Drakon brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann erst fragte er: »Was ist passiert?«
»Ich bin mit einem kompletten Trupp zur Sicherheitszelle gegangen, um die Agentin zu verlegen, General«, antwortete Malin. »Als wir an der Zelle ankamen, haben wir sie tot vorgefunden. Die medizinischen Werte aus der Zelle sind manipuliert worden, um den Anschein zu erwecken, dass sie lebt und wohlauf ist. Eine erste Untersuchung lässt ein schnell wirkendes Gift als Todesursache vermuten.«
»Wie lange ist sie schon tot?«
»Noch keine Stunde. Den genauen Zeitpunkt werden wir erfahren, wenn die Autopsie abgeschlossen ist.«
Was das zu bedeuten hatte, war klar. »Jemand hatte etwas dagegen, dass wir sie abholen. Wer wusste, dass Sie auf dem Weg zur Zelle sind?«
»Einige Seniormitglieder von Präsidentin Icenis Stab«, sagte Malin. »Wir konnten nicht einfach herkommen und die Gefangene ohne Wissen der Präsidentin mitnehmen.«
»Das ist richtig.« Iceni wäre aus der Haut gefahren, wenn seine Leute auf diese Weise versucht hätten, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. »Ich nehme an, die Überwachungssysteme rund um die Zelle liefern auch keinen Hinweis, richtig?«
»Nicht den geringsten«, bestätigte Malin. »Ich lasse sie analysieren, aber ich gehe davon aus, dass diese Systeme ebenfalls gehackt wurden und uns für den Zeitraum, in dem die Agentin ermordet wurde, falsche Bilder zeigen werden, auf denen niemand zu sehen ist. Sir, ich übernehme die volle Verantwo …«
»Das tun Sie nicht«, unterbrach Drakon ihn sofort. »Ich hätte Sie zur Zelle schicken und mich dann erst bei Iceni melden sollen, um ihre Zustimmung einzuholen. Ich habe es zugelassen, dass die Schlangen, die sich hier noch immer versteckt halten, mir einen Schritt voraus sein konnten. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass wir denen mal zuvorkommen.«
»General, so viele Dinge erfordern gleichzeitig Ihre Aufmerksamkeit. Die Schlangen dagegen müssen sich nur darauf konzentrieren, wie sie am besten Ihre Arbeit und die von Präsidentin Iceni sabotieren können.« Malin nickte entschlossen, um seine Worte zu unterstreichen. »Ich werde daran arbeiten. Und … ich werde Colonel Morgan informieren, wenn Sie das wünschen. Sie muss davon erfahren, immerhin sucht sie nach versteckten Schlangen.«
Drakon zog eine Braue hoch. »Sie muss erfahren, was passiert ist. Aber wenn sie es von Ihnen zu hören bekommt, wird sie sich über Sie lustig machen.«
»Das habe ich auch verdient, General. Es wird …« Malins Lächeln hatte etwas Bissiges. »Es wird mich dazu motivieren, solche Vorfälle zukünftig zu verhindern. Ich werde Ihnen einen detaillierten Bericht liefern, sobald die Umstände des Todes der Agentin vollständig untersucht worden sind.«
»Danke.« Drakon sah an Malin vorbei und fragte sich, wieso er das seltsame Gefühl hatte, dass da noch irgendetwas war. Etwas Wichtiges. Oder zumindest etwas, das wichtig sein sollte. »Colonel Malin, wie hieß die Agentin?«
»Wie bitte, General?« Malin wirkte wie von dieser Frage überrumpelt.
