ich dich liebe?« Er läßt Joeys Schultern los und packt ihn statt dessen am Kopf, preßt seine Schläfen mit den Händen zusammen. Joey hat das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein. In P. J.s Augen steht mehr Schmerz als Furcht geschrieben. Er küßt Joey auf die Stirn. Seine Worte und sein eindringlicher Ton üben eine hypnotische Wirkung auf Joey aus. Halb in Trance, kann er sich nicht einmal bewegen. Und er hat Mühe, klar zu denken. »Joey, hör zu, Joey, Joey, du bist mein Bruder - mein Bruder! Und das bedeutet mir alles; du bist mein Blut, du bist ein Teil von mir. Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Weißt du das nicht? Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Und liebst du mich nicht auch?«

»Doch ... doch.«

»Wir lieben einander, wir sind Brüder.«

»Das macht es ja so schlimm«, schluchzt Joey.

P. J. hält seinen Kopf noch immer umfangen, ihre Nasen berühren sich fast, und er blickt Joey tief in die Augen. »Wenn du mich liebst. Junge, wenn du deinen großen Bruder wirklich liebst, mußt du mir zuhören. Hör zu, damit du verstehst, was passiert ist. Okay, Joey? Okay? Ich werde dir erzählen, was passiert ist. Ich bin die Pine Ridge entlanggefahren, du weißt schon, die alte Landstraße. Ich bin einfach ziellos durch die Gegend gefahren, wie wir es als Schüler oft getan haben. Du kennst doch diese alte Straße mit ihren unzähligen Kurven, eine Kurve nach der anderen, und hinter einer dieser Kurven kommt sie plötzlich aus dem Wald gerannt, hetzt einen kleinen Abhang hinab, mitten auf die Straße. Ich bremse scharf, aber es ist schon zu spät. Sogar wenn es nicht geregnet hätte, wäre es zu spät gewesen. Ich kann nicht so schnell anhalten. Sie ist direkt vor mir, rennt direkt ins Auto, stürzt und wird vom Auto überrollt, bevor ich anhalten kann.«

»Sie ist nackt, P.J.! Ich habe gesehen, daß sie nackt ist!«

»Das will ich dir ja gerade erklären. Du mußt nur zuhören. Sie ist nackt, als sie aus dem Wald angerannt kommt, splitternackt, und dieser Kerl verfolgt sie.«

»Welcher Kerl?«

»Ich weiß nicht, wer er war. Habe ihn noch nie hier in der Gegend gesehen. Aber was ich sagen will, Joey - sie hat das Auto nicht gesehen, weil sie nach hinten geschaut hat, um festzustellen, ob der Kerl ihr dicht auf den Fersen war. Sie rennt, so schnell sie kann, schaut dabei nach hinten, rennt mir direkt vor das Auto, bemerkt es endlich und schreit auf, aber da ist es schon zu spät. Mein Gott, es war schrecklich! Das Schlimmste, was ich je erlebt habe! Ich kann nur hoffen, daß mir nie mehr im Leben so etwas widerfährt! Das Auto hat sie mit solcher Wucht gerammt . Ich wußte sofort, daß sie tot sein mußte .«

»Und der Kerl, der sie verfolgt hat?«

»Er bleibt wie angewurzelt auf dem Hügel stehen, als ich sie überfahre. Und als ich aus dem Auto springe, macht er kehrt und rennt auf die Bäume zu, rennt in den Wald, und ich weiß, daß ich den Mistkerl schnappen muß, und ich renne ihm nach, aber er kennt sich in dem Wald besser aus als ich. Ich verliere ihn aus den Augen, renne aber noch zehn oder zwanzig Meter auf einem Wildpfad weiter, doch dann verzweigt sich der Pfad, es sind plötzlich drei Pfade, und ich habe keine Ahnung, welchen er eingeschlagen hat. Im Wald ist es halbdunkel, und bei dem Wind und Regen kann ich ihn auch nicht hören.

Deshalb kehre ich zur Straße zurück, und sie ist tot, wie ich von Anfang an gewußt habe.« P. J. erschaudert angesichts der Erinnerung und schließt die Augen. Er drückt seine Stirn an Joeys Stirn. »O Gott, Joey, es war schrecklich, es war so schrecklich - was das Auto ihr angetan hatte, und was davor dieser Verbrecher ihr angetan hatte! Mir wurde übel, und ich mußte mich auf der Straße übergeben. Glaub mir, ich habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt!«

»Und was macht sie in deinem Kofferraum?«

»Ich hatte zufällig diese Plastikfolie dabei. Ich konnte sie doch nicht dort liegenlassen.«

»Du hättest den Sheriff rufen sollen.«

»Ich konnte sie nicht allein auf der Straße liegenlassen. Ich war völlig durcheinander, Joey, und ich hatte Angst. Sogar dein großer Bruder kann manchmal Angst haben.« P. J. läßt endlich Joeys Kopf los, rückt ein wenig von ihm ab, schaut besorgt zum Haus hinüber, sagt: »Dad schaut aus dem Fenster. Wenn wir noch lange hier herumstehen, kommt er bestimmt raus, um zu fragen, ob etwas nicht stimmt.«

»Na gut, vielleicht konntest du sie nicht auf der Straße liegenlassen, aber wenn du sie schon in deinen Kofferraum legen mußtest - warum bist du nicht mit ihr zur Polizei gefahren?«

»Ich werde dir alles erklären«, verspricht P. J. »Aber dazu sollten wir uns ins Auto setzen. Es sieht komisch aus, wenn wir hier so lange im Regen herumstehen. Setzen wir uns lieber rein und schalten das Radio ein, dann wird Dad glauben, daß wir nur ein bißchen plaudern, so zwischen Brüdern.«

Er legt einen Koffer neben die tote Frau im Kofferraum, dann den zweiten. Schlägt den Deckel zu.

Joey zittert immer noch am ganzen Leibe. Er möchte wegrennen. Nicht ins Haus. In die Nacht hinein. Quer durch Asherville und durch das ganze County, in Gegenden, wo er noch nie gewesen ist, in Städte, wo niemand ihn kennt, immer weiter und weiter in die Nacht hinein. Aber er liebt P. J., und P. J. ist immer für ihn dagewesen, und deshalb ist er verpflichtet, wenigstens zuzuhören. Und vielleicht wird ja doch noch alles gut. Vielleicht ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Vielleicht besteht noch Hoffnung für einen guten Bruder, der sich die Zeit nimmt zuzuhören. Etwas anderes wird ja nicht von ihm verlangt - er soll nur zuhören.

P. J. schließt den Kofferraum ab, legt seine Hand auf Joeys Nacken und drückt leicht zu, eine freundschaftliche Geste, aber auch eine Aufforderung, ins Auto zu steigen. »Komm, Junge. Laß mich dir alles erzählen, und dann überlegen wir gemeinsam, was jetzt zu tun ist. Komm, steig ein. Es ist doch nur dein großer Bruder, der dich darum bittet. Ich brauche dich, Joey.«

Sie steigen ein.

Joey setzt sich auf den Beifahrersitz.

Im Wagen ist es kalt, und die Luft ist feucht.

P. J. läßt den Motor an. Schaltet die Heizung ein.

Es regnet jetzt stärker, ein richtiger Wolkenbruch, und die Welt hinter den Fenstern scheint sich aufzulösen. Das Auto ist ein Stahlkokon, in dem sie gefangen sind und darauf warten müssen, in neue Menschen verwandelt zu werden und eine Wiedergeburt in einer unvorstellbaren Zukunft zu erleben.

P. J. sucht im Radio nach einem Sender, der gut zu empfangen ist.

Bruce Springsteen singt über Verluste und über die Schwierigkeit einer Erlösung.

P. J. stellt das Radio leiser, aber dadurch werden Text und Musik nicht weniger melancholisch.

»Ich vermute, daß dieser Mistkerl sie entführt hat«, sagt P. J., »und daß er sie irgendwo in den Wäldern gefangengehalten hat, in einer Hütte oder sonst einem Versteck. Dort muß er sie vergewaltigt und gefoltert haben. Man liest ja gelegentlich über solche Vorfälle, und sie nehmen von Jahr zu Jahr zu. Aber wer hätte jemals geglaubt, daß so etwas auch hier, an einem Ort wie Asherville, passieren kann? Sie muß ihm irgendwie entkommen sein, als er nicht aufpaßte.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Brutal.«

»Was verstehst du darunter?«

»Gefährlich. Er sah gefährlich und ein bißchen verrückt aus. Sehr groß, über eins neunzig. Und er muß mindestens zweihundertvierzig Pfund wiegen. Vielleicht ist es ganz gut, daß ich ihn nicht geschnappt habe. Er hätte Hackfleisch aus mir machen können, Joey. Wahrscheinlich wäre ich jetzt tot, wenn ich ihn eingeholt hätte. Aber versuchen mußte ich es wenigstens. Schließlich konnte ich diesen Verbrecher nicht so einfach wegrennen lassen. Ja, es war ein Riesenbursche mit Bart und langen fettigen Haaren, in schmutzigen Jeans und mit einem blauen Flanellhemd, das hinten aus der Hose heraushing.«

»Du mußt ihre Leiche zum Sheriff bringen, P. J. Auf der Stelle.«

»Das kann ich nicht, Joey. Verstehst du nicht - dafür ist es jetzt zu spät. Sie liegt in meinem Kofferraum. Es könnte der Eindruck entstehen, als hätte ich alles verheimlichen wollen, wenn du sie nicht zufällig gefunden hättest. Und das könnte zu falschen Interpretationen führen. Schließlich kann ich nicht beweisen, daß ich den Mann gesehen habe, der sie verfolgt hat.«

»Die Polizei wird Beweise finden. Zunächst einmal seine Fußspuren. Und dann werden sie den Wald durchsuchen und das Versteck finden, in dem er sie gefangengehalten hat.«

P. J. schüttelt den Kopf. »Bei diesem Regen werden alle Fußspuren schon verschwunden sein. Und wer garantiert mir, daß sein Versteck gefunden wird? Nein, ich kann dieses Risiko nicht eingehen. Wenn sie keine Beweise für die Existenz dieses Kerls finden, werden sie alles mir in die Schuhe schieben.«

»Wenn du sie nicht umgebracht hast, kann die Polizei dir doch nichts anhängen.«

»Bist du wirklich so naiv? Ich wäre nicht der erste, der eines Verbrechens angeklagt wird, das er nicht begangen hat.«

»Das ist doch lächerlich, P. J.! Hier kennt dich jeder, und alle mögen dich. Man wird dir bestimmt Glauben schenken.«

»Menschen können sehr wetterwendisch sein. Sogar Menschen, denen man immer nur Gutes getan hat, können einem plötzlich in den Rücken fallen. Diese Erfahrung wirst du auch noch machen müssen, Joey, wenn du erst einmal länger im College bist oder in einer Stadt wie New York lebst. Dann wirst du sehen, wie haßerfüllt Menschen sein können.«

»Hier in der Gegend wird niemand an deiner Unschuld zweifeln«, beharrt Joey.

»Sogar du hast daran gezweifelt.«

Diese Worte versetzen Joey einen schweren Schlag. Er muß sich eingestehen, daß P. J. recht hat, und das bestürzt ihn zutiefst. Er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Herrgott, P. J., wenn du sie nur dort auf der Straße liegengelassen hättest!«

P. J. vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er weint. Joey hat ihn noch nie weinen gesehen. Eine ganze Weile kann P. J. nicht sprechen - und Joey auch nicht. Endlich stammelt P. J.: »Ich konnte sie nicht liegenlassen. Es war alles so schrecklich . Du hast es nicht gesehen, du weißt nicht, wie schrecklich es war. Sie ist doch nicht nur eine Leiche, Joey. Sie hat Eltern, Geschwister. Mir ging durch den Kopf: wenn ich ihr Bruder wäre, und wenn jemand sie überfahren hätte, was würde ich mir dann wünschen? Und ich dachte, ich würde mir wünschen, daß der Fahrer wenigstens ihre Blöße bedeckt, daß er sie nicht einfach wie ein Stück Fleisch auf der Straße herumliegen läßt. Jetzt sehe ich ein, daß ich wahrscheinlich einen großen Fehler begangen habe, aber ich war völlig durcheinander. Ich hätte anders handeln müssen, aber jetzt ist es zu spät, Joey.«

»Wenn du sie nicht zur Polizei bringst und eine Aussage machst, wird der bärtige Kerl mit den langen Haaren ungeschoren davonkommen, und dann wird er bestimmt einem anderen Mädchen das gleiche antun.«

P. J. nimmt seine Hände vom Gesicht. In seinen Augen stehen immer noch Tränen. »Man wird ihn sowieso nie erwischen, Joey. Verstehst du denn nicht? Er hat sich längst aus dem Staub gemacht. Er weiß, daß ich ihn gesehen habe, daß ich ihn beschreiben kann. Nach dem Unfall hat er sich bestimmt keine zehn Minuten mehr in dieser Gegend aufgehalten, und inzwischen könnte er schon in einem anderen Bundesstaat sein. Glaub mir, der flüchtet ans andere Ende des Landes. Wahrscheinlich hat er auch seinen Bart abrasiert und die langen Haare abgeschnitten, so daß er jetzt ganz anders aussieht. Das wenige, was ich der Polizei erzählen kann, wird nicht zu seiner Ergreifung führen, und außerdem könnte ich sowieso nichts aussagen, was seine Verurteilung ermöglichen würde.«

»Trotzdem ist es das einzig Richtige, zur Polizei zu gehen.«

»Tatsächlich? Du denkst offenbar nicht an Mom und Dad. Sonst wärest du dir nicht mehr so sicher, daß es das Richtige ist.«

»Was meinst du damit?«

»Ich sage dir eines - die Bullen werden versuchen, diese Sache mir anzuhängen. Stell dir nur mal die Schlagzeilen in den Zeitungen vor. Der Footballstar, der hochbegabte Junge, dem eine angesehene Universität ein Stipendium gewährt hatte, fährt mit einer nackten Frau im Kofferraum seines Wagens spazieren - mit einer Frau, die grausam gefoltert wurde! Um Himmels willen, stell dir das doch einmal vor! Dieser Prozeß wird enormes Aufsehen erregen, und der Rummel wird schlimmer sein als bei jedem anderen Prozeß, der jemals in diesem Bundesstaat stattgefunden hat.«

Joey hat das Gefühl, an einem riesigen Schleifstein mit hoher Drehzahl abgewetzt zu werden. Er ist zermürbt von der Logik seines Bruders, von dessen Persönlichkeit, den unerwarteten Tränen. Je mehr Joey versucht, die Wahrheit zu erkennen, desto verwirrter und verstörter wird er.

P. J. schaltet das Radio aus, wendet sich seinem Bruder zu, sieht ihn unverwandt an. Nur sie beide und das Prasseln des Regens, keine Ablenkung mehr von der hypnotischen Stimme. »Bitte, bitte, hör mir zu, Junge! Denk gut über alles nach, um Mutters willen, um Vaters willen! Ruiniere nicht das Leben unserer Eltern, nur weil du nicht erwachsen werden kannst, nur weil du die Vorstellungen eines Ministranten von dem, was richtig und was falsch ist, noch nicht abgeschüttelt hast. Ich habe diesem Mädchen im Kofferraum nichts zuleide getan -warum sollte ich also meine ganze Zukunft aufs Spiel setzen? Sogar wenn die Geschworenen vernünftig sind und mich freisprechen, wird es immer Leute geben, die trotzdem glauben, ich hätte sie umgebracht. Nun gut, ich bin jung und habe eine gute Ausbildung genossen, und deshalb kann ich an irgendeinem anderen Ort, wo niemand etwas von dem Mordprozeß weiß, ein neues Leben beginnen. Aber Mom und Dad sind nicht mehr jung, und sie sind arm. Was sie jetzt haben, ist wahrscheinlich alles, was sie je bekommen werden. Sie haben nicht die Möglichkeit, einfach von hier wegzuziehen. Diese Vier-Zimmer-Baracke, die sie ein Haus nennen -natürlich ist das nicht viel, aber immerhin haben sie ein Dach über dem Kopf. Und sie haben hier eine Menge Freunde, gute Nachbarn, an denen sie hängen und die auch an ihnen hängen. Doch damit wird es zu Ende sein, sobald ich zum erstenmal in den Gerichtssaal geführt werde.« Die Flut seiner Argumente war sehr überzeugend. »Mißtrauen wird sich zwischen unseren Eltern und ihren Freunden breitmachen und alle Beziehungen zerstören. Mom und Dad werden genau wissen, daß hinter ihrem Rücken geflüstert und getratscht wird. Aber sie werden nicht wegziehen können, weil niemand diese Bruchbude kaufen wird, und Ersparnisse besitzen sie nicht. Folglich werden sie hierbleiben, sich allmählich von Nachbarn und Freunden zurückziehen und vereinsamen. Dürfen wir so etwas zulassen, Joey? Dürfen wir zwei Leben zerstören? Ich bin unschuldig am Tod dieses Mädchens, aber ich gebe zu, daß ich einen Fehler begangen habe, als ich die Tote nicht einfach auf der Straße liegenließ. Oder ich hätte mit ihr im Kofferraum direkt zur Polizei fahren müssen. Okay, ich habe Mist gebaut, und dafür kannst du mich gern erschießen, wenn dir danach zumute ist -aber bring Mom und Dad nicht um! Es wäre ein langsamer, qualvoller Tod für sie, wenn ich unter Mordanklage stünde.«

Joey bringt kein Wort hervor.

»Es ist so leicht, sie und mich zu vernichten, Joey. Aber noch leichter ist es, das Richtige zu tun - einfach zu glauben und zu vertrauen.«

Druck. Enormer Druck. Joey kommt sich wie ein Tiefseetaucher vor. Auf jedem Quadratzentimeter seines Körpers lasten Tausende von Pfund. Zermalmen ihn.

Als er endlich seine Stimme wiederfindet, klingt sie sehr jung und erschreckend unsicher. »Ich weiß nicht, P. J. Ich weiß nicht.«

»Du hältst mein Leben in deinen Händen, Joey.«

»Ich bin völlig durcheinander.«

»Du hältst auch das Leben unserer Eltern in deinen Händen.«

»Aber sie ist tot! Ein Mädchen ist tot!«

»Das stimmt. Sie ist tot. Und wir leben.«

»Aber ... aber was willst du mit der Leiche machen?«

Als Joey sich diese Frage stellen hört, weiß er, daß P. J. gewonnen hat. Er fühlt sich plötzlich so schwach, als wäre er wieder ein kleines Kind, und er schämt sich seiner Schwäche. Heftige Gewissensbisse nagen an ihm, schmerzhaft wie eine Säure, und um diesem unerträglichen Schmerz zu entkommen, muß er seinen Geist teilweise lahmlegen, muß sämtliche Emotionen ausschalten. Ein grauer Ascheregen begräbt seine Seele.

»Das ist ganz einfach«, sagt P. J. »Ich könnte die Leiche irgendwo abladen, wo sie nie gefunden wird.«

»Das darfst du ihrer Familie nicht antun. Die Angehörigen dürfen sich nicht ihr Leben lang fragen, was aus ihrer Tochter oder Schwester geworden ist, ob sie immer noch irgendwo leidet. Damit würdest du ihnen sogar die Hoffnung auf einen resignierten Frieden rauben.«

»Du hast recht. Ich bin offenbar immer noch ziemlich durcheinander. Natürlich muß ich sie irgendwo deponieren, wo sie gefunden wird.«

Eine immer dickere Schicht grauer Asche betäubt Joey in zunehmendem Maße. Von Minute zu Minute fühlt er weniger, denkt er weniger. Diese seltsame Entrücktheit ist zwar ein bißchen unheimlich, aber sie ist auch segensreich, und er kämpft deshalb nicht gegen sie an.

Er ist sich bewußt, daß seine Stimme sich gänzlich tonlos anhört, als er sagt: »Aber dann könnte die Polizei deine Fingerabdrücke auf dem Plastik finden. Oder irgend etwas anderes, vielleicht ein paar Haare von dir .«

»Mach dir deine Sorgen wegen der Fingerabdrücke. Ich habe keine hinterlassen, auch keine anderen Spuren. Ich war sehr vorsichtig. Nur .«

Joey wartet resigniert darauf, daß sein Bruder - sein einziger heißgeliebter Bruder - den Satz beendet, denn er spürt, daß das der schlimmste Schlag sein wird, von der Entdeckung der Leiche im Kofferraum einmal abgesehen.

»Nur ... ich habe sie gekannt.«

»Was? Du hast sie gekannt?«

»Ich bin ein paarmal mit ihr ausgegangen.«

»Wann?« fragt Joey dumpf, aber es ist ihm schon fast egal. Bald wird die graue Asche auch die letzten scharfen Kanten seiner Neugier und seines Gewissens überdeckt haben.

»An der High School, vor einer Ewigkeit.«

»Wie heißt sie?«

»Du kennst sie nicht. Ein Mädchen aus Coal Valley.«

Der Regen scheint nicht enden zu wollen, und Joey zweifelt nicht daran, daß auch die Nacht nie enden wird.

»Ich bin nur zweimal mit ihr ausgegangen, und wir haben nicht miteinander geschlafen. Aber jetzt verstehst du mich vielleicht besser, Joey. Wenn ich ihre Leiche zur Polizei bringe, wird man herausfinden, daß ich sie gekannt habe - und das wird man dann gegen mich verwenden. Um so schwerer wird es für mich sein, meine Unschuld zu beweisen, und um so schlimmer wird alles für Mom und Dad werden - für uns alle. Ich stecke in einer verdammten Zwickmühle.«

»Ja.«

Du verstehst, was ich meine?«

»Ja.«

Du begreifst meine Lage?«

»Ja.«

»Ich liebe dich, kleiner Bruder.«

»Ich weiß.«

»Ich war mir sicher, daß du für mich Dasein würdest, wenn es wirklich darauf ankommt.«

»In Ordnung.«

Tiefes eintöniges Grau.

Beruhigendes Grau.

»Du und ich, Joey! Nichts und niemand auf der Welt ist stärker als du und ich, wenn wir nur zusammenhalten. Wir sind Brüder, und dieses Band ist stärker und unverbrüchlicher als Stahl. Stärker als alles andere. Für mich ist das überhaupt das Allerwichtigste von der ganzen Welt - unsere enge Beziehung. Zwei Brüder - das ist etwas Wunderbares!«

Sie sitzen eine Weile schweigend da.

Jenseits der nassen Fenster ist die Dunkelheit schwärzer als jemals zuvor, so als wären die höchsten Berggipfel miteinander verschmolzen, so als würde nie wieder ein Streifen Himmel mit Sternen zu sehen sein, so als müßten Mom und Dad nun für immer in einem Steingewölbe ohne Fenster und Türen leben.

»Du mußt dich bald auf den Weg ins College machen«, sagte P. J. »Du hast eine weite Fahrt vor dir.«

»Ja.«

»Undich auch.«

Joey nickt.

»Du mußt mich in New York besuchen.«

Joey nickt.

»Wir werden uns ein bißchen amüsieren.«

»Ja.«

»Hier, das möchte ich dir geben«, sagt P. J. und versucht, Joey etwas in die Hand zu drücken.

»Was denn?«

»Ein bißchen zusätzliches Taschengeld.«

»Ich will es nicht haben.« Joey ballt seine Hand zur Faust.

P. J. drückt ihm trotzdem mehrere Geldscheine zwischen die Finger. »Ich möchte es dir aber geben. Ich weiß doch, daß man im College ein paar Extradollar immer gut gebrauchen kann.«

Joey schüttelt das Geld ab.

P. J. gibt nicht auf, versucht das Geld in Joeys Tasche zu stecken. »Na komm, es sind doch nur dreißig Dollar, kein Vermögen, nur eine Kleinigkeit. Laß mir doch den Spaß, den reichen Mann zu spielen. Es ist ein tolles Gefühl, und ich habe so selten die Gelegenheit, etwas für dich zu tun.«

Widerstand ist so schwierig und scheint so sinnlos - nur dreißig Dollar, eine unbedeutende Summe -, daß Joey sich das Geld in die Tasche schieben läßt. Er ist viel zu erschöpft, um sich zu wehren.

P. J. klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Du solltest jetzt packen und losfahren.«

Sie gehen ins Haus.

Ihre Eltern sind neugierig.

»He, warum steht ihr zwei Blödhammel denn ewig im Regen herum?« fragt Dad.

P. J. legt einen Arm um Joeys Schultern. »Ach, das war nur ein Plausch zwischen großem und kleinem Bruder. Über den Sinn des Lebens und all das.«

»Na klar - dunkle Geheimnisse!« scherzt Mom lächelnd.

Joey liebt sie in diesem Moment so sehr, daß die Kraft dieser Liebe ihn fast in die Knie zwingt.

Verzweifelt zieht er sich in das Schneckenhaus aus ewigem Grau zurück, wo alle Schmerzen betäubt werden.

Er packt hastig und fährt einige Minuten vor P. J. ab. Alle umarmen ihn zum Abschied; die Umarmung seines Bruders ist besonders herzlich, besonders innig.

Einige Kilometer außerhalb von Asherville fallt Joey ein Auto auf, das hinter ihm auf der Bundesstraße rasch näher kommt. An der großen Kreuzung überholt es ihn plötzlich und biegt mit hoher Geschwindigkeit in die Coal Valley Road ab.

Schmutzige Wasserfontänen bespritzen Joeys Mustang, doch als die Windschutzscheibe wieder klar ist, sieht er, daß der andere Wagen auf dem Highway stehengeblieben ist.

Er weiß, daß es P. J. ist.

P. J. wartet.

Noch ist es nicht zu spät.

Noch gibt es Raum, noch ist Zeit.

Alles hängt nur davon ab, ob er nach links abbiegt.

Das ist der Weg, den er sowieso einschlagen wollte.

Er braucht nur nach links abzubiegen und zu tun, was getan werden muß.

Rote Rücklichter in der Dunkelheit. Signale im Regen. Das Auto wartet.

Joey fährt geradeaus auf der Bundesstraße weiter, vorbei an der Coal Valley Road, in Richtung Interstate.

