Fünfzehn

Sie hatten noch zwei Stunden, bis die Frachter den Sprungraum verließen und sie Atalia erreicht hatten. Eine Stunde bis zum »Tagesanbruch«, wenn man nach der internen Uhr dieses Frachters ging. Colonel Rogero lag auf dem schmalen Bett in seiner sehr kleinen Kabine und starrte hoch an die Decke, an der etliche Kabelstränge und Rohrleitungen entlangliefen.

Das Gefühl, dass irgendetwas geschehen würde, war in der Zwischenzeit immer stärker und beharrlicher geworden. Da es sich jeder Definition entzog, handelte es sich womöglich doch nur um eine neue Variante der altbekannten Sprungraum-Nervosität. Dennoch hatte es ihn in dieser Nacht weitestgehend am Schlafen gehindert und dafür gesorgt, dass er hellwach war, lange bevor er aufstehen musste.

Er nahm ein Zittern wahr, das die Struktur des Frachters durchfuhr, noch bevor er es bewusst spüren konnte. Das Zittern kam erschreckend schnell näher und verwandelte sich in ein Durcheinander aus Schritten in dem Gang vor seinem Quartier. Wer immer da draußen unterwegs war, die Leute hatten es eilig und waren darauf bedacht, keinen Lärm zu machen.

Rogero hatte mit einem Satz sein Bett verlassen, als er die Wachen vor Bradamonts neuem Quartier nur ein Stück den Gang entlang Warnungen und Befehle rufen hörte. Nur einen Sekundenbruchteil lang stand er da und überlegte, ob er seine Handfeuerwaffe oder besser ein größeres Kaliber mitnehmen sollte. Die Entscheidung fiel fast sofort auf Letzteres. Er war bereits an der Tür, als er hörte, wie die Rufe der Wachen im hasserfüllten Gebrüll aus mindestens hundert Kehlen untergingen.

Als er die Tür öffnete, schallte ein dumpfer Knall durch den Korridor, bei dem es sich zweifelsfrei um die Detonation einer Granate handelte, die dadurch leicht gedämpft wurde, dass sie in einem Raum abseits des Korridors hochgegangen sein musste. Fast mit Sicherheit hatte es sich dabei um Bradamonts Quartier gehandelt. In seinem Hinterkopf warf eine leise Stimme die Frage auf, wie es dem Mob gelungen sein konnte, in den Besitz einer Granate zu kommen. Falls einer von seinen Soldaten sie verloren oder sogar bei einem Tauschhandel diesen Leuten zugeschoben hatte …

Aber damit konnte er sich später immer noch beschäftigen.

Rogero verließ sein Quartier, zwar nicht in gepanzertem Schutzanzug, dafür aber mit einem Impulsgewehr im Arm. In allen Gängen und Korridoren auf diesem Frachter wimmelte es von Leuten, aber der Weg zu Bradamonts Quartier wurde von dem wütenden Mob komplett verstopft.

Einer der unschönen Aspekte der eisernen Disziplin bestand darin, dass ein Versagen dieser Disziplin nicht bloß kleinere Unruhen nach sich zog, sondern direkt chaotische Ausmaße annahm. Das wiederum bedeutete, dass eine Reaktion darauf umgehend und drastisch erfolgen musste.

Selbst wenn nicht Bradamont das Ziel dieses Mobs gewesen wäre, hätte er entschieden reagieren müssen.

»Gehorsam!«, brüllte Rogero, um den Tumult zu übertönen, dann feuerte er ohne erst noch abzuwarten auf den Arbeiter, der sich direkt vor ihm befand. Das Impulsgewehr fraß sich durch den Körper des Mannes und schickte auch den Arbeiter in der Reihe vor ihm zu Boden. »Gehorsam!«, rief Rogero gleich nach dem Schuss und drückte dann schon wieder ab.

Diesmal wurden gleich drei Arbeiter niedergestreckt, über deren Leichen hinweg er weitereilte. »Gehorsam!«

Ein dritter Schuss, zwei weitere Opfer, gleichzeitig wurde den anderen allmählich bewusst, was sich da hinter ihnen abspielte. Die Arbeiter reagierten aus jahrelang eingetrichterter Furcht heraus, drehten sich hastig so, dass sie sich mit dem Rücken gegen das nächste Schott drücken konnten. Dabei hoben sie die Hände und legten sie auf den Kopf, während Rogero ein viertes Mal lautstark befahl: »Gehorsam!«

Vor der Tür zu Bradamonts Quartier stand noch eine kleine Gruppe zusammen, die sich den Weg ins Innere bahnen wollte. Dabei wurden die Angreifer aber von der noch lose in ihren Angeln hängenden Tür aufgehalten, als wäre sie von innen verbarrikadiert worden. Rauchfahnen von der Explosion der Granate zogen aus der Kabine in den Korridor. Die Männer waren so auf ihre Anstrengungen konzentriert, dass sie nur mit Verzögerung auf die Schüsse und Aufforderungen reagierten. Ein paar von ihnen drückten noch immer gegen die Tür, als Rogero ohne Pause ein viertes, fünftes und sechstes Mal sein Gewehr abfeuerte.

Mit einem Mal legte sich Stille über die Szene. Einzig das Stöhnen und Keuchen der verletzten Arbeiter war zu hören. Alle anderen standen mit dem Rücken zur Wand, die Hände gehorsam auf den Kopf gelegt und verschränkt.

Die beiden wachhabenden Soldaten versuchten sich aufzurappeln, als Rogero bei ihnen war. Er vergeudete eine wertvolle Sekunde, sie zu mustern, um festzustellen, ob sie versucht hatten, den Mob zurückzudrängen, oder ob sie sich einfach ergeben hatten. Die Uniformen wiesen Risse auf, in den Gesichtern entdeckte er Schrammen und blaue Flecken, und der Mann hielt schmerzhaft einen Arm an sich gedrückt, der an mindestens einer Stelle gebrochen schien.

