Unter den gegebenen Umständen fand Iceni, dass sie zwar angemessen besorgt klang, aber nicht so aufgebracht wie jemand, der nur knapp einem Attentat entgangen war. Sie hatte nach dem Zufallsprinzip einen anderen gesicherten Raum im Kommandozentrum ausgewählt, ihn nach Gefahren abgesucht und dann ihre Nachricht an Black Jack aufgenommen und abgeschickt. »Vor zwei Tagen ist noch ein Frachter vom Portal bei Nanggal bei uns eingetroffen und konnte nicht von irgendwelchen Schwierigkeiten berichten. Ich kann Ihnen versichern, dass uns Ihre Nachricht sehr beunruhigt hat. Wir haben keine Erklärung für die von Ihnen beschriebenen Probleme beim Zugriff auf andere Portale im Hypernet des Syndikats. Mein Informationsstand vor dem Bruch mit dem Syndikat war der, dass man alle in Betrieb befindlichen Portale so ausgerüstet hat, dass es nicht mehr möglich ist, sie per Fernsteuerung kollabieren zu lassen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die neue Regierung auf Prime absichtlich so gut wie alle Hypernet-Portale zerstören sollte. Die Folgen für die Unternehmen und ihre Gewinne könnte man gar nicht beziffern. Aber wie gesagt, wir wissen nicht, was geschehen ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass unser eigenes Portal irgendwelche Probleme oder Fehlfunktionen aufweist. Wir haben die Einrichtung ständig auf irgendwelche Hinweise für eine Software- oder Hardware-Sabotage überwacht, insbesondere in der Zeit, als sich CEO Boyens’ Flotte in unserem System aufhielt. Wenn Sie irgendetwas entdecken oder auf irgendwelche Anomalien in der Funktionsweise des Portals stoßen, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns diese Informationen überlassen könnten. Für das Volk. Iceni, Ende.«
Während sie das kleine Display über dem Schreibtisch betrachtete, wurde ihr etwas bewusst: Wäre Black Jack wie geplant aufgebrochen, dann wäre die Bombe entweder hochgegangen unmittelbar nachdem seine Flotte das System verlassen hatte oder aber so kurz vor diesem Zeitpunkt, dass ihn die Nachricht von einem Attentat gar nicht mehr erreicht hätte. Der Attentäter wollte offenbar nicht, das Black Jack etwas von dem Anschlag erfährt, was mir etwas sehr Wichtiges sagt — nämlich dass Black Jack damit nichts zu tun hat.
Die große Frage war, was sie nun machen sollte. Die alte Etikette des Syndikats verlangte nach einer entsprechenden Reaktion, also nach einem Anschlag auf Drakons Leben.
Icenis Blick war unverändert auf das Display gerichtet, aber sie nahm jetzt nichts mehr von den Schiffen wahr, die sich durch das Sternensystem bewegten. Was fühle ich eigentlich? Enttäuschung. Nein, mehr als nur das.
Wie konnte Drakon bloß so etwas tun? Und selbst wenn er den Anschlag nicht befohlen haben sollte, wie konnte er dann zulassen, dass diese wahnsinnige Morgan mir nach dem Leben trachtet? Die hätten doch alle wissen müssen, dass Sprengstoff mit einer militärischen Kennzeichnung sofort zu ihnen zurückzuverfolgen …
Der Gedanke nahm ein jähes Ende.
Ja, natürlich. Das hätten sie wissen müssen. Jetzt wach schon auf, Iceni. Würde jemand wie Drakon oder jemand aus seinem Umfeld zu militärischem Sprengstoff greifen und damit eine offensichtliche Fährte legen, wenn jeder von ihnen sowohl an handelsüblichen Sprengstoff als auch an die Bestände der Schlangen herankommen kann, die seinen Leuten bei der Eroberung des alten Schlangen-Hauptquartiers in die Hände gefallen sein müssen?
Ich werde wohl langsam alt. Warum habe ich so lange gebraucht, um das zu durchschauen?
Sie lehnte sich zurück und ließ sich noch einmal detailliert den Verlauf der Ereignisse durch den Kopf gehen. Einige Minuten später tippte Iceni eine Komm-Adresse ein. »General Drakon, ich muss mit Ihnen reden. Unter vier Augen und nicht im Kommandozentrum. Ich habe festgestellt, dass einige der angeblich völlig sicheren Räume manipuliert worden sind.«
Drakon schaute ihr fragend und besorgt aus dem Display entgegen. Das konnte sie ihm anmerken. Mit dem, was er dann sagte, hätte sie dennoch nicht gerechnet. »Sind Sie unversehrt?«
Seine erste Frage galt ihrem Wohlergehen? War wirklich sie es, dem seine sichtliche Besorgnis galt? Einen Moment lang konnte sie vor Verwunderung keinen klaren Gedanken fassen. »Mir geht es gut. Wo können wir uns treffen? Wir benötigen einen neuen und sicheren Treffpunkt, den uns niemand zutrauen würde.«
»Mir fällt nur ein Ort ein, der diese Voraussetzungen erfüllt, aber da möchten Sie vielleicht lieber nicht hingehen.«
»Und was für ein Ort wäre das?«
Drakon wartete am Eingang zum Büro, in dem früher CEO Hardrad gesessen hatte, seinerzeit Chef des ISD im Midway-Sternensystem. Der Komplex, in dem die Schlangen ihr Hauptquartier unterhalten hatten, war arg in Mitleidenschaft gezogen worden, als Drakons Truppen das schwer befestigte Bauwerk gestürmt hatten. Hardrads Büro jedoch, das tief im Inneren der Festung verborgen lag, bot nur einen einzigen Hinweis auf das Schicksal des CEO und der Schlangen auf diesem Planeten. An der Wand hinter Hardrads Schreibtisch waren noch dunkle Flecken zu erkennen, die anzeigten, wo Hardrad gestanden hatte, als Colonel Morgan ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte.
Iceni traf mit ein paar Leibwächtern ein, denen sie befahl, draußen auf sie zu warten. Sie trat ein, sah sich um und verzog den Mund. »Mit diesem Raum verbinde ich keine guten Erinnerungen.«
»Ich auch nicht«, stimmte Drakon ihr zu und gab Colonel Malin ein Zeichen, die Tür zu schließen und draußen auf ihn zu warten. »Aber wenn es auf diesem Planeten einen Ort gibt, der garantiert nicht abgehört wird, dann ist es dieses Büro.«
»Schon ironisch«, erwiderte Iceni. Sie betrachtete Hardrads Schreibtisch und den Stuhl dahinter, dann setzte sie sich kopfschüttelnd in einen der bequemen Sessel, die um einen kleinen Tisch herum angeordnet waren. »Die Schlangen haben alles verwanzt, wo sie rankommen konnten, nur nicht das Büro ihres Vorgesetzten.«
»Die CEOs der Schlangen wollen eben nicht, dass irgendjemand erfährt, was sie tun oder anordnen.« Drakon nahm ihr gegenüber Platz. »Was genau ist passiert?«
Sekundenlang musterte sie ihn, ehe sie erwiderte: »Jemand hat versucht mich umzubringen. Oder er hat versucht, es so aussehen zu lassen, als sei er bestrebt, mich umzubringen.«
Drakons Miene war sofort wie versteinert, und genauso fühlte er sich auch. »Ein Attentatsversuch? Gegen Sie gerichtet?«
»Die Bombe hatte einen biometrischen Zünder.«
Wut stieg in ihm auf und ließ die eisige Kälte verkochen. »Ich werde … Augenblick mal. Haben Sie da gerade eben gesagt, jemand hat versucht, es wie einen Attentatsversuch aussehen zu lassen?«
»Möglicherweise.« Iceni betrachtete ihn und schien verwirrt zu sein. »Sie sind ein Dilemma, General. Lassen Sie mich offen reden. Die gegen mich eingesetzte Bombe enthielt einen gerichteten Sprengsatz mit militärischer Kennzeichnung.«
»Was?« Sie warf ihm eine Enthüllung nach der anderen hin, und er brauchte Zeit, um jede einzelne davon erst mal zu verdauen. »Mit militärischer Kennzeichnung?« Er begriff, was das bedeutete, und es machte ihn nur noch wütender. »Jemand wollte mir das anhängen? Jemand wollte Sie glauben lassen, dass ich das genehmigt habe?«
»Das haben Sie nicht?«
»Nein!«
Er wunderte sich selbst darüber, mit welchem Nachdruck er ihr dieses eine Wort entgegenschleuderte. Dennoch sah Iceni ihn nur weiter grübelnd an. »Was ist mit Leuten aus Ihrem Stab? Jemand, der Ihnen nahesteht?«
»Auf keinen Fall!«, sagte Drakon. »Sie meinen Colonel Morgan, nicht wahr?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Morgan hat damit nichts zu tun«, erklärte er. »Hätte sie das geplant, dann würden Sie jetzt nämlich nicht mehr leben. Wie wurde die Bombe gefunden?«
»Jemand hat sie mit seinem Scanner entdeckt.«
»Glück für Sie, dass derjenige sich hinter Ihrem Schreibtisch aufgehalten hat.«
Iceni stutzte. »Wie soll ich das verstehen?« Ihre Stimme klang ein wenig zu gefasst, zu beherrscht.