»Ihr Name. Wie lautete der Name dieser Agentin?«
Malin sah auf sein Daten-Pad. »Yvette Saludin, Sir. Ist das von Bedeutung?«
»Für sie war es das.« Drakon schloss die Augen. »Die Schlangen haben ihre Familie für den Fall bedroht, dass sie nicht kooperiert. Wo ist diese Familie?«
»Im Chako-Sternensystem, Sir. Nach den letzten Informationen, die uns vorliegen, hat das Syndikat immer noch die Kontrolle über Chako.«
»Dann können wir nichts für sie tun.« Er öffnete die Augen wieder und konzentrierte sich auf Malin. »Macht Ihnen das zu schaffen?«
»Mir, General?« Malin schüttelte erstaunt den Kopf. »Nein, Sir. Wir hatten keine andere Möglichkeit, als sie zu verhaften, und ihr letztliches Schicksal war ohnehin in dem Moment besiegelt, als sie anfing, für die Schlangen zu arbeiten. Von da an war sie sowieso schon tot. Ich bedauere nur, dass es mir nicht gelungen ist, durch sie auf die Spur jener Schlangen zu kommen, die sich immer noch in unseren Reihen versteckt halten.«
»Das verstehe ich.« Auch wenn Malin noch so sehr darüber redete, wie sehr er das System des Syndikats ablehnte, konnte er doch auffallend kaltblütig sein. Morgan tötete mit einem Feuer, das sich den Weg durch ihre Adern bahnte, aber wenn Malin tötete, dann war das Blut in seinen Adern zu Eis erstarrt. Die beiden konnten gegensätzlicher nicht sein, und doch kam das Gleiche für denjenigen dabei heraus, der das Pech hatte, von ihnen zur Zielscheibe auserkoren zu werden. »Irgendwas Neues von Boyens’ Flotte?«, fragte Drakon, der mit einem Mal unbedingt das Thema wechseln wollte.
»Nein, Sir. Die mobilen Streitkräfte haben einen Leichten Kreuzer losgeschickt, damit er zwischen der Allianz-Flotte und den Syndikatsschiffen Beobachtungssatelliten aussetzt. Wir haben ein paar Übermittlungen abgefangen, aber die bestehen alle nur daraus, dass CEO Boyens Black Jack auffordert, mit seiner Flotte das System zu verlassen, während Black Jack ein ›nach Ihnen‹ zurückschickt.«
»Ich habe Black Jack eben eine Nachricht geschickt«, erklärte Drakon. »Welche Wirkung sie haben wird, weiß ich jetzt noch nicht. Das werden wir abwarten müssen.«
Die Nachricht von der Allianz-Flotte kam nicht von Black Jack, sondern von einer Frau, die sich als Victoria Rione vorstellte, die Gesandte der Allianz-Regierung. Iceni musterte skeptisch das Bild dieser Frau. Eine Gesandte? Wie viel Macht besaß die überhaupt?
Aber die Worte der Frau zogen schnell Icenis Aufmerksamkeit auf sich.
»Wir haben mit CEO Boyens geredet«, informierte sie die Gesandte Victoria Rione. »Was Ihnen zweifellos bekannt ist. Diese Diskussionen waren nicht besonders ergiebig. Er will, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen. Die Gründe dafür kennen Sie so gut wie ich. CEO Boyens hat sich nach dem Bemühen, uns zum Weiterflug zu überreden, inzwischen auf nicht ganz so unterschwellige Drohungen verlegt. Wenn die auch keine Wirkung zeigen, wird er wohl als Nächstes offen drohen. Präsidentin Iceni, es ist offensichtlich, dass CEO Boyens nicht über genügend Feuerkraft verfügt, um die anwesende Allianz-Flotte zu gefährden. Von den Offizieren in dieser Flotte wurde mir gesagt, dass CEO Boyens es nicht wagt, mit seinen Schiffen die unmittelbare Nähe des Hypernet-Portals zu verlassen, solange wir uns hier aufhalten.« Riones Miene nahm einen noch eindringlicheren Zug an. »Sein nächster Schritt wird vermutlich darin bestehen, etwas zu bedrohen, was für Sie und für uns von großer Wichtigkeit ist. Etwas, das CEO Boyens angreifen kann, ohne seine Flotte von der Stelle zu bewegen.«
Iceni verkniff sich einen Fluch. Das Hypernet-Portal. Wenn Boyens damit droht, es so schwer zu beschädigen, dass es kollabiert, werden wir nicht in der Lage sein, ihn davon abzuhalten. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob Boyens eine solche Drohung in die Tat umsetzen würde, denn die Syndikatsregierung würde sich gar nicht darüber freuen, ein Portal zu verlieren. Könnten wir jedoch mit den Konsequenzen klarkommen, wenn er es tatsächlich machen würde? Wir hätten immer noch den Handelsverkehr zwischen den Sprungpunkten, aber das Portal ebnet uns den Weg zu sehr viel mehr.