Und auf der Interstate fallen ihm - obwohl immer noch der Teufel der Gefühllosigkeit in seinem Herz sitzt - unwillkürlich einige Bemerkungen ein, die P. J. gemacht hat, Bemerkungen, die jetzt einen tieferen Sinn bekommen. »Es ist so leicht, mich zu vernichten, Joey, aber noch leichter ist es, einfach zu glauben ...« So als wäre die Wahrheit keine objektive Größe, so als könnte alles, was jemand glauben möchte, die Wahrheit sein. Und: »Mach dir wegen der Fingerabdrücke keine Sorgen. Ich habe keine hinterlassen. Ich war sehr vorsichtig.« Vorsicht setzt ein absichtliches Handeln voraus. Ein zu Tode erschrockener, verwirrter, unschuldiger Mann wird nicht so rational handeln, wird nicht alle Spuren beseitigen, die ihn mit einem Verbrechen in Verbindung bringen könnten.

Hatte es überhaupt einen bärtigen Mann mit schmierigen Haaren gegeben - oder war das nur eine durch Charles Manson inspirierte Erfindung? Und wenn das Auto die Frau auf der Pine Ridge so heftig gerammt hatte, daß sie auf der Stelle tot gewesen war - warum war es dann völlig unbeschädigt?

Joey fährt immer schneller durch die Nacht; er braust dahin, so als könnte er auf diese Weise alle Fakten und die daraus resultierenden Folgerungen hinter sich lassen. Dann findet er das Glas, verliert die Kontrolle über seinen Mustang, rast gegen den Wegweiser .

. und stellt fest, daß er an der Leitplanke steht und auf ein Feld voller Unkraut und Gestrüpp starrt, ohne zu wissen, was er hier macht. Der Wind heult über die Interstate.

Graupeln peitschen sein Gesicht, seine Hände. Blut. Eine Schnittwunde an der rechten Schläfe.

Eine Kopfverletzung. Er berührt die Wunde, und ein greller Blitz durchzuckt seine Stirn, ein heißes Feuerwerk von Schmerz.

Eine Kopfverletzung, sogar eine kleine, kann alle möglichen Folgen haben, bis hin zum Gedächtnisschwund. Die Erinnerung kann ein Fluch sein und Glück verhindern. Hingegen kann Vergessen ein Segen sein und sogar mit der bewundernswertesten aller Tugenden verwechselt werden - mit dem Verzeihen.

Er kehrt zum Wagen zurück. Fährt ins nächste Krankenhaus, um die blutende Wunde nähen zu lassen.

Alles wird wieder gut werden.

Alles wird wieder gut werden.

Im College besucht er noch zwei Tage die Vorlesungen, aber er sieht plötzlich keinen Sinn mehr darin, auf den engen Wegen akademischer Bildung zu wandern. Er ist der geborene Autodidakt, und kein Lehrer könnte jemals so viel von ihm verlangen, wie er selbst sich abverlangt. Außerdem muß er, wenn er Schriftsteller werden will, Erfahrung in der realen Welt sammeln, um aus diesem Fundus schöpfen zu können, wenn er seine Kunstwerke zu Papier bringt. Die verdummende Atmosphäre der Hörsäle und die altmodischen Weisheiten der Lehrbücher werden die Entwicklung seines Talents nur behindern, werden seine natürliche Kreativität ersticken. Er muß etwas wagen, er muß die Akademie verlassen und sich in den turbulenten Strom des Lebens stürzen.

Er packt seine Sachen und kehrt dem College für immer den Rücken. Zwei Tage später verkauft er irgendwo in Ohio seinen Mustang einem Gebrauchtwagenhändler und trampt weiter nach Westen.

Zehn Tage, nachdem er das College verlassen hat, schreibt er seinen Eltern aus einer LKW-Raststätte in der Wüste von Utah eine Postkarte und erklärt ihnen seinen Entschluß, mit dem Sammeln von Erfahrungen zu beginnen, die er als Material für seine Schriftstellerei benötigt. Er schreibt ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen, er wisse genau, was er tue, und er werde mit ihnen in Kontakt bleiben. Alles wird gutgehen. Alles wird gutgehen.

Joey kniete noch immer neben der toten Frau in der Kirche. »Natürlich ist gar nichts gutgegangen.«

Der Regen, der aufs Dach trommelte, war ein trostloses Geräusch, eine Art Klagelied für die Ermordete.

»Ich bin von einem Ort zum anderen gezogen, von einem Job zum anderen. Habe den Kontakt zu allen abgebrochen. Habe sogar meinen Traum begraben, Schriftsteller zu werden. Ich war viel zu beschäftigt, um Träumen nachzuhängen. Viel zu beschäftigt mit dem Spiel der Amnesie. Ich traute mich nicht, Mom und Dad wiederzusehen - das Risiko wäre zu groß gewesen, dort zusammenzubrechen und die Wahrheit auszuplaudern.«

Celeste wandte sich von dem leeren Kirchenschiff ab, das sie beobachtet hatte, und trat an Joeys Seite. »Vielleicht bist du zu hart dir selbst gegenüber. Vielleicht war die Amnesie keine Selbsttäuschung. Die Kopfverletzung könnte wirklich einen Gedächtnisverlust bewirkt haben.«

»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Joey. »Aber die Wahrheit ist nun einmal objektiv, sie ist nicht das, was wir daraus machen möchten.«

»Zwei Dinge begreife ich nicht.«

»Nur zwei? Dann bist du mir weit voraus.«

»An jenem Abend, mit P. J. im Auto ...«

»Heute abend. Vor zwanzig Jahren ... aber zugleich auch heute.«

»Er hatte dich doch schon überzeugt, ihm zu glauben, oder jedenfalls, ihn nicht zu verraten. Und nachdem er dich dazu gebracht hatte, ihm aus der Hand zu fressen, erzählte er dir plötzlich, daß er das Mädchen gekannt hatte. Wozu diese Eröffnung, nachdem er doch ohnehin schon gewonnen hatte? Warum ging er das Risiko ein, dein Mißtrauen erneut zu wecken? Du hättest daraufhin deine Entscheidung rückgängig machen können.«

»Um das zu verstehen, muß man P. J. sehr gut kennen. Er liebte von jeher die Gefahr. Nicht daß er rücksichtslos gewesen wäre. Niemand fand sein Benehmen je beängstigend. Ganz im Gegenteil. Es trug zu seiner Anziehungskraft - eine wunderbar romantische Art von Waghalsigkeit - und die Leute bewunderten ihn dafür. Er liebte es, Risiken einzugehen. Auf dem Footballfeld wurde das besonders deutlich. Seine Manöver waren oft sehr kühn und ungewöhnlich - aber erfolgreich.«

»Ich erinnere mich daran, daß es hieß, er würde immer am Rand eines Fouls spielen.«

»Ja. Und er fuhr gern sehr schnell, wahnsinnig schnell, aber er konnte mit einem Auto so gut umgehen wie ein Rennfahrer, hatte nie einen Unfall, bekam nie einen Strafzettel. Beim Pokern wagte er sogar mit schlechten Karten hohe Einsätze -und gewann fast immer. Man kann gefährlich leben, sogar extrem gefährlich, und solange man gewinnt, solange die Risiken sich auszahlen, wird man von den Leuten bewundert.«

Celeste legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das erklärt wohl auch die zweite Sache, die ich nicht begreifen kann.«

»Das Glas im Handschuhfach«, vermutete er.

»Ja. Er muß es dort versteckt haben, während du deine Sachen gepackt hast.«

»Wahrscheinlich wollte er ihre Augen ursprünglich als Souvenir behalten. Doch dann fand er es wohl amüsant, sie in mein Auto zu legen, wo ich sie später finden würde. Ein Härtetest für unsere brüderlichen Bande.«

»Nachdem er dich von seiner Unschuld und von der Notwendigkeit, die Leiche verschwinden zu lassen, überzeugt hatte, war es doch glatter Wahnsinn, dich die Augen sehen zu lassen - geschweige denn, sie in deinem Auto zu deponieren.«

»Er konnte der Herausforderung, der Gefahr einfach nicht widerstehen. Ein Balanceakt am Rand der Katastrophe. Und du siehst ja - er hat es wieder geschafft. Er ist davongekommen. Ich habe ihn gewinnen lassen.«

»Er benimmt sich so, als glaubte er, ein Auserwählter zu sein.«

»Vielleicht ist er es.«

»Auserwählt von welchem Gott?«

»Gott hat damit nichts zu tun.«

Celeste betrat den Altarsockel, verstaute Schraubenzieher und Taschenlampe in ihrer Manteltasche, kniete auf der anderen Seite der Toten nieder und blickte ihn über die Leiche hinweg an. »Wir müssen uns ihr Gesicht anschauen.«

Joey schnitt eine Grimasse. »Wozu?«

»P. J. hat dir ihren Namen nicht verraten, aber er hat gesagt, sie sei aus Coal Valley. Wahrscheinlich kenne ich sie.«

»Dann wäre der Anblick für dich um so schlimmer.«

»Wir haben keine andere Wahl«, beharrte Celeste. »Wenn wir wissen, wer sie ist, liefert uns das vielleicht einen Anhaltspunkt, was er jetzt im Schilde führt, wo er sich jetzt aufhält.«

Sie mußten den Leichnam auf die Seite rollen, um ein loses Ende der Plastikhülle zu finden. Dann legten sie die Tote wieder auf den Rücken.

Blutverklebtes blondes Haar verhüllte gnädig das verstümmelte Gesicht.

Celeste schob die Haare mit einer Zärtlichkeit beiseite, die Joey zutiefst bewegte. Gleichzeitig bekreuzigte sie sich und sagte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Joey hob den Kopf und starrte zur Decke empor, nicht weil er hoffte, dort die Heilige Dreifaltigkeit zu erblicken, die Celeste gerade angerufen hatte, sondern weil er es nicht ertragen konnte, die leeren Augenhöhlen zu sehen.

»Sie hat einen Knebel im Mund«, berichtete Celeste. »Eines von den Dingern, mit denen man Autos wäscht - Polierleder. Ich glaube . ja, ihre Knöchel sind mit Draht gefesselt. Sie ist nicht vor einem wahnsinnigen Bärtigen davongerannt.«

Joey erschauderte.

»Ihr Name ist Beverly Korehak«, fuhr Celeste fort. »Sie war ein paar Jahre älter als ich. Ein nettes Mädchen. Freundlich. Sie hat noch bei ihren Eltern gewohnt, aber letzten Monat haben sie ihr Haus der Regierung verkauft und sind nach Asherville gezogen. Beverly hat dort als Sekretärin bei den Elektrizitätswerken gearbeitet. Ihre Eltern sind mit meinen befreundet. Sie kennen einander seit einer Ewigkeit. Das wird sehr schlimm für Phil und Sylvie Korshak sein.«

Joey starrte immer noch an die Decke. »P. J. muß sie heute in Asherville gesehen haben. Er hat angehalten, um mit ihr zu plaudern. Sie ist bestimmt ohne Bedenken zu ihm ins Auto gestiegen. Schließlich war er ja kein Fremder. Jedenfalls glaubte sie ihn zu kennen.«

»Decken wir sie wieder zu«, sagte Celeste.

»Mach du das.«

Ihm graute im Grunde nicht vor dem augenlosen Gesicht. Vielmehr befürchtete er, daß er wie durch Hexerei ihre blauen Augen noch unversehrt in den Höhlen sehen könnte, mit jenem Ausdruck, den sie in den letzten Momenten ihres grausamen Todes gehabt haben mußten, als sie versuchte, trotz des Knebels um Hilfe zu schreien und wußte, daß niemand sie retten konnte.

Das Plastik raschelte.

»Du bist wirklich erstaunlich«, sagte Joey.

»Inwiefern?«

»Deine Kraft.«

»Ich bin doch hier, um dir zu helfen.«

»Ich dachte, ich wäre hier, um dir zu helfen.«

»Vielleicht müssen wir uns gegenseitig helfen.«

Das Rascheln hörte auf.

»Okay«, versicherte Celeste ihm.

Er senkte den Kopf und sah etwas, das er im ersten Moment für Blut auf dem Altarsockel hielt. Es mußte zum Vorschein gekommen sein, als sie die Position der Leiche verändert hatten.

Bei genauerem Hinsehen stellte er jedoch fest, daß es kein Blut, sondern Sprühfarbe war: die Ziffer »1« in einem Kreis.

»Siehst du das?« fragte er Celeste, die gerade aufstand.

»Ja. Es muß etwas mit dem geplanten Abriß zu tun haben.«

»Das glaube ich nicht.«

»Doch, bestimmt. Oder vielleicht haben Kinder hier gespielt. Drüben ist noch mehr davon.« Sie deutete in Richtung Kirchenschiff.

Joey stand auf, drehte sich um und starrte mit gerunzelter Stirn in die schwach beleuchtete Kirche. »Wo?«

»In der ersten Bankreihe.«

Die rote Farbe war aus dieser Entfernung auf dem dunklen Holz kaum zu sehen.

Joey nahm den Wagenheber wieder zur Hand und ging auf das Altargitter zu. Celeste folgte ihm.

Links vom Mittelgang waren auf die vorderste Bank eingekreiste Ziffern gesprüht worden, in einem Abstand, der dem von nebeneinander sitzenden Personen entsprach. Ganz links war eine »2«, und die letzte Ziffer am Mittelgang war eine »6«.

Joey hatte das Gefühl, als würden ihm Spinnen über den Nacken laufen, aber seine Hand fand keine einzige.

Auf der Bank rechts vom Mittelgang setzte sich die Zahlenreihe fort - 7, 8, 9, 10, 11, 12.

»Zwölf«, murmelte er.

»Was hast du?« fragte Celeste, die neben ihn getreten war.

»Die Frau auf dem Altar .«

»Beverly.«

Er starrte die roten Ziffern auf den Bänken an, und sie kamen ihm jetzt so leuchtend vor, als wären es Zeichen der Apokalypse.

»Joey, was ist mit Beverly? Was hast du?«

Joey stand schon im Schatten der Wahrheit, konnte ihre ganze eisige Struktur aber noch nicht erkennen. »Er hat die >1< gesprüht und dann die Leiche darauf gelegt.«

»P. J.?«

»Ja.«

»Wozu?«

Ein heftiger Windstoß fegte durch das Kirchenschiff. Der schwache Weihrauchduft und der stärkere Schimmelgeruch wurden von Schwefelgestank überlagert.

»Hast du Geschwister?« fragte Joey.

Sie schüttelte den Kopf, verwirrt über diese Frage. »Nein.«

»Lebt noch jemand bei euch, vielleicht deine Großeltern?«

»Nein, wir sind nur zu dritt.«

»Beverly ist eine von zwölf.«

»Zwölf was?«

Er deutete auf Celeste. Seine Hände zitterten. »Du und deine Familie - eins, zwei, drei. Wer wohnt sonst noch in Coal Valley?«

»Die Dolans.«

»Wie viele Personen?«

»Fünf.«

»Und wer noch?«

»John und Beth Bimmer. Johns Mutter Hannah lebt bei ihnen.«

»Also drei. Drei Bimmers, fünf Dolans und deine Familie. Elf. Plus Beverly auf dem Altar.« Er deutete auf die Ziffern an den Bänken. »Zwölf!«

»O Gott!«

»Ich begreife jetzt, was er im Schilde führt. Warum die Zahl zwölf es ihm angetan hat, liegt für mich auf der Hand. Zwölf Apostel, alle tot und in einer ehemaligen Kirche aufgereiht. Und sie alle verehren nicht Gott, sondern den dreizehnten Apostel. Ich glaube, so sieht P. J. sich - als den dreizehnten Apostel, Judas, den Verräter.«

Er berührte eine der aufgesprühten Ziffern. Stellenweise war die Farbe noch ein wenig feucht.

»Ein Judas. Er verrät seine Familie, er verrät den Glauben, in dem er erzogen wurde, er hat vor nichts Ehrfurcht, er kennt keine Treue. Er fürchtet niemanden, nicht einmal Gott. Er wählt den allergefährlichsten Weg, geht das größtmögliche Risiko ein, um den absoluten Nervenkitzel zu erleben: Er setzt seine Seele aufs Spiel für - für einen Tanz über dem Abgrund der Verdammnis.«

Celeste schmiegte sich an Joey, weil der Körperkontakt etwas Tröstliches hatte. »Du meinst, er inszeniert ein symbolisches Szenarium?«

»Ja - mit Leichen«, sagte Joey. »Er hat die Absicht, in dieser Nacht alle umzubringen, die noch in Coal Valley wohnen, und ihre Leichen will er hier arrangieren.«

Sie erbleichte. »Ist das wirklich geschehen?«

Er verstand nicht, was sie meinte. »Geschehen?«

»In der Zukunft, die du ja schon einmal durchlebt hast -wurden da alle Menschen in Coal Valley umgebracht?«

Joey mußte sich schockiert eingestehen, daß er ihre Frage nicht beantworten konnte.

»Nach jener Nacht habe ich aufgehört, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, habe mir keine Nachrichtensendungen im Fernsehen angeschaut und im Radio einen neuen Sender gesucht, sobald Nachrichten kamen. Ich redete mir ein, ich hätte einfach genug von all den Katastrophenmeldungen, von Flugzeugabstürzen, Überschwemmungen, Feuern und Erdbeben. Aber in Wirklichkeit ... in Wirklichkeit wollte ich wohl nur nichts über ermordete Frauen lesen oder hören. Ich wollte nicht riskieren, daß irgendwelche Einzelheiten eines Verbrechens - etwa ausgestochene Augen - eine Assoziation auslösen und dadurch meine angebliche Amnesie hinwegfegen.«

»Du weißt also nicht, ob es wirklich passiert ist: zwölf Tote in dieser Kirche, nebeneinander in der ersten Bankreihe, bis auf das eine Opfer am Altar.«

»Wenn es tatsächlich geschehen ist, wenn hier zwölf Leichen entdeckt wurden, hat jedenfalls kein Mensch P. J. verdächtigt; denn in meiner Zukunft ist er immer noch ein freier Mann.«

»Mein Gott, Mom und Dad!« Sie löste sich abrupt von Joey und rannte den Mittelgang entlang.

Er stürzte ihr nach, durch die Vorhalle, durch die geöffneten Türen, in die Nacht hinaus.

Sie rutschte auf dem vereisten Weg aus, stürzte auf ein Knie, rappelte sich auf, hastete auf die Beifahrerseite des Mustang zu.

Als Joey die Fahrertür erreichte, hörte er ein dumpfes Grollen, das er zunächst für Donner hielt - doch dann bemerkte er, daß es von unten kam.

Celeste warf ihm über das Wagendach hinweg einen besorgten Blick zu. »Ein Stolleneinsturz.«

Das Rumpeln wurde lauter, die Straße erbebte, so als würde ein Güterzug durch einen Tunnel direkt unter ihnen donnern, und dann endete der Spuk wieder.

Irgendein brennender Grubenschacht war eingebrochen, aber Joey konnte nirgends einen Krater sehen.

»Wo?« fragte er.

»Offenbar in einem anderen Ortsteil. Komm, komm, beeil dich!« drängte sie ihn.

Als er den Motor anließ, befürchtete er, daß die Straße plötzlich aufbrechen und den Mustang in die Tiefe reißen könnte, daß sie ins Feuer stürzen würden.

»Ein so starkes Beben habe ich noch nie erlebt«, sagte Celeste. »Vielleicht ist doch ein Stollen direkt unter uns eingestürzt, aber so tief unter der Erde, daß die Oberfläche nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde.«

»Noch nicht.«

12

Obwohl der Mustang Winterreifen hatte, geriet er auf dem Weg zu Celestes Haus mehrmals ins Schleudern, doch Joey brachte die kurze Fahrt hinter sich, ohne irgend etwas zu rammen. Das Haus der Bakers war weiß, mit grünen Verzierungen und zwei Mansardenfenstern.

Joey und Celeste rannten über den Rasen zur Veranda, weil der Weg viel glatter als das gefrorene Gras war.

Im Erdgeschoß brannte überall Licht, das einladend durch die teilweise vereisten Fenster schimmerte. Auch die Verandalampe war eingeschaltet.

Eigentlich hätten sie vorsichtig sein müssen, denn P. J. konnte ihnen ja zuvorgekommen sein. Sie wußten nicht, welche der drei Familien er zuerst heimsuchen wollte.

Doch Celeste hatte panische Angst um ihre Eltern, schloß mit zitternder Hand die Haustür auf und stürzte ohne alle Vorsichtsmaßnahmen in den kurzen Flur. »Mom! Daddy! Wo seid ihr? Mom?«

Niemand antwortete.

Joey wußte, daß es sinnlos wäre, Celeste zurückhalten zu wollen, und deshalb folgte er ihr dicht auf den Fersen und schwang den Wagenheber, sobald er irgendwo einen Schatten oder eine eingebildete Bewegung sah. Sie riß eine Tür nach der anderen auf und schrie in wachsendem Entsetzen nach ihren Eltern. Vier Räume unten, vier oben. Bad und Toilette. Das Haus war alles andere als eine Villa, aber es war viel schöner als alle Häuser, die Joey jemals gesehen hatte, und überall waren Bücher.

Zuletzt warf Celeste einen Blick in ihr eigenes Zimmer, aber auch dort war niemand. »Er hat sie schon umgebracht!«

»Nein, das glaube ich nicht. Im ganzen Haus deutet nichts auf einen Kampf hin. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihn freiwillig irgendwohin begleitet hätten, nicht bei diesem Wetter.«

»Aber wo sind sie dann?«

»Hätten sie dir eine Nachricht hinterlassen, wenn sie unerwartet ausgegangen wären?«

Ohne zu antworten, wirbelte sie auf dem Absatz herum, rannte auf den Korridor und nahm auf der Treppe ins Erdgeschoß zwei Stufen auf einmal.

Joey holte sie in der Küche ein, wo sie einen Zettel las, der an eine Pinnwand neben dem Kühlschrank geheftet war.

Celeste,

Bev ist heute Vormittag nach der Messe nicht nach Hause gekommen. Niemand weiß, wo sie ist. Die Polizei sucht nach ihr. Wir fahren nach Asherville, um bei Phil und Sylvie zu sein, die sich natürlich wahnsinnige Sorgen machen. Ich bin sicher, daß alles ein gutes Ende nehmen wird. Jedenfalls werden wir vor Mitternacht nach Hause kommen. Hoffentlich hast du bei Linda einen netten Nachmittag verbracht. Schließ die Türen ab. Mach dir keine Sorgen. Bev wird wieder auftauchen. Gott wird nicht zulassen, daß ihr etwas passiert.

Gruß, Mom.

Celeste warf einen Blick auf die Wanduhr - es war erst 21.02 Uhr. »Gott sei Dank, er kann nicht Hand an sie legen!«

»Hand!« Dabei fiel Joey etwas wieder ein. »Zeig mir deine Hände.«

Sie streckte sie ihm entgegen.

Die erschreckenden Stigmata in ihren Handflächen waren zu hellen Flecken verblaßt.

»Offenbar treffen wir die richtigen Entscheidungen«, seufzte er erleichtert. »Wir verändern das Schicksal -jedenfalls deines. Wir müssen nur weiterhin in Aktion bleiben.«

Als er von ihren Händen zu ihrem Gesicht aufblickte, sah er, daß sie etwas hinter seiner Schulter anstarrte. Mit rasendem Herzklopfen drehte er sich um und schwang den Wagenheber.

»Nein«, beruhigte Celeste ihn. »Mir ist nur das Telefon ins Auge gefallen.« Sie ging darauf zu. »Wir können Hilfe herbeirufen. Die Polizeistation! Wir sagen Bescheid, wo sie Bev finden können und daß sie P. J. suchen sollen.«

Das Telefon hatte eine altmodische runde Wählscheibe. So ein Modell hatte Joey lange nicht mehr gesehen, und seltsamerweise überzeugte es ihn mehr als alles andere davon, daß er tatsächlich zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden war.

Celeste wählte und drückte sodann mehrmals auf die Gabel. »Kein Zeichen.«

»Bei diesem Sturm und Eis könnte die Verbindung gestört sein.«

»Nein. Es ist P. J. Er hat die Leitungen durchtrennt.«

Joey wußte, daß sie recht hatte.

Sie legte den Hörer auf und eilte aus der Küche hinaus. »Komm mit - hier gibt es bessere Waffen als den Wagenheber.«

Im Arbeitszimmer ihres Vaters ging sie zum Eichenschreibtisch und holte den Schlüssel für den Waffenschrank aus der mittleren Schublade.

Bücherregale an zwei Wänden. Joey strich mit der Hand über die verschiedenfarbenen Buchrücken. »Heute abend habe ich endlich begriffen, daß P. J. mir meine Zukunft geraubt hat, als er mich überredete, ihn davonkommen zu lassen . einen Mörder davonkommen zu lassen!«

Celeste öffnete die Glastür des Gewehrschranks. »Was meinst du damit?«

»Ich wollte Schriftsteller werden. Das war von jeher mein einziger Berufswunsch. Ein Schriftsteller - sofern er etwas taugt - versucht immer, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und wie hätte ich hoffen können, als Autor wahrhaftig zu sein, wenn ich nicht einmal die Wahrheit über meinen Bruder verkraften konnte? Er raubte mir meinen Weg, meine Zukunft, und dann wurde er ein Schriftsteller.«

Celeste holte eine Schrotflinte aus dem Schrank und legte sie auf den Schreibtisch. »Eine Remington, eine wirklich gute Waffe. Aber erklär mir eines: Wie konnte er Schriftsteller werden, wenn dieser Beruf Wahrhaftigkeit verlangt? P. J. besteht doch nur aus Lug und Trug. Ist er denn ein guter Schriftsteller?«

»Alle rühmen ihn.«

Sie holte eine zweite Schrotflinte aus dem Schrank und legte sie neben die andere. »Auch eine Remington. Mein Dad hat eine Vorliebe für diese Firma. Schönes Walnußholz, stimmt’s? Ich habe dich nicht gefragt, was alle anderen von ihm halten. Was glaubst du? Taugt er etwas als Schriftsteller - in dieser Zukunft, die du schon kennst?«

»Er ist erfolgreich.«

»Na und? Das bedeutet noch lange nicht, daß er gut ist.«

»Er hat eine Menge Preise gewonnen, und ich habe immer so getan, als hielte ich ihn für einen guten Schriftsteller. Aber ... aber in Wirklichkeit hatte ich nie diesen Eindruck.«

Celeste ging in die Hocke, öffnete eine Schublade des Waffenschranks und suchte nach etwas. »Heute nacht holst du dir deine Zukunft zurück - und du wirst ein guter Schriftsteller sein.«

In einer Ecke stand ein Metallkasten von der Größe einer Aktentasche. Das Ding tickte.