»Sie sprachen eben von einem gerichteten Sprengsatz«, erklärte Drakon. »Den Zünder einer solchen Bombe kann man mit einem Scanner nur aus der Richtung erfassen, in die der Sprengsatz reagieren soll.«
»Tatsächlich? Hm, interessant.«
Drakon sah sie fragend an. »Wieso?«
Wieder ließ sie sich mit einer Antwort Zeit, weshalb er sich zu wünschen begann, er könnte ihre Gedanken lesen.
Plötzlich beschrieb Iceni eine knappe Handbewegung, im nächsten Moment hielt sie eine sehr kompakte, aber sehr wirkungsvolle todbringende Waffe in der Hand. »Sie wissen, dass ich Sie auf der Stelle töten könnte.«
»Ich weiß, dass Sie das versuchen könnten. Sie sollten aber wissen, dass ich über die gleiche Art von Verteidigung verfüge.«
»Ja.« Erneut folgte eine knappe Geste, und die Waffe war wieder verschwunden. »Warum haben Sie keine Reaktion gezeigt, als ich die Waffe zog?«
Er deutete auf ihr Gesicht. »Ich habe auf Ihre Augen geachtet, nicht auf Ihre Waffe. Wenn jemand eine Waffe benutzen will, dann kann man ihm das zuerst an den Augen ansehen. Sie hatten nicht diesen Blick.«
»Dann werde ich daran noch arbeiten müssen. Ich dachte, Sie würden mir vielleicht … vertrauen. Meine gesamte Lebenserfahrung«, fuhr sie fort, »und alles, was ich auf dem Weg zur CEO gelernt habe, sagt mir, dass ich niemandem vertrauen kann. In diesem Sternensystem gibt es nur einen Menschen, bei dem ich mit Sicherheit weiß, dass er nicht gegen mich arbeitet.«
Soeben setzte er zu einem Lächeln an, da redete sie weiter.
»Dieser eine Mensch ist diese Verbindungsoffizierin der Allianz. Bei ihr weiß ich, dass sie keine Schlange ist. Ich weiß, dass Captain Bradamont weder für Sie noch irgendwen sonst in diesem oder in einem der umliegenden Sternensysteme arbeitet.«
»Sie glauben, diese Offizierin führt nichts im Schilde?«, konterte er herausfordernd und mit rauer Stimme.
»Doch, ich weiß sogar, dass sie etwas im Schilde führt. Und ich denke, ihre Absichten müssten mit meinen übereinstimmen.«
»Tatsächlich? Sind Sie wirklich bereit für diese freien Wahlen, mit denen die Allianz immer so angibt?«
Iceni antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich nach hinten, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schaute zur Seite. »Sie haben dieses Thema schon einmal angesprochen. Ich habe das Gefühl, dass die Bürger mit den Knochen zufrieden sind, die wir ihnen hinwerfen«, entgegnete sie schließlich.
»Ich gehe davon aus, wir haben beide die gleichen Berichte gelesen«, hakte Drakon nach. »Einige Gruppen sind bereits unzufrieden und drängen auf Wahlen auf allen Ebenen bis hin zu Ihrem Posten.«
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Und Ihr Posten?«
»Ich habe keinen Posten, für den man sich zur Wahl aufstellen lassen kann«, machte Drakon ihr klar. »Aber diejenigen Bürger, die über Ihren Posten abstimmen wollen, erwarten von mir, dass ich Befehle von demjenigen ausführe, den sie auf Ihren Posten wählen, und diese Vorstellung gefällt mir gar nicht.« Dann fügte er hinzu: »Früher oder später werden wir uns mit diesen Bürgern auseinandersetzen müssen. Das bedeutet, wir müssen die Mehrheit der Bürger und die Mehrheit der frei gewählten Amtsinhaber auf unserer Seite haben. Mir ist klar, was das bedeutet, und Ihnen genauso. Diese Allianz-Offizierin wird es aber wahrscheinlich nicht wissen.«
Iceni nickte und sah ihm weiter in die Augen. »Sie haben völlig recht. Aber was wollen Sie mir damit sagen?«
»Ich will Ihnen damit sagen, dass der ursprüngliche Grund für unsere Zusammenarbeit immer noch Gültigkeit besitzt. Wenn wir überleben und siegen wollen, müssen wir als Team handeln.« Ich weiß nicht, warum ich sie so unbedingt dazu bringen will, das zu glauben, aber ich will es. Außerdem ist es die Wahrheit. Wenn einer von uns auf sich allein gestellt ist, wird er untergehen.
Schließlich lächelte sie ihn an. »Genau das wollte ich von Ihnen hören. Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber ich wollte wissen, ob Ihnen immer noch klar ist, was alles vor uns liegt. Aber ist das auch allen anderen klar? Allen, die für uns arbeiten?«
»Nein.« Es wäre sinnlos gewesen, um den heißen Brei herumzureden. »Jedenfalls nicht den Leuten, die für mich arbeiten.«
»Das ist bei mir nicht anders.« Iceni stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Gibt es irgendjemanden in diesem Sternensystem, dem Sie vertrauen?«
Er musste erst gründlich nachdenken, bevor er darauf antworten konnte. Dann stand er ebenfalls auf und gab ihr sehr kurz die Hand. »Ja.«
Er wusste, dass sie auf eine weitergehende Erklärung wartete, bevor sie Hardrads ehemaliges Büro verließen, doch ihn wurmte immer noch ihre Äußerung, sie könne außer der Allianz-Verbindungsoffizierin niemandem trauen. Also sagte er nichts weiter.
Black Jacks Flotte war abgereist, hatte aber etwas zurückgelassen, das Drakons persönliches Erscheinen in der Hauptorbitaleinrichtung erforderte. Die Bürger der Syndikatwelten, die von der Enigma-Rasse gefangen genommen und festgehalten worden waren, hatten sich alle dafür entschieden, in Midway zu bleiben, und zwar alle dreihundertdreiunddreißig. Black Jack hatte ihnen achtzehn angeboten, die aus dem System stammten, aber im entscheidenden Moment, als die kleinere Gruppe sich vom Rest trennen sollte, überlegten alle anderen es sich spontan anders und wollten bei diesen achtzehn bleiben. Das war eine von diesen Reaktionen, wie man sie von Leuten erwarten konnte, die unter den Nachwirkungen einer langen Gefangenschaft litten. Jetzt waren alle frei, und sie waren auf dem Weg hierher. Sie wussten nichts über die Enigmas, dennoch würde ihre Anwesenheit in Midway so etwas wie einen diplomatischen Coup darstellen.
Drakon saß allein im Passagierabteil eines militärischen Shuttles, das hoch in die Atmosphäre aufstieg. Das große Display an der vorderen Wand des Abteils war zweigeteilt, eine Hälfte zeigte das unendliche Schwarz mit seinen unendlich vielen Sternen, die andere bot den Blick auf den Planeten unter ihm, über den weiße Wolken zogen, darunter das Blau eines Ozeans, der von Inselketten und ein paar kleineren Inselkontinenten unterbrochen war. Drakon hatte das Gefühl, zwischen zwei Extremen in der Luft zu hängen, ein Gefühl, als ob seine Entscheidungen und sein Handeln hier oben in der Schwebe zwischen Himmel und Welt ihm entweder einen glühenden Wiedereintritt in die Atmosphäre oder ein Ende in der eisigen Finsternis bereiten könnten.
Das beharrliche Klingeln seiner Komm-Einheit war eine willkommene Unterbrechung, die ihn aus dem verstörenden Tagtraum holte. »Was gibt’s?«, fragte er, als das Bild von Colonel Malin Gestalt annahm. »Wird sich Präsidentin Iceni verspäten?« Iceni war mit einem eigenen Shuttle zur Orbitaleinrichtung unterwegs. Auch wenn es für die Bürger besser gewesen wäre, sie beide gemeinsam in einem Shuttle reisen zu sehen, damit sie sie als die gemeinsam handelnden Herrscher über den Planeten wahrnahmen, wurde das Risiko, möglichen Attentätern zwei so extrem verlockende Ziele zu präsentieren, als unverantwortlich groß eingestuft. Außerdem ließen sich Unfälle nie ausschließen — also echte Unfälle, nicht solche, bei denen praktischerweise politische Rivalen ums Leben kamen.