»Es gibt da allerdings unter Umständen eine Vorgehensweise, die für den Drohenden sehr frustrierend wäre«, fuhr Rione fort.
Während Iceni aufmerksam zuhörte, begann sie zu grinsen. Ich werde Drakon davon überzeugen müssen.
»Sie wollen der Allianz ein Teileigentum am Hypernet-Portal übertragen?« Drakon starrte sie an, als überlege er, wann sie wohl den Verstand verloren hatte. Er hatte sich ohne Widerwort zu einem weiteren privaten Treffen im ehemaligen Konferenzraum der Schlangen bereit erklärt, der von beiden Seiten als neutrales Gebiet betrachtet wurde. Die schnelle Einwilligung des Generals hatte Iceni einerseits gefreut, andererseits aber auch skeptisch werden lassen, welche Absichten Drakon antreiben mochten. Nicht umsonst lautete ein altes Sprichwort der Syndikatwelten, dass man einem geschenkten Gaul ganz unbedingt ins Maul schauen musste.
»Damit setzen wir Boyens schachmatt«, erklärte sie weiter. »Wenn das Portal zum Teil der Allianz gehört, kann er nicht damit drohen, es zu beschädigen. Das wäre ein Angriff der Syndikatwelten auf Eigentum der Allianz-Regierung.«
»Also ein Verstoß gegen den Friedensvertrag?«
»Ohne jeden Zweifel. Boyens hat sich bereits als Repräsentant der Syndikatwelten und seine Flotte als Streitmacht von deren Regierung zu erkennen gegeben. Er kann jetzt unmöglich behaupten, ein Angriff auf das Hypernet-Portal habe nichts mit den Syndikatwelten zu tun.«
»Die Syndikatsregierung auf Prime würde ihn einen Kopf kürzer machen.« Dann hielt Drakon inne. Ihm war anzusehen, wie er über etwas nachdachte. »Wie viel?«
»Wie viel vom Portal? Es ist nicht wichtig, wie groß oder klein das Allianz-Eigentum ist. Ein Angriff auf das Portal wäre damit auch ein Angriff auf die Allianz. Wären Sie bereit, der Allianz einen Anteil von einem Prozent zu überlassen?«
»Ein Prozent? Und was erhalten wir im Gegenzug?«
»Das haben wir bereits. Wir gewähren ihnen ein Teileigentum am Hypernet-Portal in dankbarer Anerkennung der Verteidigung dieses Sternensystems gegen die Enigma-Rasse.«
Drakon grübelte eine Weile darüber nach. »Sind Sie auf diese Idee gekommen?«
»Ich wünschte, ich könnte das bejahen. Zu Black Jacks Flotte gehört eine Allianz-Politikerin namens Rione, die diesen Vorschlag gemacht hat. Wir haben nicht viele Informationen über sie, aber das Wenige, was wir finden konnten, besagt, dass sie eine Vize-Präsidentin der Callas-Republik und eine Senatorin der Allianz ist.«
»Klingt ziemlich wichtig«, meinte Drakon.
