»Falls sie das irgendwie überlebt haben sollte, werde ich sie höchstpersönlich umbringen!«
Togo, den Iceni zu sich gerufen hatte, stand mit ausdrucksloser Miene ein Stück neben ihr und war klug genug, kein Wort zu sagen.
Es war eine Schande, dass Sub-CEO Akiri nach allzu kurzer Zugehörigkeit zu ihrem persönlichen Stab vor einigen Monaten von einem Agenten der Schlangen ermordet worden war. Im Augenblick wollte sie einfach einen Offizier der mobilen Streitkräfte in ihrer Nähe haben, damit sie ihn anbrüllen konnte.
Auf dem Display über Icenis Schreibtisch befand sich die Midway-Flotte inzwischen auf ihrem vorgesehenen Kurs und beschleunigte kontinuierlich weiter, um das Schlachtschiff von CEO Boyens’ Flotte abzufangen. »Oh, ist das nicht wunderbar? Das ist das Sahnehäubchen!«
»Madam Präsidentin?«, fragte Togo irritiert.
»Sehen Sie nur! Achten Sie auf diese beiden Symbole. Die bedeuten, dass diese beiden Jäger sich auf einer Flugbahn befinden, die sie in das Syndikat-Schlachtschiff rasen lässt. Sie planen keinen Beschuss aus nächster Nähe, sondern eine Kollision!«
Togo zog die Brauen zusammen, sodass sich auf seiner üblicherweise glatten Stirn Falten bildeten. »Wie hat die Kommodor die Besatzung dieser beiden Schiffe dazu überreden können, einen solchen Befehl zu befolgen?«
»Das musste sie gar nicht! Dafür gibt es ferngesteuerte Befehlsschaltkreise. Mit den richtigen Codes kann Marphissa die Kontrolle über die anderen Schiffe in ihrer Flotte übernehmen. Ich habe ihr diese Codes anvertraut, und jetzt benutzt sie sie für eine Aktion, die mich enorm viel Zustimmung kosten wird!«
Dieses Mal nickte Togo verstehend. »Weil man glauben wird, Sie hätten die Besatzung dieser beiden Schiffe in den Tod geschickt. Das wird bei den anderen Einheiten der mobilen Streitkräfte nicht gut ankommen.«
»Und bei den Bürgern auch nicht! Ich sorge die ganze Zeit dafür, die Bürger mit einem Rinnsal an Veränderungen bei Laune zu halten, indem ich etwas für ihr Los tue und ihnen mehr Freiheit gewähre. Wäre ich eine typische CEO, würde niemand von ihnen mit der Wimper zucken, wenn ich das Leben von Mitbürgern so missachte. Aber von mir erwarten sie etwas anderes.«
»Sie verfügen über Codes, mit denen Sie die Codes widerrufen können, die Sie der Kommodor gegeben haben«, wandte Togo ein.
»Nur dass es vier Stunden dauern wird, bis meine Codes die ihren widerrufen! Womit ich ungefähr drei Stunden zu spät komme!«, zischte sie.
»Dieses Verhalten passt meiner Ansicht nach nicht zu Kommodor Marphissa«, überlegte ihr Assistent.
Iceni warf einen mürrischen Blick auf das Display. »Ob es zu ihr passt oder nicht, sie verhält sich aber so. Natürlich will ich Boyens und seine Flotte schnellstens loswerden, aber nicht auf eine Weise, die meine Position unterhöhlt. Das da wird sich wie ein Lauffeuer in allen umliegenden Sternensystemen herumsprechen, und alle werden mich wieder für eine typische CEO halten.«
»Man wird Sie respektieren, wenn Sie …«
»Ich verfüge nicht über genügend Feuerkraft, dass die bloße Angst vor mir die Regentschaft in dieser Region übernehmen könnte!« Und das will ich auch gar nicht. Ich müsste zu gewissen Maßnahmen greifen, um diese Angst zu verbreiten, und ich habe in meinem Leben schon zu viele solcher Maßnahmen ergriffen. Togo waren einige von diesen Dingen bekannt, bei manchen war er sogar derjenige gewesen, der ihre Befehle ausgeführt hatte, doch er wusste nicht alles. Bei weitem nicht alles. »Diese Aktion könnte auch unsere Chancen auf ein deutlich stärkeres gegenseitiges Verteidigungsabkommen mit Taroa zunichte machen.«
Sie zwang sich dazu, Platz zu nehmen und langsam durchzuatmen. Wie soll ich mit den Folgen dieses Zwischenfalls umgehen? Es geht ja nicht nur um den Verlust des größten Teils meiner Flotte, sondern auch um den bewussten Einsatz von zwei Kriegsschiffen mitsamt ihrer Besatzung als Geschosse.
Zurückhaltend räusperte sich Togo. »Einige Syndikat-Schiffe ändern ihren Kurs.«
Iceni sah auf das Display und erkannte, dass die Schweren Kreuzer und die Jäger umkehrten, die eben noch Jagd auf den neuen Kreuzer gemacht hatten. »Sie machen kehrt, um die Verteidigungslinie rund um das Schlachtschiff wieder zu verstärken.« Marphissas Schiffe hielten trotzdem weiter an ihrem Kurs fest, obwohl deren Mission nicht länger nur hoffnungslos, sondern völlig unmöglich geworden war. Was will sie damit erreichen?
Die Antwort darauf wurde Iceni klar, unmittelbar bevor Marphissas Schiffe ihren Angriff abbrachen und in ihren ursprünglichen Orbit zurückkehrten. »Das war nur ein Bluff. Zum Teufel mit ihr. Sie hat Boyens Angst eingejagt, damit er die Finger von dem fremden Kreuzer lässt.«
»CEO Boyens wird wütend darüber sein, dass der Kreuzer entkommen ist«, stellte Togo fest.
»Sogar sehr wütend.« Kann ich damit was anfangen? Aber ja, das kann ich für mich nutzen. Die Mischung aus Frust und Wut war Erleichterung gewichen. Nicht nur, dass Marphissa sich als viel raffinierter denn erwartet entpuppt hatte. Sie hatte Iceni damit auch auf eine Idee gebracht, wie sich die derzeitige Pattsituation zwischen CEO Boyens und jedem anderen in diesem Sternensystem endlich auflösen ließ. »Ich muss mit diesem neuen Kreuzer Kontakt aufnehmen. Er könnte uns eine große Hilfe sein. Teilen Sie General Drakon mit, dass ich mit ihm unter vier Augen reden muss. Ja, nur er und ich, und sehen Sie mich nicht so an. Hier tummeln sich immer noch ein paar Schlangen, und ich kann es nicht riskieren, dass die von dem Plan erfahren, der mir eben in den Sinn gekommen ist.«
»Madam Präsidentin, wenn Sie nicht glauben, dass Sie auf mich zählen können …«, begann Togo in einem förmlicheren Tonfall als üblich.
»Darum geht es nicht.« Das ist genau die Art von Situation, bei der ich Colonel Malins Status als Informationsquelle zu meinem Vorteil benutzen kann. Gleichzeitig begrenze ich das Risiko, dass irgendjemand erahnen wird, was ich vorhabe. Sie brachte ein aufmunterndes Lächeln zustande. »Sie stehen mir zu nahe. Wenn man weiß, dass Sie daran beteiligt sind, wird jeder versuchen herauszufinden, was los ist.«
Togo schien dieses schwache Argument nicht zu überzeugen. »Madam Präsidentin, ich muss Sie warnen, dass General Drakon sehr sicher gegen Sie arbeitet. Er wird jede augenscheinliche Nähe zwischen Ihnen zu seinem Vorteil nutzen.«
»Nähe?«, wiederholte sie energisch.