»Nein, Sir«, antwortete Malin. »Das Shuttle der Präsidentin ist gestartet. Aber es gibt eine interessante Entwicklung. Vor wenigen Stunden ist ein Frachter durch das Hypernet-Portal im System eingetroffen. Er kommt aus Taniwah.«
Gerade wollte Drakon fragen, was daran so erwähnenswert sein sollte, da begriff er und starrte Malin an. »Aus Taniwah? Nicht aus Sobek? Ganz sicher?«
»Ja, Sir. Als der Frachter eintraf, hat Kommodor Marphissa die Kraken zum Hypernet-Portal geschickt, um überprüfen zu lassen, welche Zielportale als erreichbar aufgelistet sind. Alle bekannten Portale im Hypernet der Syndikatwelten standen zur Verfügung, ausgenommen natürlich zerstörte Portale wie beispielsweise Kalixa.«
Drakon lehnte sich zurück und rieb sich das Kinn. »Wir haben also wieder Zugang zum gesamten Hypernet. Dann haben die CEOs auf Prime das Netz also doch nicht zerstört.«
»Richtig, Sir. Sie haben vielmehr auf irgendeine Weise vorübergehend den Zugang zu allen Portalen außer dem von Sobek blockiert.«
»Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.«
»So etwas sollte auch gar nicht möglich sein«, gab Malin zurück. »Wir wissen nicht, wie man das anstellt. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass Prime nun sehr genau weiß, was zu tun ist.«
»Na, großartig. Woher haben Sie diese Information?«
»Sie wurde auf Befehl von Präsidentin Iceni vom planetaren Kommandozentrum an uns weitergeleitet, General.«
»Wie stehen die Chancen, dass unsere Spione im Syndikatgebiet herausfinden, wie dieser Trick mit dem Hypernet funktioniert und wie man ihn wieder aufheben kann?«
»Ich werde entsprechende Anweisungen an unsere Quellen in den vom Syndikat kontrollierten Gebieten versenden«, sagte Malin. »Aber da diese Anweisungen über Routineflüge von Frachtern an ihr Ziel gelangen, wird es große Umwege erfordern, die offizielle Blockade unseres Systems durch das Syndikat zu umgehen. Es wird daher eine Weile dauern, ehe diese Anweisungen ihre Ziele erreichen. Ich weiß auch nicht, ob irgendwelche unserer Quellen überhaupt an diese Informationen herankommen können. Das Syndikat wird die entsprechenden Daten nur über die am besten abgeschirmten Kanäle verbreiten.«
»Und was ist mit unseren Technikern? Können die eine Antwort liefern, nachdem sie jetzt wissen, dass es machbar ist?«
»Sie sind bereits informiert worden, General. Ich habe gehört, dass Präsidentin Iceni diese Recherche zur obersten Priorität erklärt hat.«
»Gut, vielen Dank.« Als Malins Bild verschwand, konzentrierte sich Drakon wieder auf das große, zweigeteilte Display, wo die Sterne und die Planetenoberfläche nach wie vor die Aussicht auf zwei völlig verschiedene, aber gleichermaßen unerfreuliche Schicksale boten.
Das Stimmengewirr der Arbeiter der Hauptorbitaleinrichtung und der Angehörigen, die sich eingefunden hatten, um die Ankunft der aus der Gewalt der Enigmas befreiten Gefangenen zu erleben, wurde lauter, als Drakon die Szene betrat. Er gab sich alle Mühe, gelassen zu wirken, während er stehenblieb, um mit den Soldaten zu reden, die für alle Fälle in den Shuttlehangar gekommen waren. »Was sagt Ihr Gefühl?«, fragte er den Major, der den Befehl über die Wachmannschaft hatte. »Haben Sie genug Leute?«
»Die Bürger sind aufgeregt, General«, erwiderte der Major. »Aber es liegt keine Angst in der Luft, und es braut sich auch kein Ärger zusammen. Niemand glaubt, wir hätten etwas zu verbergen. Sollte irgendetwas Unerwartetes geschehen, haben wir genügend Soldaten hier.«
Drakon nickte, den Blick auf die Luke gerichtet, durch die die befreiten Gefangenen kommen würden. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Major, aber ich muss feststellen, dass es ganz angenehm ist, auf der gleichen Seite zu stehen wie die Bürger.«
Der Major grinste breit, ganz so wie die Soldaten, die sich in Hörweite aufhielten. »Ja, Sir. Anstatt die Drecksarbeit für die Schlangen und die CEOs zu erledigen, tun wir etwas für die Leute. Daran könnte ich mich gewöhnen.«
»Eine willkommene Abwechslung, nicht wahr?« Diese Soldaten waren so wie etliche andere auch in der Vergangenheit für Sicherheitseinsätze herangezogen worden. Die Schlangen hatten sich nie die Finger schmutzig gemacht, wenn es darum ging, Menschenmassen zu lenken, Unruhen niederzuschlagen oder andere »interne Sicherheitsmaßnahmen gegen Menschenansammlungen« auszuführen. Also hatten die CEOs den normalen Truppen befohlen, diese lästigen Tätigkeiten zu erledigen.
Allerdings beobachtete Drakon jetzt seine Soldaten und sah, dass sie sich so verhielten, als wären sie selbst ein Teil der anderen Menschenmenge, und nicht eine Truppe, die für die Ordnung innerhalb dieser Menge sorgen sollte. Unwillkürlich musste er sich fragen, was wohl geschehen würde, sollten sie den Befehl erhalten, mit Gewalt gegen diese oder auch gegen eine andere Ansammlung von Bürgern vorzugehen. Iceni hatte ihm gesagt, dass sie und Drakon immer noch die Möglichkeit hatten, Gewalt ins Spiel zu bringen, um Menschenmassen zu kontrollieren, doch beim Anblick der Situation hier und jetzt war sich Drakon nicht mehr ganz so sicher, dass diese Einschätzung weiterhin zutraf.
Wenn ich zurück auf der Oberfläche bin, werde ich bei meinen Brigadekommandanten nachfragen, welchen Eindruck sie von der Situation haben. Erst mal müssen wir diese Operation reibungslos hinter uns bringen. »Bleiben Sie in Alarmbereitschaft, wenn die Gefangenen rauskommen«, befahl Drakon. »Es gab Probleme, als sie von unseren Shuttles abgeholt wurden.«
Der Major zog besorgt die Brauen zusammen. »Die Allianz?«
»Nein, nein, die Allianz scheint diese Leute sehr gut behandelt zu haben. Die Probleme hatten damit zu tun, dass diese Bürger von den Enigmas festgehalten worden sind. Sie sind noch sehr zerbrechlich.«
»Oh. Jawohl, Sir. So wie jemand, der aus dem Arbeitslager kommt? Ich werde meine Leute darauf hinweisen.«
Das Gemurmel schwoll an, kaum dass Gwen Iceni den Hangar betrat. Im Vorbeigehen winkte sie den Bürgern zu, die hinter der Absperrung standen und warteten. »I-ce-nii! I-ce-nii!«, rief die jubelnde Menge.
Drakon ging ihr entgegen. »Sie sind beliebt«, stellte er fest.
Sie musterte ihn, lächelte ihn überraschend an und griff dann nach seiner Hand, um sie in die Höhe zu strecken. Drakon fühlte sich sofort unbehaglich, als der Jubel noch lauter wurde und er zwischen den begeisterten Rufen für Iceni auf einmal auch »Drakon« und »der General« heraushörte.
»So etwas vertraue ich nicht«, raunte er Iceni zu, als sie den Arm sinken ließ und seine Hand losließ.
»Sie meinen die Heldenverehrung durch die Menge?«, fragte sie. »Sie sind gut beraten, dem Jubel nicht zu trauen. So etwas kann genau so schnell umschlagen wie das Wetter, und ehe wir uns versehen, hat die Bewunderung ein jähes Ende, und sie wollen unser Blut. Es war eine gute Idee, dass wir hier oben zusammentreffen. So können alle sehen, wie wir etwas gemeinsam unternehmen, praktisch als Team.«
»Vielleicht sollten wir nach Leuten Ausschau halten, die sich darüber nicht zu freuen scheinen«, überlegte Drakon.
»Das ist keine schlechte Idee«, erwiderte sie und sprach in ihr persönliches Komm. »Meine Sicherheitsleute werden mittels Erkennungssoftware in den Bildern der Überwachungskameras nach Gesichtern suchen, deren Ausdruck nicht zum Anlass passt.«
»Wo sind Ihre Leibwächter?«
»Wenn ihr Einsatz erforderlich wird, werden Sie sie schon sehen.« Sie lächelte ihn an. »Und Sie?«
»Ich habe genügend Soldaten zur Hand.«
»Sind Ihnen irgendwelche spezifischen Bedrohungen bekannt?«
»Nein«, antwortete Drakon. »Und genau das stört mich. Irgendjemand sollte rumpöbeln, jemand sollte sich betrinken und verkünden, was er eines Tages tun wird. Jemand, der CEOs hasst, sollte einen Anschlag auf uns planen, damit wir für unsere Vergangenheit büßen. Und nicht zu vergessen: Da sind auch noch irgendwo Schlangen unterwegs, die sich bislang erfolgreich vor uns verstecken konnten. Warum will niemand etwas von mir? Schließlich hatten die es schon auf Ihr Leben abgesehen.«
»Stimmt. Wir können uns keine Gedankenlosigkeit leisten, und dass wir keinerlei Meldungen über Drohungen zu hören kriegen, ist schon seltsam. Außerdem müssen wir uns jetzt auch noch Gedanken darüber machen, welche Gefahren Captain Bradamont drohen könnten. Sie wird als Erste das Schiff verlassen. Wir müssen unseren Bürgern zeigen, dass diese Allianz-Offizierin unsere Freundin ist. Wie könnte man das besser demonstrieren als in der Form, dass sie uns die Gefangenen übergibt, die von Black Jack befreit wurden?«
»Das wird zwar nicht genügen, aber es ist immerhin ein Anfang«, räumte Drakon ein. »Da, die Luke geht auf. Hoffen wir, dass das nicht als Fiasko endet.«
Das beständige Murmeln wurde leiser, als Captain Bradamont die Luke durchschritt und geradewegs auf Drakon und Iceni zuging. Dass sie eine Allianz-Uniform trug, war nicht zu übersehen, und schon an ihrer Gangart konnte man auf den ersten Blick erkennen, dass sie keine befreite Gefangene war. Die Gespräche innerhalb der Menschenmenge kamen völlig zum Erliegen, dann waren hier und da wütende Rufe zu hören.