»Allerdings. Deshalb ist es auch so eigenartig, dass sie sich nur als Gesandte der Allianz-Regierung vorgestellt hat. Wir sind hier weit von der Allianz entfernt, aber wir haben ein paar Gerüchte aufgeschnappt, dass es nach dem Krieg bei denen auch hoch hergegangen sein muss. Es ist zwar nicht mit dem vergleichbar, womit sich die Syndikatwelten konfrontiert sehen, beinhaltet aber allem Anschein ebenfalls durchaus einige Probleme.« Iceni hielt kurz inne. »Falls Black Jack die Allianz-Regierung übernommen hat, benötigt er Politiker, die für ihn die Schwerarbeit erledigen, also zum Beispiel die Herrschaft über all die Sternensysteme. Riones Titel einer Gesandten — einer persönlichen Gesandten von Black Jack, wohlgemerkt — kann in Bezug auf diese Frau bedeuten, dass sie über viel mehr Macht verfügt als auf ihrem vorangegangenen Posten.«
Drakon nickte und betrachtete dabei das Bild, das im Display über dem Tisch schwebte und Rione zeigte. »Sie sieht ziemlich gut aus. Was glauben Sie, wie persönlich ihre Beziehung zu Black Jack ist?«
»Ich glaube«, sagte Iceni und bemerkte den frostigen Unterton, »diese Rione ist eine sehr geschickt taktierende Frau, die für mein Empfinden so nah an einen CEO des Syndikats herankommt, wie es jemand aus der Allianz überhaupt nur schaffen kann. Ich bezweifle sehr, dass sie ihren Körper hat einsetzen müssen, um Karriere zu machen.«
»Ich meinte das nicht … Kommen Sie, Sie wissen, wie so was läuft. Derjenige, der das Sagen hat, bestimmt die Beschäftigungsbedingungen, ohne Rücksicht darauf, was die Untergebenen wollen und was die Gesetze besagen, die ohnehin von jedem missachtet werden. Falls Black Jack sie haben wollte, dann hat sie mit dieser Entscheidung möglicherweise gar nichts zu tun.«
»Ich weiß, wie es im Syndikatsystem läuft«, räumte Iceni ein. »Sie haben recht. Er könnte es von ihr gefordert haben. Aber nach dem Wenigen zu urteilen, was ich von Black Jack gesehen und gehört habe, scheint er mir nicht der Typ zu sein, der so etwas macht. Nicht jeder missbraucht seine Untergebenen auf diese Weise, nicht mal im Syndikat.«
»Da muss ich Ihnen zustimmen«, sagte Drakon. »Aber wir können auf jeden Fall von Einem ausgehen: Wenn dieser Vorschlag von Black Jacks Gesandter überbracht wurde, dann stammt er von Black Jack.«
»Ja, das passt zu dieser Art von extrem geschickten politischen Taktierereien, die wir bei Black Jack schon erlebt haben.« Iceni nickte, dann ließ sie Drakon für einen Moment ihr Unbehagen erkennen. »Wir wollen schließlich Black Jack nicht enttäuschen, immerhin sind wir nach wie vor auf seinen Schutz angewiesen. Aber wir werden auch einen Präzedenzfall schaffen, wenn wir tun, worum er … uns bittet.«
»Dagegen können wir aber eigentlich nicht viel unternehmen, nicht wahr?«, hielt er dagegen. »Ein Prozent … damit kann ich leben. Eine solche Vereinbarung ist für beide Seiten von Vorteil. Ich muss zugeben, ich würde zu gern Boyens’ Gesicht sehen, wenn er das zu hören bekommt.« Sein Blick wanderte zum Display des Sternensystems nahe der Wand. »Die Revolte gegen das Syndikat war für uns eine Frage des Überlebens. Über manche Aspekte der Unabhängigkeit hatte ich mir nicht so viele Gedanken gemacht. Zum Beispiel über formale Vereinbarungen wie diese hier mit der Allianz. Oder der Vorschlag, den wir Taroa vorgelegt haben. Wissen wir genug über solche Dinge, um einschätzen zu können, dass wir alles richtig machen?«
»Sie machen sich Sorgen wegen meiner Fähigkeiten, General Drakon?«
»Nein, aber wir begeben uns hier in ziemlich tiefes Gewässer.«
»Stimmt.« Sie veränderte das Display, um einen großen Teil des sie umgebenden Weltalls darstellen zu können. »Mit diesen Vereinbarungen erbauen wir eine Art Festung. Wir werden selbst stärker, indem wir uns deren Kraft zunutze machen. Würden wir das Ganze verkehrt angehen, dann würde unsere Kraft in Richtung der anderen abfließen. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir von all diesen Vereinbarungen mehr profitieren als unsere jeweiligen Partner.«
»Sofern uns genug Zeit bleibt, um davon zu profitieren«, wandte Drakon ein.