»Es gibt … Gerüchte.«
»Es gibt immer Gerüchte. Ich kann mein Handeln nicht nach Gerüchten von irgendwelchen Klatschmäulern richten, die nicht gemerkt haben, dass sie dem Kindergarten schon lange entwachsen sein sollten. Lassen Sie General Drakon diese Nachricht zukommen, während ich mit dem neuen Kreuzer Kontakt aufnehme.«
Drakon sah Iceni an und ließ sich ihren Vorschlag gründlich durch den Kopf gehen. Ich bin kein Experte für die Taktiken mobiler Streitkräfte, aber die Idee klingt vernünftig. »Und Sie glauben, das funktioniert?«
»Ich glaube, die Chancen stehen gut«, antwortete sie. »Aber wir können nicht Togo losschicken. Jeder wird sein Verschwinden bemerken und vermuten, dass er für mich in einer besonderen Mission unterwegs ist.«
»Und wen sollen wir schicken? Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es zu riskant ist, so etwas als Nachricht zu übermitteln. Ein Hinweis auf das, was wir machen, und Boyens kann uns eine lange Nase zeigen.«
Mit einer Hand beschrieb Iceni eine beiläufige Geste. »Wie wäre es mit Colonel Malin und Colonel Morgan?«
»Zwei von meinen Leuten sollen sich persönlich mit Black Jack treffen?« Er kniff ein wenig die Augen zusammen. »Sie gehen freiwillig das Risiko ein, mir zu vertrauen, dass ich die beiden nicht noch andere Nachrichten überbringen lasse?«
»Ja, das tue ich«, gab sie ruhig zurück. »Oder wollen Sie mir damit sagen, ich sollte das besser nicht tun?«
»Ich will damit sagen, dass wir beide genügend Erfahrung gesammelt haben, um zu wissen, dass man solche Risiken nicht eingeht. Was ist jetzt anders?«
»Ich habe Sie besser kennengelernt.«
Er wollte das nur zu gern glauben, aber es ließ ihn nur noch skeptischer werden.
»Für alle Fälle«, redete sie weiter, »kann ich einen Ihrer Offiziere mit einem verborgenen Recorder ausrüsten, der alles aufzeichnet, was gesprochen wird. Auf diese Weise kann ich sicherstellen, dass keine Nachrichten an Black Jack weitergeleitet werden, die wir nicht abgesprochen haben.«
»Also gut. Ich kann ja verstehen, wieso Sie Colonel Malin vorschlagen. Aber wieso Morgan?«
Diesmal reagierte sie mit einem wissenden Lächeln. »Wenn einer von beiden irgendwelche eigenen Absichten verfolgt, werden Sie es vom anderen erfahren.«
»Das stimmt.« Im Geist ging er den Plan noch einmal durch, dann nickte er. »Sie haben recht. Die Leute werden zwar merken, dass Malin und Morgan nicht da sind, aber sie werden davon ausgehen, dass sie in meinem Auftrag unterwegs sind, und das kann mit den mobilen Streitkräften ja nichts zu tun haben.«
»Kriegsschiffe«, korrigierte Iceni ihn. »Ich will ganz weg von der Terminologie und der Denkweise des Syndikats. Ich gehe davon aus, dass ich von dem neuen Kreuzer bald eine Reaktion auf unser Angebot erhalte, ihn von einem unserer Schweren Kreuzer in sein Heimatsystem zu eskortieren. Sobald ich die Zustimmung habe, gebe ich Ihnen Bescheid. Dann können wir uns überlegen, wie wir Ihre Offiziere unbemerkt zu Black Jack schaffen.«
Drakon rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. »Dafür könnten wir diese neue Verbindungsoffizierin der Allianz gebrauchen.«
»Wirklich? Ja, Sie haben recht.« Diesmal wirkte ihr Lächeln völlig ehrlich. »Wir beide sind ein gutes Team, Artur.«
Marphissa stand an der Hauptschleuse der Manticore und wartete, dass das Shuttle andockte und die Verbindungen versiegelt wurden, so dass keine Atmosphäre entweichen konnte. Was zum Teufel ist bloß los? Wieso hat Präsidentin Iceni darauf bestanden, dass ich mich persönlich davon überzeuge, wie die Fertigstellung unseres Schlachtschiffs vorankommt?
Zwei Tage hatte es gedauert, bis die Manticore den Gasriesen erreichte, wo das neue Schlachtschiff Midway nur langsam weiter ausgerüstet wurde. Damit war Marphissa zwei Tage vom Rest der Flotte entfernt, also etliche Lichtstunden von den Ereignissen, die sich nahe dem Hypernet-Portal abspielten.
Das Shuttle beförderte sie direkt zu einer der Luftschleusen der Midway, wo der junge und geniale Kapitan-Leytenant Kontos ganz allein auf sie wartete. »Hier entlang, Kommodor«, sagte er zu ihr.
Als sie losgingen, war weit und breit niemand zu sehen. Es gab zwar die Werftarbeiter und eine Minimalcrew, doch aufgrund der immensen Größe des Schiffs waren viele Bereiche verwaist. Marphissa verspürte ein leichtes Unbehagen, als sie Seite an Seite durch einen Korridor gingen. Zwar hatte Kontos keinerlei Anzeichen für einen gefährlichen Ehrgeiz erkennen lassen, und Präsidentin Iceni hatte sie schließlich hierhin beordert, doch erinnerte diese Situation viel zu sehr an Umstände, unter denen manchmal Senioroffiziere des Syndikats spurlos verschwunden waren, die irgendwen vor den Kopf gestoßen hatten. Zudem waren ihr von »Freunden« Gerüchte zugetragen worden, Iceni sei sehr verärgert über den Trick, mit dem sie Boyens dazu veranlasst hatte, den neuen Schweren Kreuzer entkommen zu lassen. Selbst wenn das stimmen sollte, würde die Präsidentin mich nicht aus dem Weg räumen lassen. Das ist nicht ihre Art. »Was ist los?«, fragte sie Kontos mit gesenkter Stimme.
Kontos warf ihr einen rätselhaften Blick zu. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Es ist wichtig. Sie … Sie werden eine andere Offizierin kennenlernen, die Sie auf die Manticore begleiten soll.«
Das war schon mal beruhigend zu hören, da es bedeutete, dass sie auf ihr Schiff zurückkehren würde — hoffentlich weder tot noch unter Arrest gestellt.
Kontos zog einen Umschlag aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. »Ihre Befehle. Ich habe sie nicht gelesen, ich kenne nur das Begleitdokument, mit dem ich angewiesen wurde, Ihnen den Umschlag zu geben.«
»Schriftliche Befehle?« Marphissa starrte ungläubig den Umschlag an, während sie ihn entgegennahm.
»Man will kein Risiko eingehen, dass irgendjemand etwas von dem erfährt, was da drinsteht.«
»Das würde ich aber auch sagen. Ich habe noch nie einen Befehl erhalten, der auf Papier geschrieben war.«
Vor einer Luke blieb Kontos stehen. »Sie ist da drin. Ich bin der Einzige hier an Bord, der sie gesehen hat.«
»Und wer bitte soll sie sein? Hat sich die Präsidentin etwa persönlich an Bord geschmuggelt?«
»Das wäre nicht annähernd so erstaunlich gewesen«, meinte Kontos und salutierte. »Ich soll Sie nach drinnen gehen sehen und die Luke verschließen, und dann soll ich warten, bis Sie mich rufen. Neben meinem Platz auf der Brücke gibt es eine funktionstüchtige Komm-Einheit. Ich werde dort warten.«
»Soll ich die Befehle lesen, bevor ich diese Offizierin kennenlerne?«
»Das weiß ich nicht, Kommodor.«
»Na gut. Lassen Sie mich rein, ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich fertig bin.« Idiotische Heimlichtuerei, dachte Marphissa. Was sollte rechtfertigen, dass niemand irgendetwas erfahren durf—
Sie hatte zwei Schritte in das Abteil gemacht, da blieb sie wie angewurzelt stehen und bekam kaum etwas davon mit, dass Kontos hinter ihr die Luke schloss.