»Wir hatten die Waffen auf sie gerichtet«, berichtete die Soldatin, »aber wir konnten sie nicht aufhalten.« Sie stand mit gestrafften Schultern da, zitterte aber am ganzen Leib, da sie erwartete, dass die nächsten beiden Schüsse ihr und ihrem Kameraden gelten würden. Schließlich hatten sie versagt.

Rogero aber ließ sein Gewehr sinken. »Sie haben es zumindest versucht.« Die Detonation der Granate und die Schüsse hatten im Frachter einen Alarm ausgelöst, der plötzlich gellend und stotternd vor einer Gefahr warnte, die längst nicht mehr existierte. »Es werden bald weitere Soldaten herkommen. Sehen Sie beide zu, dass Sie sich vom Autodoc des Frachters untersuchen lassen.«

Er wandte sich der zum Teil zerschmetterten Tür zu und klopfte behutsam in einem eigens vereinbarten Rhythmus an. Einen Augenblick später gab die Tür nach und kippte in das Abteil, in dem eine Gestalt in Gefechtsrüstung inmitten der Verwüstung stand, die von der Granate angerichtet worden war. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Rogero.

Bradamont nickte und öffnete das Visier, damit sie unmittelbar mit ihm reden konnte. »Die Rüstung hat von der Granate etwas abbekommen, aber mir geht es gut. Dank der Rüstung habe ich mich ja auch lange genug gegen die Tür stemmen können.«

Das war die einzig machbare Lösung gewesen. Während alle Aufmerksamkeit auf Bradamont konzentriert gewesen war, die mit ihren wenigen Habseligkeiten das alte Quartier verließ und sich auf den Weg zu ihrer neuen Kabine machte, hatte man diesen Korridor hier unter einem Vorwand vorübergehend geräumt. In dieser Zeit hatte Rogero schnell seine eigene Gefechtsrüstung in ihr Quartier gebracht. Wenn die Soldaten einen Angriff lange genug abwehren konnten, blieb Bradamont genug Spielraum, um die Rüstung anzulegen und ihrerseits die Angreifer noch eine gewisse Zeit zurückzuhalten, bis Verstärkung eintraf. Zumindest hatte er sich das so überlegt, und glücklicherweise hatte es auch funktioniert.

Der Alarm verstummte, offenbar war auf der Brücke jemand auf die Idee gekommen ihn abzuschalten. Es schloss sich eine unheilvolle Stille an, als sich Rogero jetzt zu den Arbeitern und niederen Supervisoren umdrehte, die gegen die Schotte gepresst dastanden und alle versuchten, sich möglichst nicht zu rühren. Dennoch zuckte der eine oder andere immer wieder vor Entsetzen über sein bevorstehendes Schicksal zusammen.

Executive Ito kam mit vor Wut verzerrtem Gesicht durch den Korridor herbeigeeilt. »Wer war das? Wer hat das geplant? Redet, ihr niederen Lebensformen!«

Rogero hob eine Hand, um Ito zu stoppen. »Notieren Sie den Namen von jedem, der hier steht, und organisieren Sie einen Trupp, der die Leichen wegbringt.« Er sah die beiden verletzten, aber noch lebenden Arbeiter — ein Mann und eine Frau — an, die versuchten, sich nicht vor Schmerzen zu winden, auch wenn ihnen das sichtlich Mühe bereitete.

Noch vor ein paar Augenblicken hätte er sie ohne zu zögern getötet, aber jetzt waren sie ihm hilflos ausgeliefert. Und sie wussten womöglich etwas über die Drahtzieher dieses Angriffs.

Ein halbes Dutzend Soldaten traf ein, ihre Mienen verfinsterten sich, als sie sahen, was sich hier abgespielt hatte. Lieutenant Foster salutierte, seine Gesichtszüge wirkten versteinert. Als unmittelbarer Befehlshaber der Einheit konnte ihn die härteste Form der Bestrafung als Disziplinarmaßnahme für das Unvermögen seiner Soldaten treffen, Bradamont zu beschützen.

Aber Bradamont war unverletzt. Wie hätte ich wohl reagiert, wenn sie schwer verletzt oder sogar getötet worden wäre? Hoffentlich wäre mir dann auch bewusst gewesen, dass Strafen dann keinem Zweck dienen, wenn die beteiligten Männer und Frauen ihr Bestes gegeben haben.

Rogero deutete auf die zwei zusammengeschlagenen Wachen. »Ihre Soldaten haben ihre Pflicht erfüllt. Sehen Sie zu, dass die beiden medizinisch versorgt werden. Und versuchen Sie, diese zwei verletzten Arbeiter am Leben zu halten. Ich will, dass sie Fragen beantworten können.«

»Jawohl, Sir.«

»Stellen Sie die Hälfte Ihrer Einheit als Wache hier auf; vierstündige Schichten, bis Captain Bradamont das Schiff verlässt.«

»Jawohl, Sir.«

»Captain Bradamont, ich empfehle Ihnen, dass Sie diese Rüstung anbehalten, bis wir Sie bei Atalia an Bord eines Shuttles bringen können.«

»Ja, Colonel«, stimmte sie ihm zu. Ihre Stimme klang leise, verriet aber keine Gefühlsregung. Sie sah nach draußen in den Korridor und entdeckte das Blutbad, das vom Mob und von Rogeros Maßnahmen gegen eben diesen Mob angerichtet worden war. Unwillkürlich fragte er sich, was sie bei diesem Anblick wohl dachte.

Was sie da sah, war die Art, auf die das Syndikat arbeitete. Verängstigte Arbeiter, die in Reih und Glied dastanden, und der Einsatz tödlicher Gewalt gegen Unruhestifter. Er hatte so etwas noch nicht einmal gemocht, wenn es nötig gewesen war, um Schlimmeres zu verhindern. Ich weiß, was Honore davon halten dürfte. Ich frage mich nur, was sie über mich denkt.