»Ja. Wir benötigen Zeit und noch viel mehr Verbündete in den ringsum gelegenen Sternensystemen. Taroa will bei Kane eingreifen.«
»Ich weiß.« Er verzog den Mund. »Kane ist momentan ein Hexenkessel. Wenn wir jetzt da auftauchen, werden wir dadurch unter Umständen zu dem einen Feind, den sie vereint bekämpfen wollen. Ulindi macht mir auch Sorgen.«
»Was hören wir denn von Ulindi?«, wollte Iceni wissen.
»Sehr wenig. Dort gibt es eine Nachrichtensperre. Ich versuche herauszufinden, was sich da abspielt, dass Außenstehende nichts erfahren sollen.«
»Gut. Im Gegensatz zu Ulindi sind wir vom Transitverkehr abhängig, der die Sprungpunkte und das Hypernet-Portal benutzt. Wir könnten gar nicht den gesamten Schiffsverkehr unterbinden, nur damit niemand davon erfährt, was bei uns los ist.« Sie strich sich durchs Haar. »Unsere bevorzugten Kandidaten scheinen auf dem besten Weg zu sein, die hiesigen Wahlen zu gewinnen. Das wird für Stabilität sorgen.«
»Wir sollten aber nicht jeden verfügbaren Posten gewinnen«, hielt Drakon dagegen. »Das würde nämlich so aussehen, als hätten wir zur Syndikatsmethode gegriffen und die Wahl zu unseren Gunsten manipuliert.«
»Wir werden nicht jeden Posten gewinnen. Nur so viele, dass es reicht.« Iceni lachte auf. »Und wir werden auch gar nichts manipulieren müssen. So wie es aussieht, genießen wir und unsere Kandidaten nach unserem heroischen Auftreten während des Enigma-Angriffs sehr hohes Ansehen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
»Was meinen Sie?«
»Wir haben das Sagen, weil die Leute das so wollen, und nicht weil wir die Macht haben, sie das tun zu lassen, was wir uns wünschen. Ist das nicht seltsam?«
»Und wenn die Leute ihre Meinung ändern?«
»Wir haben ja immer noch die Macht; falls wir sie wieder mal brauchen sollten«, machte Iceni ihm klar.
Kommodor Asima Marphissa saß auf der Brücke ihres Flaggschiffs, des Schweren Kreuzers Manticore, und war sich nur zu deutlich darüber im Klaren, dass von allen derzeitig im Midway-System agierenden Gruppierungen, die über mobile Streitkräfte verfügten, ihre eigene die kleinste und schwächste war.
Die Hälfte ihrer Schweren Kreuzer war beim Gasriesen zurückgeblieben, um die dortigen Dockanlagen zu beschützen, sodass sie sich mit nur zwei Schweren Kreuzern, fünf Leichten Kreuzern und zwölf Jägern der Syndikat-Flotte unter dem Kommando von CEO Boyens stellen sollte. Ihre kleine Gruppe Kriegsschiffe hätte sich in der gewaltigen Allianz-Flotte völlig verloren, aber allein war sie den Streitkräften des Syndikats hoffnungslos unterlegen. Schließlich setzte die sich zusammen aus einem Schlachtschiff, sechs Schweren Kreuzern, vier Leichten Kreuzern und zehn Jägern. Natürlich war sie auf ihre kleine Flotte unglaublich stolz, doch sie machte sich keine Illusionen hinsichtlich der Feuerkraft.
Selbstverständlich habe ich auch ein Schlachtschiff. Doch die Midway kann zwar fliegen, aber nicht kämpfen. Und genau genommen kann sie derzeit nicht einmal fliegen, weil Kapitan-Leytenant Kontos immer noch damit beschäftigt ist, sämtliche Verstärkungen von den Klammern zu demontieren, mit denen das Schiff an der Einrichtung festgehalten wird. Nur jemand wie Kontos konnte die Idee in die Tat umsetzen, ein Schlachtschiff zu benutzen, um eine Orbitaleinrichtung aus der Gefahrenzone eines Enigma-Angriffs zu bewegen.
Ich frage mich, wie sehr Kontos es auf meinen Posten abgesehen hat. Können Präsidentin Iceni und ich jemandem, der so ehrgeizig und genial ist, tatsächlich das Schlachtschiff überlassen, sobald es fertiggestellt ist?