Neben einem der fest mit dem Boden verbundenen Tische stand eine Offizierin der Allianz-Flotte, ein Captain in vollständiger Uniform.
Marphissa atmete einmal tief durch. Eine Allianz-Offizierin. Sie hatte Kriegsgefangene gesehen und gegen Allianz-Schiffe gekämpft, aber sie hatte nie mit einem Offizier der Allianz gesprochen. Genau genommen hatte sie kein einziges Mal mit jemandem gesprochen, der zur Allianz gehörte. Der Krieg hatte hundert Jahre gedauert. Die Menschen aus der Allianz waren nicht bloß der Feind, sondern sie waren schon immer der Feind gewesen, die Bedrohung für sie und ihr Zuhause. Einem von ihnen gegenüberzustehen kam ihr genauso fremdartig vor, als hätte man sie mit einem Enigma zusammen eingesperrt.
Aber Präsidentin Iceni hatte sie hergeschickt, also musste es einen guten Grund für diese Situation geben.
Ich habe mich dem Tod gestellt, dann kann ich mich auch einer Offizierin der Allianz-Flotte stellen.
»Ich bin Captain Bradamont«, sagte die Offizierin, die wie in Habachtstellung dastand.
»Kommodor Marphissa«, erwiderte sie reflexartig, dann wanderte ihr Blick zu Bradamonts linker Brust, wo sich die Ehrenabzeichen befanden. Während sie bei der Uniform des Syndikats jede dieser Auszeichnungen einer bestimmten Leistung in einer bestimmten Schlacht zuzuordnen vermochte, sah sie hier nur ein chaotisches Durcheinander aus Farben und Mustern, das für sie ohne Bedeutung war. Wer war diese Frau. »Wieso sind Sie hier?«
»Haben Sie keine Befehle erhalten?«
»Ich …« Marphissa sah auf den Umschlag, den sie in der Hand hielt. »Vielleicht hätte ich das hier besser vorher gelesen.«
Nachdem sie ein paar frustrierende Sekunden damit verbracht hatte herauszufinden, wie dieser Umschlag funktionierte, gelang es ihr endlich, das Siegel zu brechen und die Lasche umzuschlagen. Sie zog die Blätter heraus und las eilig den Text. Verbindungsoffizierin … Unterstützung bei besonderem Projekt … umfassender Zugriff genehmigt … »Was ist das für ein besonderes Projekt? Oh, Moment, da ist ja noch ein Blatt.«
Eine Operation, um die Syndikat-Flotte in die Enge zu treiben, damit sie entweder kämpft oder sich zurückzieht? Marphissa konzentrierte sich wieder auf die Offizierin. »Captain …?«
»Bradamont.«
»Ich bin im Augenblick völlig ratlos. Ich hätte mir nie vorgestellt, jemals mit jemandem wie Ihnen zu reden. Als es überall noch von Schlangen wimmelte, hätte das eine Anklage wegen Hochverrats nach sich gezogen.«
»Schlangen? Ah, die Innere Sicherheit.«
Die Abscheu in Bradamonts Tonfall entsprach Marphissas eigenen Gefühlen für die Schlangen. Marphissa stellte fest, dass sie ein wenig aufzutauen begann. »Die gibt es nicht mehr. Wir haben sie umgebracht.« Ich habe sogar einen von ihnen persönlich getötet. Wie kommt es, dass ich auf einmal damit prahlen will, so als wollte ich diese Frau mit meinen eigenen Leistungen übertrumpfen? Dabei gefällt es mir gar nicht, mich daran zu erinnern, wie ich diese Schlange getötet habe. Der Kerl hatte es natürlich verdient, aber ich mag es nicht, daran zurückzudenken.
Bradamont nickte dabei und sagte schließlich: »Ich weiß, Sie haben Ihre Innere Sicherheit eliminiert. Ansonsten hätte ich mich auch nicht damit einverstanden erklärt, in diesem Sternensystem zu bleiben.«
»Einverstanden erklärt?«
»Ich habe mich freiwillig gemeldet. Oder vielleicht sollte ich sagen, Admiral Geary hat mich gebeten, dass ich mich freiwillig melde.«
»Admiral Geary? Ah, Sie meinen Black Jack. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht so leicht ist, seine Bitten abzuschlagen. Gehörten Sie zu seinem Stab?«
Die Offizierin schüttelte den Kopf. »Ich habe die Dragon befehligt. Einen Schlachtkreuzer.«
Diese Aussage hörte sich nicht nach Prahlerei an, aber es konnte dennoch so gemeint sein. Marphissa kam näher und musterte Bradamont aufmerksam. »Warum haben Sie uns geglaubt, als wir Ihnen sagten, dass die Schlangen ausgelöscht sind?«
»Die Ruinen an den Stellen, an denen sich die Einrichtungen des Inneren Sicherheitsdienstes befunden haben, sind nicht zu übersehen«, antwortete Bradamont. »Außerdem hat jemand aus diesem Sternensystem, dem ich vertrauen kann, diese Tatsache bestätigt.«
»Die Allianz hatte hier einen Spion sitzen?«, platzte Marphissa raus.
»Nein. Nicht mal annähernd ein Spion. Er ist … ein Freund.«
»Ein Freund.« Einen Spion hätte sie als Antwort akzeptieren können, aber einen Freund? Wie sollte das möglich sein?
Eine lange Pause schloss sich an, da keiner von ihnen eine Ahnung hatte, worüber sie sich unterhalten sollten. Worüber unterhielt man sich mit dem Feind? Selbst wenn der Feind nicht mehr der Feind war? Schließlich machte Bradamont eine ausholende Geste. »Ich sehe, Sie haben sich ein Schlachtschiff angeeignet.«
»Ja. Aus dem Kane-System. Wir haben es dort aus einer Orbitaleinrichtung des Syndikats geholt.«
»Ich habe den Einsatzbericht gelesen«, sagte Bradamont und erstaunte damit Marphissa. »Ihre Präsidentin hat ihn mir geschickt. Das war sehr guter Umgang mit dem Schiff, Kommodor.«
Marphissa wäre fast vor Schreck über dieses Lob zusammengezuckt, dann merkte sie, wie sie sich — wenn auch verhalten — für diese Offizierin zu erwärmen begann. Diese Frau gehörte zu den Befehlshabern von Black Jacks Schlachtkreuzern, und sie findet, ich habe bei Kane gute Arbeit geleistet? Na ja, das habe ich auch. Aber ich hätte nie damit gerechnet, von einer Allianz-Offizierin dafür gelobt zu werden. Will sie mich in Sicherheit wiegen? Schmeichelt sie mir, um mich dann zu überrumpeln? »Danke Captain.« Wieder folgte eine verlegene Pause. »Waren Sie schon mal auf einem Schlachtschiff?«, fragte Marphissa.