Rogero machte sich auf den Weg zurück zu seiner Kabine. Das Impulsgewehr in seiner Hand pulsierte immer noch so vor Hitze, dass der orangefarbene Schein von den Arbeitern zurückgeworfen wurde, die mit erhobenen Händen links und rechts von ihm dastanden. Hinter ihm stauchte Ito die Arbeiter zusammen, während andere Senior-Supervisoren dazukamen, die die Männer ebenfalls anschrien und gelegentliche Fausthiebe austeilten, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Die Arbeiter ließen das alles wortlos und ohne Gegenwehr über sich ergehen. Sie wussten, dass sie gar keine andere Wahl hatten.

Als Syndikatsoffizier hatte er sich an solche Vorgehensweisen gewöhnt, doch inzwischen fing er an, sie auch aus Honore Bradamonts Perspektive zu betrachten. Wenn er das tat, musste er zugeben, dass die Abscheulichkeit dieser Szenen nur schwer zu ertragen war. Wir verändern die Dinge, und daran werden wir auch etwas ändern. Es wird eine Weile dauern, aber der Tag wird kommen, an dem ich nicht mehr eine Gefechtswaffe auf aufständische Arbeiter richten muss.

Fast zwei Stunden später kehrte der Frachter von einem Moment auf den nächsten in den Normalraum zurück. Die Sterne schienen leidenschaftslos auf die sechs Schiffe herab, deren Passagiere jetzt endlich daran zu glauben begannen, dass sie tatsächlich befreit worden waren. Rogero, der wegen des Aufstands und seiner eigenen Art, ihn niederzuschlagen, immer noch schlechte Laune hatte, starrte missmutig auf die Sterne. Ich will das nicht mehr machen. Aber was kann ich stattdessen unternehmen? Und wenn ich es nicht mehr tue, wer wird dann meinen Platz einnehmen? General Drakon sagt, er braucht mich.

Die vier Leichten Kreuzer und die sechs Jäger warteten immer noch vor Ort, und viele Lichtstunden entfernt hatten die beiden Schweren Kreuzer am Sprungpunkt nach Kalixa Position bezogen.

Ein virtuelles Fenster öffnete sich auf Rogeros Bildschirm, das Bild des Befehlshabers des Leichten Kreuzers Harrier sah ihn an. »Willkommen zurück. Wir hatten schon Wetten abgeschlossen, ob Sie sie verpassen würden.«

»Ob wir wen verpassen würden?«

»Black Jacks Flotte. Die ist vor drei Tagen nach Varandal gesprungen. Sie müssen im Sprungraum aneinander vorbeigeflogen sein.«

Rogero benutzte die speziell gesicherte Komm-Ausrüstung in seiner Kabine, um seinen Bericht an Marphissa zu senden. »Kommodor, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass unsere Mission erfolgreich verlaufen ist. Wir haben über fünftausend freigelassene Gefangene an Bord, von denen der größte Teil zur Reserveflotte gehört hat. Angesichts der Belastung für die Lebenserhaltungssysteme der Frachter und mit Blick auf jüngste Ereignisse an Bord dieses Schiffs muss ich dringend dazu raten, dass wir schon bei Atalia alle befreiten Gefangenen zurücklassen, die nicht nach Midway mitkommen wollen.« Er ließ eine Zusammenfassung der Ereignisse bei Varandal folgen und ging auf die Unruhen ein, die sich erst vor ein paar Stunden ereignet hatten. »Ich werde weiter für Captain Bradamonts Sicherheit sorgen, aber es ist besser für sie, wenn sie so bald wie möglich auf die Manticore zurückkehrt. Für das Volk. Rogero, Ende.«

Marphissas Antwort ging viele Stunden später ein. Sie machte keinen erfreuten Eindruck. »Colonel Rogero, ich war erschrocken, als ich von der Bedrohung für unsere Verbindungsoffizierin hörte. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass sie schnellstens an Bord der Manticore zurückkehren muss. Ich lasse die Kraken am Sprungpunkt zurück, um unsere Blockade für den Weg nach Indras weiterbestehen zu lassen. Mit der Manticore komme ich dann zu Ihnen. Ich möchte hier eigentlich keine Zeit damit verbringen, Hunderte von Leuten aus den Frachtern zu holen, aber ich sehe auch keine Alternative zu einer solchen Vorgehensweise. Und selbst wenn es keine Frage der Sicherheit wäre, hätten wir trotzdem noch das Problem der beunruhigenden Werte, die die Lebenserhaltungssysteme anzeigen. Die sind gar nicht gut, und wir müssen die Belastung reduzieren. Ich schicke Ihre Schiffe auf einen neuen Vektor, dem Sie bis zu einer Orbitaleinrichtung folgen. Die kann die Gefangenen aufnehmen, die wir hier zurücklassen wollen. Haben Ihre Soldaten auf den Frachtern schon die Leute danach sortiert, wer bleibt und wer geht? Wir müssen das erledigen, bevor wir die Orbitaleinrichtung erreichen. Nur dann sind wir in der Lage, diese Leute so schnell wie möglich abzusetzen, damit wir uns gleich wieder auf den Weg machen können. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie alle wohlbehalten zurückgekommen sind. Für das Volk. Marphissa, Ende.«

Eine Reise durchs All war in etwa so, als würde man über Treibsand laufen, fand Rogero. Man konnte sich noch so sehr anstrengen, man wurde einfach nicht das Gefühl los, unablässig auf der Stelle zu treten. Noch Tage nach der Ankunft in Atalia stand er niedergeschlagen vor der Luftschleuse, von der soeben das Shuttle mit Honore Bradamont an Bord abgelegt hatte.