»Kommodor, wir erhalten eine Nachricht von der Syndikat-Flotte«, meldete der Senior-Komm-Spezialist, der sie damit aus ihren düsteren Gedanken holte.
»CEO Boyens ist tatsächlich endlich so gnädig, mit mir zu reden?«, fragte Marphissa. Sie hatte ihre Flotte so nahe an das Hypernet-Portal herangebracht, dass sie keine fünf Lichtminuten mehr von der Syndikat-Flotte entfernt war. Es war der Versuch, CEO Boyens zu ärgern und ihn zu einem Angriff zu provozieren, in den Black Jack und seine Flotte dann hoffentlich eingreifen würden.
»Die Nachricht ist nicht an Sie persönlich gerichtet, Kommodor, sondern an unsere gesamte Flotte.«
»Dann lassen Sie mal sehen.« Sie wusste, dass Arbeiter und Supervisoren auf jedem Schiff der Flotte diese Mitteilung im gleichen Augenblick zu sehen bekamen, ohne Rücksicht auf Regeln und Vorschriften. Da war es nur sinnvoll, wenn sie selbst auch herausfand, was Boyens ihnen erzählte.
CEO Boyens hatte das standardmäßige CEO-Lächeln für Unterhaltungen mit Untergebenen aufgesetzt (das sich natürlich vom standardmäßigen CEO-Lächeln für Unterhaltungen mit Gleichgestellten oder Vorgesetzten unterschied). Marphissa hatte diesen rundweg verlogenen und herablassenden Gesichtsausdruck oft genug zu sehen bekommen, sodass sie die Art der Mimik auf Anhieb entschlüsseln konnte. Sie war genau auf ihr Publikum zugeschnitten, und ihm fehlte jegliche Ehrlichkeit.
»Bürger«, begann Boyens im Tonfall eines von seinen Kindern enttäuschten Vaters. »Sie wurden vom rechten Weg abgebracht und in die Irre geführt. Zweifellos hat man Sie gezwungen, Handlungen zu begehen, die Sie nicht gewollt haben. Jetzt sehen Sie sich mit ernsten Bedrohungen konfrontiert und haben niemanden mehr, der Sie und Ihre Familien beschützt. Abgesehen natürlich von diesen Diktatoren, die sich selbst Präsidentin und General nennen. Aber Sie müssen sich nicht länger deren Willen beugen.«
Boyens’ Standardlächeln wurde durch jene standardmäßige CEO-Miene ersetzt, die völlige Ehrlichkeit heuchelte. »Ich bin dazu ermächtigt worden, Ihnen allen Immunität zu garantieren für jegliches Handeln, das gegen Gesetze der Syndikatwelten verstoßen haben mag. Das gilt auch für vergangene tätliche Angriffe auf Personal der Syndikatwelten. Es ist jetzt wichtiger, die Loyalen zu belohnen, anstatt jene bestrafen zu wollen, die irrtümlich den falschen Führern vertraut haben. Übernehmen Sie wieder die Kontrolle über Ihre Schiffe und unterstellen Sie sie meiner Autorität, damit ich Sie nicht nur vor den brutalen Streitkräften dieser Diktatoren, sondern auch vor der Faust der barbarischen Allianz-Streitkräfte bewahren kann, mit denen sich die Diktatoren verbündet haben. Wir werden Sie willkommen heißen, wir werden Sie beschützen, und wir werden Sie belohnen. Sie müssen nichts weiter tun als in Ihrem eigenen Interesse und dem des Volkes zu handeln. Für das Volk. Boyens, Ende.«
Missmutig schaute Marphissa auf die Stelle, an der sich eben noch das Fenster mit Boyens’ Bild befunden hatte. Seine Nachricht hätte vielleicht ein klein wenig ehrlicher geklungen, wenn er das letzte »Für das Volk« nicht so monoton runtergenuschelt hätte. Wie soll ich darauf reagieren?
»Er hält uns für Idioten«, knurrte ein Senior-Komm-Spezialist namens Lehmann.