»Was ist das?« fragte Joey.

»Ein Zähler, der anzeigt, welchen Gehalt an Kohlenmonoxid und anderen giftigen Gasen die Luft enthält. Das ist nur ein Zusatzgerät, weil dieses Zimmer nicht direkt über dem Keller liegt, wo der Hauptzähler installiert ist.«

»Kann das Ding Alarm auslösen?«

»Ja, wenn die Konzentration giftiger Dämpfe zu hoch ist.« Sie fand in der Schublade zwei Schachteln Munition und legte sie auf den Schreibtisch. »Jedes Haus in Coal Valley wurde schon vor Jahren damit ausgestattet.«

»Das ist ja fast so, als lebte man auf einer Bombe.«

»Ja, aber mit einer langen Zündschnur.«

»Warum seid ihr noch nicht ausgezogen?«

»Wegen der verdammten Bürokratie. Papierkram. Wenn man auszieht, bevor die Regierung einem den Kaufvertrag vorlegt, wird das Haus als leerstehend eingestuft, als öffentliche Gefahr, und dann bezahlen sie viel weniger.

Man muß hier leben und ein Risiko eingehen, wenn man einen halbwegs vernünftigen Preis für seine Immobilie erzielen möchte.«

Celeste öffnete eine Schachtel mit Munition. Joey griff nach der anderen. »Kannst du mit diesen Waffen umgehen?« fragte er.

»Ich gehe mit meinem Vater zum Tontaubenschießen und auf die Jagd, seit ich dreizehn bin.«

»Du siehst mir gar nicht nach einer Jägerin aus«, kommentierte er, während er die Schrotflinte lud.

»Ich habe noch nie ein Tier getötet. Ich ziele immer daneben.«

»Ist das deinem Vater nicht aufgefallen?«

»Das Komische an der Sache ist - auch er zielt immer daneben, ganz egal, ob er einen Hirsch oder irgendein Kleinwild im Visier hat. Aber er hat keine Ahnung davon, daß ich das weiß.«

»Und was für einen Sinn hat es dann, auf die Jagd zu gehen?«

Sie lud die andere Flinte und lächelte verklärt, als sie an ihren Vater dachte. »Er ist einfach gern im Wald, er liebt die frische Morgenluft, den Tannenduft - und das Zusammensein mit mir. Er sagt nie etwas, aber ich habe immer gespürt, daß er sich eigentlich einen Sohn gewünscht hätte. Bei meiner Geburt gab es Probleme, und Mom durfte keine Kinder mehr bekommen. Deshalb versuche ich für Dad manchmal ein bißchen den Sohn zu spielen. Er hält mich für einen richtigen Wildfang.«

»Du bist wirklich erstaunlich«, sagte Joey wieder.

Während sie Ersatzmunition in den diversen Taschen ihres Regenmantels verstaute, sagte sie: »Ich bin nur das, wozu ich bestimmt bin.«

Diese eigenartige Bemerkung erinnerte ihn an andere rätselhafte Dinge, die sie im Laufe des Abends gesagt hatte. Ihre Blicke trafen sich, und wieder sah er jene mysteriöse unergründliche Tiefe, die nicht zu ihrer Jugend paßte. Sie war das interessanteste Mädchen, das er je kennengelernt hatte, und er hoffte nur, daß sie auch in seinen Augen etwas Anziehendes entdeckte.

Während auch Joey Ersatzmunition in den Taschen seiner lammfellgefütterten Jacke verstaute, fragte Celeste: »Glaubst du, daß Beverly die erste war?«

»Die erste?«

»Die er jemals umgebracht hat.«

»Ich hoffe es ... aber ich weiß es nicht.«

»Ich glaube, daß es zuvor schon andere gegeben hat«, sagte sie ernst.

»Daß es nach jener Nacht, nach Beverly, andere gegeben haben muß, ist mir klar. Deshalb führt er auch dieses Zigeunerdasein. Der Poet der Highways, mein Gott! Das Vagabundenleben gefällt ihm, weil er auf diese Weise von einem Gerichtsbezirk in den anderen überwechseln kann. Verdammt, bisher ist es mir nie klargeworden, weil ich es einfach nicht sehen wollte, aber es ist das klassische soziopathologische Muster - der Einzelgänger auf den Straßen, ein Outsider, ein Fremder allerorten, fast unsichtbar. Wenn an einem Ort zu viele Leichen auftauchen, wird ein Verbrecher leicht geschnappt. P. J.s Genialität bestand darin, aus seinem rastlosen Umherschweifen einen Beruf zu machen, dadurch reich und berühmt zu werden, die perfekte Tarnung für den unstrukturierten Lebenswandel eines Massenmörders zu finden

- und sogar den Ruf zu erlangen, erhebende Geschichten über Liebe, Tapferkeit und Mitgefühl zu schreiben.«

»Aber das alles liegt in der Zukunft, jedenfalls aus meiner Sicht«, sagte Celeste. »Vielleicht ist es auch meine Zukunft oder unsere Zukunft. Oder nur irgendeine Zukunft. Ich weiß nicht einmal, ob es uns hilft, wenn wir darüber nachdenken.«

Joey hatte einen bitteren Geschmack im Mund - so als würde die Erkenntnis einer unangenehmen Wahrheit die gleiche Wirkung wie eine zerkaute Aspirintablette haben. »Ob es nun die einzig mögliche Zukunft war oder nicht - ich bin jedenfalls mitschuldig, daß er nach Beverly andere Mädchen umgebracht hat, weil ich ihm in jener Nacht hätte Einhalt gebieten können.«

»Deshalb bist du heute ja hier, zusammen mit mir - um all das ungeschehen zu machen. Nicht nur um mich zu retten, sondern auch alle, die ihm danach in die Hände fielen . und um dich selbst zu retten. Aber ich glaube, daß er auch schon vor Beverly Morde begangen haben muß. Er war einfach zu cool, als er dir die Geschichte erzählte, wie sie ihm angeblich ins Auto gerannt ist. Wenn es sein erster Mord gewesen wäre, hätte er nicht so kaltblütig reagiert, als du die Leiche im Kofferraum gefunden hast. Er muß daran gewöhnt sein, tote Frauen in seinem Wagen zu transportieren, während er nach einem sicheren Ort sucht, um sie loszuwerden. Er muß viel Zeit gehabt haben, um sich diese halbwegs plausible Geschichte auszudenken, für den Fall, daß jemand ihn einmal mit einer Leiche erwischen würde.«

Joey vermutete, daß sie recht hatte - genauso wie sie recht hatte, wenn sie sagte, daß nicht das Wetter an der unterbrochenen Telefonleitung schuld war.

Kein Wunder, daß er in Henry Kadinskas Kanzlei in wilde Panik geraten war, als der Anwalt ihm das Testament seines Vaters eröffnete. Das Geld stammte ursprünglich von P. J. Es war Geld, an dem Blut klebte, so wie an Judas’ dreißig Silberlingen. Geld vom Teufel höchstpersönlich wäre auch nicht schmutziger gewesen.

»Gehen wir«, sagte er.

13

Draußen hatte es aufgehört zu graupeln. Jetzt regnete es wieder. Die Eiskörner auf Gehwegen und Straßen schmolzen rasch und verwandelten sich in Matsch.

Joey war schon seit Stunden durchnäßt, aber im Grunde fror er seit zwanzig Jahren und war deshalb daran gewöhnt.

Schon auf dem Gartenpfad sah er, daß die Motorhaube des Mustang offenstand. Celeste leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein. Die Verteilerkappe fehlte.

»P. J.«, sagte Joey. »Er hat sich einen kleinen Spaß erlaubt.«

»Spaß!«

»Für ihn ist alles ein Spaß.«

»Ich glaube, daß er uns auch jetzt beobachtet.«

Joey blickte zu den leerstehenden Nachbarhäusern hinüber, zu den Bäumen, die im Wind rauschten, zu den Hügeln jenseits der Hauptstraße.

»Er ist irgendwo in unserer Nähe«, flüsterte Celeste ängstlich.

Joey war derselben Ansicht, doch bei diesem Wind und Regen war es unmöglich, seinen Bruder aufzuspüren.

»Okay«, sagte er, »jetzt müssen wir also zu Fuß gehen, aber das ist nicht weiter tragisch. Es ist ja ein kleiner Ort. Wer wohnt näher - die Dolans oder die Bimmers?«

»John und Beth Bimmer.«

»Und Johns Mutter.«

Sie nickte.

»Hannah, eine nette alte Frau.«

»Hoffen wir, daß wir nicht zu spät kommen«, sagte Joey.

»P. J. hatte genug damit zu tun, von der Kirche hierherzukommen, die Telefonleitungen zu kappen und die Verteilerkappe zu stehlen. Eigentlich kann er noch niemanden umgebracht haben.«

Trotzdem beeilten sie sich, kamen aber auf dem stellenweise noch vereisten und ansonsten matschigen Pflaster nicht so schnell voran, wie sie es sich gewünscht hätten.

Sie hatten erst einen halben Block hinter sich gebracht, als das unterirdische Rumpeln wieder begann, noch lauter als zuvor. Die Erde bebte, so als wäre der Bootsverkehr auf dem Styx eingestellt worden und alle Seelen würden jetzt mit lärmenden Zügen befördert.

Die Erschütterung und der Lärm dauerten aber auch diesmal höchstens eine halbe Minute, und es kam zu keiner katastrophalen Eruption der unterirdischen Feuer.

Die Bimmers wohnten in der North Avenue, die den Namen >Avenue< eigentlich nicht verdient hatte. Das Straßenpflaster war rissig und wellig - eine Folge des starken unterirdischen Drucks. Sogar in der Dunkelheit sahen die ursprünglich weißen Häuser so düster aus, als wären sie mit einer dicken Rußschicht überzogen. Manche Bäume waren verkrüppelt; andere waren abgestorben. Doch immerhin lag die North Avenue tatsächlich auf der Nordseite der Ortschaft.

Zwei Meter hohe Lüftungsrohre mit Schutzbarrieren aus Stacheldraht säumten eine Seite der Straße. Graue Rauchwolken stiegen daraus auf wie Geister, die sofort vom Wind zerfetzt wurden. Zurück blieb nur ein Gestank nach heißem Teer.

Das zweistöckige Haus der Bimmers war so schmal, als stünde es in einer Industriestadt wie Altona oder Johnstown, wo extremer Platzmangel herrscht. Dadurch sah es größer aus, als es war - und es wirkte unfreundlich.

Im Erdgeschoß brannte Licht.

Während sie die Verandastufen hinaufgingen, hörte Joey drinnen Musik und ein blechernes Lachen. Irgendeine Fernsehshow.

Er öffnete die Windfangtür aus Aluminium und Glas und klopfte an die hölzerne Haustür.

Im Hause lachte das imaginäre Studiopublikum schallend, und fröhliche Klavierklänge suggerierten den Leuten am Bildschirm zusätzlich, daß sie sich prächtig amüsierten.

Nach kurzem Zögern klopfte Joey noch einmal, diesmal lauter.

»Immer mit der Ruhe!« rief jemand.

Celeste atmete vor Erleichterung laut aus. »Sie sind wohlauf.«

Der Mann, der die Tür öffnete - John Bimmer -, mußte Mitte fünfzig sein; er hatte eine Glatze, umrahmt von einem schmalen Haarkranz. Sein Bierbauch hing über die Hose. Die Ringe unter den Augen, das fliehende Kinn und die weichen Gesichtszüge verliehen ihm das gutmütige Aussehen eines freundlichen alten Hundes.

Joey hielt die Schrotflinte nach unten, um Bimmer nicht zu erschrecken. »Sie sind ein ungeduldiger junger Bursche, stimmt’s?« sagte der Mann leutselig. Dann sah er Celeste und lächelte breit. »Hallo, Mädchen, der Zitronenkuchen, den du uns gestern gebracht hast, war wirklich köstlich.«

»Mr. Bimmer, wir .«

»Köstlich«, fiel er ihr ins Wort. Er trug ein Flanellhemd, das nicht zugeknöpft war, darunter ein weißes T-Shirt, und eine braune Hose mit Hosenträgern; und er klopfte sich auf den dicken Bauch, um zu demonstrieren, wie gut ihm der Kuchen geschmeckt hatte. »Ich habe Beth und Ma sogar davon probieren lassen, bevor ich ihn allein aufgegessen habe.«

Es gab einen lauten Knack, so als hatte der Wind einen großen Ast abgeknickt, aber es war kein Ast, und es hatte nichts mit dem Wind zu tun, denn gleichzeitig verfärbte sich John Bimmers T-Shirt blutrot, und sein sympathisches Lächeln verflog abrupt, während er durch die Wucht des Schusses nach hinten geschleudert wurde.

Joey stieß Celeste über die Schwelle und auf den Boden des Wohnzimmers. Dann ließ er sich neben sie fallen, rollte auf den Rücken und warf die Haustür mit solcher Wucht zu, daß zwei Bilder - John F. Kennedy und Papst Johannes XXIII. -sowie ein Bronzekruzifix an der Wand über dem Sofa schepperten.

Bimmer war mit solcher Wucht rückwärts geschleudert worden, daß er ihnen nicht einmal im Wege lag. Das bedeutete, daß es eine großkalibrige Waffe gewesen sein mußte, ein Jagdgewehr oder etwas Ähnliches.

Als die Tür zufiel, sprang Bimmers Frau in einem blauen Morgenrock und mit rosa Lockenwicklern in den Haaren vom Sessel auf; und als sie ihren blutüberströmten Mann und die beiden Schrotflinten sah, zog sie daraus einen logischen, aber falschen Schluß. Schreiend wollte sie davonrennen.

»Werfen Sie sich auf den Boden!« schrie Joey, und Celeste rief: »Beth, duck dich!«

Doch Beth Bimmer wollte in blinder Panik in die hinteren Zimmer flüchten. Dabei rannte sie an einem Fenster vorbei. Es implodierte mit einem unpassend fröhlichen, glockenartigen Klirren. Der Schuß in die Schläfe riß ihren Kopf so brutal zur Seite, daß er ihr fast auch noch das Genick gebrochen hätte, und während das imaginäre Publikum im Fernseher wieder schallend lachte, stürzte sie zu Boden, zu Füßen einer vogelartig aussehenden alten Frau in gelbem Jogginganzug, die auf dem Sofa saß.

Die alte Frau mußte Bimmers Mutter Hannah sein, aber ihr blieb keine Zeit, um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu trauern, denn zwei von den drei folgenden Schüssen durch das zerbrochene Fenster, das jetzt nicht mehr heiter klirren konnte, töteten sie auf der Stelle, noch während sie mit einer gichtigen Hand nach ihrem Stock griff, noch bevor Joey und Celeste ihr eine Warnung zurufen konnten.

Es war Oktober 1975, und der Vietnamkrieg war im April zu Ende gegangen, aber Joey hatte das Gefühl, als befände er sich in einer jener vietnamesischen Kampfszene, die während seiner ganzen Jugend im Mittelpunkt der Fernsehnachrichten gestanden hatten. Der plötzliche sinnlose Tod dreier Menschen hätte ihn vielleicht trotzdem in fatale Unentschlossenheit und Schreckensstarre verfallen lassen, wenn er nicht in Wirklichkeit ein vierzigjähriger Mann im Körper eines Zwanzigjährigen gewesen wäre, und diese zusätzlichen zwanzig Jahre Erfahrung hatte er in einer Zeit gesammelt, da plötzliche sinnlose Gewalttaten immer mehr Überhand genommen hatten. Als Kind der letzten Jahrzehnte unseres Jahrtausends konnte er brutale Bluttaten relativ gut verkraften.

Das Wohnzimmer war lichterfüllt, was Celeste und ihn zu prächtigen Zielscheiben machte, und deshalb rollte er sich seitlich ab und schoß auf eine Stehlampe aus Messing mit Stoffschirm. Der Knall der Schrotflinte in dem kleinen Raum war ohrenbetäubend, aber Joey feuerte trotzdem auch auf die beiden kleinen Lampen, die auf den Beistelltischchen neben dem Sofa standen.

Celeste verstand seine Intention und schoß ihrerseits in den TV-Bildschirm. Sofort wurde es still im Zimmer, und der Pulvergeruch wurde vom durchdringenden Gestank ruinierter Elektronik überlagert.

»Bleib in Bodennähe, unterhalb der Fenster«, wies Joey sie mit gedämpfter Stimme an, die sich so anhörte, als spräche er durch einen dicken Wollschal. Daß seine Stimme bebte, war trotzdem nicht zu überhören. Er war zwar durch den Irrsinn abgehärtet, der im ausgehenden 20. Jahrhundert Menschen in wilde Bestien verwandelte, aber dennoch hatte er das Gefühl, als würde er vor Angst gleich in die Hose machen. »Kriech an den Wänden entlang zu irgendeiner Türschwelle - nur raus aus diesem Zimmer!«

Während auch er selbst im Dunkeln über den Boden kroch, fragte Joey sich, welche Rolle ihm in dem alptraumhaften Szenarium seines Bruders zugedacht war. Falls Celestes Eltern aus Asherville zurückkehrten, konnte P. J. sie wie alle anderen Einwohner von Coal Valley erschießen, und dann hätte er die zwölf Leichen beisammen, die er für sein abartiges Bühnenstück benötigte. Aber er mußte auch für Joey irgendeine Verwendung haben. Schließlich hatte er den Mustang auf der Bundesstraße überholt und an der Coal Valley Road absichtlich gewartet, ob Joey seine Herausforderung annehmen würde. Obwohl er Greueltaten beging, die jeder normale Mensch nur mit Wahnsinn erklären könnte, verhielt P. J. sich ansonsten keineswegs irrational. Sogar seine mörderischen Phantasien zeugten von einem ausgeprägten Sinn für Struktur, mochten sie auch noch so grotesk sein.

In der Küche der Bimmers brannte kein Licht, und die grüne Leuchtscheibe der Zeitschaltuhr am Herd vermochte den Raum kaum zu erhellen, doch Joey sah genug. Zwei Fenster. Eines über der Spüle, das andere neben dem Frühstückstisch. Die Vorhänge waren nicht geschlossen. Was aber viel wichtiger war - die Fenster hatten Jalousien, die zur Hälfte heruntergelassen waren.

Joey stand neben dem Frühstückstisch vorsichtig auf, den Rücken an die Wand gepreßt, und ließ die Jalousie vollends herunter.

Vor Anstrengung und Angst keuchend, war er groteskerweise davon überzeugt, daß P. J. das Haus umrundet hatte und jetzt draußen direkt hinter ihm stand, daß P. J. trotz des Windes und Regens seine lauten Atemzüge hören konnte, daß P. J. ihn durch die Wand hindurch erschießen würde. Doch als dieser Schuß in seinen Rücken ausblieb, beruhigte er sich etwas.

Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Celeste am Boden geblieben wäre, doch sie riskierte eine Kugel in den Arm, um die Jalousie über der Spüle zu schließen.

»Bist du okay?« fragte er, als sie sich in der Mitte der Küche trafen. Obwohl die beiden Fenster jetzt gesichert waren, knieten sie.

»Sie sind alle tot, stimmt’s?« flüsterte sie tonlos.

»Ja.«

»Alle drei.«

»Ja.«

»Ist es nicht möglich ...?«:

»Nein. Sie sind tot.«

»Ich habe sie mein Leben lang gekannt.«

»Tut mir leid.«

»Als ich klein war, hat Beth bei mir Babysitter gespielt.«

Das gespenstische grüne Licht vom Herd ließ die Küche der Bimmers schimmern, so als befände sie sich unter Wasser oder an irgendeinem unwirklichen Ort außerhalb von Zeit und Raum. Doch nicht einmal dieses Licht vermochte Joey eine gewisse Distanz zu dem gräßlichen Geschehen zu geben. Sein Magen flatterte, und seine Kehle war wie zugeschnürt.

Während er mit zittrigen Fingern Ersatzmunition aus der Tasche holte, sagte er leise: »Es ist meine Schuld.«

»Nein! Er wußte, wo sie waren, wo er sie finden konnte. Er weiß genau, wer noch hier wohnt. Wir haben ihn nicht hierhergeführt. Er wäre auf jeden Fall gekommen.«

Die Patronen fielen Joey aus den steifen Fingern, und er beschloß, mit dem Nachladen zu warten, bis er nicht mehr so aufgeregt war.

Er wunderte sich, daß sein Herz noch schlug, denn es fühlte sich in seiner Brust wie kaltes Eisen an.

Sie lauschten in die mörderische Nacht hinein, warteten darauf, daß eine Tür langsam geöffnet würde oder daß zerbrochenes Glas unter Schritten knirschte.

Schließlich murmelte Joey: »Wenn ich gleich den Sheriff gerufen hätte, nachdem ich die Leiche im Kofferraum gefunden hatte, wären diese drei Menschen jetzt nicht tot.«

»Das darfst du dir nicht zum Vorwurf machen.«

»Wem sollte ich denn sonst einen Vorwurf daraus machen, verdammt noch mal?« Er bedauerte sofort, so barsch reagiert zu haben, und als er weiterredete, war seine Stimme zwar bitter, aber sein Zorn war nicht gegen Celeste gerichtet, sondern nur gegen sich selbst. »Ich wußte genau, was das Richtige gewesen wäre, und ich habe es nicht getan.«

»Hör zu.« Sie griff nach seiner Hand. »Das habe ich nicht gemeint, als ich sagte, du dürftest dir keine Vorwürfe machen. Überleg doch mal, Joey - den Fehler, den Sheriff nicht zu rufen, hast du vor zwanzig Jahren gemacht, aber nicht heute Abend, denn deine zweite Chance begann nicht vor eurem Haus, sie begann nicht in dem Augenblick, als du die Leiche gefunden hast. Sie begann erst an der Abzweigung zur Coal Valley Road. Stimmt’s?«

»Naja .«

»Du hattest keine zweite Chance, ihn dem Sheriff auszuliefern.«

»Aber vor zwanzig Jahren hätte ich .«

»Das ist Vergangenheit, eine schreckliche Vergangenheit, mit der du leben mußt. Aber jetzt ist nur wichtig, was heute geschieht, welche Entscheidungen du heute triffst, nachdem du diesmal den richtigen Highway eingeschlagen hast.«

»Bis jetzt habe ich nicht viel zustande gebracht. Drei Tote liegen nebenan.«

»Diese Menschen wären auf jeden Fall gestorben«, argumentierte Celeste. »Wahrscheinlich sind sie gestorben, als du diese Nacht zum erstenmal durchlebt hast. Das ist schlimm, es ist schmerzhaft, aber es sieht so aus, als wäre es ihnen bestimmt gewesen. Du konntest nichts daran ändern.«

Ihre Worte trösteten Joey nicht. Ganz im Gegenteil, sie stürzten ihn in noch tiefere Verzweiflung. »Was ist dann der Sinn dieser zweiten Chance, wenn ich keine Menschenleben retten kann?«

»Vielleicht wirst du andere retten können, bevor die Nacht vorbei ist?«

»Aber warum nicht alle? Ich verpatze wieder das Ganze.«

»Hör auf, dich zu quälen. Es liegt nicht in deiner Macht zu entscheiden, wie viele Menschen du retten kannst, wie sehr du das Schicksal verändern kannst. Vielleicht bekamst du diese zweite Chance überhaupt nicht, um irgend jemanden zu retten.«

»Dich ausgenommen.«

»Vielleicht nicht einmal mich. Vielleicht kann auch ich nicht gerettet werden.«

Ihre Worte verschlugen ihm die Sprache. Sie hörte sich so an, als könnte sie die Möglichkeit ihres eigenen Todes gleichmütig akzeptieren - während die Vorstellung, sie nicht retten zu können, Joey fast das Herz zerriß.

»Vielleicht stellt sich heraus, daß du heute Nacht nur eines vollbringen kannst: P. J. das Handwerk legen. Ihn daran hindern, weitere zwanzig Jahre lang einen Mord nach dem anderen zu verüben. Vielleicht ist das das einzige, was von dir erwartet wird, Joey. Nicht, mich zu retten. Nicht, irgend jemanden zu retten. Nur, P. J. daran zu hindern, noch schlimmere Taten zu verüben als jene, die er in dieser Nacht verüben wird. Vielleicht ist das alles, was Gott von dir will.«

»Es gibt hier keinen Gott. Es gibt heute Nacht keinen Gott in Coal Valley.«

Sie grub ihre Fingernägel in seine Haut. »Wie kannst du so etwas sagen!«

»Du brauchst dir nur die Leute im Wohnzimmer anzuschauen.«

»Das ist töricht.«

»Wie kann ein gnädiger Gott Menschen auf diese Weise sterben lassen?«

»Klügere Menschen als wir haben versucht, diese Frage zu beantworten.«

»Und können es nicht.«

»Aber das bedeutet noch lange nicht, daß es keine Antwort gibt«, entgegnete sie zornig und ungeduldig. »Joey, wer sollte dir denn die Chance gegeben haben, diese Nacht noch einmal zu durchleben, wenn nicht Gott?«

»Ich weiß nicht«, murmelte er kläglich.

»Glaubst du vielleicht, daß es Rod Serling war und du dich jetzt in der Twilight Zone befindest?« provozierte sie ihn.

»Nein, natürlich nicht.«

»Wer dann?«

»Vielleicht war es nur ... nur eine physikalische Anomalie. Eine zufällige Falte in der Zeit. Eine Energiewelle. Unerklärlich und bedeutungslos. Ich weiß es nicht. Woher zum Teufel soll ich es wissen?«

»Oh, ich verstehe. Nur ein technischer Defekt in der großen kosmischen Maschinerie«, sagte sie sarkastisch und ließ seine Hand los.