Zu dem Zeitpunkt war Bradamont bereits bei Drakon und Iceni angekommen, sie blieb stehen und salutierte nach Art der Allianz, wobei die Fingerspitzen der rechten Hand die rechte Schläfe leicht berührten. Sie behielt diese Haltung bei, während sie mit kraftvoller Stimme zu reden begann: »Präsidentin Iceni, General Drakon, es ist mir eine große Freude, Ihnen im Namen der Allianz jene Bürger zurückzubringen, die noch bis vor Kurzem von der Enigma-Rasse festgehalten wurden. Wir haben sie ihrem Wunsch entsprechend nach Hause gebracht und übergeben sie jetzt in die Hände ihrer Freunde und Familien.«
Drakon reagierte mit dem Syndik-Salut, bei dem er die rechte Faust an die linke Brust legte. »Wir danken Ihnen.«
Iceni nickte. »Wir stehen alle tief in Black Jacks Schuld, der diese Bürger aus der Gewalt der Enigmas befreit und sie unter großen Gefahren hierher zurückgebracht hat und der dafür von uns keinerlei Gegenleistung gefordert hat.«
Wieder setzte Gemurmel ein, diesmal jedoch verhaltener, da die Bürger auf das reagierten, was ihretwegen inszeniert wurde. Drakon vermutete, dass Bradamonts kurze Ansprache von Iceni bearbeitet worden war, bevor sie an Bord des Frachters eingetroffen war.
Bradamont machte noch einen Schritt auf sie zu und ergänzte dann entschieden leiser: »Beobachten Sie die befreiten Gefangenen sehr aufmerksam, wenn sie rauskommen, und behandeln Sie sie sehr behutsam, wenn einer von ihnen aus der Reihe tanzt. Diese Leute sind sehr nervös. Sie sind nicht gefährlich, aber äußerst schreckhaft.«
»Alles klar«, sagte Drakon und sah zu den befreiten Gefangenen, die nach und nach aus der Luke traten. Einige trugen neue Overalls, andere Sachen, die ihnen die Allianz-Flotte zur Verfügung gestellt hatte, während sich ein Großteil an der zusammengewürfelten Kleidung festklammerte, die sie im Augenblick ihrer Befreiung getragen hatten. Sie bewegten sich als Gruppe vorwärts und blieben dabei dicht zusammen. Das erinnerte an Tierherden, die sich auf ganz ähnliche Weise untereinander Schutz spenden. Manche sahen sich verwundert um, andere starrten stur vor sich hin. Die meisten Leute stellten aber ein erleichtertes Lächeln zur Schau, als sie Uniformen und Symbole wiedererkannten, die ihnen verrieten, dass sie tatsächlich heimgekehrt waren.
Einer aus der Gruppe, ein älterer Mann, entdeckte Drakon und verließ die anderen. Vor Drakon blieb er dann stehen und salutierte auf eine etwas ungelenke, eingerostete Weise, so als sei ihm die Geste nur noch schwach in Erinnerung.
»Manager Olan Paster«, sagte er. »Melde mich zum Dienst.«
Drakon sah den alten Mann ernst an, während er den Salut erwiderte. »Welche Einheit?«
»Jäger 9356G, Sir.«
»Jäger der G-Klasse werden schon seit Jahrzehnten nicht mehr gebaut«, erwiderte Iceni und sah auf die Daten, die sie soeben überprüft hatte. »Jäger 9356G wird als Schiff gelistet, das vor fünfundvierzig Jahren bei Pele spurlos verschwand.«
»Solange ist es schon her?« Der alte Mann zwinkerte verwirrt. »Wir hatten keinerlei Anhaltspunkt, wie die Zeit verging. Die Allianz hat uns das universelle Datum zwar genannt, aber wir waren nicht sicher. Es tut mir leid, ich kenne die Uniform nicht, die Sie tragen. Daher weiß ich nicht, mit welchem Titel ich Sie anreden soll.«
»Wir haben uns von der Syndik-Kleidung losgesagt«, ließ Drakon ihn wissen. »Ich bin General Drakon, dies ist Präsidentin Iceni. Wir gehören nicht länger zu den Syndikatwelten.«
»Nicht?«
»Nein«, bestätigte Iceni und lächelte den Mann aufmunternd an. »In diesem Sternensystem gibt es keine Schlangen mehr«, erklärte sie dann an alle ehemaligen Gefangenen gerichtet. »Wir sind keine Diener des Syndikats mehr, wir sind nicht länger Sklaven der CEOs auf Prime. Wir und Sie, wir alle sind frei. Wir werden Sie in Quartieren auf dieser Station unterbringen und versorgen. Sobald wir wissen, wer Ihre Angehörigen in diesem Sternensystem sind, werden die Sie besuchen dürfen. Kooperieren Sie so gut wie Sie können bei allen Fragen, die man Ihnen stellt. Bürger von Taroa, wir haben vorübergehend Ihrer Unterbringung zugestimmt, bis Sie wissen, ob Sie die neue Regierung im Taroa-Sternensystem akzeptieren wollen. Alle anderen sind bei uns herzlich willkommen, während wir versuchen, Ihr Zuhause ausfindig zu machen und einen Transport dorthin zu arrangieren.«
Eine Frau im mittleren Alter starrte Drakon an. »Was ist aus den Syndikatwelten geworden? Die Arbeiter der Allianz haben uns gesagt, dass sie den Krieg gewonnen haben und dass alles vorüber ist. Wir wollten ihnen das nicht glauben.«
»Hat die Allianz Sie gut behandelt?«, wollte Iceni von ihr wissen, damit die Zuschauer auch etwas davon hatten.
»O ja. Ja, wirklich. Sie waren gut zu uns.«
»Der Krieg ist vorbei«, bestätigte Drakon. »Sie werden Zugang zu aktuellen Nachrichten und zu Geschichts- und Nachrichtenarchiven erhalten, damit Sie alles Versäumte nachholen können.«
»Vielen Dank, geehrter CEO …«
»General«, unterbrach Drakon sie. »Mein Dienstgrad lautet General. Die zivile Führerin dieses Sternensystems ist Präsidentin Iceni. CEOs haben hier nichts mehr zu sagen.«
»Für das Volk«, ging Iceni lautstark dazwischen, und sofort brachen die Zuschauer wieder in Jubel aus, während Ärzte herbeieilten, die die Ex-Gefangenen in einen abgeteilten Bereich führten.
Ein kleines Kind, das nie in Freiheit gelebt haben konnte, löste sich ebenfalls aus der Gruppe und lief zu Captain Bradamont. »Danke! Danke, dass du uns gerettet hast!«, rief das Kind, ehe seine Mutter es einholte und zurück zur Gruppe brachte.
Drakon sah Iceni an, die zufrieden lächelte. Dieser kleine Zwischenfall würde sich in den Nachrichten und in allen anderen Medien gut machen. Möchte wissen, ob Gwen das auch irgendwie inszeniert hat.
Captain Bradamont sah den Gefangenen nach, als sie weggebracht wurden, dann wandte sie sich wieder Drakon und Iceni zu. »Ich stehe zu Ihren Diensten.«
Sie spielte ihre Rolle gut, das musste er Bradamont lassen. Dennoch konnte Drakon hinter der gelassenen Fassade unterschwellige Nervosität ausmachen.
»So wurde es mir auch gesagt«, entgegnete Drakon. »Kommen Sie. Ihr Gepäck wird später nach unten gebracht.«
Er und Iceni gingen mit Bradamont in ihrer Mitte zurück zum VIP-Zugangsbereich. Es war ein eigenartiges Gefühl, eine Allianz-Offizierin neben sich zu haben. Ein sehr eigenartiges Gefühl sogar. Soldaten sorgten einige Meter vor und hinter ihnen für Sicherheit, außerdem waren Männer und Frauen in Zivil zwischen den Bürgern postiert worden, die zwar auf Abstand blieben, aber äußerst aufmerksam ihre Umgebung beobachteten und etwas Einschüchterndes an sich hatten.
»Mein Büro«, erklärte Iceni, »gibt eine öffentliche Erklärung zu Ihnen heraus, Captain Bradamont. Jeder im Midway-Sternensystem wird darauf hingewiesen, dass Sie als persönliche Repräsentantin von Black Jack hier sind. Sagt Ihnen der Begriff Spross etwas?«
Bradamont schüttelte den Kopf.