In gewisser Weise war etwas von Bradamont bei ihm geblieben. Sie war gezwungen gewesen, aus Sicherheitsgründen bis zum Schluss Rogeros Gefechtsrüstung zu tragen, mit dem Ergebnis, dass die ziemlich intensiv roch, als Bradamont sie vor der Luftschleuse dann endlich abgelegt hatte. Augenzeugen waren anwesend gewesen, sodass sie kein privates Wort hatten wechseln können. Doch der Blick in ihre Augen hatte genügt, um eine klare Botschaft darin zu erkennen: Ihre Gefühle für ihn waren unverändert vorhanden.

Eine größere Gruppe unter der Führung von Garadun näherte sich ihm, der Sub-CEO lächelte Rogero ein wenig wehmütig an. »Wie ich höre, sind wir die Nächsten. Sie haben uns nie versprochen, uns weiter als bis nach Atalia mitzunehmen.«

Rogero wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum, als wollte er die Gerüche vertreiben, die immer intensiver wurden, da die Lebenserhaltungssysteme des Frachters diesen Kampf längst nicht mehr gewinnen konnten. »Ich dachte, Sie wären froh, von hier wegzukommen.«

»Nein, Donal. Ich will diese Aliens sehen! Ich werde mich irgendwie nach Darus durchschlagen, aber danach können Sie damit rechnen, dass ich bei Ihnen auftauche.«

»Das werde ich machen.« Rogero verabschiedete sich von Garadun mit einem Händedruck, der wirklich von Herzen kam. »Wenigstens müssen Sie nicht mit uns zusammen Kalixa durchqueren.«

Garaduns Miene verfinsterte sich, während er den Kopf schüttelte. »Sehen Sie, Donal, das ist einer der Gründe, weshalb wir nicht einfach aufhören können, die Allianz zu hassen. Bevor unsere Flotte vernichtet wurde, zeigten uns die CEOs Bilder von den Ereignissen dort. Was die Allianz bei Kalixa verbrochen hat.«

»Wie bitte?« Rogero sah den anderen Mann erschrocken an. »Hat Ihnen denn niemand gesagt, was wirklich passiert ist, Pers?«

»Wie meinen Sie das? Die Allianz hat das Hypernet-Portal zusammenbrechen lassen. Dadurch wurde das Kalixa-Sternensystem ausgelöscht.«

»Nein, das war nicht die Allianz. Das waren die Enigmas.«

Garadun starrte ihn sprachlos an.

»Wir haben herausgefunden, dass die Enigmas Signale mit Überlichtgeschwindigkeit senden können«, erläuterte Rogero. »Ein derartiges Signal ist in der Lage, ein Hypernet-Portal kollabieren zu lassen und so einen gewaltigen Energieausstoß zu erzeugen. Sämtliche Portale sind inzwischen so modifiziert, das ein unkontrollierter Zusammenbruch verhindert wird. Allerdings fanden wir das erst heraus, als für Kalixa jede Hilfe zu spät kam.«

»Warum zerstören die Enigmas Kalixa und nicht eines der Systeme unmittelbar vor ihrer Haustür?«, fragte Garadun, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.

»Ganz einfach«, antwortete Rogero und merkte, wie sich eine gewisse Härte in seinen Tonfall einschlich. »Sie wollten, dass wir der Allianz die Schuld geben. Sie wollten erreichen, dass die Syndikatwelten und die Allianz in den jeweils gegnerischen Sternensystemen die Hypernet-Portale zusammenbrechen lassen.«

Nach einer längeren Pause wandte Sub-CEO Garadun wütend den Blick ab. »Wir sollten uns also gegenseitig auslöschen. Die Menschheit sollte sich selbst umbringen, damit die Enigmas sich ungestört weiter ausbreiten können.«

»Richtig.«

»Und beinahe hätten wir das auch gemacht. Fast hätten wir genau das getan, wozu sie uns bringen wollten. Die Reserveflotte hatte den Befehl, das Hypernet-Portal bei Varandal kollabieren zu lassen. Wussten Sie davon? Es sollte ein Vergeltungsschlag für Kalixa sein.«

Nun war Rogero sprachlos.

»Wir hätten das um ein Haar auch getan.« Ein Schaudern erfasste Garadun, er verzog gequält das Gesicht. »Verdammt. Wenn wir da nicht das Gefecht verloren hätten … Ich muss jedem erzählen, was es mit Kalixa auf sich hat. Niemand weiß das! Alle glauben, die Allianz hätte Kalixa auf dem Gewissen. Und Sie wissen das auch ganz genau, Donal? Da gibt es keinen Zweifel?«

»Nicht den geringsten Zweifel. Es ist eigentlich überall bekannt, weil die Information verbreitet wurde, welche Modifikationen an den Hypernet-Portalen vorgenommen werden müssen.« Rogero hielt kurz inne. »Sie sollten auch wissen, was bei Prime vorgefallen ist. Dort ist das Portal ebenfalls kollabiert und das zu einem Zeitpunkt, als es nicht nur Prime, sondern auch Black Jacks Flotte zerstört hätte. Aber da waren die Modifikationen bereits abgeschlossen, und so brach es zwar zusammen, aber nicht mit denselben Auswirkungen wie bei Kalixa.«

Garadun schüttelte den Kopf und sah sich um. »Da ist ja Ito. Hey! Und Sie auch, Jepsen. Haben Sie gehört, was Colonel Rogero gerade eben gesagt hat? Sie bleiben bei ihm, also sorgen Sie dafür, dass jeder auf diesem und den anderen Frachtern die Wahrheit erfährt. Ich werde es den Leuten erzählen, die hier abgesetzt werden. Es gibt genügend Gründe, um die Allianz für das zu hassen, was sie während des Krieges getan hat, aber nichts davon bewegt sich auch nur annähernd in der Größenordnung von Kalixa. Unsere Leute müssen erfahren, wer tatsächlich dafür verantwortlich ist.«

»Die Enigmas haben versucht, unseren Hass auf die Allianz zu ihren Gunsten auszunutzen«, sagte Rogero. »Und umgekehrt natürlich auch den Hass der Allianz auf uns.«