»Immer noch vernünftiger als Gott.«

»Wir sind also nicht in der Twilight Zone, sondern mit Captain Kirk an Bord von Raumschiff Enterprise, werden von Energiewellen angegriffen und in Zeitkrümmungen katapultiert.«

Er schwieg.

»Erinnerst du dich noch an Star Trek? Erinnert sich irgend jemand in eurem Jahr 1995 noch daran?«

»Erinnern? Verdammt, General Motors könnte auf den Erfolg von Star Trek neidisch werden!«

»Gehen wir doch einmal ganz kühl und logisch an das Problem heran, okay? Wenn diese erstaunliche Sache, die dir passiert ist, ein bedeutungsloser Zufall war - warum hat dich diese Zeitfalte oder -krümmung nicht an irgendeinen langweiligen Tag zurückversetzt, als du acht Jahre alt und schwer erkältet warst? Oder warum nicht in eine Nacht vor einem Monat, als du halb betrunken in Las Vegas in deinem Wohnwagen gesessen bist und dir im Fernsehen alte Road Runner-Cartoons angeschaut hast? Glaubst du, irgendeine zufällige physikalische Anomalie hätte dich ausgerechnet in die wichtigste Nacht deines Lebens zurückversetzt, in jene Nacht aller Nächte, als dein Leben eine irreparable Wendung nahm, hin zu Hoffnungslosigkeit und innerer Leere?«

Ihr zuzuhören hatte ihn beruhigt, wenn auch nicht aufgeheitert. Endlich konnte er die heruntergefallenen Patronen aufheben und die Schrotflinte nachladen.

»Vielleicht durchlebst du diese Nacht noch einmal«, fuhr sie fort, »nicht um irgend etwas zu tun, nicht um Leben zu retten, P. J. das Handwerk zu legen und ein Held zu sein, sondern nur um wieder glauben zu lernen.«

»Woran?«

»Daran, daß die Welt eine Bedeutung und das Leben einen Sinn hat.«

Manchmal schien sie seine Gedanken lesen zu können. Mehr als alles andere wünschte Joey sich, wieder an etwas glauben zu können - wie früher als Ministrant. Aber er schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Er erinnerte sich daran, wie wundergläubig er vor kurzem gewesen war, als er festgestellt hatte, daß er wieder zwanzig war, wie dankbar er jemandem - wem? - für diese zweite Chance gewesen war. Doch nun fiel es ihm schon wieder leichter, an die Twilight Zone oder einen glücklichen Zufall der Quantenmechanik als an Gott zu glauben.

»Glauben«, sagte er. »Das wollte auch P. J. von mir. Ich sollte einfach an ihn glauben, an seine Unschuld, ohne irgendwelche Beweise. Und ich habe es getan. Ich habe an ihn geglaubt. Und wohin hat es mich gebracht?«

»Vielleicht war es gar nicht der Glaube an P. J., der dein Leben ruiniert hat.«

»Geholfen hat mir dieser Glaube jedenfalls nicht.«

»Vielleicht bestand dein Hauptproblem darin, daß du an nichts anderes geglaubt hast.«

»Ich war einmal Ministrant«, sagte er. »Doch dann wurde ich erwachsen. Und erwarb Wissen.«

»Nachdem du ja eine Weile im College warst, sagt dir das Wort >Sophistik< bestimmt etwas. Es trifft genau die Denkweise, die du noch immer hast.«

»Du bist wirklich weise, was? Du weißt alles.«

»Nein, ich bin alles andere als weise. Aber mein Dad sagt, es sei der Beginn der Weisheit zuzugeben, daß man nicht alles weiß.«

»Dein Dad, der Herr Direktor einer Kleinstadt-High School ist also plötzlich ein berühmter Philosoph?«

»Jetzt bist du gemein«, sagte sie ruhig.

Nach einer Weile murmelte er: »Entschuldigung.«

»Vergiß nicht das Zeichen, das ich erhalten habe. Mein Blut an deinen Fingerspitzen. Wie sollte ich da nicht glauben? Was aber wichtiger ist - wie kannst du nach diesem Geschehen nicht glauben? Du hast es doch selbst ein Zeichen genannt.«

»Ich habe nicht nachgedacht, sondern rein emotional reagiert. Wenn man sich die Zeit nimmt nachzudenken, jene kühle Logik anzuwenden, von der du vorhin gesprochen hast .«

»Wenn man zuviel über etwas nachdenkt, kann man nicht daran glauben. Du hast gesehen, wie ein Vogel durch die Luft flog - und sobald er außer Sicht ist, kannst du nicht beweisen, daß es ihn je gegeben hat. Woher willst du überhaupt wissen, daß es Paris gibt - bist du jemals dort gewesen?«

»Andere Leute sind in Paris gewesen. Ich glaube ihnen.«

»Andere Leute haben Gott gesehen.«

»Nicht so, wie man Paris sehen kann.«

»Es gibt verschiedene Arten des Sehens. Und vielleicht sind weder deine Augen noch eine Kodakkamera die beste Art.«

»Wie kann jemand an einen Gott glauben, der grausam genug ist, drei unschuldige Menschen auf so grausame Weise sterben zu lassen?«

»Wenn der Tod nicht das Ende ist«, sagte sie, ohne zu zögern, »wenn er nur der Übergang von einer Welt in die nächste ist, muß es nicht unbedingt grausam sein zu sterben.«

»Es ist so leicht für dich«, sagte Joey neidisch. »So leicht, einfach zu glauben.«

»Es könnte auch für dich leicht sein.«

»Nein.«

»Du brauchst nur zu bejahen.«

»Es ist nicht leicht für mich«, beharrte er.

»Warum glaubst du dann überhaupt, daß du diese Nacht ein zweites Mal durchlebst? Warum sagst du dir nicht einfach, daß es nur ein blöder Traum ist, drehst dich auf die andere Seite, schläfst weiter und wachst am nächsten Morgen auf?«

Er antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen?

Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, kroch er zum Wandtelefon und nahm den Hörer ab. Kein Ton.

»Es kann gar nicht funktionieren«, sagte Celeste sarkastisch.

»Was?«

»Es kann nicht funktionieren, weil du Zeit hattest, darüber nachzudenken, und jetzt erkennst du: Du hast keine Möglichkeit zu beweisen, daß es überhaupt jemanden gibt, den du anrufen könntest. Und wenn man nicht zweifelsfrei beweisen kann, hier und gleich, daß andere Menschen existieren, dann existieren sie nicht. Auch dieses Wort mußt du im College gehört haben. >Solipsismus<. Theorie, daß außer dem eigenen Ich nichts beweisbar ist, daß nur das eigene Ich wirklich ist und alle anderen Ichs nur dessen Vorstellungen sind.«

Joey ließ den Hörer einfach an der Schnur baumeln, lehnte sich an den Küchenschrank und lauschte dem Wind, dem Regen, der Totenstille.

Schließlich sagte Celeste: »Ich glaube nicht, daß P. J. ins Haus kommen wird, um uns zu töten.«

Joey war zu derselben Ansicht gelangt. P. J. wollte sie nicht umbringen. Noch nicht. Später. Sonst hätte er sie mühelos auf der Veranda erschießen können, als sie mit dem Rücken zu ihm im Licht standen. Statt dessen hatte er sorgfältig zwischen ihnen hindurch auf John Bimmer gezielt und den Mann mit einem Schuß ins Herz ermordet.

Aus irgendwelchen perversen Gründen wollte P. J. offenbar, daß sie Zeugen der Ermordung aller anderen Einwohner von Coal Valley wurden, bevor er auch sie umbrachte. Offenbar sollte Celeste der zwölfte Apostel in der Kirche werden.

Und ich? fragte Joey sich wieder. Was hast du mit mir im Sinn, großer Bruder?

14

Die Küche der Bimmers war sehr sauber und kalt, mit Linoleumboden und Kunststoffschränken. Joey konnte es kaum erwarten, diesen Ort verlassen. Es mußte etwas geben, was er tun konnte, um P. J. Einhalt zu gebieten.

Glatter Wahnsinn wäre es, zu den Dolans zu gehen, um die fünf Menschen zu warnen. Celeste und er würden nur Zeugen weiterer Morde werden.

Vielleicht könnten sie irgendwie ins Haus gelangen, ohne daß jemand an der Haustür oder an den Fenstern erschossen wurde. Vielleicht könnten sie die Dolans sogar von der Gefahr überzeugen und zusammen mit ihnen das Haus in eine Festung verwandeln. Doch dann könnte P. J. ein Feuer legen, und sie würden entweder verbrennen oder in die Nacht hinausrennen, nur um erschossen zu werden.

Wenn die Dolans in ihre Garage gelangen konnten, ohne das Haus verlassen zu müssen, würde P. J. auf die Reifen ihres Autos schießen, sobald sie auf der Straße waren, und wenn sie dann hilflos im Wagen saßen, würde er sie ermorden.

Joey kannte die Dolans nicht, und es fiel ihm schwerer, als er geglaubt hatte, an ihre Existenz zu glauben. Es wäre so einfach, hier in der Küche sitzen zu bleiben, nichts zu tun, die Dolans - falls sie existierten - ihrem Schicksal zu überlassen und nur an die grünen Schatten um ihn herum zu glauben, an den schwachen Zimtgeruch und an das starke Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee, an das harte Holz hinter seinem Rücken, an den Fußboden unter ihm und an das Summen des Kühlschranks.

Als er vor zwanzig Jahren seine Augen vor den grausigen Beweisen für die Schuld seines Bruders verschlossen hatte, war er ebenfalls außerstande gewesen, all die folgenden Opfer für möglich zu halten. Ohne ihre blutüberströmten Gesichter und ihre verstümmelten Körper aufeinandergestapelt vor sich zu sehen, waren sie für ihn genauso unwirklich gewesen wie die Bürger von Paris es für einen Anhänger des Solipsismus sind. Wie viele Menschen mochte P. J. in diesen zwanzig Jahren ermordet haben? Zwei pro Jahr, also insgesamt vierzig? Nein, das war zu niedrig angesetzt. So selten zu morden wäre eine viel zu kleine Herausforderung gewesen, hätte zu wenig Spannung geboten. Mehr als ein Mord pro Monat, zwanzig Jahre lang? Zweihundertfünfzig Opfer: gefoltert, verstümmelt, von einem Ende des Landes zum anderen an irgendwelchen Nebenstraßen deponiert oder vergraben? P. J.s Energie hätte dafür ohne weiteres ausgereicht. Indem er sich geweigert hatte, an kommende Greueltaten zu glauben, hatte Joey dafür gesorgt, daß sie geschehen würden.

Zum erstenmal wurde er sich des ganzen Ausmaßes an Verantwortung und Schuld bewußt, die er auf sich geladen hatte. Sein Stillschweigen in jener längst vergangenen Nacht hatte zu einem solchen Triumph des Bösen geführt, daß er jetzt unter dieser Bürde fast zusammenbrach.

Die Konsequenzen von Untätigkeit konnten schlimmer sein als die Konsequenzen irgendeines Handelns.

»Er möchte, daß wir zu den Dolans gehen, damit ich zusehen muß, wie sie umgebracht werden«, sagte er mit belegter Stimme. »Wenn wir nicht zu ihnen gehen, gewähren wir ihnen vielleicht wenigstens einen kleinen Zeitaufschub.«

»Aber wir können nicht einfach hier herumsitzen«, erwiderte Celeste.

»Nein, denn früher oder später wird er sie sowieso umbringen.«

»Früher«, prophezeite sie.

»Solange er uns hier beobachtet und darauf wartet, daß wir das Haus verlassen, müssen wir etwas Unerwartetes tun, etwas, das ihn so neugierig macht, daß er sich an unsere Fersen heftet, anstatt zu den Dolans zu gehen, etwas Überraschendes und Verwirrendes.«

»Beispielsweise?«

Der summende Kühlschrank. Der Regen. Kaffee, Zimt. Die tickende Zeitschaltuhr.

»Joey?«

»Es ist so schwierig, sich etwas vorzustellen, was ihn verblüffen könnte«, sagte er kläglich. »Er ist so ungeheuer selbstsicher, so verwegen.«

»Das kommt daher, weil er an etwas glaubt.«

»P. J. glaubt an etwas?«

»Ja - an sich selbst. Dieser Wahnsinnige glaubt an sich, an seine Schläue, an seinen Charme, seine Intelligenz, seine Bestimmung. Das ist keine großartige Religion, aber er glaubt leidenschaftlich an sich selbst, und das gibt ihm mehr als nur Selbstvertrauen. Es gibt ihm Macht.«

Celestes Worte elektrisierten Joey, aber er begriff nicht sofort, warum. Doch dann sagte er aufgeregt: »Du hast recht -er glaubt wirklich an etwas. Aber nicht nur an sich selbst. Er glaubt auch an etwas anderes. Woran, das liegt eigentlich auf der Hand. Ich wollte es mir nur nicht eingestehen. Er glaubt, er ist ein echter Gläubiger, und wenn wir uns dieses Glaubens bedienen, können wir ihn vielleicht aus der Fassung bringen.«

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Celeste bekümmert.

»Ich erkläre es dir später. Jetzt haben wir dazu keine Zeit. Du mußt hier in der Küche nach Kerzen und Streichhölzern suchen. Und füll irgendeine leere Flasche oder ein Glas mit Wasser.«

»Wozu?«

Joey stand auf, hielt sich aber geduckt. »Such einfach nach den Sachen. Ich muß die Taschenlampe mitnehmen. Wenn du mehr Licht brauchen solltest, öffne die Kühlschranktür, aber schalt nicht die Deckenlampe ein. Im hellen Licht würdest du einen Schatten von innen auf die Jalousien werfen, und falls er es satt haben sollte, so lange auf uns zu warten, könnte er doch noch schießen.«

»Wohin gehst du?« fragte Celeste.

»Ins Wohnzimmer und nach oben. Ich brauche verschiedene Sachen.«

»Was denn?«

»Das wirst du später sehen.«

Im Wohnzimmer knipste er die Taschenlampe zweimal ganz kurz an, um sich zu orientieren und nicht über die drei Leichen zu stolpern. Der zweite Lichtstrahl traf Beth Bimmers weit aufgerissene Augen: Sie blickte auf etwas jenseits der Decke, jenseits des Daches, jenseits der Sturmwolken und sogar jenseits des Polarsterns.

Um das Kruzifix abnehmen zu können, mußte er neben der Leiche der alten Frau auf das Sofa steigen. Der lange Nagel war nicht einfach in die Wand, sondern in einen Balken getrieben worden, und der Nagelkopf war größer als der Messingaufhänger des Kruzifixes. Es war harte Arbeit, den störrischen Nagel aus dem Balken zu ziehen, und während er sich im Dunkeln abmühte, befürchtete er, daß Hannahs Leichnam gegen seine Bein kippen könnte. Doch schließlich hielt er das Kreuz in der Hand und stieg auf den Boden hinab, ohne mit ihm in Berührung gekommen zu sein. Wieder knipste er die Taschenlampe zweimal kurz an, und schon war er auf der Treppe.

Im ersten Stock gab es drei kleine Zimmer und ein Bad.

Wenn P. J. draußen wartete, wurde seine Neugier vielleicht durch Joeys Erkundung des Hauses geweckt, die er anhand des kurzen Aufleuchtens der Taschenlampe verfolgen konnte.

Trotz ihres Alters und ihres Gehstocks hatte auch Hannah hier oben geschlafen, und in ihrem Zimmer fand Joey, was er brauchte. Auf einem dreibeinigen Tischchen, das die Form eines Kuchenstücks hatte, stand eine Marienstatue aus Keramik: Etwa 25 cm hoch, mit einer eingebauten Drei-WattBirne am Sockel, die einen Lichtschleier über die heilige Jungfrau warf. Davor standen drei ewige Lichter in rubinroten Gläsern.

Joey vergewisserte sich, daß die Bettlaken weiß waren, zog sie ab und verstaute die Statue und andere Gegenstände darin.

Mit seinem Bündel ging er wieder ins Erdgeschoß.

Der Wind drang durch das zerbrochene Wohnzimmerfenster ungehindert herein und blähte die Vorhänge. Joey blieb nervös einen Moment am Fuß der Treppe stehen, bis er ganz sicher war, daß sich am Fenster außer den Stoffbahnen nichts bewegte.

Die Toten blieben tot, und trotz der eindringenden Nachtluft stank es im Zimmer nach Blut - wie in dem Kofferraum mit der ermordeten Blondine.

In der Küche war die Kühlschranktür einen Spalt breit geöffnet, und in diesem kalten Licht durchsuchte Celeste die Schränke. »Ich habe eine leere Flasche gefunden und mit Wasser gefüllt«, berichtete sie. »Auch Streichhölzer, aber keine Kerzen.«

»Such weiter«, sagte Joey, während er sein Bündel auf den Boden legte.

Außer den Türen zum Eßzimmer und zur hinteren Veranda gab es noch eine dritte. Joey öffnete sie, und der schwache Geruch von Benzin und Motorenöl verriet ihm sofort, daß er die Garage gefunden hatte.

»Ich bin gleich zurück.«

Die Taschenlampe zeigte ihm, daß das einzige Garagenfenster an der hinteren Wand mit Wachstuch verhüllt war. Er machte Licht.

Ein alter, aber gepflegter Pontiac stand in der Garage.

Neben einer Werkbank stand ein unverschlossener Schrank voller Werkzeuge. Joey wählte den schwersten von drei Hämmern aus und suchte nach Nägeln der richtigen Größe.

Als er in die Küche zurückkam, hatte Celeste sechs Kerzen gefunden. Beth Bimmer hatte sie vermutlich gekauft, um an Weihnachten den Eßtisch zu dekorieren. Sie waren etwa 15 cm hoch und 7 cm dick: drei rote, drei grüne, alle mit Lorbeeraroma.

Schlichte weiße Kerzen wären Joey lieber gewesen, aber er mußte sich mit dem zufriedengeben, was vorhanden war. Er schnürte das Bündel aus Bettlaken auf und legte die Kerzen und Streichhölzer, den Hammer und die Nägel zu den anderen Gegenständen.

»Was soll das alles?« fragte Celeste.

»Wir werden seine Hirngespinste ausnützen.«

»Welche Hirngespinste?«

»Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Du wirst es bald sehen. Komm.«

Celeste trug ihre Schrotflinte und die Wasserflasche. Joey trug sein Bündel in der einen Hand und die Schrotflinte in der anderen. Wenn jetzt Gefahr drohte, würden sie nicht schnell genug schießen können, um ihr Leben zu retten, doch Joey vertraute auf den Wunsch seines Bruders, noch eine Weile mit ihnen Katz und Maus zu spielen. P. J. genoß bestimmt ihre Angst, weidete sich daran.

Sie verließen das Haus durch die Vordertür - entschlossen, ohne zu zögern. Ihr Verhalten mußte P. J.s Aufmerksamkeit erregen und seine Neugier wecken. Insgeheim fürchtete Joey sich jedoch vor einem Schuß aus dem Dunkeln; wobei die Vorstellung, daß Celestes schönes Gesicht plötzlich zerstört werden könnte, viel schlimmer war als die Angst um sein eigenes Leben.

Sie gingen die Verandastufen hinab und wandten sich am Ende des Gartenpfades nach links, in Richtung Coal Valley Road. Es regnete immer noch.

Die Lüftungsrohre entlang der North Avenue zischten plötzlich, als würden tausend Gasöfen gleichzeitig eingeschaltet. Gelbe Feuersäulen, mit Blau durchsetzt, schossen aus allen Rohren empor.

Celeste schrie auf.

Joey ließ das Bündel fallen, packte die Schrotflinte mit beiden Händen, drehte sich nach links, nach rechts. Er war so nervös, daß er fast glaubte, P. J. könnte irgendwie für diesen Ausbruch der unterirdischen Feuer verantwortlich sein.

Doch falls P. J. irgendwo in der Nähe war, ließ er sich nicht blicken.

Die Flammen schossen mit so hohem Druck aus den Rohren hervor, daß der Sturmwind sie erst ein bis anderthalb Meter darüber auszublasen vermochte. Die Erde bebte diesmal nicht, aber die aus dem Erdinnern entweichenden Gase verursachten ein Tosen, das in Joeys Knochen vibrierte. Seltsamerweise hörte sich das Geräusch irgendwie wütend an, so als würde es nicht von Naturgewalten verursacht, sondern von irgendeinem in diesem Inferno gefangenen Koloß.

»Was ist das?« fragte Joey. Er mußte schreien, obwohl Celeste dicht neben ihm stand.

»Keine Ahnung.«

»Hast du so was schon einmal erlebt?«

»Nein!« Sie blickte ängstlich, doch zugleich auch fasziniert um sich.

Das Dröhnen, Pfeifen, Knurren und Kreischen aus den Rohren hallte von den verrußten Mauern der leerstehenden Häuser und von den Fenstern wider, die so dunkel wie blinde Augen waren.

Die Flammen erzeugten gigantische Schatten, die durch die North Avenue huschten, so als wäre eine Kolonne Dinosaurier oder Mammuts unterwegs.

Joey nahm sein Bündel wieder auf. Er hatte das Gefühl, als bliebe ihnen nicht mehr viel Zeit. »Komm, beeil dich.«

Während sie durch die tiefen Pfützen zur Coal Valley Road rannten, endete der Feuerausbruch genauso plötzlich, wie er begonnen hatte. Das unheimliche Licht zuckte noch einige Male und verschwand. Die Schatten der prähistorischen Tiere lösten sich in der Dunkelheit auf.

Der Regen verdampfte sofort, wenn er mit den glühend heißen Rohren in Berührung kam, und dabei entstand ein zischendes Geräusch. Man hätte glauben können, Coal Valley würde von Abertausenden Schlangen heimgesucht.

15

Die Kirchentüren waren noch immer weit geöffnet, und die Lampen spendeten warmes Licht.

Sobald sie in der Vorhalle standen, schloß Joey die schweren Türflügel. Die Angeln quietschten so laut, wie er erwartet hatte. Wenn P. J. ihnen folgte, würde er die Kirche jetzt nicht mehr lautlos betreten können.

Am Eingang zum Kirchenschiff deutete Joey auf das Marmorbecken, das so weiß wie ein uralter Totenschädel war -und genauso trocken. »Leer die Flasche aus.«

»Warum?«

»Tu’s einfach«, bat er eindringlich.

Celeste lehnte ihre Schrotflinte an die Wand und schraubte die Halbliterflasche auf. Das Wasser platschte und gurgelte ins Becken.

»Nimm die leere Flasche mit«, sagte Joey. »Er darf sie nicht sehen.«

Er ging Celeste voraus, den Mittelgang entlang, durch das niedrige Altargitter, in den Chor.

Beverly Korshaks Leichnam lag, in Plastik gehüllt, immer noch auf dem Altarsockel.

»Was jetzt?« fragte Celeste, die ihm dicht auf den Fersen geblieben war.

Joey legte sein Bündel hinter der Toten ab. »Hilf mir, sie wegzuschaffen.«

Celeste schnitt eine Grimasse. »Wohin denn?«

»In die Sakristei. Sie darf nicht hier im Heiligtum liegen. Es ist eine Entweihung der Kirche.«

»Das ist keine Kirche mehr«, brachte sie ihm in Erinnerung.

»Es wird bald wieder eine sein.«

»Wovon redest du?«

»Wenn wir fertig sind, wird es wieder eine Kirche sein.«

»Das steht doch gar nicht in unserer Macht. Dazu bedarf es eines Bischofs, soviel ich weiß.«

»Offiziell sind wir natürlich nicht dazu berechtigt, aber vielleicht genügt eine Bühnendekoration, um P. J.s krankhafte Phantasie zu beeinflussen. Celeste, bitte hilf mir.« Widerwillig gehorchte sie, und sie trugen die Leiche gemeinsam aus dem Altarraum und legten sie behutsam in eine Ecke der Sakristei, jenes kleinen Raumes, in dem die Priester sich einst für die Messe angekleidet hatten.

Bei ihrem ersten Besuch in der Sakristei hatten sie die Tür nach draußen offen vorgefunden. Joey hatte sie geschlossen und verriegelt. Er überzeugte sich jetzt davon, daß sie immer noch verriegelt war.

Eine weitere Tür führte in den Keller. Joey spähte in die Dunkelheit hinab. »Du bist doch von klein auf in diese Kirche gegangen, stimmt’s? Gibt es von draußen einen direkten Zugang zum Keller?«

»Nein. Es gibt dort unten nicht einmal Fenster. Dazu liegt er zu tief.« Auf diesem Weg konnte P. J. also auch nicht in die Kirche gelangen. Ihm blieb nur der Haupteingang.

Während er mit Celeste in den Altarraum zurückkehrte, wünschte Joey sehnlichst, sie hätten einen Kartentisch oder etwas Ähnliches mitbringen können, das sich als Altar eignete. Aber der niedrige, kahle Sockel mußte ihnen genügen.

Er schnürte das Bündel auf und packte Hammer, Nägel, rote und grüne Kerzen, ewige Lichter, Streichhölzer, Kruzifix und Marienstatue aus.

Celeste half ihm, den Sockel mit den beiden weißen Bettlaken zu verhüllen.

»Vielleicht hat er Beverly an den Boden genagelt, während er ... während er mit ihr machte, was er wollte«, sagte er, während sie gemeinsam arbeiteten. »Aber es ging ihm nicht nur darum, sie zu foltern. Es bedeutete ihm mehr. Ein Sakrileg, eine Blasphemie. Wahrscheinlich war die ganze Vergewaltigung und Ermordung Teil einer Zeremonie.«

»Einer Zeremonie?« fragte sie schaudernd.

»Du hast gesagt, er sei stark und durch nichts zu erschüttern, weil er an etwas glaubt. An sich selbst, hast du gesagt. Aber er glaubt an mehr. Er glaubt an die Macht der Finsternis.«

»Satanismus?« fragte sie zweifelnd. »P. J. Shannon, der Footballstar, der freundliche, hilfsbereite Bursche?«

»Wir wissen beide, daß es diese Person nicht mehr gibt -falls es sie je gegeben hat. Das beweist uns Beverlys Leiche.«

»Aber er hatte ein Stipendium in Notre Dame, Joey, und ich glaube kaum, daß dort schwarze Messen abgehalten werden.«

»Vielleicht hat alles in Asherville begonnen, noch bevor er auf die Universität und später nach New York ging.«

»Das kommt mir so weit hergeholt vor«, sagte sie.