»Im Syndikatsystem gibt es verschiedene Arten von Gönnerarrangements«, fuhr Iceni fort. »Wir orientieren uns immer noch an diesem System, weil es den Menschen hier in Fleisch und Blut übergegangen ist und weil alle sofort wissen, um was es geht. Die meisten Gönnerarrangements sind informeller Art, sie spiegeln das unterschiedlich starke Interesse eines Höherstehenden an der Karriere und dem Leben eines bestimmten Untergebenen wider.«
»Das ist mir so weit klar«, sagte Bradamont.
»Und dann gibt es da noch den Spross«, erklärte Iceni weiter. »Ein Spross ist die förmliche Bezeichnung für eine Gönnerschaft. Wenn jemand zum Spross eines hochrangigen Amtsinhabers erklärt wird, dann bedeutet das, wenn dem Spross etwas zustößt oder wenn er bedroht wird, dann wird das so gewertet, als hätte man dem hochrangigen Gönner etwas getan oder ihn bedroht. Mein Büro gibt Sie jedem Bürger gegenüber als ein Spross von Black Jack sowie von General Drakon und mir aus.«
Iceni warf Bradamont einen ironischen Blick zu. »Wahrscheinlich hat es noch nie einen Spross gegeben, der so viel Feuerkraft auf seiner Seite hatte. Meinen Glückwunsch.«
»Vielen Dank, aber das wäre nicht nötig gewesen …«
»Doch, das war es«, beharrte Drakon. »Jeder muss wissen, dass jeglicher Versuch, Ihnen Schaden zuzufügen, genau so behandelt wird, als hätte derjenige es auf mich oder auf Präsidentin Iceni abgesehen. Das schützt Sie natürlich nicht vor Leuten, die entschlossen sind, einen von uns aus dem Weg zu räumen, aber es wird diejenigen zweimal darüber nachdenken lassen, die meinen, sie müssten noch eine alte Rechnung aus Kriegszeiten an Ihnen begleichen.«
»Und es wird dafür sorgen«, ergänzte Iceni, »dass man Sie Ihrem Dienstgrad entsprechend behandelt. Jemand, der Sie beleidigt, der beleidigt damit auch uns.« Sie holte eine Komm-Einheit aus der Tasche und gab sie Bradamont. »Das ist für Sie. Es ist vollgepackt mit persönlichen Kontaktnummern, unter denen Sie mich, General Drakon und einige unserer höherrangigen Assistenten erreichen können. Wenn Sie mit dieser Einheit eine offizielle Nummer anrufen, wird die Unterhaltung automatisch verschlüsselt. Das bedeutet aber nicht, dass niemand das Signal abfangen und die Unterhaltung mithören kann. Sagen Sie also nie etwas Vertrauliches, wenn Sie diese Einheit benutzen oder sich in der Öffentlichkeit unterhalten. Solche Gespräche dürfen Sie nur führen, wenn Sie Ihrem Gesprächspartner persönlich gegenüberstehen und sich in einer gesicherten Umgebung aufhalten.«
»Wir haben ein Quartier in meinem Kommandokomplex für Sie vorbereitet«, ergänzte Drakon. »Sie verfügen auch über eine Suite, um VIPs zu empfangen. Das ist deutlich mehr, als einem Offizier Ihres Dienstgrads normalerweise zur Verfügung stünde, allerdings sind Sie ja auch eher eine Art Botschafterin. Sie im Kommandokomplex zu haben macht es viel leichter, Sie zu beschützen.«
Diesmal nickte Bradamont nur und betrachtete die militärischen und zivilen Wachen um sie herum. Ihre Miene ließ nicht erkennen, was sie in diesem Moment dachte, aber Drakon fragte sich, ob sich vergleichbare Führungspersönlichkeiten der Allianz auch mit einem solchen Maß an Wach- und Sicherheitsleuten umgaben. Wahrscheinlich ja. Die Syndikatwelten haben sicher kein Monopol auf gemeingefährliche Spinner. Aber jemand, der wie Bradamont in der Rangordnung viel weiter unten angesiedelt ist, muss diesen Aufwand für verrückt halten.
Sie hatten den Zugang zum VIP-Dock erreicht und ließen den größten Teil der Wachen sowie alle Schaulustigen hinter sich zurück, die sich im öffentlich zugänglichen Bereich aufhielten. »Sagen Sie«, wandte sich Iceni dann an Bradamont, »welchen Eindruck hatten Sie von Kommodor Marphissa?«
»Sie ist talentiert und besitzt großes Potenzial«, antwortete Bradamont ohne zu zögern. »Durch die zügige Beförderung auf ihren jetzigen Posten muss sie noch ein wenig Erfahrung nachholen, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sie das schnellstens erledigen wird.«
»Wie ich hörte, waren Sie anwesend, als Kapitan Toirac das Kommando entzogen wurde«, fuhr Iceni fort.
»Ja, das stimmt.«
»Wie war Ihr Eindruck von Kapitan Toirac?«
Diesmal ließ sich Bradamont etwas Zeit mit ihrer Antwort und sprach dann jedes Wort wohlüberlegt aus. »Er ist über seine Fähigkeiten hinaus befördert worden. Er ist unfähig, mit der damit verbundenen Verantwortung umzugehen, und er ist nicht bereit, seine Schwächen einzusehen. Und jetzt ist er so verbittert, dass ich ihm keinen Autoritätsposten mehr anvertrauen würde.«
»Ich verstehe.« Iceni blieb stehen und zwang damit die ganze Gruppe zum Anhalten. »Haben Sie mit Kommodor Marphissa gesprochen?«
»Ja, Ma’am.«
»Und Kapitan-Leytenant Kontos? Was halten Sie von ihm?«
Bradamont lächelte kurz. »Er ist wirklich beeindruckend. Er muss zwar noch sehr viel lernen, aber ich bin davon überzeugt, dass er alles sehr schnell begreifen wird. Er kommt einem Naturtalent am Nächsten.«
»Einem Naturtalent?«, wiederholte Iceni verwundert.
»Jemand, der instinktiv weiß, was er wie tun muss«, warf Drakon ein. »Diesen Eindruck hat Colonel Rogero ebenfalls von Kontos.«
Zwar verzog Bradamont keine Miene, als Rogeros Name fiel, aber sie schaute Drakon an.
Das entging auch Iceni nicht, die dem General einen fragenden Blick zuwarf. »Ich werde mich jetzt von Ihnen verabschieden, Captain Bradamont. General Drakon und ich reisen aus Sicherheitsgründen in getrennten Shuttles. Ich habe von Kommodor Marphissa einen Vorschlag für eine sehr riskante Mission vorgelegt bekommen, über den ich gern bald mit Ihnen reden würde. General, Sie werden an dieser Besprechung ebenfalls teilnehmen müssen, weil für diese Mission auch einige Leute Ihrer Bodenstreitkräfte notwendig sein werden.«
»Ja«, sagte Bradamont. »Ich möchte auch gern so bald wie möglich darüber reden, allerdings glaube ich nicht, dass diese Mission jetzt überhaupt noch durchführbar ist, nachdem das Syndik-Hypernet nicht mehr zur Verfügung steht.«
»Haben Sie das noch nicht gehört? Vor ein paar Stunden ist ein Frachter durch das Hypernet-Portal hergekommen. Es funktioniert alles wieder.«
Bradamont sah Iceni ungläubig an. »Sie … die Syndikatwelten können das? Die können Ihr Hypernet nach Belieben ein- und ausschalten?«
»Das Syndikat ist dazu offenbar in der Lage«, antwortete Drakon. »Wir hingegen nicht.« Als er Icenis ermahnenden Blick sah, war ihm sofort klar, was sie meinte, und erklärte: »Captain Bradamont muss das wissen. Sie muss der Allianz mitteilen können, dass wir immer noch ein Hypernet-Portal besitzen, das für sie von großem Wert ist. Und Black Jack soll erfahren, dass es nicht unsere Idee war, ihm beim Heimflug Steine in den Weg zu legen.«
Nachdem Iceni kurz darüber nachgedacht hatte, nickte sie. »Sie haben recht, General. Die Ankunft dieses Frachters war schon ein ziemlicher Schock für uns, Captain Bradamont.«
»Ich muss diese Neuigkeit so schnell wie möglich nach Hause übermitteln«, entgegnete Bradamont. »Bevor Sie sich auf den Rückweg machen, Madam Präsidentin, möchte ich Ihnen und General Drakon noch das hier geben.« Sie griff in ihre Tasche und holte zwei Datenscheiben heraus, wobei sie nichts davon zu merken schien, dass die verbliebenen Leibwächter jede ihrer Bewegungen argwöhnisch verfolgten. »Von Admiral Geary. Das sind Berichte über das, was wir im Territorium der Enigmas, der Kiks und der Tänzer vorgefunden haben, außerdem alle verfügbaren Informationen über jede der drei Spezies.«
Drakon nahm eine der kleinen Scheiben an sich. »Sind die beiden identisch?«
»Die Discs? Ja, Sir, eine für jeden von Ihnen.«
»Wie diplomatisch«, merkte Iceni an und nahm die andere Disc in die Hand. »Erwarten uns irgendwelche Überraschungen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Bradamont. »Ich weiß, dass Admiral Geary Ihnen bereits einiges erzählt hat. Er sagte, dass Sie die vorderste Linie zwischen der Menschheit und diesen Spezies bilden. Deshalb sollen Sie alles über sie wissen, was an Erkenntnissen vorhanden ist.«
»Zu schade, dass er nicht ein paar von unseren Technikern an Bord dieses erbeuteten Superschlachtschiffs gelassen hat«, konterte Iceni.