»Auf einem Syndik-Schlachtschiff, meinen Sie?«, erwiderte sie. Sie legte den Kopf ein wenig schräg und überlegte kurz. »Ein einziges Mal. Ich hatte ein Enterteam angeführt. Das war bei Ixchel.«
Offenbar gab es keine neutralen Themen, über die sie sich unterhalten konnten. »Mit dem Gefecht bin ich nicht vertraut.« Es hatte zu viele gegeben, um sie alle zu kennen. »Ich darf annehmen, dass die Allianz gesiegt hatte.«
»Wenn Sie Sieg so definieren, dass am Ende von unseren Leuten mehr gelebt haben als von Ihren, dann war es ein Sieg«, antwortete Bradamont. »Dann haben wir uns zurückgezogen und das Schiff gesprengt.«
Da hatten sie etwas gemeinsam, was nicht allzu überraschend war. »Sie haben etliche Leute verloren, um das Schlachtschiff zu erobern, und anschließend haben Sie es wieder verlassen und gesprengt.«
»Hört sich ganz so an, als hätten Sie das Gleiche durchgemacht.«
»Ein paar Mal.« Erneut folgte betretenes Schweigen, dann deutete Marphissa auf die Stühle an dem Tisch, neben dem sie standen. Dieser Raum würde einmal die Offizierslounge werden, wenn alles fertiggestellt war. Auch wenn vieles noch fehlte, hatte man wenigstens schon das Mobiliar installiert. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Danke.« Bradamont setzte sich und sah Marphissa an. »Nur falls Sie sich das fragen — ich fühle mich im Augenblick auch unbehaglich.«
»Das habe ich gemerkt. Vor ein paar Monaten hätte jede von uns als erstes versucht, ihr Gegenüber zu töten.«
»So wie wir es beim Militär unser ganzes Leben lang getan haben. So wie unsere Eltern und unsere Großeltern.«
»Aber jetzt sind wir … na ja …« Marphissa suchte nach dem richtigen Begriff, fand ihn aber nicht. »Was sind wir jetzt?«
»Wir stehen jetzt auf derselben Seite, würde ich sagen. Was halten Sie von dem Plan, um die Syndik-Flotte loszuwerden?«
»Riskant. Aber … falls das funktioniert.«
Bradamont lächelte. »Richtig. Falls das funktioniert.« Sie griff in eine Reisetasche, die neben dem Tisch auf dem Boden stand, und tat so, als würde sie nicht bemerken, wie sich Marphissa misstrauisch anspannte. Sie holte eine Flasche heraus. »Ich habe eine Kleinigkeit mitgebracht. Ein … ähm …«
»Ein Begrüßungsgeschenk?«, fragte Marphissa und betrachtete das Etikett. »Whiskey? Von Vernon? Wissen Sie, wie viel der im Syndikatgebiet wert ist? Niemand hat seit … seit einem Jahrhundert so was beschaffen können, außer auf dem Schwarzmarkt.«
»Wir befinden uns aber im Syndikatgebiet, nicht wahr?«, entgegnete Bradamont.
Trotz ihrer Besorgnis konnte Marphissa grinsen. »Nein, da befinden wir uns nicht. Nicht mehr. Was dagegen, wenn ich sie öffne?«
»Darauf hatte ich gehofft«, antwortete sie amüsiert. »Ich werde auch das erste Glas trinken, damit Sie sehen können, dass der Whiskey nicht vergiftet oder mit irgendetwas anderem versetzt ist.«
»Sie könnten das Gegengift schon vorher eingenommen haben«, gab Marphissa zu bedenken. »Oder Sie wollen nur einen Vorsprung herausholen.«
»Sie sind verdammt scharfsinnig für eine …« Bradamont wurde ernst. »Tut mir leid.«
»Macht der Gewohnheit«, sagte Marphissa und schenkte zwei Gläser ein. »Mir kann es genauso passieren, dass ich etwas Beleidigendes zu Ihnen sage. Versuchen Sie, es nicht persönlich zu nehmen.«
»Abgemacht.«
Marphissa nippte an ihrem Glas und staunte über den Geschmack. »Ich muss zugeben, ich bin verblüfft. Wie konnten Sie sich dazu entschließen, sich in die Hände der …«
»… der Leute zu begeben, die vor Kurzem noch Syndiks waren? Leicht ist es mir nicht gefallen.« Unbestimmbare Gefühle flammten in ihren Augen auf. »Ich war in einem ihrer Arbeitslager interniert. Ich weiß, wie es da zugeht.«
»Es gibt keine Arbeitslager mehr, jedenfalls dort nicht, wo Präsidentin Iceni etwas zu sagen hat.«
»Das ist mir zu Ohren gekommen.« Abermals lächelte Bradamont. »Sie klingen so, als wären Sie stolz darauf.«
»Das bin ich auch. Wir … wir verändern viel hier.« Auch Marphissa fand ihr Lächeln wieder. »Präsidentin Iceni wird uns helfen, eine Regierung aufzubauen, die tatsächlich dem Volk dient.«
Bradamont musterte sie einen Moment lang, dann hob sie ihr Glas. »In dem Fall sollten wir auf Präsidentin Iceni anstoßen.«
Marphissa stieß mit ihr an. »Auf unsere Präsidentin.« Sie achtete darauf, wie viel Bradamont trank, da sie entschlossen war, nicht mehr Alkohol zu sich zu nehmen als die Allianz-Offizierin. Aber Bradamont hatte auf Iceni angestoßen … »Sie sind nur hier, um uns bei dieser Operation zu helfen?«
»Ich soll hier bleiben, wenn die Flotte weiterfliegt«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Verbindungsoffizierin. Ich soll beobachten, wie sich die Lage hier entwickelt und in jeder Hinsicht helfen und unterstützen, solange ich damit nicht gegen die Interessen der Allianz verstoße.«
»Unterstützen?« Marphissa lachte über den verrückten Gedanken, der ihr durch den Kopf ging. »Auch bei Taktiken? Können Sie uns zeigen, wie Black Jack kämpft?«
»Ja.«
Gesegnet seien die Vorfahren! Marphissa trank noch ein Glas. Erstaunen lieferte sich ein zähes Ringen mit einem Gefühl von Ablehnung. »Das ist … Sagen Sie, kann ich Ihnen meine Gefühle schildern? Ich habe momentan nämlich Schwierigkeiten, die zu ordnen. Einerseits denke ich, wie großartig es wäre, wenn uns jemand Black Jacks Tricks beibringen könnte. Und da die Allianz-Flotte mit ihrer Feuerkraft allem weit überlegen ist, was mal zu den Syndikatwelten gehört hat, kann es nicht verkehrt sein, eine von Black Jacks ehemaligen Offizierinnen bei uns zu haben. Dafür würde ich Sie am liebsten küssen.«
Bradamont trank noch einen Schluck und zog eine Braue hoch. »Ich nehme an, ich sollte meinen Lipgloss aber noch nicht auffrischen.«
»Nein, denn auf der anderen Seite hat Black Jack uns gedemütigt und unsere mobilen Streitkräfte ausradiert. Diese Streitkräfte sind mit unseren Kameraden bemannt gewesen. Das ist schon schlimm genug. Aber jetzt steigt auch noch jemand aus seinen Reihen vom hohen Ross herunter, um uns zu zeigen, wie wir kämpfen sollen. Dafür würde ich Sie am liebsten verprügeln.«