»Jetzt, im Jahre 1975, kommt es einem tatsächlich etwas weit hergeholt vor«, gab er zu, während er die Laken glattzog. »Aber 1995 ist es gar nicht so ungewöhnlich, daß ein verstörter Schüler sich mit Satanismus beschäftigt, das kannst du mir glauben. Und es kam auch schon in den 60er und 70er Jahren vor, nur nicht so oft.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß mir dieses 1995 gefallen würde.«

»Da bist du nicht die einzige.«

»Machte P. J. in der High School jemals einen verstörten Eindruck?«

»Nein, aber manchmal ist gerade den am schlimmsten gestörten Menschen nichts anzumerken.«

Die Laken lagen jetzt fast faltenlos auf dem Altarsockel, und die weiße Baumwolle wirkte weißer als zuvor - strahlend weiß.

»Vorhin hast du gesagt«, rief Joey ihr ins Gedächtnis, »P. J. benähme sich so rücksichtslos und arrogant, als würde er sich für einen Auserwählten halten. Nun, vielleicht glaubt er das tatsächlich. Vielleicht glaubt er, einen Pakt geschlossen zu haben, der ihn beschützt, so daß er sich alles erlauben kann.«

»Willst du damit sagen, daß er seine Seele verkauft hat?«

»Nein, ich sage nicht, daß es eine Seele gibt, oder daß man sie verkaufen könnte, falls es sie gibt. Aber P. J. glaubt möglicherweise, daß er das getan hat, und dieses Hirngespinst verleiht ihm ungeheures Selbstvertrauen.«

»Wir haben eine Seele«, erklärte sie resolut.

Joey griff nach Hammer und Nägeln. »Bring mir das Kruzifix.«

Er ging zur Rückwand des Heiligtums, wo sich einst das dreieinhalb Meter große Kreuz mit dem unbeholfen geschnitzten leidenden Christus befunden hatte. Es gab hier keine Deckenlampen; die Wand wurde von zwei kleinen Leuchten im Boden angestrahlt. Dadurch war der Blick der Gläubigen nach oben gelenkt worden und hatte zur Kontemplation über das Göttliche angeregt. Joey schlug einen Nagel ein, etwas über Augenhöhe.

Celeste hängte das kleine Kreuz aus dem Haus der Bimmers auf, und nun gab es in St. Thomas wieder ein Kruzifix über dem Altar.

Joey blickte zu den nassen Fenstern hinüber, hinter denen undurchdringliche Finsternis herrschte, und er fragte sich, ob sein Bruder sie wohl beobachtete. Wie würde P. J. ihre Aktionen interpretieren? Fand er diese Entwicklung lächerlich

- oder aber besorgniserregend?

»Das Tableau, das ihm vorschwebt - eine Parodie auf die zwölf Apostel, zwölf Tote in einer ehemaligen Kirche - ist nicht einfach die Tat eines Wahnsinnigen. Es ist fast so etwas wie . wie ein Opfer.«

»Du meintest vorhin, daß er sich als Judas sieht.«

»Der Verräter. Der Mann, der seine Gemeinschaft, seine Familie, seinen Glauben und sogar Gott verrät. Und der seine eigene Verderbnis weitergibt, wo immer er kann. An jenem Abend hat er mir in seinem Auto dreißig Dollar in die Tasche geschoben.«

»Dreißig Dollar - dreißig Silberlinge.«

Joey legte den Hammer beiseite und arrangierte die sechs Weihnachtskerzen an einem Ende des mit Laken verhüllten Altarsockels. »Dreißig Dollar. Eine kleine symbolische Geste, die ihm bestimmt viel Spaßgemacht hat. Die Bezahlung für meine Kooperation, für mein Stillschweigen über den Mord. Er hat aus mir einen kleinen Judas gemacht.«

Während sie nach den Streichhölzern griff und die Kerzen anzündete, fragte Celeste: »Sieht er in Judas Iskariot dann so etwas wie ... wie seinen höllischen Schutzpatron?«

»Etwas in dieser Art, ja.«

»Kam Judas in die Hölle, weil er Christus verraten hatte?«

»Wenn man glaubt, daß es eine Hölle gibt, schmort er bestimmt in einem der tiefsten Gewölbe«, sagte Joey.

»Du glaubst natürlich nicht an die Hölle.«

»Sieh mal, es spielt überhaupt keine Rolle, woran ich glaube oder nicht. Was zählt, ist nur, woran P. J. glaubt.«

»Da irrst du dich gewaltig.«

Er ignorierte ihre Bemerkung. »Ich behaupte nicht, alle Einzelheiten seines Wahns zu kennen - bestenfalls die Umrisse. Ich glaube, sogar ein erstklassiger Psychiater hätte Mühe, die seltsam verworrene Landschaft im Gehirn meines Bruders zu ergründen.«

Während sie die letzte der sechs Kerzen anzündete, sagte Celeste: »P. J. kommt also zu einem Wochenendbesuch nach Hause, fährt durch die Gegend und sieht, wie unheimlich Coal Valley geworden ist. Die leerstehenden Häuser. Die vielen Bodensenkungen. Mehr Lüftungsrohre denn je. Die offene Feuergrube am Ortsrand. Die verlassene, zum Abriß verurteilte Kirche. So als würde ganz Coal Valley in die Hölle hinabgleiten, sehr schnell, vor seinen Augen. Und das erregt ihn. Ist es das, was du glaubst?«

»Ja. Viele Psychopathen sind für Symbolik sehr empfänglich. Sie leben in einer anderen Realität als wir. In ihrer Welt hat alles und jeder eine geheime Bedeutung. Es gibt keine Zufälle.«

»Du hörst dich so an, als hättest du das für eine Prüfungsarbeit gepaukt.«

»Im Laufe der Jahre habe ich sehr viele Bücher über abartige Psychologie gelesen. Anfangs redete ich mir ein, das käme den Romanen zugute, die ich schreiben würde. Und später, als ich mir eingestand, daß ich nie ein Schriftsteller sein würde, las ich weiter - als Hobby.«

»Aber unterbewußt wolltest du P. J. verstehen.«

»Ein soziopathologischer Mörder mit religiösen Wahnvorstellungen, wie P. J. sie zu haben scheint, könnte Engel und Dämonen sehen, die sich als Menschen maskiert haben. Er glaubt, daß bei den simpelsten Ereignissen kosmische Mächte am Werk sind. Seine Welt ist ein Ort ständiger Dramen und enormer Verschwörungen.«

Celeste nickte. Sie war schließlich die Tochter eines Schulleiters, aufgewachsen in einem Haus voller Bücher. »Er ist ein Bürger von Paranoialand. Ja, okay, dann hat er vielleicht schon jahrelang gemordet, seit seiner Collegezeit oder sogar noch früher, ein Mädchen hier, ein Mädchen dort, gelegentliche kleine Opfergaben. Aber die Situation in Coal Valley ist wirklich aufregend und animiert ihn dazu, hier etwas ganz Besonderes, etwas Großartiges zu vollbringen.«

Joey stellte die Marienstatue am anderen Ende des provisorischen Altars auf und schob den Stecker in die Steckdose im Sockel. »Und jetzt pfuschen wir ihm ins Handwerk,, indem wir Gott die Tür öffnen und ihn erneut in diese Kirche einladen. Wir gehen auf P. J.s Wahnvorstellungen ein und bekämpfen Symbolik mit Symbolik, Aberglauben mit Aberglauben.«

»Und was soll das bewirken?« fragte Celeste, während sie neben Joey trat und die drei ewigen Lichter in den rubinroten Gläsern entzündete, die er sorgfältig vor der Marienstatue arrangiert hatte.

»Es wird ihn aus der Fassung bringen, glaube ich. Das ist das erste, was wir erreichen müssen - ihn aus der Fassung zu bringen, sein Selbstvertrauen zu erschüttern, ihn aus der Dunkelheit hierher in die Kirche zu locken, wo wir gegen ihn eine Chance haben.«

»Er schleicht dort draußen umher wie ein Wolf«, stimmte sie zu, »wie ein Wolf, der das Lagerfeuer in einiger Entfernung umkreist.«

»Er hat diese Opfergabe versprochen - zwölf unschuldige Menschen -, und jetzt fühlt er sich verpflichtet, dieses Versprechen zu erfüllen. Aber er muß sein Leichentableau in einer Kirche inszenieren, aus der Gott vertrieben wurde.«

»Du scheinst dir so sicher zu sein . fast so, als wärest du auf der gleichen Wellenlänge wie er.«

»Er ist mein Bruder.«

»Es ist ein bißchen beängstigend«, sagte sie.

»Für mich selbst auch. Aber ich spüre, daß er St. Thomas braucht. Er hat keine Möglichkeit, noch heute Nacht einen anderen Ort zu finden, der sich so perfekt als Kulisse eignen würde. Und nachdem er das alles nun begonnen hat, fühlt er sich verpflichtet, es auch zu vollenden. In dieser Nacht. Wenn er uns jetzt beobachtet, wird er sehen, was wir hier machen, und es wird ihn bestürzen, und er wird hereinkommen und uns zwingen wollen, unser Werk wieder zu zerstören.«

»Warum erschießt er uns nicht einfach durch die Fenster und zerstört dann selbst unser Werk?«

»Vielleicht hätte er das gemacht - wenn er früh genug begriffen hätte, was wir vorhaben. Doch als wir das Kruzifix aufhängten, war es zu spät. Selbst wenn ich in bezug auf seine Wahnvorstellungen nur halb recht habe, selbst wenn er nur halb so stark in seine Phantasien verstrickt ist, wie ich glaube -selbst dann wird er ein Kruzifix an einer Altarwand nicht berühren können, genauso wenig wie ein Vampir das könnte.«

Celeste zündete das dritte ewige Licht an.

Der Altar hätte eigentlich absurd aussehen müssen - so als würden Kinder »Kirche« spielen. Doch trotz der mangelhaften Requisiten hatten sie eine erstaunlich echt wirkende Atmosphäre geschaffen. Ob es nun an der Beleuchtung lag oder am Kontrast zu der kahlen, staubigen Kirche - jedenfalls schien von den Bettlaken auf dem Altarsockel ein übernatürlicher Glanz auszugehen, so als wären sie mit phosphoreszierender Stärke behandelt worden; sie waren weißer als die weißesten Bettücher, die Joey jemals gesehen hatte. Das von unten breitwinkelig angestrahlte Kruzifix warf einen großen Schatten auf die Altarwand, so daß man glauben konnte, das massive handgeschnitzte Kreuz wäre wieder aufgehängt worden. Die dicken Weihnachtskerzen brannten gleichmäßig: Keine rußte oder drohte zu erlöschen. Und seltsamerweise duftete das Wachs nicht nach Lorbeer, sondern nach Weihrauch. Und eines der ewigen Lichter warf seinen rubinroten Schein ausgerechnet auf die Brust des Gekreuzigten.

»Wir sind fertig«, sagte Joey.

Er legte die beiden Schrotflinten auf den Boden des schmalen Chorraums, wo sie nicht zu sehen, aber sofort greifbar waren.

»Er hat uns vorhin mit den Waffen gesehen«, sagte Celeste. »Er weiß, daß wir welche haben. Und er wird sich hüten, uns eine Chance zu geben, sie zu verwenden.«

»Das hängt davon ab, wie stark er an seine Phantasien glaubt, für wie unbesiegbar er sich hält.«

Joey ließ sich hinter der Chorbalustrade auf ein Knie nieder. Die dicken Säulen und das Geländer boten einen gewissen Schutz vor Kugeln, aber durchaus keine perfekte Deckung. Die Abstände zwischen den Balustern waren sechs bis sieben Zentimeter breit. Außerdem war das Holz alt und trocken; es würde sofort zersplittern, wenn jemand mit einem Großkalibergewehr darauf schoß, und die Splitter könnten sich in tödliche Schrapnelle verwandeln.

So als hätte sie seine Gedanken gelesen, kniete Celeste neben ihm nieder.

»Der Kampf wird sowieso nicht mit Waffen entschieden werden.«

»Nein?«

»Es ist keine Frage roher Gewalt. Es ist ein Frage des Glaubens.«

Wieder sah Joey Geheimnisse in ihren dunklen Augen. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich - und in Anbetracht der Situation erstaunlich heiter.

»Was weißt du, das ich nicht weiß?« fragte er.

Sie schaute ihm lange in die Augen, bevor sie den Blick abwandte. »Vieles.«

»Manchmal scheinst du .«

»Was?«

»Anders zu sein.«

»Anders als wer?«

»Anders als die übrigen.«

Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich bin nicht nur die Tochter des Schulleiters.«

»Oh? Was denn noch?«

»Eine Frau.«

»Mehr als das«, insistierte er.

»Gibt es mehr als das?«

»Manchmal scheinst du viel älter zu sein, als du in Wirklichkeit bist.«

»Ich weiß eben gewisse Dinge.«

»Was denn? Ich sollte das auch wissen.«

»Sie lassen sich nicht mitteilen«, sagte sie rätselhaft, und ihr Lächeln verschwand.

»Stecken wir nicht unter einer Decke?« fragte er scharf.

Sie sah ihn mit großen Augen an. »O ja.«

»Wenn du also etwas weißt, das uns helfen könnte .«

»Mehr als du glaubst«, flüsterte sie.

»Was?«

»Wir stecken mehr unter einer Decke, als du glaubst.« Entweder wollte sie absichtlich in Rätseln sprechen, oder aber er maß ihren Worten zuviel Gewicht zu.

Sie starrte ins Kirchenschiff.

Beide schwiegen.

Regen und Wind schlugen gegen die Kirche, und das hörte sich so an, als flatterten gefangene Vögel verzweifelt umher und versuchten sich zu befreien.

Etwas später sagte Joey: »Mir wird so warm.«

»Die Temperatur steigt seit einiger Zeit«, bestätigte Celeste.

»Wie ist das möglich? Wir haben die Heizung nicht eingeschaltet.«

»Die Hitze kommt von unten. Spürst du es nicht? Sie steigt durch jeden Spalt, durch jeden Riß im Boden auf.«

Er legte eine Hand auf den Boden und stellte fest, daß das Holz wirklich ganz warm war.

»Die Wärme stammt von den unterirdischen Feuern.«

»Vielleicht sind sie gar nicht mehr so tief unter der Erde.« Ihm fiel der tickende Metallkasten in ihrem Haus ein. »Müssen wir uns wegen der Giftgase Sorgen machen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Heute Nacht gibt es Schlimmeres.«

Joeys Stirn überzog sich mit einem dünnen Schweißfilm.

Er suchte in seinen Taschen nach einem Taschentuch, fand statt dessen aber nur einige zusammengefaltete Geldscheine. Zwei Zehn-Dollar-Scheine. Zwei Fünf-Dollar-Scheine. Dreißig Dollar.

Er vergaß immer wieder, daß das, was vor zwanzig Jahren geschehen war, in gewisser Hinsicht auch erst vor wenigen Stunden geschehen war.

Während er das Geld entsetzt anstarrte, fiel ihm ein, mit welcher Beharrlichkeit P. J. ihm die Scheine im Auto aufgedrängt hatte. Die Leiche im Kofferraum. Der Geruch nach Regen, überlagert von durchdringendem Blutgeruch.

Ein eisiger Schauder überlief ihn, und er ließ das Geld fallen.

Die zerknitterten Scheine verwandelten sich plötzlich in Münzen, die klirrend und funkelnd auf den Holzboden fielen.

»Was ist?« fragte Celeste.

Er warf ihr einen Blick zu. Sie hatte nichts gesehen. Er versperrte ihr die Sicht auf die Münzen.

»Silberlinge«, murmelte er.

Doch als er wieder hinschaute, waren die Münzen verschwunden. Nur die Banknoten lagen auf dem Boden.

In der Kirche war es heiß. Die regenbeschlagenen Fenster schienen zu schmelzen.

Er hatte rasendes Herzklopfen. Genausogut hätte er sich wie ein reuiger Sünder mit der Faust an die Brust schlagen können.

»Er kommt«, sagte Joey.

»Wer?«

Joey deutete über die Balustrade hinweg in Richtung der Kirchentüren, die im Halb dunkel kaum zu sehen waren. »Er kommt.«

16

Die lange nicht mehr geölten Angeln quietschten, als die Kirchentüren aufgestoßen wurden. Ein Mann betrat die Vorhalle - aus der Dunkelheit ins warme Licht, aus der kalten Nacht in die eigenartige Hitze, aus dem Sturm in die Stille. Er bewegte sich weder verstohlen noch mit besonderer Vorsicht, sondern ging direkt auf das Kirchenschiff zu, begleitet von einem fauligen Gestank aus dem Lüftungsrohr vor der Kirche.

Es war P. J., noch genauso gekleidet wie beim Abendessen in ihrem Elternhaus und wie bei der verhängnisvollen Unterhaltung im Auto: schwarze Stiefel, beige Kordhose, roter Pullover. Darüber trug er jetzt allerdings eine schwarze Skijacke.

Das war nicht der P. J. Shannon, dessen Romane immer in den Bestsellerlisten standen, nicht der New-Age-Kerouac, der das ganze Land unzählige Male in allen möglichen Autos, mit oder ohne Wohnwagen, durchquert hatte. Dieser P. J. hatte seinen vierundzwanzigsten Geburtstag noch vor sich, er hatte das Studium am College Notre Dame erst vor kurzem abgeschlossen und war aus New York, wo er in einem Verlag arbeitete, zu Besuch gekommen.

Das Gewehr, mit dem er die Bimmers erschossen hatte, hatte er nicht bei sich; offenbar war er überzeugt, daß er es nicht brauchen würde. Er stand am Eingang zum Kirchenschiff, mit weit gespreizten Beinen, locker herabhängenden Armen und breitem Lächeln.

Joey hatte ganz vergessen gehabt, welch extremes Selbstvertrauen P. J. in diesem Alter ausstrahlte, welche Kraft und Intensität. Das Wort »charismatisch« war schon im Jahre 1975 überstrapaziert worden; und 1995 wurde es von Journalisten und Kritikern auf jeden neuen Politiker angewandt, der noch nicht beim Diebstahl ertappt worden war, auf jeden jungen Filmstar, der einen feurigen Blick hatte, mochte er auch noch so dumm sein. Doch ob 1995 oder 1975 -der Begriff schien für P. J. Shannon erfunden worden zu sein. Er besaß das Charisma eines alttestamentarischen Propheten, auch ohne Bart und malerische Gewänder, und er zog automatisch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, denn seine phänomenale Ausstrahlung wirkte wie ein Magnet und schien sogar Gegenstände zu veranlassen, sich nach ihm auszurichten.

Als die Blicke der Brüder sich über das Kirchenschiff hinweg trafen, sagte P. J.: »Joey, du überrascht mich!«

Joey wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn, gab aber keine Antwort.

»Ich dachte, wir hätten einen Pakt geschlossen«, fuhr P. J. fort.

Joey legte eine Hand auf die Schrotflinte neben ihm, aber er hob sie nicht auf, denn P. J. hätte genügend Zeit, um sich in der Vorhalle in Sicherheit zu bringen; außerdem konnte eine Schrotflinte auf diese Entfernung wahrscheinlich niemanden töten.

»Du brauchtest doch nur wie ein braver Junge ins College zurückzufahren, abends im Supermarkt zu jobben und dich im eintönigen Lebenskampf aufzureiben, in der grauen zermürbenden Langeweile, für die du wie geschaffen bist. Aber du mußtest deine Nase in diese Angelegenheit stecken.«

»Du wolltest doch, daß ich dir hierher folge«, entgegnete Joey.

»Das stimmt, Bruderherz, aber ich war mir alles andere als sicher, ob du es wirklich tun würdest. Schließlich bist du nur ein kleiner Ministrant, ein erbärmlicher Wicht, der Priester anhimmelt und Rosenkränze küßt. Diesen Mut hätte ich dir nicht zugetraut. Ich dachte, du würdest in dein College fahren und dir einreden, daß meine hanebüchene Geschichte über den bärtigen Riesen aus dem Wald stimmte.«

»So war es auch.«

»Was?«

»Damals«, sagte Joey. »Aber diesmal nicht.«

P. J. war sichtlich verwirrt. Dies war das erste und einzige Mal, daß er diese seltsame Nacht durchlebte. Nur Joey hatte eine zweite Chance erhalten, richtig zu handeln.

Er hob die dreißig Dollar auf und warf sie - durch die Balustrade ein wenig geschützt - in Richtung seines Bruders. Obwohl er die Scheine zu einem Ball zusammengeknüllt hatte, flogen sie nicht einmal bis zum Altargitter. »Nimm deine Silberringe zurück!«

Einen Moment lang war P. J. sprachlos, doch dann sagte er: »Was für eine merkwürdige Bemerkung, mein lieber kleiner Bruder!«

»Wann hast du deinen Pakt geschlossen?« fragte Joey in der Hoffnung, daß seine Mutmaßungen bezüglich P. J.s Wahnvorstellungen stimmten, daß er auf diese Weise die Arroganz und Selbstzufriedenheit seines Bruders erschüttern konnte.

»Pakt?«

»Wann hast du deine Seele verkauft?«

P. J. wandte sich plötzlich an Celeste. »Du mußt ihm geholfen haben, die Wahrheit zu erkennen. Allein hätte er das nie geschafft, jedenfalls nicht in den wenigen Stunden, seit er meinen Kofferraum geöffnet hat. Seinem Geist fehlt einfach die Schattenseite. Aber du bist eine interessante junge Dame. Wer bist du?«

Celeste gab keine Antwort.

»Das Mädchen am Straßenrand«, sagte P. J. »So viel weiß ich. Du wärest mittlerweile schon tot, wenn Joey sich nicht eingemischt hätte. Aber wer bist du außerdem?«

Verborgene Identitäten. Duale Identitäten. Verschwörungen ... P. J. lebte tatsächlich in der komplexen und melodramatischen Welt eines Psychopathen mit religiösen Wahnvorstellungen, und er sah in Celeste offenbar irgendein überirdisches Wesen.

Sie schwieg weiterhin, hinter der Balustrade kniend, eine Hand auf der Schrotflinte.

Joey hoffte, daß sie nicht zu der Waffe greifen würde. Sie mußten P. J. entweder weiter in die Kirche locken, in Schußweite, oder aber sie mußten ihn davon überzeugen, daß sie überhaupt keine Waffen benötigten und nur auf die Kraft des heiligen Bodens vertrauten, auf dem sie standen.

»Weißt du, woher die dreißig Dollar stammten?« fragte P. J. »Aus Beverly Korshaks Geldbeutel. Jetzt werde ich das Geld aufheben und es dir später wieder in die Tasche schieben müssen. Als Beweisstück.«

Endlich begriff Joey, welche Rolle P. J. ihm zugedacht hatte. Er sollte den Sündenbock für alles spielen, was sein Bruder in dieser Nacht getan hatte - und noch tun würde. Joeys Tod würde wie ein Selbstmord aussehen: Der fromme und gottesfürchtige Ministrant dreht plötzlich durch, bringt zwölf Menschen in einer satanischen Zeremonie um und nimmt sich danach selbst das Leben.

Vor zwanzig Jahren war er diesem Schicksal entgangen, als er P. J. nicht auf die Coal Valley Road gefolgt war, doch das Schicksal, das ihm aufgrund dieser Fehlentscheidung beschieden wurde, war fast genauso schlimm gewesen. Diesmal mußte er beides irgendwie vermeiden.

»Du wolltest wissen, wann ich meine Seele verkauft habe«, sagte P. J., der immer noch zwischen Vorhalle und Kirchenschiff stand. »Ich war damals dreizehn, du zehn. Mir fielen zufällig Bücher über Satanismus und Schwarze Messen in die Hände - interessante Lektüre. Und ich war reif dafür, Joey. Im Wald feierte ich hübsche kleine Zeremonien, mit Tieren auf meinem Altar. Ich hätte sogar dir die Kehle aufgeschlitzt und das Herz aus der Brust geschnitten, mein Junge, wenn ich keine andere Möglichkeit gehabt hätte. Doch das war nicht notwendig. Im Grunde war alles ganz einfach. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Zeremonien notwendig waren. Ich glaube, ich mußte es nur wollen, es von ganzem Herzen und mit jeder Faser wollen, so leidenschaftlich wollen, daß es schmerzte - das hat ihm die Tür geöffnet.«

»Ihm?«

»Satan, Beelzebub, auch unter dem Namen Teufel bekannt«, erklärte P. J. in scherzhaftem und zugleich theatralischem Ton. »Junge, er ist gar nicht so, wie er immer geschildert wird. In Wirklichkeit ist er ein warmes, flauschiges altes Tier -jedenfalls für all jene, die ihn annehmen, die ihn umarmen.«

Joey stand hinter der Balustrade auf.

»So ist’s gut, mein Junge«, lobte P. J. »Du brauchst keine Angst zu haben. Dein großer Bruder wird weder grünes Feuer speien noch fledermausartige Flügel ausbreiten.«

Immer noch drang trockene Wüstenhitze durch den Fußboden.

»Warum hast du es getan, P. J.?« fragte Joey. Er mußte so tun, als würde er an Seelen und Pakte mit dem Teufel glauben.