»Das stimmt«, pflichtete Marphissa ihm bei. »Was würden Sie zu ihm sagen?«
Der Spezialist zögerte. Die Arbeiter waren im Syndikatsystem dazu erzogen worden, ihre Meinung nicht zu äußern, und wenn sie von Executives oder CEOs genau dazu aufgefordert wurden, dann handelte es sich dabei um nichts weiter als eine hinterlistige Falle. Aber er hatte den Wandel miterlebt, der im Alltag Einzug gehalten hatte, seit sich das Midway-Sternensystem für selbständig erklärte. Und er hatte gesehen, wie die ehemalige Executive und nun Kommodor Marphissa ihre Crew führte. Daher konnte sich der Spezialist auch dazu durchringen, etwas zu tun, was in früheren Zeiten äußerst leichtsinnig gewesen wäre: Er sah die Kommodor an und sprach aus, was ihm durch den Kopf ging. »Kommodor«, sagte er, »ich würde ihm erklären, dass wir keine Idioten sind. Dass wir nicht so einfältig oder so verrückt sind, den Versprechen eines CEO des Syndikats zu glauben. Dass … dass wir die Herrschaft durch die Syndikatwelten erlebt haben und wissen, dass es dabei nie um das Wohl der Bevölkerung geht. Dass Präsidentin Iceni und General Drakon uns innerhalb kurzer Zeit mehr Freiheiten gewährten, als wir ein Leben lang gekannt haben. Und dass sie uns die Freiheit und die Kraft gegeben haben, um über die Lügen eines CEO zu lachen!« Der Spezialist verstummte und sah besorgt drein, weil ein solcher Gefühlsausbruch zu Zeiten des Syndikats eine schwere Strafe nach sich gezogen hätte.
Marphissa schaute sich auf der Brücke um und entdeckte bei allen Spezialisten und Supervisoren Zustimmung zu den Worten ihres Kollegen. »Ich wüsste nicht, was man daran noch verbessern könnte, Senior-Spezialist Lehmann. Möchten Sie diese Antwort an den CEO schicken?«
Lehmann sah sie verdutzt an, wirkte sekundenlang noch etwas besorgter, aber dann setzte er eine trotzige Miene auf. »Ja, Kommodor, wenn Sie erlauben.«
»Ich werde Sie ihm vorstellen, und dann sagen Sie ihm das, was Sie gerade eben mir gesagt haben. Sie müssen es nicht ausschmücken oder umformulieren. Sagen Sie einfach, was Ihnen auf der Seele brennt.« Marphissa tippte den Sendebefehl ein und sorgte dafür, dass die Antwort nicht nur an Boyens, sondern an jedes Schiff in der Flotte des CEO und auch an Marphissas eigene Schiffe gesendet wurde. »CEO Boyens, niemand hier wird Ihr Angebot annehmen. Wenn jemand auf einem Ihrer Schiffe in die Freiheit entkommen will, dann ist er bei uns willkommen. Und nun lasse ich einen unserer Senior-Spezialisten antworten.«
Marphissa wartete, bis Senior-Spezialist Lehmann seine Äußerungen wiederholt hatte, dann richtete sie die Kamera wieder auf sich. »Für das Volk«, ergänzte sie und betonte dabei jedes Wort. »Marphissa, Ende.«
Sie hatte einen Manager verbal auf einen CEO losgehen lassen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie und vertrieb die Angst vor einem solchen Verhalten, die man ihr ein Leben lang eingeimpft hatte.
Die Arbeiter in Boyens’ Flotte würden zu hören bekommen, was der Spezialist Lehmann ihrem CEO zu sagen hatte. Vielleicht würden sie seine Worte zum Handeln bewegen, auch wenn die Schlangen an Bord von Boyens’ Schiffen in ständiger Alarmbereitschaft und zahlreicher vertreten sein mussten als jemals zuvor. Es war nur eine schwache Hoffnung, eine Rebellion an Bord der Kriegsschiffe des Syndikats auslösen zu können, aber das zu hoffen, war momentan das Einzige, was sie tun konnte, während sie dasaß und zusah, wie andere über das Schicksal ihres Sternensystems entschieden.