»Sie haben aber normalerweise nicht derart gespaltene Gefühle gegenüber anderen Leuten, oder, Kommodor?«
»Normalerweise nicht. Zumindest nicht im gleichen Moment. Wie sieht es mit Ihren Gefühlen aus, Captain?«
Bradamont sah sich in der Kabine um und trank gemächlich einen Schluck. »Ich kann Ihre Empfindungen verstehen. Jeder, der etwas von seinem Fach versteht, ist stolz auf das, was er leistet und was er kann. Jedem wird eine herablassende oder gar bevormundende Behandlung missfallen. Aber Sie benötigen keine Hilfe bei den Grundlagen. Wenn das, was Sie bei Kane gemacht haben, typisch für Sie ist, dann sind Sie gut, Kommodor. Was mich angeht, ist das alles sehr seltsam. Ich bin schon zuvor auf Syndik-Plan … verzeihen Sie. Ich bin auf Planeten der Syndikatwelten gewesen, und zwar als Gefangene. Eine innere Stimme schreit mich an, ich solle sofort die Flucht ergreifen. Eine andere Stimme, die sich meldet, wenn ich Sie in dieser Uniform dasitzen sehe, drängt mich dazu, Sie für den Tod und die Zerstörung zu hassen, die ein sehr langer und völlig sinnloser Krieg gefordert hat.« Sie stellte ihr Glas ab und schüttelte den Kopf. »Ein Teil von mir steckt immer noch in der Vergangenheit fest, ein anderer Teil sieht Menschen, die versuchen die Vergangenheit hinter sich zu lassen, etwas Neues zu schaffen und die Fesseln abzuwerfen, von denen sie festgehalten worden sind. Und Sie sind Colonel Rogeros Volk.«
»Colonel Rogero?« Marphissa musste sich anstrengen, um sich daran zu erinnern, wer das war. »Einer von General Drakons Brigadekommandanten. Er ist Ihr Freund?«
»Ja.«
Dieses eine Wort verriet das Vorhandensein von mehr Emotionen, als sie unter Freunden eigentlich üblich waren. »Ah, verstehe. Dahinter muss sich aber eine interessante Geschichte verstecken.«
»Das ist richtig.« Bradamont lehnte sich zurück und stützte sich mit einem Arm auf der Rückenlehne ihres Stuhls ab. »Worauf ich hinauswill, ist, dass ich durch Colonel Rogero begriffen habe, dass Syndiks Menschen so wie wir sind. Und dass einige von Ihnen nicht bloß Menschen, sondern sehr anständige Menschen sind. Das änderte damals allerdings nichts daran, was während des Krieges geschah. Ich musste weiter gegen Sie alle kämpfen, und ich musste dabei mein Bestes geben. Unabhängig davon, wer jeder Einzelne von Ihnen als Individuum war, kämpften Sie nämlich alle gemeinsam für etwas, dem ich den Sieg nicht gestatten durfte.«
»Ich verstehe.« Marphissa seufzte schwer und betrachtete die noch nicht fertiggestellte Tischplatte. »Ich wollte auch nicht, dass das Syndikat gewinnt, aber ich hatte Angst davor, was kommen würde, wenn die Allianz siegen sollte. Man zeigte uns Fotos von Planeten, um die gekämpft worden war und die man bombardiert hatte … Sagen Sie nichts, ich weiß es. Wir haben das Gleiche getan wie Sie. Ich wollte meine Heimat beschützen, weiter nichts. Man brachte uns bei, Sie hätten den Krieg begonnen. Wussten Sie das? Als wir Kinder waren, erzählte man uns, dass die Allianz an allem schuld war. Wenn man irgendwann alt genug war und es bis in den Dienstgrad des Executives geschafft hatte, konnte man die Wahrheit herausfinden. Dann war es kein großes Geheimnis mehr, dass ursprünglich die Syndikatwelten beschlossen hatten, diesen Krieg anzufangen. Aber was wollte man in diesem Moment noch mit einer solchen Erkenntnis anfangen? Da war schon längst der Punkt erreicht, an dem man einfach weiterkämpfte. Was hätte man sonst auch tun sollen?«
Bradamont sah sie finster an. »Sie hätten eine Revolte beginnen können, als der Krieg noch in vollem Gang war.«
»Ein paar versuchten es. Haben Sie davon nichts gehört?« Marphissa schüttelte sich, trank einen Schluck und füllte das Glas wieder auf. »Als das Syndikat noch mobile Streitkräfte im Überfluss hatte, konnten sie jede Rebellion sehr schnell niederringen. Verräter mussten sterben, und ihre Welten wurden in Trümmer geschossen. Die Familien der Verräter wurden umgebracht, oder man ließ sie in den Ruinen ihrer Städte ums Überleben kämpfen. Die Schlangen waren überall. Ein falsches Wort gehaucht, und man verschwand auf Nimmerwiedersehen. Beleidigte man einen CEO, waren auf einmal Ehepartner und Kinder spurlos verschwunden. Wir hätten eine Revolte beginnen können? Verdammt, glauben Sie denn, wir hätten das nicht versucht?«
»Das tut mir leid.« Es hörte sich so an, als würde Bradamont das ehrlich meinen. »In der Allianz-Flotte beklagen wir uns oft darüber, dass wir gegen unsere eigene Regierung kämpfen müssen, aber so etwas mussten wir nicht ertragen. Nicht mal ansatzweise.«
»Das Syndikat bezeichnet uns jetzt als Verräter«, fuhr Marphissa fort. »Aber das sind wir nicht. Soll ich Ihnen mal was Witziges verraten? Das gesamte Syndikatsystem fördert Verrat. Verrat an den Freunden, den Kollegen, sogar am Ehepartner, den Kindern und den Eltern. Doch dann verlangt das System von einem, loyal zu seinem Vorgesetzten zu sein, der einem umgekehrt keinerlei Loyalität entgegenbringt. Zum Teufel mit ihnen. Zum Teufel mit ihnen allen.« Warum sage ich ihr das? Vielleicht weil ich es nie jemandem sagen konnte, und das mein ganzes Leben lang.
Bradamont setzte einem betretenen Schweigen schließlich ein Ende. »Aber Iceni ist anders?«
»Ja.«
»Und Drakon?«
»General Drakon? Er unterstützt die Präsidentin. Mehr muss ich nicht wissen.«
»Ich dachte, die beiden herrschen gemeinsam«, wandte Bradamont ein.
»Ich nehme an, dass man das so bezeichnen kann«, räumte Marphissa ein. »Aber ich nehme meine Befehle von Präsidentin Iceni entgegen. Wie ist eigentlich Black Jack?«
»Er ist …« Sie betrachtete nachdenklich ihr Glas. »Er ist nicht, was andere von ihm erwarten. Er ist nicht weniger, sondern mehr. Er ist … echt.«
»Ist er …? Es heißt, dass er … Ich will sagen, Leute reden davon, dass er mehr ist als …«
»Er ist ein Mensch«, sagte Bradamont.
»Aber wurde er gesandt? Handelt er für mehr als nur für die Allianz?«, wollte sie wissen.