»Ach, mein Kleiner, sogar damals stank es mir mächtig, arm zu sein, und ich hatte Angst, später ein genauso nutzloses Stück Scheiße zu werden wie unser Alter. Ich wollte Geld in der Tasche haben, flotte Autos, tolle Mädchen. Aber es bestand überhaupt keine Hoffnung, das alles einmal zu bekommen, denn ich war ja nur einer der Shannon-Jungs, der neben dem Heizungskeller hausen mußte. Doch nachdem ich den Pakt geschlossen hatte, wurde alles ganz anders. Schau mich an! Ein Footballstar. Die besten Noten. Der beliebteste Junge der ganzen Schule. Die Mädchen konnten es gar nicht erwarten, für mich ihre Beine zu spreizen - und sogar wenn ich sie fallenließ, sagten sie kein böses Wort gegen mich, sondern liebten mich weiterhin und verzehrten sich heimlich vor Sehnsucht nach mir. Und dann auch noch ein Stipendium an einer katholischen Universität! Wenn das keine Ironie ist!«

Joey schüttelte den Kopf. »Du warst immer ein guter Athlet, sogar als kleiner Junge. Du warst intelligent, und alle mochten dich. Du hattest das alles von Natur aus.«

»Verdammt, gar nichts hatte ich!« P. J. hob zum erstenmal die Stimme. »Gott gab mir nichts, als ich auf diese Welt kam, gar nichts, nur Kreuze, die ich geduldig tragen sollte. Gott ist ein beredter Verfechter des Leidens, ein echter Sadist. Ich hatte gar nichts, bis ich den Pakt schloß.«

Mit Vernunft und Logik war ihm nicht beizukommen. Seine Psychose war offenbar schon in der Kindheit entstanden. Er war schon lange wahnsinnig. Die einzige Möglichkeit, ihn in eine nachteilige Lage zu bringen, bestand darin, auf seine Wahnvorstellungen einzugehen, sie geschickt auszunutzen.

»Warum versuchst du es nicht auch, Joey?« sagte P. J. »Du brauchst dazu keine Lieder auswendig zu lernen, und du brauchst auch keine Zeremonien im Wald auszuführen. Du mußt es nur wollen, du mußt nur dein Herz weit öffnen, und dann kannst du deinen eigenen Gefährten haben.«

»Einen Gefährten?«

»Ja. Mein Gefährte ist Judas. Ich habe ihn in meine Seele eingeladen. Dadurch entkommt er für eine Weile der Hölle, und er revanchiert sich, indem er sich meiner annimmt. Er hat große Pläne für mich, Joey. Reichtum, Ruhm. Er will, daß ich all meine Wünsche befriedige, denn durch mich erlebt er alles mit - er spürt die Mädchen, hat den Geschmack von Champagner auf der Zunge und teilt mit mir das herrliche Machtgefühl, wenn es wieder einmal Zeit zum Töten ist. Er will nur das Allerbeste für mich, Joey, und er sorgt dafür, daß ich es bekomme. Du könntest deinen eigenen Gefährten bekommen, mein Kleiner. Ich kann das bewerkstelligen, ich kann es wirklich.«

Joey war sprachlos über P. J.s komplexe Wahnvorstellungen, die faustische Pakte, Verdammnis und Besessenheit vermengten. Hätte er in den letzten zwanzig Jahren nicht unzählige Bücher über die abartigsten Verirrungen des menschlichen Geistes gelesen, wäre es ihm unmöglich gewesen, das Wesen dieses Monsters zu verstehen. Als er diese Nacht zum erstenmal durchlebt hatte, wäre er völlig hilflos gewesen, weil ihm damals die Spezialkenntnisse gefehlt hatten, die er sich in der Zwischenzeit angeeignet hatte.

»Du mußt es nur wollen, Joey«, wiederholte P. J. »Dann werden wir gemeinsam dieses kleine Luder hier umbringen. Einer der Dolan-Söhne ist sechzehn. Ein großer, kräftiger Bursche. Wir können es so aussehen lassen, als hätte er das alles getan und anschließend Selbstmord begangen. Du und ich

- wir verschwinden einfach, und von nun an sind wir ein Herz und eine Seele, noch enger verbunden als Brüder, so eng verbunden wie nie zuvor.«

»Wozu brauchst du mich, P. J.?«

»He, ich brauche dich überhaupt nicht, Joey. Es geht mir nicht darum, dich zu benutzen. Ich liebe dich einfach. Oder glaubst du mir nicht, daß ich dich liebe? Ich liebe dich sehr. Du bist mein kleiner Bruder. Bist du nicht mein einziger kleiner Bruder? Warum sollte ich dich nicht an meiner Seite haben wollen? Warum sollte ich mir nicht wünschen, daß es dir genauso gut geht wie mir?«

Joeys Mund war trocken, nicht nur von der Hitze. Zum erstenmal, seit er von der Bundesstraße auf die Coal Valley Road abgebogen war, verspürte er das Bedürfnis nach einem doppelten Whisky. »Ich glaube, du brauchst mich nur, damit ich das Kruzifix abnehme. Soll ich es vielleicht verkehrt herum aufhängen?«

P. J. schwieg.

»Ich glaube, du willst hier unbedingt dein Gruppenbild arrangieren, aber jetzt hast du Angst, die Kirche zu betreten, weil wir sie in ein Heiligtum zurückverwandelt haben.«

»Gar nichts habt ihr gemacht!« sagte P. J. höhnisch.

»Ich gehe jede Wette ein: Wenn ich das Kruzifix von der Wand nehmen, die Kerzen ausblasen und die Altartücher entfernen würde, wenn dieser Ort für dich wieder ungefährlich wäre, würdest du uns beide umbringen, so wie du es ursprünglich geplant hattest.«

»He, Junge, weißt du nicht mehr, mit wem du redest? Ich bin dein Bruder. Was ist los mit dir? Bin ich nicht dein großer Bruder, der dich immer beschützt und auf dich aufgepaßt hat? Wie könnte ich dir jemals etwas zuleide tun? Ein absurder Gedanke, daß ich dich umbringen könnte!«

Celeste stand auf und stellte sich dicht neben Joey, so als spürte sie, daß jede Demonstration von Mut dazu beitragen konnte, P. J. zu überzeugen, daß Joey und sie sich im Schutz der Symbole, mit denen sie sich umgeben hatten, sicher fühlten. Ihre Zuversicht könnte seine Ängste vergrößern.

»Wenn du dich nicht vor der Kirche fürchtest - warum kommst du dann nicht herein?« fragte Joey.

»Warum ist es hier so warm?« P. J. bemühte sich, so selbstbewußt wie immer aufzutreten, aber seine Stimme klang verunsichert. »Wovor sollte ich mich denn fürchten? Es gibt hier nichts zu fürchten.«

»Dann komm doch herein.«

»Hier gibt es nichts Heiliges.«

»Beweis es. Tauche deine Finger ins Weihwasser.«

P. J. starrte das Marmorbecken an. »Es war vorhin trocken. Ihr habt das Wasser selbst hineingegossen.«

»Tatsächlich?«

»Es ist nicht geweiht«, erklärte P. J. »Du bist kein verdammter Pfaffe! Es ist ganz normales Wasser.«

»Dann tauch deine Finger ein.«

Joey hatte von Psychopathen gelesen, die in ihrem Wahn, satanische Kräfte zu besitzen, Brandblasen bekamen, wenn sie ihre Finger in Weihwasser tauchten oder ein Kruzifix berührten. Die Verletzungen, die sie erlitten, waren real, obwohl sie ausschließlich durch ihr eigenes Suggestionsvermögen hervorgerufen wurden, durch ihren tiefen Glauben an die eigenen krankhaften Phantasien.

P. J. starrte das Weihwasserbecken an. Joey provozierte ihn: »Los, berühr es - oder befürchtest du, daß es deine Hand zerfressen könnte wie eine Säure?«

P. J. streckte zögernd seine Hand aus. Seine gespreizten Finger schwebten über dem Wasser wie eine nervöse Libelle.

Dann zog er die Hand wieder zurück.

»Mein Gott!« flüsterte Celeste.

Sie hatten einen Weg gefunden, um sich vor P. J. zu schützen.

Als Joey diese Nacht zum erstenmal durchlebt hatte, war er noch ein Junge gewesen, dem Teenageralter kaum entwachsen, und damals war er seinem älteren Bruder, der ein hochintelligenter und durchtriebener Psychopath war, natürlich nicht gewachsen gewesen. Jetzt hatte er P. J. zwanzig Jahre Erfahrung voraus, und dadurch war er psychologisch im Vorteil.

»Du kannst uns nichts zuleide tun«, sagte er. »Nicht an diesem heiligen Ort. Du kannst hier nichts von all dem machen, was du geplant hattest. Jetzt nicht mehr, nicht, seit wir Gott wieder in Sein Haus eingeladen haben. Du kannst nur noch wegrennen. Irgendwann wird der Morgen anbrechen, und wir werden einfach hierbleiben, bis jemand uns sucht, oder bis jemand die Bimmers findet.«

P. J. versuchte wieder, seine Finger ins Wasser zu tauchen, schaffte es aber nicht. Vor Angst und Wut stieß er einen unartikulierten Laut aus und trat mit dem Fuß gegen das Becken.

Die Marmorschale flog krachend vom kannellierten Sockel, und diese Zerstörung gab P. J. neuen Mut. Er machte Anstalten, ins Kirchenschiff zu stürzen.

Joey bückte sich und nahm die Schrotflinte zur Hand.

Das Wasser aus dem Becken ergoß sich über den Boden, und P. J. trat aus Versehen in diese Pfütze. Eine schwefelige Dampfwolke stieg unter seinen Füßen empor, so als wäre das Wasser tatsächlich geweiht gewesen und hätte bei der Berührung mit dem Schuh eines vom Teufel Besessenen eine heftige ätzende Reaktion gezeigt.

Joey begriff, daß der Boden in der Vorhalle viel heißer als im Altarraum sein mußte, erschreckend heiß.

Auch P. J. hätte das eigentlich erkennen müssen, nachdem ihm ja die unnatürliche Wärme in der Kirche aufgefallen war. Doch in seinem Wahn reagierte er nicht vernünftig, sondern mit abergläubischer Panik. Der Dampf, der vom »Weihwasser« aufstieg, verstärkte seine bizarren Hirngespinste, und er schrie auf, so als hätte er sich wirklich verbrannt. Er litt tatsächlich unter diesen rein psychosomatischen Schmerzen.

P. J. heulte jämmerlich auf, rutschte aus und fiel ins dampfende Wasser. Er landete auf Händen und Knien, krümmte sich wimmernd, hob seine Hände, starrte seine Finger an, legte sie ans Gesicht, riß sie aber sofort wieder weg, so als wären die Wassertropfen in Wirklichkeit Christi Tränen, die seine Lippen und Wangen verbrannten und ihn halb blendeten. Mühsam rappelte er sich hoch und taumelte durch die Vorhalle und die geöffneten Türen in die Nacht hinaus, wobei er abwechselnd vor Wut brüllte und ängstlich winselte, nicht wie ein Mensch sondern wie ein gemartertes Raubtier.

»Mein Gott!« murmelte Celeste mit zittriger Stimme.

»Das war erstaunliches Glück«, sagte Joey.

»Glück?«

»Der heiße Fußboden.«

»So heiß ist er nicht«, widersprach sie.

Er runzelte die Stirn. »Nun, er muß dort drüben viel heißer als hier sein. Ich frage mich, wie lange wir hier überhaupt noch sicher sind.«

»Es war nicht der Fußboden.«

»Du hast doch selbst gesehen ...«

»Er war es.«

»Er?«

Sie war leichenblaß. »Er durfte es nicht berühren. Er war unwürdig, es zu berühren.«

»Nein, Blödsinn! Es war einfach das kalte Wasser auf dem heißen Boden, Dampf .«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ein durch und durch böser Mensch darf nichts Heiliges berühren.«

»Celeste .«

»Verdorben, verfault, befleckt .«

Joey befürchtete, daß sie einer Hysterie nahe war. »Hast du es denn vergessen?« fragte er.

Celeste schaute ihm in die Augen, und er sah sofort, daß seine Sorgen bezüglich Panik oder Hysterie völlig unbegründet waren. Ihr Blick war klar und unglaublich eindringlich, und er fühlte sich ihr plötzlich unterlegen. Sie hatte nichts vergessen. Nichts. Und er spürte, daß ihre Wahrnehmung viel ungetrübter als seine eigene war.

Trotzdem sagte er: »Hast du vergessen, daß wir selbst das Wasser ins Becken gegossen haben.«

»Na und?«

»Kein Priester.«

»Na und?«

»Wir haben es hineingegossen, und es ist ganz normales Leitungswasser.«

»Ich habe gesehen, was es ihm angetan hat.«

»Das war doch nur der Dampf .«

»Nein, Joey, nein, nein.« Sie redete hastig, eifrig bemüht, ihn zu überzeugen. »Ich habe seine Hände und einen Teil seines Gesichts gesehen. Seine Haut warf Blasen, sie war rot und schälte sich. So heiß kann der Dampf nicht gewesen sein, nicht auf einem Holzboden.«

»Psychosomatische Verletzungen«, erklärte er.

»Nein.«

»Die Kraft des Geistes. Selbsthypnose.«

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte sie eindringlich und blickte vom Kruzifix an der Wand zu den Kerzen auf dem Altarsockel, so als wollte sie sich vergewissern, daß ihre Bühnendekoration noch vorhanden war.

»Ich glaube nicht, daß er zurückkommt«, wollte Joey sie beruhigen.

»O doch, er kommt zurück.«

»Aber wir haben ihm einen Mordsschrecken .«

»Nein, nichts kann ihn schrecken. Er fürchtet sich vor nichts.«

Sie wirkte leicht benommen, wie unter Schock. Doch Joey spürte, daß sie über ein Ausmaß von intuitivem Wissen und Einsicht verfügte, das er nie besessen hatte. Gesteigertes Wahrnehmungsvermögen.

Sie bekreuzigte sich. »... in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti ...«

Sie war Joey fast noch unheimlicher als P. J.

»Ein Psychopath mit Mordgelüsten«, erklärte er nervös, »ist zwar ständig von ungeheurer Wut erfüllt, aber er hat Ängste, genau wie jeder normale Mensch. Viele von ihnen .«

»Nein. Er ist der Vater der Angst .«

». viele von ihnen leben in ständiger Angst .«

». der Vater der Lüge . unmenschlicher Zorn .«

». obwohl sie sich in den Wahn von ihrer eigenen enormen Macht hineingesteigert haben, leben sie in Angst vor .«

»... unmenschlicher Zorn bis in alle Ewigkeit.« Ihre Augen waren glasig, gehetzt. »Er gibt nie auf, er wird niemals aufgeben, er hat nichts zu verlieren, er lebt seit dem Sturz in einem Dauerzustand von Hass und Zorn .«

Joey blickte zu der Pfütze hinüber, in der P. J. ausgerutscht war. Die Kirche war heißer denn je, schweißtreibend heiß, aber von dem verschütteten Wasser stieg kein Dampf mehr auf. Wie auch immer, Celeste hatte nicht P. J.s Sturz ins Wasser gemeint.

»Über wen redest du eigentlich?« fragte er zögernd.

Sie schien Stimmen zu lauschen, die nur sie vernehmen konnte. »Er kommt«, flüsterte sie zitternd.

»Du redest nicht von P. J., habe ich recht?«

»Er kommt.«

»Wer?«

»Der Gefährte.«

»Judas? Es gibt keinen Judas. Das ist doch nur ein Hirngespinst von P. J.«

»Schlimmer als Judas. Viel schlimmer.«

»Celeste, sei vernünftig! P. J. ist doch nicht wirklich vom Teufel besessen.«

Sein Beharren auf der Vernunft erschreckte sie genauso, wie ihn ihr plötzliches Abtauchen in den Mystizismus erschreckte, und sie packte ihn bei den Aufschlägen seiner Jacke. »Dir läuft die Zeit davon, Joey. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, um glauben zu lernen.«

»Ich glaube .«

»Nicht an das, was wirklich zählt.«

Sie ließ ihn los, sprang plötzlich über die Balustrade und landete sicher auf beiden Beinen.

»Celeste!«

Zum Altargitter rennend, schrie sie: »Komm mit, berühr den Boden an der Stelle, wo die Pfütze ist, überzeug dich selbst davon, ob er heiß genug für Dampf ist, beeil dich!«

Joey hatte Angst um sie, doch sie versetzte ihn jetzt auch in Schrecken. Trotzdem sprang auch er über die Balustrade.

»Warte!«

Sie rannte durch die Gitterpforte.

Das unablässige Trommeln des Regens wurde von einem anderen Geräusch übertönt. Ein immer lauteres Dröhnen. Nicht aus der Erde. Von draußen.

Celeste hastete den Mittelgang entlang.

Er blickte zu den Fenstern auf der linken Seite hinüber.

Zu den Fenstern auf der rechten Seite. Nichts. Nur Dunkelheit.

»Celeste!« schrie er am Altargitter. »Zeig mir deine Hände.«

Sie hatte das Kirchenschiff schon halb durchquert, blieb stehen, drehte sich nach ihm um. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, und das wirkte wie eine im Kerzenlicht schimmernde Glasur. Das Gesicht einer Heiligen. Einer Märtyrerin.

Das Dröhnen schwoll weiter an. Motorenlärm.

»Deine Hände!« schrie Joey verzweifelt.

Sie hob ihre Hände.

In den zarten Handflächen waren gräßliche Wunden. Schwarze Löcher, blutüberströmt.

Von Westen her raste der Mustang plötzlich in die Kirche. Die Scheinwerfer waren nicht eingeschaltet, aber der Motor donnerte, und die Hupe kreischte. Das Auto durchbrach die Wand, die alte Holztäfelung, die Kreuzwegstationen, ließ Fenster zerbersten und den Fußboden zersplittern. Es schoß unaufhaltsam vorwärts, in die Bänke hinein, die - aus ihren Verankerungen gerissen - umkippten, gegeneinanderprallten und zusammengeschoben wurden, so als überschlügen sich Wellen aus Holz.

Und immer noch raste der Mustang vorwärts.

Joey warf sich auf den Boden des Mittelgangs und schützte seinen Kopf mit den Armen, überzeugt davon, daß er in dieser Sturzflut von Bänken umkommen würde. Noch überzeugter war er, daß auch Celeste sterben würde: Entweder sie wurde jetzt zermalmt oder später von P. J. an den Boden oder an die Wand genagelt. Joey hatte sie im Stich gelassen, er hatte wieder versagt. Weder ihr noch sich selbst hatte er helfen können. Dem Gipshagel und der Holzlawine würde unweigerlich ein Blutbad folgen. Der Motor donnerte, die Hupe kreischte und schrillte, das Holz splitterte und krachte, das Glas schepperte, die Deckenbalken knirschten und knackten bedrohlich - doch trotz dieses Höllenlärms nahm Joey ein Geräusch wahr, das sich von allen anderen unterschied. Er wußte sofort, was es war: das Klirren des Bronzekruzifixes, das von der Wand fiel und auf dem Boden aufschlug.

17

Der kalte Wind drang jetzt ungehindert in die Kirche, schnupperte und hechelte wie ein Hund.

Joey lag mit dem Gesicht nach unten unter Bänken und Balken begraben, und obwohl er keine Schmerzen verspürte, befürchtete er, daß seine Beine gebrochen sein könnten. Doch als er sich bewegte, stellte er fest, daß er weder verletzt noch eingeklemmt war.

Um aus dem vielschichtigen Schutthaufen herauszukommen, mußte er kriechen, sich winden und verrenken. Er kam sich wie ein Frettchen vor, das auf Rattenjagd die Winkel eines alten Holzschuppens erkundet.

Schindeln, Latten und Brocken anderer Materialien fielen immer noch aus der zerstörten Wand und regneten von der beschädigten Decke herab. Der Wind pfiff durch die Ritzen, so als wollte er eine gespenstische Weise flöten. Doch immerhin war das Dröhnen des Motors erstorben.

Nachdem Joey sich mühsam durch einen besonders schmalen Spalt zwischen altem Eichenholz gezwängt hatte, gelangte er zum Vorderrad seines Mustang. Der Reifen war platt, und der Kotflügel glich zerknittertem Papier.

Grünes Frostschutzmittel tropfte wie Drachenblut aus dem Fahrwerk. Der Kühler war geborsten.

Joey kroch weiter an der Seite des Wagens entlang. Hinter der Fahrertür fand er endlich eine Stelle, wo er sich zwischen Auto und Gerumpel aufrichten konnte.

Er hoffte, seinen Bruder tot vorzufinden, vom Lenkrad aufgespießt oder durch die Windschutzscheibe katapultiert. Doch die Fahrertür war einen Spalt breit geöffnet. P. J. war entwischt.

»Celeste!« schrie Joey.

Keine Antwort.

P. J. suchte bestimmt schon nach ihr.

»Celeste!«

Benzingestank stieg ihm in die Nase. Der Tank hatte ein Leck.

Die Trümmer türmten sich höher als das Wagendach. Er konnte nicht viel von der Kirche sehen.

Joey stieg auf das Dach, wandte der zerstörten Wand und der regengepeitschten Nacht den Rücken zu.

St. Thomas war von seltsamem Licht und gespenstischen Schatten erfüllt. Einige Lampen brannten noch, andere waren erloschen; aus einer Leuchte sprühten goldblaue Funken.

Die Kerzen auf dem Altarsockel waren durch die gewaltige Erschütterung umgefallen. Die Bettlaken hatten Feuer gefangen.

Zuckende und huschende Schatten ergaben eine verwirrende Szenerie, doch einer der Schatten bewegte sich so zielstrebig, daß er Joey auffiel. P. J. ging auf den Chor zu. Er trug Celeste. Sie lag bewußtlos in seinen Armen, den Kopf tief im Nacken, so daß die zarte Kehle frei lag und die langen schwarzen Haare fast bis zum Boden hinabhingen.

O Gott nein!

Einen Moment lang konnte Joey nicht atmen.

Dann schnappte er nach Luft.

Er sprang vom Wagendach auf die eingedrückte Motorhaube und kletterte von dort auf den Berg aus Bänken, Balken und verbogenen Streben. Der Schutt bewegte sich unter ihm und drohte ihn mit einem gierigen Rachen voll scharfer Holzsplitter und krummer Nägel zu verschlingen. Aber er tastete sich schrittweise voran und hielt mit weit ausgebreiteten Armen die Balance.

P. J. stieg die drei Altarstufen empor.

Über die Rückwand des Heiligtums, wo jetzt kein Kreuz mehr hing, züngelten Schatten von Flammen.

Joey sprang vom Trümmerhaufen auf eine freie Stelle vor dem Altargitter hinab.

P. J. warf Celeste auf die brennenden Altartücher, so als wäre sie keine Person - kein einzigartiger und geliebter Mensch -, sondern nur ein Armvoll Müll.

»Nein!« schrie Joey, sprang über das Gitter und hastete durch den Chorumgang auf den Altar zu.

Celestes Regenmantel fing Feuer. Er konnte sehen, wie gierig die Flammen sich auf diese neue Nahrung stürzten.

Ihre Haare! Ihre Haare!

Durch die Hitze kam sie zu Bewußtsein und schrie entsetzt auf.

Als Joey den Chor umrundete, sah er wie P. J. über sie gebeugt auf den brennenden Laken stand, ohne sich um die Flammen dicht neben seinen Füßen zu kümmern. Er schwang einen Hammer.

Joeys Herz klopfte so laut, als pochte der Tod ungeduldig an eine Tür.

Der Hammer sauste herab.

Ihr herzzerreißender Schreckensschrei, der jäh abriß, als der Stahlhammer ihren Schädel zertrümmerte.

Ein leiser Jammerlaut entrang sich Joeys Kehle.

P. J. wirbelte herum. »Ah, mein kleiner Bruder!« Er grinste. Durch den Widerschein des Feuers schienen seine Augen zu tanzen. Brandblasen von dem Weihwasser bedeckten sein Gesicht. Triumphierend hielt er den blutigen Hammer hoch. »Komm, jetzt nageln wir sie an.«

»Neeeeein!«

Etwas flatterte vor Joeys Augen. Nein, nicht vor seinen Augen. Es war nichts Reales, nichts, was sich in der Kirche bewegt hätte. Das Flattern fand hinter seinen Augen statt. Wie der Schatten von Flügeln auf schillerndem Wasser.

Alles veränderte sich.

Das Feuer war verschwunden.

P. J. ebenso.

Das Kruzifix hing wieder an der Wand. Die Kerzen brannten gleichmäßig.

Celeste packte ihn bei der Schulter, drehte ihn zu sich herum, packte ihn bei den Aufschlägen seiner Jacke.

Er schnappte fassungslos nach Luft.

»Dir läuft die Zeit davon, Joey. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, um glauben zu lernen.«

Er hörte sich sagen: »Ich glaube .«

»Nicht an das, was wirklich zählt.«

Sie ließ ihn los, sprang über die Balustrade und landete sicher auf beiden Beinen.

Die Westwand der Kirche war noch unzerstört. Der Mustang war noch nicht in die Kirche gerast.

Ein zeitlicher Rücksprung.

Joey war wieder in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Doch diesmal nicht um zwanzig Jahre. Nur um eine Minute. Höchstens um zwei.

Eine Chance, Celeste zu retten.

Er kommt.

»Celeste!«

Zum Altargitter rennend, schrie sie: »Komm mit, berühr den Boden an der Stelle, wo die Pfütze ist, überzeug dich selbst davon, ob er heiß genug für Dampf ist, beeil dich!«

Joey legte eine Hand auf die Balustrade, wollte ihr folgen.

Nein! Mach es diesmal richtig. Letzte Chance. Du mußt das Richtige tun.

Celeste rannte durch die Gitterpforte.

Das unablässige Trommeln des Regens wurde von einem anderen Geräusch übertönt, von einem immer lauteren Dröhnen. Der Mustang.

Er kommt.

Joey begriff erschrocken, daß er kostbare Sekunden vergeudete, daß diese Wiederholung schneller ablief als das ursprüngliche Ereignis. Hastig hob er die Schrotflinte vom Boden auf.

Celeste hastete den Mittelgang entlang.

Er schrie verzweifelt: »Bring dich in Sicherheit! Das Auto!« Mit der Schrotflinte in der Hand sprang er über die Balustrade.

Sie hatte das Kirchenschiff schon halb durchquert, wie beim erstenmal. Wieder drehte sie sich nach ihm um. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, und das wirkte wie eine im Kerzenlicht schimmernde Glasur. Das Gesicht einer Heiligen. Einer Märtyrerin.

Das Dröhnen des Mustang schwoll weiter an.