»Das ist das Problem, wenn man hasst, nicht wahr?«, fuhr Garadun fort. »Es ist eine Leichtigkeit, den Hass auf das falsche Ziel auszurichten. Ja, ich weiß das. Ich wusste das schon immer. Ich vermochte meine Einstellung gegenüber der Allianz nicht zu ändern, aber ich konnte mir stets vor Augen halten, zu welchen Fehlern mich dieser Hass womöglich verführen würde. Das Portal bei Varandal kollabieren zu lassen wäre der schlimmste derartige Fehler gewesen, und das ist mir erst jetzt deutlich geworden.« Die Luftschleuse öffnete sich wieder. »Ah, wir sind an der Reihe. Vielen Dank, Donal. Ich habe mein Leben zurück, ich werde es nicht vergeuden.«

»Wir sehen uns bei Midway!«, rief Ito ihm nach, kurz bevor sich die Schleuse schloss. »Können wir reden?«, fragte sie dann an Rogero gewandt.

»Ja, natürlich. Helfen Sie mir, meine Rüstung zurück in mein Quartier zu tragen.«

Sie rümpfte die Nase. »Selbst bei der schlechten Luft hier kann ich das riechen. Sie sollten die besser gründlich säubern.«

»Das habe ich nach einem langen Kampf jedes Mal gemacht«, erwiderte er. »Haben Sie etwas über diesen Aufstand in Erfahrung bringen können?«

»Darüber will ich ja mit Ihnen reden.« Sie ging neben ihm her durch den Korridor. »Keiner der Arbeiter kann etwas dazu sagen, wer sie angestachelt hat. Immer nur der gleiche Unsinn. ›Irgendwer hat irgendwas gesagt.‹ ›Jeder hat es gemacht.‹« Sie schnaubte verächtlich. »Wie eine Schafherde.«

»Und die Verwundeten?«

»Die Verwundeten? Ach, Sie meinen die beiden angeschossenen Arbeiter? Einer ist gestorben.« Ito schien das nicht weiter zu kümmern. »Die andere wird bald wieder ihren Dienst erledigen können, sofern Sie nicht vorhaben, sie hinzurichten, um den anderen eine Warnung zukommen zu lassen. Diese beiden wissen jedenfalls auch nichts.«

»Das Ganze war geplant«, betonte Rogero. »Jemand hat das geplant und diese Leute losgeschickt. Aber ich möchte bezweifeln, dass die Drahtzieher an vorderster Front mit dabei waren. Wahrscheinlich haben sie sich ganz woanders aufgehalten, um sich ein Alibi zu verschaffen.«

»Richtig. Und anscheinend haben Sie bei der Niederschlagung des Aufstands ausgerechnet diejenigen erschossen, die irgendetwas wussten. Ich habe die tragbaren Verhörgerätschaften benutzt, die Sie mitgebracht hatten. Keine großartige Ausrüstung, aber für diesen Zweck mehr als genug. Keiner der Arbeiter hat irgendwelche Übung, wie man sich bei einem Verhör zu verhalten hat.«

»Und die Granate?«, wollte Rogero wissen. »Ich konnte herausfinden, dass sie aus unseren Beständen gestohlen, aber von keinem meiner Soldaten an diese Leute weitergegeben wurde. Dieser Diebstahl hat sehr viel Geschick erfordert, weil man die Alarmanlage in diesem speziellen Lagerraum überwinden musste und keinen Hinweis darauf hinterlassen durfte, dass jemand dort eingedrungen ist. Zumindest war das aber die einzige Granate, die verschwunden ist.«

»Vermutlich haben Sie auch genau den einen Aufrührer erschossen, der für den Diebstahl verantwortlich war«, sagte Ito. »Derjenige muss sich ja in der vordersten Gruppe aufgehalten haben, um die Granate in die Kabine zu werfen, sobald sie die Tür weit genug aufgedrückt hatten. Bestimmt haben sie nur eine gestohlen, weil wir bei zwei verschwundenen Granaten die zweite wiedergefunden und gewusst hätten, wer dahintersteckt.«

»Wahrscheinlich ja«, stimmte Rogero ihr zu. »Aber ganz gleich, wer es nun letztlich war, er ist professionell vorgegangen. Diese Leute müssen gefasst werden.«

»Und getötet?«

»Vermutlich. Aber erst nachdem sie ein paar Fragen beantwortet haben.«

»Verraten Sie mir eines«, sagte Ito. »Sie haben doch bei Midway alle Schlangen getötet. Was haben die Arbeiter gemacht, nachdem keine Schlangen mehr da waren, von denen sie kontrolliert und unterdrückt wurden? Sie müssen doch einen Aufstand angezettelt haben. Mussten Sie zu planetenweiten Aktionen greifen, um sie alle wieder gefügig zu machen?«

Bei diesen Worten musste Rogero an die beinahe hysterischen Massen denken, die den Tod der Schlangen auf Midway und die Vernichtung des ISD-Hauptquartiers durch General Drakons Soldaten gefeiert hatten. Er hatte gesehen, wie sich erster Ärger abzuzeichnen begann, und er hatte gewusst, dass die ausgelassene Stimmung bald umschlagen würde. »Nein. Ich konnte zwar erkennen, dass die Dinge außer Kontrolle zu geraten begannen, aber dazu kam es dann nicht. General Drakon schickte uns los, damit wir Bürger rekrutierten, die dafür sorgen sollten, dass die Feiern nicht aus dem Ruder liefen.«

»Sie haben sie rekrutiert? Das heißt, er hat diese Leute dazu verpflichtet, die anderen einzuschüchtern?«

»Nein, nein. General Drakon hat mit den Bürgern geredet. Er hat ihnen gesagt, sie müssen darauf achten, dass niemand die plötzliche Freiheit dazu missbraucht, den anderen zu schaden. Er hat ihnen erklärt, die eine oder andere bislang nicht überführte Schlange könnte versuchen, die Bürger zu Ausschreitungen zu verleiten. Er hat die Polizei auf die Straße geschickt. Wir haben die Ordnungskräfte verstärkt, und Drakon ist auch selbst auf die Straße gegangen, um die Leute zu beruhigen. Er hat ihnen gesagt, dass sie nicht nur an den Augenblick, sondern auch an den nächsten Tag denken sollten und daran, was sie tun müssen, um für ihre eigene Sicherheit und die ihrer Familien zu sorgen.«

Ito hörte ihm völlig verblüfft zu. »Aber er hat sie auch bedroht.« Es war nicht als Frage, sondern als Feststellung gemeint.