Bradamont machte eine entschuldigende Geste. »Nicht mal unsere eigenen Techniker durften bislang an Bord gehen. Es befindet sich ein Sicherheitstrupp auf der Invincible, aber keiner von uns wagt es irgendetwas anzurühren, solange wir nicht zurück im Allianz-Gebiet sind.«
Drakon musste zugeben, dass das nach einer einleuchtenden Erklärung klang, andererseits war es genau die Art von Ausrede, die er auch jedem aufgetischt hätte, der seine Nase in Angelegenheiten stecken wollte, die ihn nichts angingen. Wenigstens teilt uns Black Jack auf eine höfliche Art mit, dass wir uns zum Teufel scheren sollen. »Geben Sie mir Bescheid, wenn der Termin für die Besprechung feststeht«, sagte er zu Iceni, dann führte er Bradamont zu seinem Shuttle.
Die Wachsoldatin an der Zugangsrampe gab sich alle Mühe, Bradamont nicht anzustarren, und dem Shuttlepiloten ging es nicht anders. Drakon gab der Offizierin ein Zeichen, damit sie vorging, dann folgte er ihr ins Passagierabteil und nahm neben ihr Platz.
Als sich die Luke schloss, atmete sie einmal hastig durch. Drakon entging nicht, wie sie mit einer Hand die Armlehne fest umklammerte. Das letzte Mal, als sie mit einem Offizier der Syndikatwelten in einem Raum gesessen hat, war sie eine Gefangene. Jetzt ist sie wieder bei diesen Leuten gelandet und ihnen letztlich hoffnungslos ausgeliefert. »Wissen Sie, was Schlangen sind?«, fragte er.
Bradamont nickte. »Ich bin mit den Reptilien genauso vertraut wie mit der menschlichen Variante.«
»Die menschliche Variante haben wir in diesem Sternensystem fast vollständig eliminiert. Wir jagen nur noch ein paar versteckte Überbleibsel.«
»Davon hat Colonel Rogero gesprochen«, sagte sie und wirkte nach wie vor angespannt. »Ich hoffe, Sie verstehen, dass es einen Unterschied macht, ob man etwas weiß oder ob man es akzeptiert.«
»Ich weiß«, bestätigte er. »Ich selbst habe damit auch immer noch Schwierigkeiten. Aber es ist in unserem besten Interesse, Sie gut zu behandeln, Captain Bradamont, und ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass man das auch tatsächlich tun wird.«
Sie sah ihm ins Gesicht. »Keine Eskorte in diesem Shuttle?«
»Sie sind unser Gast, wozu sollten wir Wachen brauchen?« Drakon beobachtete sie, während das Shuttle ablegte und zum Flug zurück auf den Planeten unter ihnen ansetzte. »Colonel Rogero hat einige Jahre lang unmittelbar unter mir gedient. Er ist einer der besten Offiziere, die ich je hatte.«
Bradamont zog eine Braue hoch. »Und?«
»Falls Sie sich fragen, warum sie ihn bislang nicht zu Gesicht bekommen haben, das liegt daran, dass ich mir erst persönlich ein Bild von Ihnen machen wollte. Ihretwegen wäre er beinahe hingerichtet worden.«
»Ich weiß.«
»Aber daran war er selbst in gleichem Maß schuld«, fuhr Drakon fort. »Mich interessiert nur, ob wir mit einer Allianz-Offizierin zusammenarbeiten können. Nach allem, was ich gehört habe, war Ihre Leistung auf der Manticore gut.«
»Ich war in erster Linie als Beobachterin an Bord, um die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.«
»Ich kenne ein paar der Auszeichnungen, die Sie da tragen, Captain. Die hat man Ihnen nicht fürs Beobachten verliehen.« Er deutete auf eine Auszeichnung mit roten, grünen und silbernen Streifen. »Die da kenne ich. Die ist für Ajatar, richtig?«
»Ja, Sir. Woher wissen Sie das?«
»Aus einem von diesen Geheimdienstberichten«, erklärte er. »Ich musste eigentlich nicht wissen, welches Abzeichen wofür steht. Aber das ist mir aufgefallen, weil ich auf Ajatar war. Auf der Planetenoberfläche.«
Wieder sah sie ihn an. »Bei den Bodenstreitkräften? Auf dem zweiten Planeten?«
»Ja. Sie haben damals ordentlich auf uns eingedroschen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Unsere eigenen Bodenstreitkräfte haben anschließend gesagt, dass sie es nicht fassen konnten, wie Sie so lange durchgehalten haben, bis eine Syndik-Flotte eintraf, die groß genug war, um uns aus dem System zu vertreiben.«
Drakon zuckte mit den Schultern und sah weg, als er von den Erinnerungen bestürmt wurde. »Es war nicht einfach. Zu dem Zeitpunkt lebten nur noch wenige von uns. Ich war ein … Sie würden den Dienstgrad wohl Major nennen. Ich traf mit einem Bataillon auf dem Planeten ein, und als man uns da endlich wieder rausholte, lebten noch gerade genug Leute für einen Zug.«
»Im All war es auch übel. Ich war gerade erst ein Ensign auf einem Schweren Kreuzer, der Sallet. Wir wurden förmlich in Stücke geschossen. Gut vierzig von uns schafften es noch in die Rettungskapseln, bevor das Schiff explodierte.«
»Verdammt. Das ist schon irgendwie witzig, dass Sie auf einem der Schiffe gedient haben, von denen wir mit Steinen beworfen wurden. Ist die Galaxis nicht klein?« Dragon seufzte leise. »Ich bin froh, dass es vorüber ist.«
»Ist es denn vorüber?«
»Nein, schließlich kämpfen wir immer noch, nicht wahr? Nur dass es jetzt andere Feinde sind. Aber ich rede mir gern ein, dass es vorüber ist.«
»Das kann bei einem Senioroffizier eine schlechte Angewohnheit sein«, stellte sie fest.
Diese schnörkellose Aussage hätte ihn mit ihrem Hang zur Insubordination ärgern können, doch Drakon musste ironisch lächeln. »Eine sehr schlechte Angewohnheit, vor allem bei der Planung einer Operation. Allmählich beginne ich zu verstehen, was Colonel Rogero in Ihnen sieht und warum Black Jack Sie für diese Mission ausgewählt hat.«
»Werde ich … General, das ist eine rein persönliche Frage. Wird es mir erlaubt werden, Colonel Rogero zu sehen?«
»Erlaubt? Sie werden ihn sogar sehen müssen. Er wird ihr offizieller Betreuer sein, auch wenn er den Posten als einer meiner Brigadekommandanten beibehalten wird.«
Bradamont schluckte und sah ihn mit großen Augen an. »Danke, General.«
»Ich habe das für ihn gemacht«, sagte Drakon, dem diese offensichtliche Dankbarkeit unangenehm war. »Ihnen werden ein paar Wachen zugeteilt, doch die werden Ihre Privatsphäre respektieren. Aber denken Sie immer daran, was Präsidentin Iceni Ihnen gesagt hat: Jede Unterhaltung in der Öffentlichkeit oder über eine Komm-Leitung wird wahrscheinlich abgehört.«
»Ich dachte, die Schlangen sind alle weg«, merkte Bradamont an.
»So gut wie alle. Aber wir sind uns sicher, dass es immer noch mindestens einen Agenten unter den Zivilisten oder beim Militär gibt. Allerdings sind Schlangen nicht die Einzigen, die die Unterhaltungen anderer Leute belauschen. Sie wissen ja, wie das ist.«
Sie betrachtete ihn perplex. Eindeutig wusste diese Allianz-Offizierin nicht, wie es war. »General, reden Sie von offiziellen oder inoffiziellen Schnüfflern?«
»Sowohl als auch. Beim internen Taktieren und beim Wetteifern um Beförderungen kann es ziemlich hässlich zugehen.« Sie musste diese Dinge wissen, um nicht völlig unvorbereitet zu sein.
»Hässlich? Sie meinen so was wie Schlammschlachten?«
»Nein, ich meine so was wie Erpressung, Spionage und Attentate.«
Sie sah ihn sekundenlang an, schließlich erwiderte sie: »Ich warte gerade darauf, dass Sie ›war nur ein Scherz‹ sagen.«
»Haben Sie so etwas nicht in der Allianz?«, fragte Drakon.