Bestürzt drehte sie sich den Fenstern zu. Hob die Hände.

In den zarten Handflächen waren gräßliche Wunden. Schwarze Löcher, blutüberströmt.

»Renn weg!« schrie er, aber sie blieb wie angewurzelt stehen.

Diesmal hatte er nicht einmal das Altargitter erreicht, als der Mustang durch die Westwand in die Kirche raste. Eine Flutwelle aus Glas, Holz, Gips und zertrümmerten Bänken türmte sich vor der Motorhaube auf, ergoß sich über die Kotflügel, bis das Auto in den Trümmern kaum noch zu sehen war.

Ein Brett wirbelte durch die Luft wie eine altertümliche Kriegswaffe, traf Celeste mit voller Wucht und riß sie auf dem Mittelgang zu Boden. Das hatte Joey von seinem damaligen Standort aus nicht sehen können, als er diese Szene zum erstenmal erlebte.

Mit einem Doppelknall explodierender Reifen kam der Wagen inmitten von Trümmerhaufen zum Stehen, und während die letzten Bänke krachend umstürzten, nahm Joey ein Geräusch wahr, das sich von allen anderen unterschied: das helle Klirren des Bronzekruzifixes, das von der Wand fiel und auf dem Boden aufschlug.

Anstatt wie zuvor unter dem Schutt im Kirchenschiff zu liegen, war Joey diesmal noch im Altar und wurde nur von einer Staubwolke umhüllt, die der Wind aufwirbelte. Und diesmal war er bewaffnet.

Er trat die Altarpforte mit dem Fuß auf.

Von der Kante des Kirchendaches, das eingebrochen war, als die Stützpfosten weggerissen wurden, regneten immer noch Trümmer herab. Der Lärm war schlimmer als zuvor, weil Joey beim erstenmal - unter den Trümmern begraben - halb betäubt gewesen war.

Soweit er feststellen konnte, sah die Verwüstung genauso wie beim erstenmal aus. Der Mustang war auch jetzt schwer zu erreichen; er konnte ihn kaum sehen.

Diesmal mußte er alles richtig machen. Nur keine Fehler. Er mußte P. J. unschädlich machen.

Er kletterte auf die grotesk ineinandergeschobenen Bänke. Sie ächzten und stöhnten, schwankten und zitterten, drohten unter ihm wegzurutschen. Trotz der vielen vorstehenden Nägel und zackigen Glasscherben stieg er rasch über zersplitterte Fensterrahmen, geborstene Balken und verbogene Metallstreben hinweg und erreichte den Mustang diesmal viel schneller.

Noch während er auf die Motorhaube sprang, feuerte er in das pechschwarze Wageninnere. Er hatte keinen festen Stand, und der Rückstoß hätte ihn fast umgeworfen, doch er konnte sich auf den Beinen halten und gab zwei weitere Salven ab, erfüllt von der wilden Freude, ein Urteil vollstrecken zu können.

Die Schrotflinte machte einen Höllenlärm, und als das Echo noch nicht ganz verklungen war, hörte er hinter sich ein Geräusch, das sich nicht so chaotisch anhörte wie das Prasseln und Knacken der Trümmer. Es war unmöglich, daß P. J. aus dem Wagen gesprungen war, bevor Joey diesen erreicht hatte, es war völlig ausgeschlossen, daß er sich jetzt von hinten anschleichen konnte. Doch aus dem Augenwinkel sah er, daß das Unmögliche möglich war, daß P. J. unglaublich behende den Trümmerhaufen hinabkletterte, ein dickes Brett in der Hand.

In der nächsten Sekunde landete dieses Brett auf Joeys rechter Schläfe. Er stürzte auf die Motorhaube, ließ die Schrotflinte fallen und rollte zur Seite, um seinem Angreifer auszuweichen. Instinktiv zog er die Knie hoch und duckte den Kopf - die Haltung eines Fötus im Mutterleib. Der zweite Hieb traf die Rippen auf seiner linken Körperseite, so hart, daß er keine Luft mehr bekam. Wieder rollte er weg, aber das nutzte ihm nicht viel. Der dritte Schlag landete auf seinem Rücken, und ein rasender Schmerz durchzuckte seine ganze Wirbelsäule. Er rollte durch die zerschossene Windschutzscheibe über das Armaturenbrett auf die Vordersitze, und dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Als er wieder zu sich kam, war er überzeugt, nur wenige Sekunden, allerhöchstens eine Minute ohnmächtig gewesen zu sein. Er hatte immer noch Mühe zu atmen. Ein scharfer Schmerz in den Rippen. Der Geschmack von Blut auf der Zunge.

Celeste.

Mühsam zog er sich am Lenkrad hoch. Zerbrochenes Sicherheitsglas und Schrotkörner knirschten unter seinen Füßen. Er stieß die Tür auf, soweit das bei dem Schutt ringsum möglich war, aber der Spalt war immerhin breit genug, um in den Oktoberwind und ins flackernde Licht zu gelangen.

Aus einer zerstörten Deckenleuchte in der Nähe der Vorhalle sprühten Funken.

In der anderen Richtung war die Rückwand der Sakristei von orangefarbenen Feuerschein erhellt, mit zuckenden Schatten, die von Flammen geworfen wurden, doch den Brandherd konnte Joey wegen der Trümmerhaufen nicht sehen.

Nach dem Schlag auf die rechte Schläfe hatte er auf diesem Auge ohnehin nur eine sehr verschwommene Sicht. Vage Umrisse huschten zwischen flimmernden Phantomlichtern umher.

Benzingeruch stieg ihm in die Nase. Er war immer noch viel zu benommen, um sich auf den Beinen halten zu können.

Kniend spähte er durch die Kirche.

Mit dem linken Auge konnte er erkennen, daß P. J. die Altarstufen emporstieg, die bewußtlose Celeste in den Armen.

Die Kerzen waren umgestürzt. Die Altartücher brannten.

Joey hörte jemanden fluchen und begriff erst Sekunden später, daß er seiner eigenen Stimme lauschte, daß er sich selbst verfluchte.

P. J. ließ Celeste achtlos auf den brennenden Altarsockel fallen und griff nach dem Hammer.

Jetzt hörte Joey sich schluchzen und verspürte einen unerträglichen Schmerz im Herzen, unter den gebrochenen Rippen.

Der Hammer. Hoch erhoben.

Durch das Feuer aus ihrer Bewußtlosigkeit gerissen, schrie Celeste.

Vom Altarsockel aus ließ P. J. seinen Blick durch die Kirche schweifen und sekundenlang auf Joey verweilen. Seine Augen glichen zwei flackernden Laternen.

Der Hammer sauste auf Celestes Schädel hinab.

Ein Flattern hinter Joeys Augen, wie der Schatten von Flügeln auf schillerndem Wasser. Wie ein flüchtig beobachteter Engelsflug.

Alles veränderte sich. Seine Rippen waren nicht mehr gebrochen. Seine Sicht war klar. Sein Bruder hatte ihn noch nicht zusammengeschlagen. Rücksprung. Wiederholung.

O Gott!

Noch eine Wiederholung.

Noch eine Chance.

Bestimmt würde es die letzte sein.

Und er war nicht so weit zurückversetzt worden wie beim erstenmal. Das Fenster seiner Möglichkeiten war schmaler denn je; ihm blieb weniger Zeit zum überlegen; seine Chancen, Celestes und sein eigenes Schicksal noch zu verändern, waren gering, denn jetzt durfte er sich nicht einmal mehr den winzigsten Fehler erlauben. Der Mustang war schon in die Kirche gerast, die Altartücher brannten, und Joey kletterte schon über den Trümmerhaufen hinweg, sprang auf die Motorhaube und wollte gerade den Abzug der Remington durchdrücken.

Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Fehler vom letztenmal vermeiden. Er wirbelte herum und feuerte auf die ineinander verkeilten Bänke, von wo aus P. J. ihn mit dem Brett angegriffen hatte. Das Schrot traf nur Luft. P. J. war nicht da.

Verwirrt zerschoß Joey nun doch wie zuvor die Windschutzscheibe, aber aus dem Auto war kein Schrei zu hören, und er drehte sich wieder um, aus Angst, rücklings angegriffen zu werden. P. J. kam immer noch nicht mit dem Balken auf ihn zu.

Verdammt, du versaust die Sache schon wieder! Du machst wieder das Falsche! Denk nach! Denk scharf nach!

Celeste! Sie war das einzig Wichtige.

Vergiß deine Absicht, P. J. zur Strecke zu bringen. Du mußt Celeste erreichen, bevor er es tut.

Durch die Schrotflinte behindert, erklomm er wieder den Berg aus Bänken, Balken und sonstigem Zeug und stieg auf der anderen Seite hinab, in Richtung Mittelgang, wo Celeste von dem umherwirbelnden Brett zu Boden gerissen worden war und das Bewußtsein verloren hatte.

Sie war nicht da.

»Celeste!«

Eine geduckte Gestalt huschte durch den Chor, im Widerschein des Altarfeuers. Es war P. J. Er trug Celeste.

Der Mittelgang war blockiert. Joey hetzte zwischen zwei Bankreihen zum Seitengang auf der Ostseite und rannte an den regennassen, aber nicht zerstörten Fenstern vorbei, auf das Altargitter zu.

Doch anstatt Celeste wie zuvor zum Altar zu tragen, verschwand P. J. mit ihr in der Sakristei.

Joey folgte ihm, blieb auf der Schwelle aber zögernd stehen, weil er befürchtete, daß ihn hinter der Tür ein wuchtiger Schlag oder ein Schuß erwarten könnte. Doch dann tat er, was getan werden mußte. Das Richtige. Er wollte die Tür aufstoßen.

Sie war verschlossen.

Er trat zurück und zerschoß das Schloß.

Die Sakristei war leer - bis auf Beverly Korshaks Leichnam in einer Ecke.

Joey ging zur Außentür. Sie war immer noch verriegelt.

Die Kellertür.

Er riß sie auf.

Unten duckte sich im mondgelben Licht ein Schatten und verschwand um die Ecke.

Die Stufen waren aus rohem Holz, und obwohl er sich bemühte, leise aufzutreten, knackten und knarrten sie unter seinen Stiefeln.

Hitze stieg in sengenden Flutwellen, in glühenden Strudeln empor, und als er den Keller erreichte, hatte er das Gefühl, in einem Hochofen gelandet zu sein. Die Luft stank nach überhitzten Deckenbalken, die bald verkohlen würden, nach heißen Steinmauern und heißem Kalk. Und nach dem Schwefel aus den Grubenfeuern tief unter der Erde.

Als er von der untersten Stufe auf den Boden trat, hätte es Joey gar nicht gewundert, wenn seine Gummisohlen geschmolzen wären. Er war schweißüberströmt, und nasse Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht.

Die Kellergewölbe waren unterteilt, und man konnte nicht von einem Raum in den anderen sehen. Die erste Kammer wurde nur von einer verstaubten Glühbirne zwischen zwei Deckenbalken erhellt.

Eine fette schwarze Spinne, die wohl von der Hitze und den Schwefeldämpfen verrückt gemacht wurde, kreiste unablässig in ihrem riesigen Netz, dessen Fäden wie Kristalle schimmerten. Sie warf einen verzerrten Schatten auf den Boden, und die hektischen spiralförmigen Bewegungen machten Joey schwindelig, während er den Raum durchquerte.

St. Thomas war eine schlichte Kirche im Kohlerevier gewesen, aber diese Steingewölbe wirkten gewaltig und schienen viel älter zu sein als der Staat Pennsylvania. Joey hatte das beklemmende Gefühl, nicht im Keller einer Dorfkirche zu sein, sondern in den gespenstischen Katakomben Roms - ein Meer, einen Kontinent und zwei Jahrtausende von Coal Valley entfernt.

Er blieb kurz stehen, um die Remington mit Patronen aus seiner Jackentasche zu laden.

Als er den zweiten Raum betrat, huschte der geduckte Schatten wieder auf dem Boden davon wie ein schwarzer Quecksilberstrom und verschwand in der nächsten Kammer.

Weil es P. J.s Schatten war, und weil dieser Schatten mit Celestes Schatten verschmolz, überwand Joey seine Furcht und folgte ihm in ein drittes Gewölbe, in ein viertes. Obwohl die einzelnen niedrigen Räume nicht groß waren, kam der unterirdische Teil der Kirche Joey allmählich riesig vor, viel ausgedehnter als das schlichte Gotteshaus. Doch sogar wenn die Kellerarchitektur sich tatsächlich als übernatürlich verzweigt und kompliziert erweisen sollte, mußte er irgendwann einen letzten Raum erreichen, und dort würde er seinem Bruder endlich gegenüberstehen, Auge in Auge. Dann würde er endlich das Richtige tun können.

Der Keller hatte keine Fenster.

Keine Tür nach draußen.

Eine Konfrontation war unvermeidlich.

Vorsichtig schlich Joey um eine letzte Ecke, in einen kahlen Raum, der von links nach rechts etwa zwölf Meter und vom Eingang bis zur hinteren Mauer etwa fünf Meter maß. Er mußte direkt unter der Vorhalle liegen. Hier war der Boden nicht aus Beton, sondern aus Stein, ebenso wie die Wände, die entweder von Natur aus schwarz oder aber kolossal verrußt waren.

Celeste lag mitten im Raum, im eigelbfarbenen Licht der Glühbirne an der Decke, die mit Staubflocken und zerrissenen Spinnennetzen überzogen war, so daß das bleiche Gesicht mit einem Spitzenschleier bedeckt zu sein schien. Ihr Regenmantel war wie ein Cape ausgebreitet, und das seidige schwarze Haar hob sich kaum vom schwarzen Boden ab. Sie war immer noch bewußtlos, schien ansonsten aber - jedenfalls dem äußeren Anschein nach - unverletzt zu sein.

P. J. war nicht da.

Die zwischen zwei massiven Balken angebrachte Glühbirne konnte das Gewölbe nicht vollständig erhellen, doch nirgends war es so dunkel, daß man eine Tür hätte übersehen können. Und die Steinmauern boten keine Schlupflöcher.

Die Hitze war so gewaltig, daß Joey das Gefühl hatte, nicht nur seine Kleider, sondern auch sein Körper könnte sich spontan entzünden, und er fragte sich besorgt, ob sein fiebriges Hirn vielleicht Halluzinationen produzierte. Niemand, nicht einmal Judas’ Gefährte, könnte durch diese Steinmauern das Weite gesucht haben.

Oder waren diese Wände doch nicht so massiv, wie sie aussahen? Gab es irgendwo eine Geheimtür, die in weitere Kellerräume führte? Doch obwohl die Gluthitze in diesem Steinofen Joey benommen machte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß es unter St. Thomas Geheimgänge und düstere Verliese gab. Wer hätte sie bauen sollen -Legionen wahnsinniger Mönche irgendeiner finsteren Sekte?

Blödsinn!

Doch P. J. schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Joeys Herz klopfte wie ein Schmiedehammer, und das Dröhnen des Ambosses hallte in seinen Ohren wider, während er auf Celeste zuging. Sie schien friedlich zu schlafen.

In geduckter Haltung wirbelte er plötzlich herum, den Finger am Abzug, überzeugt davon, daß P. J. sich materialisiert hatte und hinter ihm stand.

Nichts.

Er mußte Celeste wecken, wenn das möglich war, und sie schnell von hier wegführen - oder wegtragen, so wie sie hierher getragen worden war. Doch wenn er sie tragen mußte, konnte er die Schrotflinte nicht mitnehmen, und es widerstrebte ihm zutiefst, seine Waffe liegenzulassen.

Während er das filigranartige Schattengewebe auf Celestes Gesicht betrachtete, das wie ein dünner Schleier zitterte, fiel ihm plötzlich die aufgeregte Spinne ein, die im ersten Kellerraum ziellos in ihrem Netz umhergerannt war.

Ihm kam plötzlich ein grausiger Gedanke, und vor Schreck zog er mit zusammengebissenen Zähnen die heiße Luft ein, wobei ein dünner Pfeifton entstand.

Er trat einige Schritte zurück und spähte in den unbeleuchteten Raum zwischen dem nächsten Balkenpaar empor.

P. J. war dort oben, ein Schatten unter Schatten. Und er wartete nicht etwa regungslos darauf, sich auf sein Opfer fallen lassen zu können, sondern huschte mit der unheimlichen Anmut einer Spinne von der rechten Seite her auf Joey zu, diabolisch behende und völlig lautlos, mit dem Kopf nach unten, auf unerklärliche Weise an der Decke haftend, entgegen dem Gesetz der Schwerkraft, entgegen aller Vernunft und Logik. Seine Augen glühten wie Kohlen, er fletschte die Zähne

- und nun konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, daß er etwas anderes als ein Mensch war.

Joey hob die Remington, die plötzlich eine Tonne zu wiegen schien. Doch noch während er zielte, war er sich seiner Niederlage verzweifelt bewußt: Es war schon zu spät, er hatte viel zu langsam reagiert, wie in einem lähmenden Alptraum.

Wie eine Fledermaus schwang P. J. sich aus seinem Versteck zwischen den Balken hervor, ließ sich auf Joey fallen und riß ihn zu Boden. Die Schrotflinte flog ihm aus der Hand und schlitterte über den Boden, außer Reichweite.

Als Jungen hatten sie manchmal gerauft, aber nie ernsthaft miteinander gekämpft. Dazu war ihre Beziehung viel zu innig gewesen - die beiden Shannon-Brüder gegen den Rest der Welt. Doch nun entlud sich Joeys seit zwanzig Jahren aufgestaute Wut mit atomarer Hitze, die ihn von allen Resten an Zuneigung und Mitleid reinigte und nur eine Mischung aus Bedauern und Groll zurückließ. Er war fest entschlossen, kein Opfer mehr zu sein. In ihm brannte eine Leidenschaft für die Gerechtigkeit. Er boxte und trat mit den Füßen, er biß und kratzte, und bei diesem Kampf um sein eigenes und um Celestes Leben entwickelte er einen geradezu biblischen Zorn, eine gerechte und furchterregende Wut, die den wilden Rächer in ihm freisetzte.

Doch obwohl er von Zorn und Verzweiflung angetrieben wurde, war Joey seinem Bruder nicht gewachsen - oder, besser gesagt, dem Wesen, in das sein Bruder sich verwandelt hatte. P. J.s steinharte Fäuste schlugen unerbittlich zu, und es nutzte nicht viel, abwehrend einen Arm zu heben oder den Kopf einzuziehen. P. J.s Wut war unmenschlich, seine Kräfte übermenschlich. Als Joeys Widerstand erlahmte, packte P. J. ihn, hob ihn etwas hoch und schmetterte seinen Kopf mehrmals gegen den Steinboden.

Endlich ließ er ihn los und blickte mit grenzenloser Verachtung auf ihn herab. »Verdammter Ministrant!« Die wütende, höhnische Stimme war P. J.s Stimme, aber sie hatte sich verändert, war tiefer und kraftvoller als früher. Sie dröhnte, als tobte ein Gefangener in einem engen Steinverlies, sie bebte vor eisigem Hass, und jedes Wort hallte so hohl wider wie ein Stein, der auf dem Boden der Ewigkeit aufschlägt.

»Gottverfluchter Ministrant!« Dabei versetzte er ihm den ersten Fußtritt, mit solcher Wucht, als trüge er Stahlstiefel. Joey spürte, daß mehrere Rippen gebrochen waren, doch schon folgten die nächsten Tritte. »Du dummes Arschloch, das Pfaffen verehrt und Rosenkränze küßt!« Joey rollte sich zusammen und wünschte sich sehnlichst, er wäre ein Pillendreher, den im Notfall sein Panzer vor der Welt schützt. Doch jeder Tritt traf irgendeine empfindliche Stelle - Rippen, Nieren, den unteren Teil des Rückgrats - und schien nicht von einem Menschen herzurühren, sondern von einem Roboter, einer geistlosen Foltermaschine.

Dann hörten die Tritte auf.

P. J. packte Joey mit einer Hand am Hals, mit der anderen am Gürtel und riß ihn so mühelos vom Boden hoch, als hätte man einem Weltmeister im Schwergewicht aus Versehen eine Hantel für Leichtgewichte gegeben. Er stemmte ihn über seinen Kopf und schleuderte ihn durch den Raum.

An der Mauer neben dem Eingang schlug Joey wie eine zerbrochene Marionette auf dem Boden auf. Er hatte den Mund voller ausgeschlagener Zähne und erstickte fast an seinem eigenen Blut. Seine Lunge war schmerzhaft zusammengepresst, vielleicht sogar durch eine gesplitterte Rippe verletzt. Er atmete pfeifend ein und rasselnd aus. Sein Herz schlug unregelmäßig, wie ein stotternder Motor. Mühsam auf dem Drahtseil seines Bewußtseins über einem bodenlosen dunklen Abgrund balancierend, blinzelte Joey mit tränenüberströmten Augen und sah, daß P. J. sich Celeste zugewandt hatte.

Er sah auch die Schrotflinte. In Reichweite.

Doch er hatte seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle. Seine Muskeln verkrampften sich, als er die Remington zu greifen versuchte. Sein Arm zuckte nur, und seine rechte Hand sank kraftlos auf den Boden.

Ein bedrohliches Rumpeln stieg aus der Erde empor. Die heißen Steine vibrierten.

P. J. beugte sich über Celeste. Er hatte Joey den Rücken zugewandt, hielt ihn wahrscheinlich für tot.

Die Remington.

So nahe. Verführerisch nahe.

Joey konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Schrotflinte, bot alle Willenskraft auf, um ihrer habhaft zu werden, und zwang sich, die unmenschlichen Schmerzen zu ignorieren, den lähmenden Schock der brutalen Prügel zu überwinden, denn er setzte seinen ganzen Glauben in diese Waffe.

Komm schon, komm schon, du verfluchter kleiner Ministrant, komm schon, tu’s, tu’s, tu wenigstens ein einziges Mal in deinem ganzen erbärmlichen Leben das Richtige!

Er ballte die Hand zur Faust, öffnete sie, streckte sie nach der Waffe aus. Seine zitternden Finger berührten das Walnußholz der Remington.

Über Celeste gebeugt, holte P. J. ein Messer aus der Tasche seiner Skijacke. Auf Knopfdruck schnappte die zwanzig Zentimeter lange Klinge heraus, und das gelbe Licht der Glühbirne fiel genau auf die scharfe Spitze.

Glattes Walnußholz. Heißes glattes Metall. Joey bog die Finger. Sie zuckten nur schwach. Er zwang sie, fest zuzupacken. Noch fester. Und jetzt hochheben! Leise, leise.

P. J. redete - nicht mit Joey, nicht mit Celeste, sondern mit sich selbst oder mit jemandem, den er an seiner Seite glaubte. Seine Stimme war tief und guttural, erschreckend verändert, und jetzt schien er in einer Fremdsprache zu reden. Oder es war irgendein sinnloses Kauderwelsch. Rauh und rhythmisch, voll harter Betonungen und tiefer animalischer Laute.

Das Rumpeln wurde lauter.

Gut. Dieses Grollen war ein Segen - bedrohlich, aber dennoch sehr willkommen. Das unterirdische Donnern und P. J.s unheimliches Gemurmel übertönten alle Geräusche, die Joey machte.

Er hatte nur eine einzige Chance, und er mußte seinen Plan

- seinen kläglichen Plan - schnell und entschlossen in die Tat umsetzen, bevor P. J. bemerkte, was vor sich ging.

Joey zögerte, wollte nicht überstürzt handeln, bevor er sicher sein konnte, alle verfügbaren Kraftreserven mobilisiert zu haben. Warten. Warten. Ganz sicher sein. Ewig warten? Die Konsequenzen der Untätigkeit konnten schlimmer sein als die Konsequenzen des Handelns. Jetzt oder nie. Handeln oder sterben. Handeln und sterben, wenn es sein mußte, aber immerhin handeln!

Er biß die nicht ausgeschlagenen Zähne zusammen, um den absehbaren Schmerz besser ertragen zu können, packte die Schrotflinte, setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

Trotz des Rumpelns in der Erde und trotz seines Gemurmels hatte P. J. ein Geräusch gehört. Er reagierte sofort, drehte sich blitzschnell um. Joey hielt die Remington mit beiden Händen umklammert, den Lauf gegen die Schulter gestemmt.

Das unheilvolle Licht, das auf der Messerklinge schimmerte, sprang nun auch in P. J.s Augen.

Joey drückte ab.

Der Knall war ohrenbetäubend. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Steine geborsten wären. Das Echo hallte durch den Raum, von einem Ende zum anderen, von der Decke zum Boden, und die Lautstärke schien anzuschwellen anstatt abzunehmen.

Der Rückschlag jagte siedenden Schmerz durch Joeys ganzen Körper, die Waffe entglitt seinen Fingern und landete neben ihm auf dem Boden.

Das Schrot traf P. J. in Brust und Bauch, riß ihn von den Füßen. Er drehte sich taumelnd um sich selbst, brach in die Knie, umklammerte seinen Oberkörper mit den Armen und krümmte sich, so als wollte er seine Eingeweide daran hindern, aus dem Körper zu quellen.

Hätte Joey seine Anne heben können, so hätte er die Schrotflinte wieder zur Hand genommen und weitere Schüsse abgegeben. Er hätte am liebsten das ganze Magazin geleert.

Aber seine Muskeln zuckten nicht einmal mehr. Seine Hände hingen schlaff herab. Er glaubte, vom Hals abwärts gelähmt zu sein.

Das Rumpeln unter der Kirche wurde noch lauter.

Aus den Rissen im Steinboden stieg schwefelhaltiger Dampf empor.

P. J. hob langsam den Kopf. Sein Gesicht war gräßlich verzerrt, die Augen weit aufgerissen, der Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Er würgte krampfhaft. Gurgelnde Laute kamen aus seiner Kehle hervor. Und plötzlich begann er zu spucken - aber nicht etwa Blut, sondern Silber. Es war ein grotesker Anblick - ein Strom funkelnder Münzen drang aus seinem Mund, so als wäre er ein Geldautomat.