»Nein«, widersprach Rogero. »Er und Präsidentin Iceni haben den Leuten gesagt, dass sie verantwortungsbewusst handeln müssen, und sie haben ihnen auch gesagt, dass jeder, der sich nicht darum kümmert, mit Konsequenzen rechnen muss.«

»Das ist eine Drohung«, folgerte Ito. »Wie viele Unruhen hat es seitdem gegeben?«

»Kaum welche. Ein paar Demonstrationen, die von Präsidentin Iceni genehmigt werden, solange sich alle benehmen. So wissen die Leute, dass sie Gehör finden.«

Sie hatten sein Quartier erreicht, und Ito ließ Rogero mit der vertrauten, aber mühseligen Aufgabe allein, seine Gefechtsrüstung sauber zu machen. Ich liebe dich von ganzem Herzen, Honore, aber nach ein paar Tagen in dieser Rüstung miefst du wirklich schrecklich. Aber das werde ich dir natürlich nicht sagen.

An die Tage nach der Revolte, gleich nachdem wir die Schlangen bei Midway getötet hatten, habe ich schon lange nicht mehr gedacht. Ich bin durch zu viele andere Dinge abgelenkt worden. Aber was wäre wohl geschehen, wenn General Drakon und Präsidentin Iceni zu den Methoden des Syndikats gegriffen hätten, um die Bürger zu unterdrücken? Wir wären unentwegt damit beschäftigt gewesen, aufbegehrende Menschen davon abzuhalten, mit uns das anzustellen, was wir den Schlangen antaten.

Wir haben die Führer bekommen, die wir brauchten, und wir haben sie genau im richtigen Moment bekommen. Ich muss immer dafür dankbar sein. Von Honore habe ich gelernt, dass es in vielen anderen Sternensystemen solche Führer nicht gegeben hat, und das haben die Menschen dort teuer bezahlt. War es Zufall, dass gerade wir Drakon und Iceni hatten? Ich glaube nicht, aber bei wem oder was soll ich mich dann für diese glückliche Fügung bedanken?

Jedenfalls nicht bei den Menschen, denn das hat unsere Fähigkeiten überstiegen.

Marphissa sah Bradamont an Bord der Manticore kommen und konnte nicht anders, als sie freudig zu umarmen. »Sie sind tatsächlich zurück!«

Bradamont lachte und staunte über diese Willkommensgeste. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und roch, als hätte man sie ein paar Tage lang lebendig begraben und eben erst wieder aus der Erde geholt. »Ich hatte mich schon gefragt, ob ich es tatsächlich hierher zurück schaffen würde. Die letzten Tage habe ich rund um die Uhr eine Gefechtsrüstung tragen müssen.«

»Ah, deshalb«, sagte Marphissa.

»Deshalb was?«

»Gar nichts. Sie wollen bestimmt erst mal duschen und sich ausruhen. Machen Sie sich um nichts weiter Gedanken. Wir werden jetzt erst mal tausenddreihundertsechsundzwanzig Syndikatsfanatiker absetzen, danach geht es weiter in Richtung Sprungpunkt. Die Lebenserhaltungssysteme auf den Frachtern werden sich ein wenig erholen, wenn diese Masse von Bord gegangen ist. Mit ein bisschen Glück müssen wir Sie für den Rest der Heimreise nicht noch mal bemühen.«

»Sagen Sie das lieber nicht«, warnte Bradamont sie. »Übrigens ist nicht jeder, der hier von Bord geht, ein Syndikatsfanatiker, Asima. Ein paar Leute wollen nur nicht nach Midway gebracht werden.«

»Selbst schuld.«

»Hat Atalia viel Theater wegen der Leute gemacht, die wir hier absetzen?«

Marphissa grinste sie breit an. »Ich habe oft genug Präsidentin Iceni in Aktion erlebt, um zu wissen, wie man so was erledigt. Ich habe Atalia gar nicht erst gefragt, ob sie die Leute nehmen würden, sondern ihnen einfach gesagt, dass wir sie schicken. Atalia hat sich nicht dagegen ausgesprochen, aber ich habe ja auch viel mehr Feuerkraft auf meiner Seite als sie.«

»Eignen Sie sich nicht die falschen Dinge an, Asima.«

Vor Bradamonts Quartier blieb Marphissa auf dem Weg zur Brücke stehen. »Eines noch, Honore. Sie sind jetzt zurück auf der Manticore. Sie können die Luke zu Ihrer Kabine natürlich geschlossen halten, aber Sie sind hier sicher aufgehoben.«

»Sie hatten mich zuletzt noch vor Ihrer Crew gewarnt«, gab Bradamont lächelnd zurück.

»Das war anfangs der Fall. Aber jetzt sind Sie schon seit einer Weile hier, und man kennt Sie. Die Sache mit dem Aufstand hat sich bereits rumgesprochen. Für die Matrosen ist das jetzt so, dass die Allianz-Offizierin der Manticore, also ihre Allianz-Offizierin, beinahe von einem Haufen Rüpel von der Reserveflotte umgebracht worden ist. Die Leute lieben Sie vielleicht nicht gerade, aber Sie gehören zur Manticore. So denkt man hier, und deshalb sind Sie hier in Sicherheit«, betonte Marphissa.