»Er hat es noch nie von sich behauptet. Ich weiß es nicht, aber das geht auch weit über meinen Dienstgrad hinaus.« Dann sah sie Marphissa forschend an. »Ich dachte, Syndiks glauben nicht an so was.«
»Religion? Glaube? Offiziell wurde davon abgeraten, weil wir alle nur an das Syndikat glauben sollten. Aber die Leute hielten an ihrem alten Glauben fest.« Marphissa machte eine beiläufige Geste. »Manchmal war dieser Glaube das Einzige, woran wir uns klammern konnten. Einige Leute glaubten so an das Syndikat, wie andere an eine göttliche Macht glaubten. Aber hier draußen wurde der Glaube der meisten Menschen erschüttert, als das Syndikat uns einfach den Enigmas überließ. Haben Sie tatsächlich ein paar Enigmas gesehen?«
Bradamont nickte und störte sich nicht an dem plötzlichen Themenwechsel. »Wir haben einen gesehen. Jedenfalls teilweise. Genau genommen haben wir nur sehr wenig über sie herausfinden können. Admiral Geary ist davon überzeugt, dass die Enigmas sogar geschlossen Selbstmord begehen würden, um zu verhindern, dass wir mehr über sie in Erfahrung bringen können.«
Es dauerte eine Weile, bis Marphissa das verarbeitet hatte. »Eine Rasse, die noch verrückter ist als wir Menschen? Wunderbar.«
»Aus deren Sicht sind sie nicht verrückt. Bei den Enigmas ergibt alles, was sie tun, auch einen Sinn. In etwa so, wie unser Krieg für Menschen an sich durchaus einen Sinn ergab.«
»Nein, da irren Sie sich«, widersprach ihr Marphissa und schenkte ihnen beiden noch einmal ein. »Wir haben alle gewusst, dass dieser Krieg verrückt war. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie man ihn beenden sollte. Wir führten den Krieg fort, weil wir keinen Weg finden konnten, damit aufzuhören. Ich schätze, die Enigmas sind letztlich doch nicht verrückter als wir. Und was ist mit diesen schnellen Schiffen, die wir gesehen haben? Diese wunderschönen Schiffe. Können Sie etwas über deren Besatzungen sagen?«
»Die Tänzer?« Bradamont musste unwillkürlich lächeln. »Die sehen sehr, sehr hässlich aus. Und in ihrer Denkweise scheinen sie sich deutlich von uns zu unterscheiden, aber es gibt eine Verbindung zu ihnen. Sie haben uns geholfen.«
»Sie haben unsere primäre Welt gerettet.« Marphissa hob ihr Glas zum Toast. »Ich hätte niemals geglaubt, dass es möglich ist, ein bereits begonnenes Bombardement doch noch zu verhindern. Auf die Tänzer!«
»Auf die Tänzer«, wiederholte Bradamont. »Aber sie sind wirklich sehr hässlich. Hier ist ein Foto.« Sie hielt Marphissa ein Daten-Pad hin. »Ich werde Ihrer Präsidentin einen ausführlichen Bericht übergeben.«
Marphissa sah das Foto erschrocken an. »Das ist ja eine Kreuzung aus Spinne und Wolf. Ernsthaft? So sehen die aus? Und dann fliegen sie ihre Raumschiffe, als wären die ein Teil von ihnen. Wie schaffen ihre Steuersysteme das nur?«
Bradamont behielt den Schluck einen Moment lag genießerisch im Mund, erst dann ließ sie den Whiskey ihre Kehle hinablaufen. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie ihre Schiffe manuell steuern.«
Marphissa zuckte zusammen, als sie das hörte. »Derartige Manöver bei solchen Geschwindigkeiten? Manuell ausgeführt und nicht von automatischen Systemen? Das ist unmöglich.«
»Für uns ist es das.«
»Was können Sie mir über das riesige Schiff sagen?«, erkundigte sich Marphissa als Nächstes.
»Die Invincible? Die haben wir von den Kiks erbeutet.« Bradamont blinzelte, um das Spiel des Lichts in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ihres nur zum Teil gefüllten Glases zu betrachten. »Diese Kiks sind niedlich. Und völlig verrückt. Nicht in der Art von: ›Lasst uns bloß in Ruhe.‹ Sondern im Sinne von: ›Wenn wir könnten, würden wir das ganze Universum übernehmen.‹ Und absolut fanatische Kämpfer. Bis zum Tode. Über die findet sich auch alles in unserem Bericht an Ihre Präsidentin. Wir wollen hoffen, dass die Kiks niemals in von Menschen besiedeltes Gebiet vordringen. Aber Sie müssen auch erfahren, warum Sie nicht in Sternensysteme vordringen sollten, die von den Kiks kontrolliert werden.«
»Vielen Dank.« Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht auch daran, dass sie beide an Bord von Kriegsschiffen Erfahrungen gesammelt hatten. Auf jeden Fall merkte Marphissa, wie sie sich zu entspannen begann, und lächelte Bradamont erfreut an. »Ich hoffe, in diesem Bericht steht auch, wie Sie dieses riesige Schiff in Ihre Gewalt gebracht haben.«
»Das war … eine Herausforderung«, erwiderte Bradamont. »O ja. Wir können später noch darüber reden, wie wir, also wie Admiral Gearys Flotte unsere Feinde besiegt hat.«
Marphissa sah der Allianz-Offizierin in die Augen und verspürte ein Frösteln, das alle Wärme mit einem Mal vertrieb. »Feinde wie uns. Wie Sie die mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten besiegt haben.«
»Ja«, sagte Bradamont etwas sanfter, als hätte sie Marphissas Stimmungswandel bemerkt. »Es war so gemeint, wie ich es gesagt hatte. Wir wollen Ihnen helfen, Mittel und Wege zu entwickeln, wie Sie sich erfolgreich gegen Streitkräfte der Syndikatwelten zur Wehr setzen, die herkommen und die Kontrolle über dieses Sternensystem an sich reißen wollen. Ich kann darüber berichten, wie verschiedene Gefechte abgelaufen sind, von Corvus bis nach Varandal. Admiral Geary hat mir die Erlaubnis erteilt.«
»Varandal? Ist das nicht Allianz-Territorium?«
»Ja, da spielte sich der Kampf gegen Ihre Reserveflotte ab.«
»Sie meinen, da haben Sie unsere Reserveflotte ausradiert«, korrigierte Marphissa sie und starrte auf ihr Glas. »Ich weiß davon. CEO Boyens hat Präsidentin Iceni davon erzählt, auch wenn es scheint, als hätte er sehr viel aus der Zeit verschwiegen, als er Ihr Gefangener war. Viele Crewmitglieder von den Schiffen der Reserveflotte waren mit uns befreundet. In einigen Fällen war es auch mehr als nur Freundschaft. Die Reserveflotte war lange Zeit hier im System stationiert. Für Jahrzehnte war Midway ihre Heimatbasis.« Ihr Tonfall hatte eine traurige, wütende und vorwurfsvolle Färbung angenommen. Es war unfair von ihr, das wusste sie. Es war Krieg gewesen, und trotzdem …
»Das tut mir leid«, sagte Bradamont erneut.
»Ich bin mir sicher, wir haben alle viele Freunde verloren.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte Bradamont mit aufgesetzt guter Laune: »Haben Sie schon die Liste der Gefangenen erhalten?«
»Was?«, fragte Marphissa, die glaubte, sie hätte sich verhört.