Angewidert, verblüfft und zu Tode erschrocken, wandte Joey seinen Blick von dem Häuflein Silber ab. P. J. spuckte eine letzte Münze aus und grinste. Das Totenkopfgrinsen des Sensenmannes hätte nicht bösartiger sein können. Dann streckte er Joey seine Hände entgegen wie ein Zauberkünstler, der Presto! sagt. Obwohl seine Kleider von den Schrotkugeln zerfetzt waren, schien er unverletzt zu sein.

Joey wußte, daß er von den rasenden Schmerzen Halluzinationen hatte, daß er im Sterben lag, schon halb im Jenseits war. Verglichen mit dem Delirium tremens des Todes war das eines Säufers, der irgendwelche Tiere aus den Wänden kriechen sieht, geradezu amüsant.

Er schrie Celeste zu, sie solle aufwachen und wegrennen, aber seine Warnungen waren nur ein Geflüster, das sogar er selbst kaum hören konnte.

In dem bebenden, dampfenden Boden entstand plötzlich über die ganze Breite der Kammer ein Riß. Grelles orangefarbenes Licht züngelte an den ausgezackten Rändern. Mörtel zerbröckelte und verschwand im brennenden Grubenschacht. Steine folgten. Die Deckenbalken knirschten, die Kellerwände schwankten. Der Riß wurde rasch breiter: ein Zentimeter, fünf, fünfundzwanzig, fünfzig. Grelles Licht erfüllte den Raum und gab eine ungefähre Vorstellung von den weißglühenden Wänden der Mine.

Der Riß trennte Joey von P. J. und Celeste.

Über das Stöhnen und Wimmern der alten Kirche hinweg, über das Tosen des unterirdischen Feuers und das Donnern einstürzender Schächte hinweg schrie P. J.: »Sag dem kleinen Luder Lebewohl, du verdammter Ministrant!« Und dann stieß er Celeste in das Inferno unter Coal Valley hinab, in vulkanische Hitze und geschmolzenes Anthrazit - in den Tod.

O nein! Nein! Bitte, Gott, nein, nein, bitte, nicht sie, nicht sie! Mich aber nicht sie!. Ich bin wehleidig, arrogant, schwach, blind für die Wahrheit, viel zu töricht, um zu begreifen, was eine zweite Chance bedeutet, und ich verdiene alles, was mit mir geschehen mag, aber nicht sie, nicht sie in all ihrer Schönheit und Güte, nicht sie!

Ein Flattern hinter Joeys Augen. Ein Flattern wie von den Schatten vieler Flügel, die eine mysteriöse Lichtsphäre durchfliegen.

Alles war verändert.

Er war unverletzt. Hatte keine Schmerzen.

Stand oben in der Kirche.

Zeitsprung.

Der Mustang war schon durch die Wand gerast. P. J. hatte Celeste schon erreicht.

Die Zeit war noch einmal zurückgespult worden, aber nicht weit genug, um ihm Gelegenheit zu geben, seine mißliche Lage gründlich zu überdenken. In wenigen Minuten würde sich im Keller die Erde auftun. Er durfte keine Sekunde verlieren.

Joey wußte zweifelsfrei, daß dies nun wirklich seine allerletzte Chance war daß er nicht noch einmal zu dem Moment irgendeines fatalen Fehlers zurückversetzt werden würde. Die nächste Verdammnis, die er durch sein Verhalten verschuldete, würde endgültig sein. Deshalb durfte es diesmal nicht den kleinsten Fehler geben, nicht den kleinsten Irrtum. Keine Zweifel mehr. Nur noch der Glaube konnte ihn retten.

Eine geduckte Gestalt huschte durch den Chor, im Widerschein des Feuers. Es war P. J. Er trug Celeste.

Joey hetzte zwischen zwei Bankreihen zum Seitengang auf der Ostseite und rannte an den regennassen, aber nicht zerstörten Fenstern vorbei. Er warf die Schrotflinte weg. Er glaubte nicht mehr an sie.

P. J. verschwand mit Celeste in der Sakristei, schlug hinter sich die Tür zu.

Joey sprang über das Altargitter, rannte die Stufen empor, umrundete den Altarsockel mit den brennenden Laken und suchte nach dem Kruzifix, das von der Wand gefallen war, als der Mustang in die Kirche raste. Es lag auf dem Boden vor der Wand.

Joey hob das Bronzekreuz auf und rannte zur Sakristei. Die Tür war verschlossen.

Beim letztenmal hatte er das Schloß mit Schrotkugeln gesprengt. Er überlegte, ob er ins Kirchenschiff zurückkehren und die weggeworfene Waffe holen sollte.

Doch statt dessen warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür, trat dagegen, immer und immer wieder. Der Riegel knackte auf der anderen Seite, er trat wieder gegen die Tür und wurde durch ein Scheppern von Metall und zersplitterndes Holz belohnt. Noch ein Tritt, und die Tür flog auf. Joey stürzte in die Sakristei.

Die Kellertür.

Die Holztreppe.

Weil er die Tür eingetreten statt aufgeschossen hatte, war er jetzt zeitlich im Rückstand. Der geduckte Schatten seines Bruders war diesmal schon aus dem mondgelben Licht verschwunden. P. J. war im Kellerlabyrinth untergetaucht. Mit Celeste.

Joey nahm auf der Treppe zunächst zwei Stufen auf einmal, begriff dann aber, daß Vorsicht trotzdem angebracht war. Indem er die Schrotflinte gegen das Kruzifix eingetauscht hatte, hatte er von diesem Punkt an die Zukunft verändert. Zuletzt hatte er P. J. im hintersten Raum angetroffen, aber diesmal könnte sein Bruder ihm auch anderswo auflauern. Er hielt sich nun am Geländer fest und war auf der Hut.

Die Hitze. Ein Glutofen.

Der Geruch von heißem Kalk. Heiße Steinwände.

Im ersten Kellerraum warf die aufgeregte Spinne in ihrem riesigen Netz groteske Schatten auf den Boden.

Joey hob den Kopf und spähte zwischen die Deckenbalken, um sicher zu sein, daß dort wirklich nur Spinnen hausten.

Als er den zweiten Raum erreichte, schien ein Zug durch einen Tunnel unter St. Thomas hinwegzudonnern.

Als er den dritten Raum betrat, schwoll das bedrohliche Rumpeln weiter an, und der Boden erzitterte.

Keine Zeit mehr für Vorsicht.

Auch keine Zeit mehr für Fehler.

Er umklammerte das Kruzifix in seiner rechten Hand, hielt es vor sich: Professor von Helsing in Graf Draculas Schloß.

Ein Blick an die Decke. Schatten. Nur Schatten.

Endlich erreichte er den hintersten Kellerraum.

Celeste lag bewußtlos unter der einzigen Glühbirne.

Irgendwo in der Tiefe stürzten brennende Schächte ein. Die Kirche schwankte, und Joey wurde förmlich in den Raum geworfen. Ein Riß zeigte sich im Steinboden. Orangefarbenes Licht züngelte daraus hervor. Der Spalt wurde rasch breiter. Mörtel und Steine verschwanden in der Tiefe. Der Riß trennte Joey von Celeste.

P. J. schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Joey trat dicht an den Rand des Abgrunds heran und spähte erwartungsvoll in den Zwischenraum zwischen den rohen Deckenbalken. P. J. war dort oben, und er lief wieder über die Decke, schnell und anmutig wie eine Spinne, dem Gesetz der Schwerkraft spottend. Im Licht des unterirdischen Feuers sah er noch unheimlicher als zuvor aus. Mit einem schrillen Schrei stürzte er auf seine Beute herab.

Joey hatte alle rationalen Erklärungsmodelle - Twilight Zone, Quantenphysik, Zeitschleifen oder Energiewelle -vergessen und er wandte auch keine Freudschen Analysen mehr an. Was hier auf ihn herabschoß, nach Schwefel stinkend und seinen Hass herausschreiend, war der uralte Feind, Beelzebub, Satan. Jahrhundertelang, jahrtausendelang hatten die Menschen zu Recht nichts so sehr gefürchtet wie ihn, der Seelen vernichten und jede Hoffnung rauben konnte. Doch sogar Auge in Auge mit dem Herrn der Finsternis fiel es schwer, an ihn zu glauben. Joey verdrängte jedoch alle Zweifel, überwand seinen Skeptizismus, streifte die angebliche Aufgeklärtheit des postmodernen Zeitalters ab, packte das Kruzifix mit beiden Händen und hielt es in die Höhe.

Obwohl das obere Ende des Kreuzes nicht spitz, sondern stumpf war, spießte es P. J. auf. Doch er ergab sich noch nicht. In Joey verkrallt, drängte er ihn rückwärts. Stolpernd und taumelnd kämpften sie unmittelbar am Rande des feurigen Abgrunds.

P. J. umklammerte Joeys Kehle mit einer Hand. Seine Finger waren so stark wie ein Schraubstock, so hart und glänzend wie die Scheren eines Mistkäfers. Seine gelben Augen erinnerten Joey an den streunenden Hund, dem er an diesem Morgen auf der Veranda seines Elternhauses begegnet war.

Schwarzes Blut blubberte auf P. J.s Lippen, als er zischte: »Ministrant!«

Im Inferno der ehemaligen Mine wurden plötzlich giftige Gase in großer Menge freigesetzt. Sie explodierten mit ungeheurer Gewalt. Ein weißglühender Flammenball schoß aus dem Kellerboden empor. P. J.s Haare und Kleider fingen Feuer. Seine Haut verbrannte. Er ließ Joey los, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Kruzifix in der Brust in den stetig breiter werdenden Riß. Das Feuer hüllte seinen Körper wie ein Mantel ein und verschwand mit ihm in der Tiefe.

Obwohl die Flammen auch Joey umgeben hatten, war er völlig unverletzt. Nicht einmal seine Kleider waren angesengt.

Er brauchte weder Rod Serling noch Captain Kirk, den immer logischen Mr. Spock oder sonst jemanden um eine Erklärung für seine wunderbare Rettung zu bitten.

Das unterirdische Licht war so grell, daß er davon geblendet wurde, als er einen Blick in den Abgrund warf. Aber er war auch so ganz sicher, daß sein Bruder nicht nur auf den Boden eines alten Schachtes stürzen würde. Er hatte einen unendlich weiten Weg in die Tiefe vor sich.

Joey sprang über den Riß hinweg und kniete neben Celeste nieder.

Er hob ihre rechte Hand an, dann die linke. Keine Wunden mehr, nicht einmal helle Flecke.

Als er sie zu wecken versuchte, bewegte sie sich und murmelte etwas, kam aber noch nicht zu Bewußtsein.

Durch das unterirdische Feuer, das sich jahrzehntelang von der Kohle genährt hatte, waren unter Coal Valley unzählige Höhlen entstanden, die in dieser Nacht einstürzten, fast so, als hätten sie sich abgesprochen. Der Keller erzitterte, der Boden hob und senkte sich, und der Riß war nun schon anderthalb Meter breit. Die rechteckige Kirche wurde zu einem Rhomboid verzerrt, und die Holzwände begannen sich von den Steinfundamenten zu lösen, in denen sie so lange verankert gewesen waren.

Die Kellerdecke sackte bedrohlich durch, die Balken knackten, und es regnete Gipsbrocken. Joey hob Celeste vom Boden auf. In der glutheißen Luft nach Atem ringend und durch Schweiß in der Sicht behindert, betrachtete er den Riß, der mittlerweile schon fast zwei Meter breit war. Unmöglich, ihn mit dem Mädchen in den Armen zu überspringen.

Doch selbst wenn ihm das irgendwie gelänge - er würde es niemals schaffen, die Kellerräume zu durchqueren, die Treppe zu erklimmen und durch die Sakristei ins Freie zu gelangen, bevor das ganze Gebäude einstürzte.

Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Seine Knie zitterten nicht nur aufgrund Celestes Gewicht, sondern auch, weil ihm seine eigene Sterblichkeit demonstrativ vor Augen geführt wurde.

Aber sie durften nicht auf diese Weise sterben.

Nicht, nachdem sie in dieser Nacht so vieles überlebt hatten.

Er hatte das Richtige getan, und nur das zählte. Er hatte das Richtige getan, und nun würde er sich nicht fürchten, was auch immer geschehen mochte, nicht einmal hier im finstern Tal des Todes.

Ich fürchte kein Unglück.

Anstatt weiter abzusacken, hob sich die splitternde Decke plötzlich wieder ein wenig. Die Wände des oberirdischen Gebäudes hatten sich unter lautem Krachen von dem Fundament losgerissen.

Kalter Wind blies in seinen Rücken.

Erstaunt drehte er sich um. Zwischen den Grundmauern und der zurückweichenden Wand war ein keilförmiges Loch entstanden, durch das der Sturmwind in den Keller drang.

Ein Fluchtweg.

Allerdings war die Kellerwand zweieinhalb Meter hoch. Er wußte nicht, wie er sie erklimmen sollte, und schon gar nicht mit Celeste auf den Armen.

Hinter ihm donnerten Steine in den Feuerschlund. Der Riß wurde noch breiter, und er spürte die Hitze an seinen Beinen. Der Regen, der durch das Loch in den Keller eindrang, verdampfte sofort.

Joey hatte immer noch rasendes Herzklopfen, aber nicht vor Angst, sondern vor ehrfürchtigem Staunen. Geduldig wartete er sein weiteres Schicksal ab.

Vor ihm bildeten sich tiefe Risse in der Kellerwand, entlang der Mörtellinien. Durch die Erderschütterung löste sich ein Stein aus der Mauer, fiel auf den Boden und prallte schmerzhaft gegen Joeys Schienbein. Ein zweiter Stein, ein dritter. Etwas höher ein vierter und fünfter. Die Mauer war nicht mehr glatt. Sie wies Löcher auf, in die er seine Finger krallen konnte.

Joey warf Celeste über seine linke Schulter, wie er es bei Feuerwehrleuten gesehen hatte. Aus der erstickenden Hitze kletterte er in die Regennacht hinaus, während die Kirche sich immer mehr zur Gegenseite neigte, wie ein riesiges Schiff im Sturm.

Er trug Celeste durch nasses Gras und durch Morast, vorbei an einem Lüftungsrohr, aus dem Flammen hervorschossen wie Blut aus einer aufgeschnittenen Arterie, auf den Gehweg, auf die Straße.

Auf dem Pflaster sitzend, hielt er sie in seinen Armen, während sie langsam zu sich kam. Er beobachtete, wie die Kirche St. Thomas auseinanderbrach, wie die Ruinen Feuer fingen, wie die brennenden Wände in einen Abgrund stürzten, in irgendwelche tiefen Grotten und weiter in unbekannte Reiche des Feuers.

18

Lange nach Mitternacht, nachdem ihre Aussagen von der Polizei zu Protokoll genommen worden waren, wurden sie mit einem Streifenwagen nach Asherville gebracht.

Die Polizei hatte einen Räumungsbefehl für den Ort Coal Valley erlassen. Die Familie Dolan, die vor P. J. gerettet worden war und nicht einmal wußte, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte, wurde evakuiert.

Die Leichen von John, Beth und Hannah Bimmer würden in Devokowskis Bestattungsinstitut gebracht werden, wo vor kurzem Joeys Vater aufgebahrt gewesen war.

Celestes Eltern, die in Asherville bei den Korshaks auf eine Nachricht über Beverlys Verbleib gewartet hatten, waren nicht nur über das traurige Schicksal des Mädchens informiert worden, sondern hatten auch erfahren, daß sie nicht nach Coal Valley zurückkehren durften, daß man ihre Tochter zu ihnen bringen würde. Abgesehen von der Kirche war auch eine halbe Häuserreihe in einem anderen Ortsteil vom Erdboden verschluckt worden, und das ganze Städtchen war so gefährdet, daß niemand mehr dort wohnen durfte.

Joey und Celeste saßen auf dem Rücksitz des Streifenwagens und hielten sich bei den Händen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, hatte der junge Polizist sie ihrem einmütigen Schweigen überlassen.

Als sie von der Coal Valley Road auf die Bundesstraße abbogen, hatte es aufgehört zu regnen.

Celeste überredete den Polizisten, sie im Stadtzentrum von Asherville abzusetzen und Joey zu erlauben, sie zu den Korshaks zu begleiten.

Joey wußte nicht, warum sie nicht bis vor die Haustür gefahren werden wollte, aber er spürte, daß sie einen wichtigen Grund dafür hatte.

Er war nicht unglücklich darüber, seine eigene Heimkehr noch ein wenig aufschieben zu können. Inzwischen waren seine Eltern bestimmt von der Polizei geweckt worden, die P. J.s alten Kellerraum durchsuchen wollte. Man hatte ihnen bestimmt erzählt, was ihr älterer Sohn Beverly Korshak, den Bimmers und möglicherweise noch vielen anderen angetan hatte. Während Joey sich seine Welt in dieser Nacht neu aufgebaut hatte, indem er seine zweite Chance nutzte, war für seine Eltern eine Welt zusammengebrochen. Er fürchtete sich davor, den tiefen Schmerz in ihren Augen zu sehen.

Er fragte sich, ob er vielleicht, indem er sein eigenes Schicksal veränderte, auch seine Mutter vor dem Krebs bewahrt hatte, dem sie andernfalls in nur vier Jahren erliegen würde. Er wagte zu hoffen. So vieles hatte sich verändert. Doch tief im Herzen wußte er, daß sein Verhalten den Lauf der Dinge nicht entscheidend beeinflussen konnte. Es gab nun einmal kein Paradies auf Erden.

Während der Streifenwagen davonfuhr, griff Celeste wieder nach seiner Hand und sagte: »Ich muß dir etwas erzählen.«

»Erzähl’s mir.«

»Besser gesagt, ich muß dir etwas zeigen.«

»Dann zeig’s mir.«

Sie führte ihn die nasse Straße entlang, über einen Teppich aus welkem Laub, zum Gebäude der Stadtverwaltung, das alle Behörden beherbergte, mit Ausnahme der Polizei.

In einem Anbau auf der Rückseite war die Stadtbücherei untergebracht. Durch einen Torweg betraten sie den unbeleuchteten Hof und gingen unter tropfenden Lärchen zum Eingang.

Nach dem heftigen Sturm war die nächtliche Stadt wie ausgestorben.

»Wundere dich nicht«, sagte Celeste.

»Worüber?«

Die obere Hälfte der Tür bestand aus vier Glasscheiben. Mit dem Ellbogen schlug Celeste die Scheibe direkt über dem Schloß ein.

Bestürzt warf Joey einen Blick durch den Hof auf die Straße. Das Klirren des Glases war ein kurzes und leises Geräusch gewesen. Er bezweifelte, daß jemand es mitten in der Nacht gehört hatte. Außerdem war Asherville eine Kleinstadt, und im Jahre 1975 waren Alarmanlagen noch nicht sehr verbreitet.

Celeste schob ihren Arm durch die zerbrochene Scheibe und schloß die Tür von innen auf. »Du mußt versprechen, mir zu glauben.«

Sie holte die kleine Taschenlampe aus ihrer Manteltasche und führte ihn an der Ausleihtheke vorbei zwischen die Bücherregale.

Weil das County arm war, war die Bücherei klein. Es würde nicht lange dauern, hier irgendein bestimmtes Buch zu finden. Aber Celeste brauchte überhaupt nicht zu suchen, denn sie wußte genau, was sie wollte.

Sie blieben in der Romanabteilung stehen. Der schmale Gang war von zweieinhalb Meter hohen Regalen eingerahmt. Sie richtete den Lichtstrahl auf den Boden, und die Buchrücken schimmerten geheimnisvoll.

»Versprich, daß du mir glauben wirst«, sagte sie wieder, und ihre großen Augen waren sehr ernst.

»Was?«

»Versprich es.«

»Okay.«

»Versprich es.«

»Ich werde dir glauben.«

Sie zögerte, holte tief Luft und berichtete: »Im Frühjahr 1973, als du die High School abgeschlossen hattest, hatte ich gerade das zweite Jahr hinter mir. Mir hatte immer der Mut gefehlt, dich anzusprechen, und ich wußte genau, daß du mich nie bemerkt hattest. Nun, nach deinem Schulabschluß, würdest du aufs College gehen und dort bestimmt irgendein nettes Mädchen kennenlernen. Ich dachte, ich würde dich nie Wiedersehen.«

Joeys Nackenhaare sträubten sich, obwohl er noch nicht wußte, warum.

»Ich war wahnsinnig deprimiert und kam mir furchtbar häßlich vor. Deshalb stürzte ich mich auf Bücher - das tu ich immer, wenn ich mich miserabel fühle. Ich war hier in der Bücherei und habe nach irgendeinem neuen Roman gesucht, in diesem Gang ... und da habe ich dein Buch gefunden.«

»Mein Buch?«

»Dein Name stand auf dem Buchrücken. Joseph Shannon.«

»Was denn für ein Buch?« Verwirrt betrachtete er die Regale.

»Ich dachte, es wäre ein anderer, der so heißt wie du. Doch als ich das Buch aus dem Regal nahm, sah ich auf dem hinteren Einband ein Foto von dir.«

Ihm fiel wieder auf, wie unergründlich ihre Augen waren.

»Es war kein Foto von dir, so wie du jetzt aussiehst -sondern wie du in etwa fünfzehn Jahren aussehen wirst. Aber du warst es - ganz unverkennbar.«

»Ich verstehe nicht«, murmelte er, obwohl ihm allmählich etwas dämmerte.

»Ich habe mir das Copyright angeschaut - das Buch war 1991 veröffentlicht worden.«

»In sechzehn Jahren?«

»Das war im Frühjahr 1973«, erinnerte sie ihn. »Ich hielt damals also ein Buch in den Händen, das erst achtzehn Jahre später veröffentlicht werden würde. Im Klappentext stand, du hättest schon acht Romane geschrieben, darunter sechs Bestseller.«

Seine Nackenhaare sträubten sich noch mehr, aber es war kein unangenehmes Gefühl.

»Ich wollte das Buch ausleihen, doch als ich es der Bibliothekarin zusammen mit meiner Leihkarte hinschob, als sie es in die Hände nahm . da war es plötzlich nicht mehr dein Buch. Es war irgendein im Jahre 1969 erschienener Roman, den ich schon kannte.«

Sie richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Regale hinter ihm.

»Ich weiß nicht, ob es zuviel verlangt ist«, sagte sie, »aber vielleicht steht es auch heute wieder hier, in dieser Nacht aller Nächte.«

In ehrfürchtigem Staunen folgte Joey dem Strahl der Taschenlampe, der über ein Regal huschte.

Celeste stieß einen leisen Freudenschrei aus. Der Strahl war auf einen roten Buchrücken gerichtet.

Joey las seinen Namen in Silberbuchstaben. Und über dem Namen den Titel: Highway ins Dunkel.

Zitternd holte Celeste das Buch zwischen den anderen hervor. Sie zeigte ihm den Schutzumschlag, und auch da stand sein Name in Großbuchstaben, über dem Titel. Dann drehte sie das Buch um.

Er starrte sein Foto verblüfft an, auf dem er etwa Mitte dreißig sein mußte.

Er wußte natürlich, wie er in diesem Alter ausgesehen hatte, denn schließlich war er ja in seinem anderen Leben schon fünf Jahre älter. Aber so gut hatte er mit fünfunddreißig nicht ausgesehen. Auf diesem Foto war er nicht vorzeitig gealtert, nicht vom Alkohol verwüstet, und seine Augen hatten keinen toten Ausdruck. Er war gut gekleidet, offenbar wohlhabend -was aber am wichtigsten war: Er sah wie ein glücklicher Mann aus.

Nein, am wichtigsten war etwas anderes. Das Foto war ein Gruppenbild; neben ihm standen Celeste, auch fünfzehn Jahre älter als jetzt, und zwei Kinder, ein etwa sechsjähriges hübsches Mädchen und ein netter Junge, vielleicht acht Jahre alt.

Mit Tränen in den Augen nahm Joey ihr das Buch aus der Hand. Sein Herz drohte vor nie gekannter wilder Freude zu zerspringen.

Sie deutete auf den Text unter dem Foto, und er mußte heftig blinzeln, um überhaupt lesen zu können:

Joseph Shannon ist der Verfasser von acht weiteren bekannten Romanen. Sechs davon waren Bestseller. Die Freuden der Liebe und eines glücklichen Familienlebens - das sind seine Hauptthemen. Seine Frau Celeste hat mit ihren Gedichten schon mehrere Preise gewonnen. Sie leben mit ihren Kindern Josh und Laura in Südkalifornien.

Seine zitternden Finger glitten beim Lesen von einem Wort zum anderen, von einer Zeile zur anderen. So hatte er als Kind während der Messe die Texte im Missale verfolgt.

»Du siehst also«, sagte sie leise, »daß ich seit 1973 gewußt habe, daß du eines Tages kommen würdest.«

Ihre Augen waren jetzt nicht mehr so unergründlich wie zuvor, aber er wußte, daß sie für ihn in mancher Hinsicht immer ein Rätsel bleiben würde, auch wenn ihnen ein noch so langes gemeinsames Leben beschieden sein würde.

»Ich möchte es mitnehmen«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß das nicht möglich ist. Außerdem brauchst du das Buch nicht, um es schreiben zu können. Du mußt nur daran glauben, daß du es schreiben wirst.«

Er ließ sich das Buch aus der Hand nehmen.

Während sie es ins Regal zurückstellte, dachte er, daß seine zweite Chance vielleicht nicht nur den Sinn gehabt hatte, P. J. das Handwerk zu legen. Noch wichtiger war, daß er auf diese Weise Celeste Baker kennengelernt hatte. Gewiß, man mußte dem Bösen Widerstand leisten, aber ohne Liebe konnte es für die Welt keine Hoffnung geben.

»Versprich mir, daß du daran glauben wirst«, sagte sie, während sie ihm zärtlich über die Wange strich.

»Ich verspreche es.«

»Dann«, sagte sie, »wird alles möglich sein.«

Um sie herum war die Bücherei erfüllt von Leben, die gelebt worden waren, von Hoffnungen, die wahrgeworden waren, von Ehrgeiz, der nicht enttäuscht worden war - und von Träumen, im Wohlstand leben zu können.

Aus dem Amerikanischen von Alexandra v. Reinhardt

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