»Ich werde diese Matrosen wohl nie verstehen«, meinte Bradamont.

»Sie verstehen sie ganz gut. Willkommen zurück, Sie Allianz-Monster.«

»Ich bin froh, wieder hier zu sein, Sie Syndik-Teufelin.«

Es war nicht leicht gewesen, bei Atalia warten zu müssen, und es war auch nicht leicht gewesen, auf dem Rückweg noch einmal Kalixa durchqueren zu müssen. Aber Marphissa hatte ihre Sorgen lieber für das aufgehoben, was sie womöglich bei Indras erwartete.

Warum musste ich damit bloß richtig liegen?

»Verdammte Schlangen«, knurrte Kapitan Diaz.

Jetzt wurden sie bei Indras von drei Leichten Kreuzern und fünf Jägern erwartet, die in einer Entfernung von zehn Lichtminuten um den Sprungpunkt kreisten und dabei genau die direkte Flugroute zum Hypernet-Portal blockierten.

»Vielleicht können wir uns ja mit einem Bluff aus der Affäre ziehen«, überlegte Marphissa laut, die wieder den Anzug eines Syndikat-CEO trug. Sitz nicht zu gerade. Mach einen gelangweilten Eindruck. Gib dich so, als wärst du die wichtigste Person in diesem und jedem umliegenden Sternensystem.

Sie streckte den Arm aus und betätigte die Komm-Kontrolle, dann begann sie in dem einstudierten herablassenden Tonfall eines CEO zu reden, »Hier ist CEO Manetas. Unsere Mission nach Atalia wurde selbstverständlich erfolgreich abgeschlossen. Wir kehren mit Gefangenen nach Prime zurück, die dort Verhören unterzogen werden sollen. Alle Schiffe bleiben auf Abstand zu meiner Flotte. Manetas für das Volk, Ende.«

»Ich bete wieder«, sagte Diaz, als sie ihre Nachricht beendet hatte. »Meine Eltern haben mir beigebracht, wie man das heimlich macht.«

»Tatsächlich? Dann hoffe ich, Sie haben es auch richtig gelernt.«

Die Antwort traf viel schneller als erwartet ein. »Kommodor, die Nachricht kommt von der Syndikat-Flotte vor uns, sie ist ausschließlich für Sie persönlich bestimmt.«

Marphissa wusste, womit jetzt alle rechneten. Sie würde sich in ihr Quartier zurückziehen und die Nachricht ganz allein ansehen, die sehr wahrscheinlich besonders lukrative Angebote von Seiten des Syndikats enthielt, von denen niemand sonst etwas wissen sollte. »Ich werde sie mir hier ansehen«, erwiderte sie. »Was das Syndikat mir zu sagen hat, darf jeder mithören.«

»Ja, Kommodor«, sagte der Komm-Spezialist, dessen Miene verriet, wie angenehm überrascht er war. »Auf Ihrem Display.«

Der Mann, der sie ansah, war eindeutig eine Schlange. Eine Senior-Schlange. Bei seinem Anblick hatte Marphissa unwillkürlich das Gefühl, dass ihr das Blut in den Adern gefror, obwohl sie wusste, dass er sie in diesem Moment gar nicht sehen konnte. Dieser Blick war für viele ihrer Freunde und Bekannten das Letzte gewesen, was sie zu sehen bekommen hatten, ehe sie in ein Arbeitslager verschleppt wurden oder einfach spurlos verschwanden.

»Ich bin Sub-CEO Qui. Ich weiß nicht, wer Sie in Wahrheit sind, aber das werde ich noch herausfinden. Sie haben etwas, das die Syndikatwelten brauchen. Was wir brauchen, ist jemand wie Sie. Die Syndikatwelten brauchen gutes CEO-Material. Sie haben Ihre Fähigkeiten demonstriert, indem Sie eine beträchtliche Flotte der mobilen Streitkräfte um sich herum versammelt haben. Eine Flotte, die Ihre Befehle befolgt. Wären Sie weniger talentiert, würden Sie dieses Angebot nicht erhalten, das von der Regierung auf Prime unterstützt und garantiert wird. Wenn Sie wieder die Autorität der Syndikatwelten akzeptieren und Ihre mobilen Streitkräfte erneut dem Oberbefehl von Prime unterstellen, werden Sie mit sofortiger Wirkung in den Rang eines CEO erhoben. Außerdem garantieren wir Ihnen umfassende Immunität für jegliche Handlungen, mit denen Sie gegen Gesetze, Regeln oder Prozeduren des Syndikats verstoßen haben könnten. Vollständige Immunität und ein Aufstieg in den höchsten Dienstgrad der Syndikatwelten.«

Nach einer kurzen Pause fuhr CEO Qui mit einem frostigen Ausdruck in den Augen und einem ebensolchen Lächeln fort: »Ich hoffe, Sie erkennen die Vorteile dieses überaus großzügigen Angebots. Sie erlangen einen hochrangigen Posten und Sicherheit, während die Syndikatwelten eine sehr talentierte CEO und eine kleine, aber wertvolle Flotte aus Einheiten der mobilen Streitkräfte dazugewinnen. Sie haben keinen Widerstand von Ihren Untergebenen oder Ihren Arbeitern zu befürchten. Wir werden Sie mit einem Plan versorgen, um genügend Soldaten an Bord einer jeden Einheit zu bringen, die jeden möglichen Widerstand sofort niederschlagen.«

Dann nahm Quis Lächeln einen fast boshaften Zug an, und er redete weiter: »Sie könnten dieses Angebot natürlich ablehnen, aber das wäre eine schreckliche Vergeudung Ihrer Talente. Dann werden wir nämlich jeden Ihrer Frachter zerstören, lange bevor Sie das Hypernet-Portal erreicht haben. Das heißt, Sie werden als Versagerin heimkehren. Und Sie wissen ja, wie Versagen belohnt wird. Außerdem werden wir Ihre wahre Identität aufdecken und Ihre Familie ausfindig machen, die wir für jedes von Ihnen begangene Verbrechen verantwortlich machen werden. Was nur gerecht ist, da Ihre Familie ja ohnehin mit Ihnen unter einer Decke gesteckt haben muss. Es ist also wesentlich besser, sich für den profitablen Weg zu entscheiden. Ich erwarte Ihre Antwort auf diesem Kanal. Qui, für das Volk. Ende.«

Als die Nachricht beendet war, herrschte auf der Brücke Totenstille, wenn man von der Geräuschkulisse absah, die von den Schiffssystemen und vom Atmen der Männer und Frauen herrührte.