»Die Liste der Gefangenen«, wiederholte sie. »Die Liste mit den Namen der Offiziere und Crewmitglieder der Reserveflotte, die bei Varandal in Gefangenschaft gerieten, nachdem ihre Schiffe zerstört worden waren.«
Marphissa hatte gerade wieder einen Schluck trinken wollen, doch auf halber Strecke erstarrte ihr Arm. »Gefangene? Sie haben Gefangene genommen? Nicht nur CEO Boyens?«
»Richtig.« Bradamont stutzte. »Haben Sie etwa nichts davon mitbekommen, dass Admiral Geary gleich nach Übernahme des Kommandos das Töten von Gefangenen verboten hat?«
»Davon habe ich gehört, aber ich habe es nicht geglaubt.«
»Es stimmt aber. Wir haben aufgehört, Gefangene hinzurichten …« Diesmal bekam Bradamont einen roten Kopf. »Ich kann es noch immer gar nicht richtig fassen, dass wir das überhaupt jemals gemacht haben, dass wir so tief gesunken waren. Bis er uns vor Augen hielt, dass … Jedenfalls haben wir Gefangene genommen. Und immer dann, wenn wir keine Gefangenen gebrauchen konnten, weil wir im Syndik-Gebiet unterwegs waren, haben wir sie in ihren Rettungskapseln entkommen lassen. Haben Sie davon auch nichts gewusst?«
»Wir haben nur das gewusst, was die Regierung uns verraten hat.«
»O ja, aus Sicherheitsgründen. Es ist schon witzig, was sich Regierungen unter dem Deckmantel der Sicherheit alles herausnehmen, nicht wahr? Na ja, jedenfalls kann ich Ihnen sagen, dass bei Varandal Gefangene Ihrer Reserveflotte untergebracht sind. Sehr viele Gefangene sogar. Das weiß ich mit Sicherheit.«
Marphissa schaute Bradamont eine halbe Ewigkeit lang an, ehe sie wieder etwas sagen konnte. »Sind Sie sich ganz sicher, dass die auch alle noch dort sind? Oder hat man sie inzwischen auf Arbeitslager überall in der Allianz verteilt?«
Erneut bekam die Offizierin einen roten Kopf, diesmal jedoch vor Verärgerung. »Die Allianz hat nie über Arbeitslager verfügt. Wenn, wurden Ihre Leute in Gefangenenlager gebracht. Sie hielten sich alle noch in Varandal auf, als der Krieg für beendet erklärt wurde. Daraufhin wollte kein anderes Sternensystem sie mehr haben, weshalb sie immer noch in Varandal bei der Flotte festsitzen. Die muss sie jetzt mit Nahrung und Unterkünften versorgen und sich um sie kümmern, bis alle Vereinbarungen über die Rückführung von Kriegsgefangenen unterzeichnet sind. Ich weiß davon, weil sich so viele Offiziere über diese Situation beklagt haben. Die Syndiks … ich wollte sagen, die Regierung der Syndikatwelten sollte sich eigentlich überlegen, wie sie ihre Leute am schnellsten zurückholen. Stattdessen zieht sich dieser Prozess immer mehr in die Länge, und die Behörden bei Varandal haben all diese Syndiks am Hals, die sie lieber heute als morgen nach Hause schicken würden.« Bradamonts Verärgerung war verflogen und einem nachdenklichen Ausdruck gewichen. »Sie sind mir ja ein Volk. Ich verstehe nicht, wieso die Befehlshaber der Syndikatwelten die Überlebenden der Reserveflotte bei Varandal nicht einfach abholen. Warum haben die nicht längst jemanden geschickt? Oder Sie. Ja, Sie könnten doch jemanden losschicken.«
»Was? Wir?«, gab Marphissa zurück, die nicht glauben wollte, was sie da hörte.
»Ja, schicken Sie ein paar umgebaute Frachter hin. Wie viele werden nötig sein? Mehr als zwei … Vier? Nein, eher sechs. Das sind ungefähr viertausend Gefangene, die alle zu Ihrer Reserveflotte gehört haben. Es wird vielleicht ein wenig eng, aber sechs umgebaute Frachter können sie transportieren, wenn alles entsprechend vorbereitet wird.«
»Wir könnten …«, begann Marphissa eifrig, ehe ihr etwas bewusst wurde. »Frachter. Bis ins Gebiet der Allianz, durch ein Territorium, in dem die Autorität der Syndikatwelten angefochten oder sogar aktiv bekämpft wird? Ein Territorium, in dem jede noch verbliebene Syndikatwelt das Feuer auf Schiffe eröffnen würde, die in unserem Auftrag unterwegs sind?« Ich werde mir keine Hoffnungen machen. Ich werde nicht daran glauben, dass es dazu kommen kann.
»Sie müssten natürlich eine Eskorte mitschicken«, räumte Bradamont ein. »Ein paar von Ihren Kriegsschiffen.«
»Wir haben ja gerade mal ein paar Kriegsschiffe, und da erwarten Sie, dass wir einen Konvoi aus Frachtern in ein Sternensystem der Allianz schicken?«
»Ja, das wäre wohl keine so gute Idee.« Bradamont trank einen Schluck und behielt den Whiskey einen Moment lang im Mund, ehe sie ihn runterschluckte. »Okay, ich wüsste etwas anderes. Nur ein Vorschlag. Fliegen Sie nach Atalia. Sie haben ein Hypernet-Portal, also können Sie das für den größten Teil der Strecke benutzen. Von Atalia aus ist es nur noch ein kleiner Sprung bis nach Varandal. Atalia hat so wie Sie seine Unabhängigkeit von den Syndikatwelten erklärt, auch wenn die Zustände dort nicht annähernd so gut sind wie hier bei Ihnen.«
Marphissa nickte stumm. Sie mussten die Gründe für diese schlechten Zustände nicht erst noch aussprechen. Die Sternensysteme auf beiden Seiten der Grenze waren jahrzehntelang besonders stark in Mitleidenschaft gezogen worden.
»Atalia verfügte über einen Jäger, als wir das System das letzte Mal durchquert haben«, redete Bradamont weiter. »Einen einzigen. Dort hält sich auch ein Kurierschiff der Allianz auf, das am Sprungpunkt nach Varandal aufpasst. Ihr Konvoi trifft in Atalia ein, dann warten Ihre Kriegsschiffe bei Atalia, während die Frachter nach Varandal weiterreisen.«
»Und was wird passieren, wenn sechs ehemalige Frachter des Syndikats plötzlich bei Varandal auftauchen?«, wollte Marphissa wissen.
»Die Allianz-Behörden werden wissen wollen, wer sie sind und was sie wollen. Man wird nicht sofort das Feuer auf sie eröffnen, sobald man sie bemerkt. Würden Sie das machen, wenn Frachter der Allianz in Ihr System kämen?«
»Nein.« Hindernisse, Einwände. Was konnte diesen Plan daran hindern, in die Tat umgesetzt zu werden? »Würde man uns die Gefangenen aushändigen?«
Bradamont verzog den Mund und rieb sich den Nacken. »Genau genommen müssten wir sie den Syndikatwelten übergeben. Aber das wird immer schwieriger, da ständig weitere Sternensysteme dieser Regierung den Rücken kehren. Außerdem können wir die Syndikatwelten immer noch nicht leiden. Es wäre alles andere als human, die Leute, die aus soeben unabhängig gewordenen Systemen stammen, den Syndiks auszuliefern.«
»Human?«, wiederholte Marphissa sarkastisch.
»Warum sagen Sie das so?«, wunderte sich Bradamont.