»Nein. Das heißt, in seltenen Fällen schon. Aber nur in wirklich seltenen Fällen.« Bradamont schaute mit besorgter Miene vor sich auf den Boden. »Bei einigen Dingen, die Colonel Rogero mir gesagt hatte, war ich davon ausgegangen, ich hätte sie falsch aufgefasst.«
»Haben Sie aber nicht.« Drakon sah sie sehr eindringlich an. »Sie müssen wissen, wie hier was läuft. Oder wie hier was gelaufen ist, denn ich habe diese Dinge schon immer gehasst, und ich werde mein Bestes tun, um sie aus der Welt zu schaffen. Es gibt einen guten Grund, warum Offiziere stets Handfeuerwaffen tragen, und dieser Grund ist nicht etwa, dass wir auf eine Invasion durch die Allianz gefasst sein wollen. Aus dem gleichen Grund lasse ich mich auch oft von Leibwächtern begleiten. Ich werde mein Bestes tun, um Ihr Leben zu beschützen, und ich bin mir sicher, Colonel Rogero wird das auch tun. Dennoch müssen Sie wissen, wie es hier zugeht, damit Sie immer wachsam sind und die Augen offenhalten.«
»Ich … Das werde ich tun, General.« Sie sah zum großen Display an der vorderen Wand des Passagierabteils. Es zeigte jetzt nur noch den Planeten, auf den das Shuttle zuflog. »Ihre Welt ist wunderschön.«
»Ich habe schon schlimmere Planeten gesehen«, stimmte er ihr zu. »Werden Sie mit allem klarkommen, Captain?«
Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich, und dann sah Drakon vor sich die Befehlshaberin eines Allianz-Schlachtkreuzers; zäh, stahlhart, intelligent. Nicht nur kompetent, sondern äußerst geschickt. »Ich werde damit klarkommen, General.«
Er hatte sich immer gefragt, wieso sich Rogero in eine Kriegsgefangene hatte verlieben können. Nachdem Drakon diese Frau nun endlich kennengelernt hatte, war das gar nicht mehr so erstaunlich. »Wir landen gleich neben meinem Hauptquartier. Colonel Rogero wartet dort auf mich, aber den Grund dafür kennt er nicht.«
»Er wird die Nachrichten gesehen haben und …«
»Nein, hat er nicht. Soweit Colonel Rogero betroffen ist, sind Sie mit Black Jacks Flotte abgereist.«
Sie lächelte ihn an. »Sie sind ein gemeiner Mensch, General.«
»Die meisten Leute, die mir das sagen, meinen es auch so, müssen Sie wissen.«
»Das möchte ich bezweifeln, General. Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
Colonel Rogero versuchte, nicht so verärgert dreinzuschauen, wie er sich fühlte. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass er von seiner Einheit weggeholt worden war, weil General Drakon irgendeinen schwammigen Befehl erteilt hatte. Es war auch nicht das erste Mal, dass man ihn in einen gesicherten Konferenzraum im Hauptkommandokomplex eskortiert hatte, damit er dort auf den General wartete, der irgendwelche Befehle für ihn hatte, die so sensibel waren, dass er sie ihm auf keinem anderen Weg zukommen lassen konnte.
Aber er saß nun schon seit Stunden ganz allein in diesem Raum, der nicht nur gesichert, sondern auch noch verschlossen war. Er hatte auf keine einzige Komm-Leitung zugreifen können, war nicht in der Lage gewesen, sich um irgendetwas zu kümmern, was sich außerhalb dieser vier Wände abspielen mochte. Ich wollte die Ankunft der ehemaligen Gefangenen mitansehen. Es gab Gerüchte, dass der General dafür die Hauptorbitaleinrichtung aufsuchen würde. Warum sitze ich praktisch wie ein Gefangener hier, wenn sich draußen so viele Dinge ereignen?
Dabei war es ihm nicht nur um diese Gefangenen gegangen, auch wenn deren Ankunft eine ganze Welle von Gerüchten auslösen und sogar für Unruhe bei den Bürgern sorgen konnte. Irgendwo da draußen hielten sich immer noch Schlangen versteckt, und er konnte keine Jagd auf sie machen, wenn er in einem Raum festsaß, von dem aus er nicht einmal Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen konnte.
Steht etwa meine eigene Loyalität unter Verdacht? Colonel Morgan benimmt sich schon seit einiger Zeit in meiner Nähe etwas seltsam, aber Colonel Malin kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich General Drakon niemals hintergehen würde. Aber wenn vielleicht mehr Leute von meinen Verbindungen zu den Schlangen erfahren haben …
Rogero sah mit ungutem Gefühl zur Tür. Schutzhaft? Geht es darum? Soll ich davor bewahrt werden, dass meine eigenen Truppen mich umbringen, weil ich ein Agent der Schlangen war? Aber dann würde Drakon ihnen doch sicher die Wahrheit über mich sagen, dass ich die Schlangen in die Irre geführt und den General beschützt habe. Nur … würden sie überhaupt noch zuhören?
Er sah, wie der Riegel sich bewegte, dann ging die Tür auf, und General Drakon kam herein, der in keiner Weise beunruhigt oder besorgt zu sein schien. »Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen, Donal. Aber es gab da eine Sache, die ich zuerst erledigen musste.«
»General«, sagte Rogero und stand etwas schneller als üblich von seinem Stuhl auf. »Gibt es irgendetwas …?«
Drakon winkte sofort ab. »Kein Grund zur Sorge. Ich habe Sie herbringen lassen, um Ihnen zu sagen, dass ich Ihnen eine weitere Aufgabe übertrage.«
»Eine weitere Aufgabe?« Das war keine erfreuliche Nachricht. Nebenjobs neigten dazu, dass sie übermäßig viel Zeit beanspruchten, die einem dann bei der Haupttätigkeit fehlte. Aber im Vergleich zu allem, was er sich in der Zwischenzeit ausgemalt hatte, war das noch das kleinste Übel. »Um was geht es?«
»Das werde ich Ihnen zeigen. Kommen Sie.«
Rogero folgte ihm völlig ahnungslos, während Drakon vor ihm her durch den Komplex ging. »Wie macht sich Ihre Einheit?«, fragte der General.
»Alles bestens, General. Die Moral in der Truppe ist gut.«
»Hervorragend. Später muss ich noch mit Ihnen über Ihren Eindruck reden, was die Truppen und deren Einstellung gegenüber Zivilisten angeht.« Drakon blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, hinter der sich eine kleine vollautomatische Snackbar befand, die vom Personal des Hauptquartiers genutzt wurde. »Aber das kann noch ein paar Stunden warten. So, da wären wir.«
»General?«
Drakon sah Rogero an. »Ihre neue, zusätzliche Aufgabe befindet sich hinter dieser Tür. Es ist etwas, dem nur Sie gewachsen sind, Colonel.«
»In einer … Snackbar?«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Und wenn Sie da drinnen fertig sind, melden Sie sich im VIP-Quartier Eins. Verstanden?«
»VIP?«
»Tun Sie einfach nur, was ich Ihnen sage, Colonel.« Drakon drückte die Tür ein Stück weit auf, dann packte er Rogero am Arm und schob ihn durch den Spalt.
Verwundert und abermals ein wenig besorgt wollte sich Rogero soeben zu Drakon umdrehen, da hörte er, wie die Tür hinter ihm zugezogen wurde. Sein Blick wanderte durch den kleinen Raum, und er bemerkte, wie jemand von einem der Tische aufstand.
Es war einer der sehr seltenen Momente in seinem Leben, in denen Donal Rogero weder einen Ton herausbringen noch irgendeinen Gedanken fassen konnte.
»Ich habe dir was zu trinken spendiert«, sagte Captain Bradamont und hielt ihm eine Flasche hin. »Leider hatte ich keine hiesige Währung zur Hand, darum hat mir dein General etwas geliehen.«
Die Galauniform der Allianz, die sie trug, saß tadellos und erinnerte in keiner Weise an die zerrissene und verkohlte Gefechtsuniform, die Bradamont auf dem Gefangenentransporter und im Arbeitslager getragen hatte. Ein Kommandoanstecker ergänzte die Gefechtsauszeichnungen, zu denen seit dem letzten Mal ein paar neue hinzugekommen waren. Aber sie selbst hatte sich kein bisschen verändert. »Honore?«, brachte er schließlich heraus, als sein Gehirn wieder die Arbeit aufnahm. »Ist das wahr?«
Sie kam näher und bot ihm noch einmal die Flasche an. »Es ist wahr. Ich habe dir doch gesagt, beim nächsten Mal gebe ich einen aus. Dein General meinte, das ist ein besonders beliebtes Getränk.«
»Da hat er dir einen Bären aufgebunden.« Er fühlte sich ein wenig schwindlig. »Die Truppen haben das Zeug in Röchel umgetauft, weil es so eklig schmeckt. Wir benutzen es nur, um Messing zu polieren.«
»Oh, tut mir leid.« Sie stand da und sah ihn an. »Du hast gesagt, du würdest mir ein Mittagessen spendieren.«
»Ja, das ist wahr.« Er schüttelte den Kopf. »Ich … ich verstehe nicht.«
»Ich bin von der Allianz-Flotte freigestellt worden und habe den Befehl, als Verbindungsoffizier zwischen Allianz und Midway zu fungieren.«
»Das … das kann nicht sein«, stammelte er. »General Drakon weiß das von uns.«
»Ja, und Admiral Geary weiß es ebenfalls.«
»Aber … wieso dann?«
»Weil sie uns kennen«, erklärte Bradamont. »Sie wissen, dass wir trotz allem an unserer Ehre festgehalten und niemals unsere Pflichten vernachlässigt haben. Wir haben sie nie verraten, wir haben unsere Welten nie verraten, und wir haben uns auch gegenseitig nicht verraten. Vielleicht eignen wir uns deshalb besonders gut, um zu demonstrieren, wie unsere Völker zusammenarbeiten können. Es gab noch ein paar andere Gründe, wieso ich gebeten wurde, mich für diese Aufgabe freiwillig zu melden, aber darüber können wir bei Gelegenheit immer noch reden.«
Endlich regten sich genügend Neuronen in Rogeros Hirn, damit er richtig denken konnte. »General Drakon hat das hier arrangiert? Woher wusste er, dass deine letzten Worte lauteten, du würdest mir irgendwann was zu trinken spendieren?«
»Ich hab’s ihm gesagt.« Sie lächelte ihn an. »Er scheint mir ein ziemlich harter Boss zu sein, aber einer von den Guten.«
»Sogar einer von den sehr Guten. Er ist … er ist … verdammt, Honore, darf ich dich in den Arm nehmen? Darf ich dich küssen?«
»Warum fragst du mich umständlich, anstatt es einfach zu machen, Donal? Aber zerknittere mir nicht meine Uniform.«
Drakon wartete, bis eine Eskorte eintraf, die Bradamont zu ihrem Quartier begleiten sollte, dann befahl er ihnen zu warten, bis Colonel Rogero die Tür öffnete. Als er wegging, entdeckte er Morgan, die am Ende des Korridors stand und auf die Tür zur Snackbar starrte.