Schließlich begann Marphissa zu lachen und ließ dabei all ihrer Verachtung und Wut freien Lauf. »Meint er etwa, ich bin so wie er? Glaubt er, ich bin tatsächlich eine CEO der Syndikatwelten? Ist er wirklich so dumm, dass er denkt, ich verrate die Leute, dir mir folgen? Die Leute, die Präsidentin Iceni die Treue geschworen haben? Jene Leute, die für unsere Freiheit und für die Freiheit all unserer Familien gekämpft haben?«

»Ich glaube, die Antwort auf jede Ihrer Fragen ist ein deutliches Ja«, erwiderte Kapitan Diaz.

Bradamont hatte sich das Ganze angehört und schaute ungläubig drein. »Er hat das tatsächlich in der Überzeugung vorgeschlagen, Sie würden darauf eingehen?«

»Bestimmt ist er auf diese Weise CEO geworden, indem er ähnliche Angebote angenommen und die Leute verkauft hat, die auf ihn angewiesen waren«, erklärte Marphissa. »Und er ist eine Schlange. Das heißt, er meint das nicht so. Jedes Wort aus seinem Mund ist gelogen. Mich würde man so wie jeden anderen auf der Kommandoebene erschießen, und die Arbeiter würde man alle in ein Lager verschleppen. Er glaubt, meine Habgier wird über meinen gesunden Menschenverstand siegen und mich vergessen lassen, wie oft ich schon erlebt habe, was mit Leuten passiert, die dumm genug sind, den Zusicherungen einer Schlange zu glauben.«

»Werden Sie ihm das so sagen?«, fragte Diaz.

Fast hätte sie zugestimmt, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich will Zeit schinden, indem ich ihn glauben lasse, ich würde ernsthaft über das Angebot nachdenken. Je näher wir dem Hypernet-Portal kommen, bevor die mobilen Streitkräfte des Syndikats ihren Angriff starten, umso besser stehen unsere Chancen, einige Frachter in Sicherheit zu bringen.« Sie schaute sich auf der Brücke um und blickte in die Mienen, die bei ihren letzten Worten einen ernsten Ausdruck angenommen hatten. »Diese Tatsache müssen wir akzeptieren. Wir sind ihnen zwar zahlenmäßig überlegen, aber es wird sehr, sehr schwierig werden, sie daran zu hindern, auf die Frachter zu schießen. Doch wir werden unser Bestes geben.«

»Diese Frachter sind randvoll besetzt mit Arbeitern«, gab Diaz zu bedenken. »Jeder Treffer wird etliche Todesopfer fordern.«

»Wir werden unser Bestes geben!«, wiederholte Marphissa. »Lassen Sie mich dem Sub-CEO Qui eine Antwort schicken. Komm-Spezialist, können Sie mir einen digital veränderten Hintergrund geben, damit es so aussieht, als würde ich in meinem Quartier sitzen?«

»Schon erledigt, Kommodor«, antwortete der Komm-Spezialist. »Bereit zum Senden.«

Diesmal setzte Marphissa eine skeptische Miene auf, ehe sie die Antworttaste betätigte. »Sub-CEO Qui, Ihr Angebot klingt verlockend, ich wäge es momentan gründlich ab. Sie müssen verstehen, dass ich dabei natürlich behutsam vorgehen muss, um sicherzustellen, dass keiner meiner Untergebenen den Eindruck bekommt, er könnte ersetzt werden. Ich werde Ihnen in Kürze meine Entscheidung mitteilen. Ende.«

Sie sah sich um. Die Syndikatsflotte war zehn Lichtminuten entfernt, also würde es noch etwas mehr als eineinhalb Stunden dauern, ehe es zu einem direkten Kontakt mit diesen Schiffen kommen konnte. »Ich werde diesen CEO-Anzug auf der Stelle ausziehen«, verkündete sie. »Wenn ich schon kämpfen soll, dann in der Uniform von Midway.«

Nur ein paar Minuten später kehrte sie auf die Brücke zurück und traf genau im richtigen Moment ein, um den Ablauf-Spezialisten warnend rufen zu hören: »Die Syndikat-Flotte setzt sich in Bewegung!«

Marphissa betrachtete das Display, bis die neuen Vektoren der anderen Schiffe angezeigt wurden. »Sie gehen auf Abfangkurs zu uns. Ich nehme an, Sub-CEO Qui war über meine Antwort nicht erfreut.«

»Auf dem gegenwärtigen Vektor noch vierzig Minuten bis zum Kontakt«, merkte Diaz an. »Er hat gesagt, er will sich die Frachter vornehmen. Auch wenn Schlangen immer lügen, würde ich vermuten, dass er diesmal seine wahren Absichten verraten hat.«

Die Frachter würden bis zum Erreichen des Hypernet-Portals jedem Angreifer schutzlos ausgeliefert sein. Die Leichten Kreuzer und die Jäger der Schlangen konnten zwar nicht Marphissas Kriegsschiffe vernichten, doch sie waren ohne Weiteres in der Lage, einen trägen Frachter nach dem anderen zu eliminieren.

So etwas habe ich noch nie gemacht. Wie kann ich diese Frachter retten? Kann ich sie überhaupt retten?

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