»Weil das … weil das ein Witz ist. Niemand benutzt dieses Wort und meint es auch so. Man sagt das nur und meint eigentlich etwas ganz anderes damit.«
»Oh.« Bradamont wirkte einen Moment lang irritiert, dann fasste sie sich wieder. »Dann sagen wir doch einfach, die Allianz-Flotte bei Varandal möchte die Gefangenen so schnell wie möglich loswerden.«
Sorgfältig stellte Marphissa ihr Glas auf den Tisch und bemerkte dabei, wie sehr ihre Hand zitterte. »Wie viele?«, flüsterte sie. »Von wie vielen Gefangenen haben Sie gesprochen?«
»Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber es sind etwa viertausend. Das ist jedenfalls die Größenordnung, die unter uns kursiert.«
»Viertausend.« Viertausend von wie vielen insgesamt? Aber wenn ein Schiff zerstört wurde, geschah das oft so schnell, dass niemand eine Chance hatte, das zu überleben. Man konnte schon von sehr großem Glück reden, dass überhaupt viertausend Leute eine Schlacht überlebt hatten, bei der so viele Schiffe zerschossen worden waren. »Wir hatten keine Ahnung. Viele von diesen Männern und Frauen sind unsere Freunde. Die Reserveflotte war zwar auch ein beliebtes Kommando für Strafversetzungen, doch die Mehrzahl der Leute kam aus der Region. Eine Menge Soldaten stammen von hier oder aus umliegenden Sternensystemen.«
»Es tut mir leid. Ich hätte es früher erwähnt, wenn mir klar gewesen wäre …«
»Ist schon in Ordnung«, seufzte Marphissa. »Wir waren einfach davon ausgegangen, dass sie alle tot sind. Wir konnten gar nichts anderes annehmen, weil es immer so gewesen war.«
»Ich weiß.« Bradamont nickte finster. »Wir haben das Gleiche angenommen, wenn unsere Leute den Syndiks in die Hände fielen.«
»Ich muss dafür erst die Zustimmung von Präsidentin Iceni einholen. Wir können uns darüber noch gar keine konkreten Gedanken machen, solange wir diese … na ja … diese spezielle Operation vor uns haben, um die Syndikat-Flotte zu verjagen. Wenn das gelungen ist, bedeutet es, dass eine kleine Flotte losgeschickt werden muss, um die Frachter zu begleiten. Bis diese Schiffe zurückkehren, wird auch einige Zeit vergehen. Das dürfte es schwierig werden lassen, diese Idee schmackhaft zu machen, weil wir nur über so wenige Einheiten verfügen. Und ehrlich gesagt: Wenn es nicht Präsidentin Iceni wäre, die entscheiden muss, dann bräuchte man es gar nicht erst zu versuchen. Ich glaube, unsere Präsidentin wird diese Idee ohne Bedenken begrüßen, allerdings werden einige Berater versuchen, sie von dieser Idee abzubringen. Die Frage ist ja schließlich: Welchen Gewinn soll das bringen?«, fügte Marphissa verbittert an. »Und General Drakon dürfte auch nicht so leicht davon zu überzeugen sein.«
»Nach allem, was ich über General Drakon gehört habe, ist er gar nicht so übel. Trotzdem könnte es sein, dass er noch ein besonders überzeugendes Argument hören muss.« Bradamont schaute sich ernst um, dann machte sie eine ausladende Geste. »Ihr Schlachtschiff muss ja auch erst noch vollständig ausgerüstet werden. Haben Sie eigentlich schon eine Crew zusammengestellt?«
»Nur eine Minimalcrew«, räumte Marphissa ein. »Es dürfte sich noch zu einem ernsten Problem entwickeln, ausreichend geschultes Personal zu finden, um für dieses Schiff eine Besatzung zusammenzustellen. Und dann wird bei Taroa momentan noch ein zweites Schiff gebaut, das früher oder später ebenfalls eine Besatzung benötigt. Unser Ehrgeiz und unsere Hardware übersteigen derzeit unseren Personalbestand.«
»Die viertausend Überlebenden der Reserveflotte könnten sich in dieser Hinsicht doch als ganz nützlich erweisen«, warf Bradamont ein.
»Das stimmt.« Marphissa betrachtete das noch lange nicht fertiggestellte Abteil, in dem sie sich aufhielten, und begann sich vorzustellen, wie es hier von Leuten wimmelte, von denen sie fest geglaubt hatte, sie niemals wiederzusehen. »Sie leben, sie sind geschult. Viele haben Midway als ihr Zuhause angesehen, ehe sie von hier weggeholt wurden. Mit diesen Gründen habe ich ganz gute Argumente in der Hand, um die Leute zu überzeugen, die bei der Entscheidung für oder gegen die Mission mitreden dürfen. Verdammt, ich glaube, jetzt will ich Sie wirklich küssen, Sie Allianz-Monster.«
Bradamont grinste sie an. »Lassen Sie bloß Ihre dreckigen Finger von mir, Syndik-Abschaum.«
»Ist es bei Ihnen auch üblich, sich gegenseitig zu beleidigen, um Freundschaft zum Ausdruck zu bringen, Allianz-Dämon?«
»Diese Sorte Beleidigungen bekommen bei uns nur die Besten der Besten zu hören, Syndik-Schreckschraube.«
»Danke für das Kompliment, Allianz-Teufel.«
»Gern geschehen, Syndik-Wilde.«
»Kein Problem, Allianz-Ghul.«
»Ganz meinerseits, Syndik-Satan.«
Marphissa unterbrach sich. Ihr wurde klar, dass ihr der Alkohol zu Kopf gestiegen war, aber es kümmerte sie nicht, wenn man davon absah, dass sie sich nur mit Mühe konzentrieren konnte. Sie zog ihre Komm-Einheit aus der Tasche. »Ich muss gerade mal nach weiteren Begriffen suchen.«
»Was dagegen, wenn ich in der Zwischenzeit noch was trinke?«, fragte Bradamont.
»Bedienen Sie sich, Sie … Allianz-Harpyie.«
»Besten Dank.« Bradamont sah auf ihre eigene Komm-Einheit. »Wir sollen uns besser kennenlernen, Sie Syndik- … Widerling. Ich kann so lange durchhalten wie Sie.«
Als Kapitan-Leytenant Kontos schließlich voller Sorge, es könnte ihnen was passiert sein, nach den beiden Offizierinnen sah, sah er eine leere Flasche auf dem Tisch stehen, während die zwei Frauen sich in den Armen lagen und um gefallene Freunde weinten.
Marphissa gab der Manticore Bescheid, dass die Inspektion der Midway länger dauern würde als erwartet.
Am nächsten Morgen war der Kater dank einer großzügigen Portion Schmerzmittel zwar nicht wie in Luft aufgelöst, aber zumindest unter Kontrolle. Marphissa schickte den »Bericht« ihrer Inspektion der Midway ab, der auch den im schriftlich erteilten Befehl erwähnten Codesatz enthielt (»mit der richtigen Unterstützung kann alles plangemäß erledigt werden«). Dann brachte sie Captain Bradamont — deren Uniform mit einem Standard-Crewoverall der Syndikatwelten verdeckt war, der die Dienstabzeichen eines Midway-Kapitans trug — zum Shuttle der Manticore, wo sie mit Kontos zusammentrafen. Der war nicht erfreut darüber, die Midway verlassen zu müssen, dennoch befolgte er seine Befehle, die ihn vorübergehend auf die Manticore schickten.
Ein paar Tage später näherte sich die Manticore in Begleitung des neu ins System gekommenen Kreuzers dem Sprungpunkt, der zum Stern Maui führte. Offiziell würde die Manticore den Kreuzer bis zu seinem Heimatstern Kiribati begleiten.
Nur drei Leuten an Bord der Manticore war bekannt, dass sie diesen Kreuzer allein weiterfliegen lassen würden, wenn er nicht mehr allzu weit von Kiribati entfernt war. Kommodor Marphissa, Kapitan-Leytenant Kontos und eine mysteriöse Frau namens Kapitan Bascare wussten, dass die Manticore dann eine Kursänderung vornehmen und sich auf den Weg zu einem Stern namens Taniwah machen würde, wo sich ein weiteres Hypernet-Portal befand.
Von diesem Hypernet-Portal bei Taniwah würde die Manticore zum Sprung zurück nach Midway ansetzen — um dort direkt vor der Nase von CEO Boyens und dessen Syndikat-Flotte aufzutauchen.