»Stimmt das, was ich gehört habe?«, wollte sie von Drakon wissen.
Der sah sie zunächst nur ernst an, dann antwortete er mit einer Gegenfrage: »Ist das der richtige Tonfall, wenn Sie mit mir reden?«
Sie zwang sich sichtlich, ihre Verärgerung zumindest ein wenig zu bändigen. »Verzeihen Sie, Sir. Stimmt es, dass sich eine Allianz-Offizierin in diesem Raum aufhält, die nicht unter Arrest steht?«
»Wir befinden uns nicht mehr im Krieg mit ihnen, Colonel Morgan. Tatsächlich verhält sich die Allianz sogar in vieler Hinsicht so wie ein Verbündeter.«
»Sir …«
»Ja, eine Offizierin der Allianz hält sich in diesem Raum auf. Sie ist eine offizielle Repräsentantin der Allianz, und sie steht unter dem persönlichen Schutz von Präsidentin Iceni und mir. Sie ist mein Spross. Haben Sie das verstanden? Ihr wird nichts zustoßen, und sie wird mit dem ihrem Dienstgrad eines Flottencaptains entsprechenden Respekt behandelt.«
»Ihr … Spross.« Morgan starrte ihn wutentbrannt an. »Eine Allianz-Offizierin. Diese Leute haben gemordet und …«
»Wir haben alle gemordet, Colonel Morgan. Der Krieg ist vorbei. Wir haben immer noch genügend gemeinsame Feinde. Wir fangen jetzt von vorn an. Und selbst wenn das alles nicht stimmen würde, benötigen wir die Unterstützung von Black Jack, die uns diese Frau bringt. Sie könnte die Einzige sein, die uns genug Zeit verschafft, damit wir unsere Streitkräfte so gestärkt bekommen, dass wir ganz auf eigenen Beinen stehen können.«
Die Art, wie sie nahezu augenblicklich die Fassung zurückerlangte, war erschreckend und mehr als beunruhigend. Das Feuer in Morgans Augen erlosch, an seine Stelle rückte ein eiskalter Schild, der keinen Gedanken und keine Gefühlsregung erkennen ließ. Ihr Gesicht nahm einen ganz ähnlichen Ausdruck an wie ihre Augen. »Ja, General, ich habe verstanden.« Sogar ihre Stimme hatte jetzt wieder den gewohnt respektvollen Tonfall angenommen.
»Colonel Morgan … Roh, wir müssen die Dinge anders anpacken. Lange Zeit waren für uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein und dasselbe. Damals, jetzt und zukünftig hat immer nur Krieg geherrscht. Dieser immer gleiche Ablauf ist endlich durchbrochen worden. Die Zukunft kann jetzt anders sein als die Vergangenheit. Die Zukunft kann jetzt besser sein als die Vergangenheit.«
Gefühle begannen sich wieder zu regen, Morgan nickte zustimmend. »Ja, Sir. Die Zukunft wird besser sein. Wir werden stärker werden, und wir werden eine bessere Zukunft schaffen.«
»Sie haben verstanden, dass Captain Bradamont mein Spross und der von Präsidentin Iceni ist und dass das bedeutet, dass ihre Sicherheit zu gewährleisten ist?«
Morgan lächelte und nickte. »Es bedeutet nicht, dass sie in irgendeiner Weise Ihre Erbin ist.«
»Das ist richtig. Kommen Sie mit, ich will mit Ihnen darüber reden, wie wir die Schlangen ausfindig machen können, die sich noch auf diesem Planeten oder irgendwo anders im Sternensystem versteckt halten.«
»Ich habe intensiv gesucht und auch schon ein paar Hinweise gefunden«, sagte Morgan, während sie neben ihm herging. Sie verließen das Hauptquartier durch den Vordereingang und gelangten auf den freien Bereich davor. Sofort scharte sich eine Gruppe Leibwächter um Drakon. Sein Blick fiel auf die Grünfläche, die den Platz zu einem großen Teil für sich beanspruchte, und so wie fast immer fiel ihm wieder ein, welchen Aufwand das Syndikat betrieben hatte, damit der Rasen stets perfekt aussah. Man war sogar so weit gegangen und hatte mit Genmanipulation gearbeitet, um Gras wachsen zu lassen, das genau den »richtigen« Grünton aufwies und bei dem jeder Halm genau die richtige Dicke erreichte. Irgendwann hatte er sich mal mit den offiziellen Spezifikationen für Gras beschäftigt und sich nur gewundert, wie viel Arbeit man in eine so unwichtige Angelegenheit investieren konnte, vor allem mit Blick auf die Neigung der Syndikatbürokratie, Themen zur Sicherheit der Soldaten zu übergehen, denen es auch nur im Rahmen offizieller Anlässe gestattet war, den Rasen zu betreten.
Die Front des Hauptquartiers hinter ihnen sah nicht nach der Festung aus, die sie in Wahrheit war. Man vermochte nichts von der Panzerung und den Verteidigungsanlagen zu erkennen, die hinter falschen Fenstern, Fassadenteilen und scheinbaren Verzierungen verborgen waren. Es zählte zu einer der seltsameren Entscheidungen der Syndikatsbürokratie, auf Gitter, Barrieren und andere Hindernisse an den übrigen drei Seiten des Vorplatzes zu verzichten und zu verkünden, das Hauptquartier der Bodenstreitkräfte müsse als offen und allen Bürgern zugänglich erscheinen. Aber vielleicht war diese Entscheidung ja auch gar nicht so seltsam gewesen, da es bedeutete, dass die Schlangen im ISD-Gebäude hinter ihren Verteidigungsanlagen besser geschützt gewesen waren als die Soldaten der Bodenstreitkräfte.
»Wir sollten hier ein paar Dinge ändern«, sagte Drakon zu Morgan. »Jetzt können wir es schließlich. Ein paar unauffällige Verteidigungseinrichtungen am Rand des Paradeplatzes wären sinnvoll, zumal den sowieso kein Bürger betreten darf.« Er betrachtete die drei übrigen Seiten der Freifläche, wo auf der entlegenen Seite des Zufahrtsweges zwischen dem Hauptquartier und dem Rest der Stadt einige flache, vielseitig verwendbare Gebäude standen. Viele Bürger waren zu sehen, die alle ihren Geschäften nachgingen und es dabei aus langjähriger Gewohnheit vermieden, auch nur einen Blick in Richtung Hauptquartier zu werfen. Die Schlangen hatten nur zu gern jeden verhaftet, den sie der »Observierung« verdächtigten, selbst wenn der einzige Beweis ein flüchtiger Blick auf das Regierungsgebäude gewesen war.
»Das klingt doch gut«, stimmte Morgan ihm zu und begann eine Verteidigungsanlage zu beschreiben, die in der Lage gewesen wäre, einer ganzen Armee zu trotzen.
»Vielleicht ein klein bisschen weniger«, gab Drakon ironisch zurück und war froh darüber, dass er Morgan von der Allianz-Offizierin hatte ablenken können. »Haben Sie eigentlich schon Hinweise darauf entdeckt, wer …«
Drakon sollte nie erfahren, was die Leibwächterin hatte aufmerksam werden lassen, auf jeden Fall rief die Frau eine Warnung, zückte ihre Waffe und zielte, noch bevor Sirenen zu gellen begannen, die mit automatischen Sensoren für die Überwachung der Platzfläche verbunden waren. Eine Sekunde später wurde von drei Seiten das Feuer eröffnet.