»Eine Nachricht für uns von Black Jack?«, fragte Drakon. Er war umgehend zu Iceni gegangen, nachdem die ihn darüber informiert hatte. Sie hätten auch ihre eigenen Displays miteinander verbinden können, um ein virtuelles Treffen abzuhalten. Aber damit wären sie das viel zu große Risiko eingegangen, dass sich jemand in die Verbindung einschaltete und alles mitverfolgte. Nur ein persönliches Treffen in einem Raum, bei dem sicher war, dass keinerlei Überwachungsgeräte in ihm aktiv waren, konnte genügend Sicherheit bieten.
»Ja, sehen Sie es sich an, und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten.« Sie betätigte ein paar Tasten, schon erschien Black Jacks Gesicht über dem Tisch. Admiral Geary wirkte und klang so formal wie immer.
»Präsidentin Iceni, General Drakon, ich muss zwei Dinge mit Ihnen besprechen. Zunächst einmal, Präsidentin Iceni, muss ich Sie darüber informieren, dass wir bei unserem Aufenthalt im von den Enigmas kontrollierten Gebiet einige dort festgehaltene Menschen aus einem Lager befreien konnten, in dem sie allem Anschein nach zu Studienzwecken untergebracht worden waren. Von denjenigen abgesehen, die dort in Gefangenschaft geboren wurden, stammen sie alle aus Kolonien oder von Schiffen der Syndikatwelten. Wir haben sie gründlich untersucht. Bei keinem von ihnen konnten Hinweise auf biologische oder anderweitige Kontamination festgestellt werden.
Ich muss eindringlich darauf hinweisen, dass keiner der Befreiten etwas über die Enigmas weiß. Sie waren in einem Asteroiden eingeschlossen, und sie haben nie gesehen, von wem sie dort festgehalten wurden. Sie können Ihnen nichts über die Enigmas berichten. Die lange Gefangenschaft hat bei jedem Einzelnen seelische, körperliche und emotionale Schäden verursacht. Angesichts ihrer Verfassung beabsichtige ich, die meisten von ihnen mit ins Allianz-Gebiet zu nehmen, wo man sich um sie kümmern wird, ehe man dafür sorgt, dass sie in ihre Heimatsysteme innerhalb der Syndikatwelten zurückkehren können. Drei Gefangene erklären jedoch, dass sie oder ihre Eltern von Taroa kommen, und fünfzehn andere behaupten, aus Ihrem System zu stammen. Diese achtzehn wollen sofort heimkehren, und wir möchten ihrem Wunsch nachkommen. Allerdings würde ich zuvor gern wissen, was Sie mir über die Zustände im Taroa-System sagen können. Und zudem möchte ich erfahren, was Sie mit den fünfzehn von Midway kommenden Personen machen werden. Ich fühle mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie nach ihrer Befreiung gut behandelt werden.«
Geary hielt einen Moment lang inne. »Das war das Eine. Die zweite Sache betrifft den weiteren Ausbau unserer Beziehungen zur neuen Regierung von Midway.«
Iceni hatte das alles schon gehört, und dennoch machte ihr Herz einen Satz, als er diese Worte sprach. Er hat dieses Sternensystem offiziell als unabhängig anerkannt, und er sieht in Drakon und mir die legitimen Herrscher. Das ist besser als alles, was ich erhofft hatte.
»Mein Vorschlag«, fuhr Geary fort, »geht dahin, einen erfahrenen Offizier als Repräsentanten der Allianz auf Ihre Welt zu entsenden. Auf diese Weise können wir unsere Verbundenheit mit Ihnen demonstrieren, und Sie erhalten die Möglichkeit, Ratschläge in Fragen der Verteidigung oder der weiteren Demokratisierung Ihrer Regierung einzuholen. Die Offizierin, die ich dafür vorschlagen möchte, ist Captain Bradamont, die derzeit noch als Befehlshaberin des Schlachtkreuzers Dragon dient. Sie ist eine hervorragende Offizierin, und da sie eine Zeitlang Kriegsgefangene der Syndiks war, hatte sie Kontakt mit Offizieren der Syndikatwelten und kann mit ihnen zusammenarbeiten. Captain Bradamont hat sich bereit erklärt, diese neue Aufgabe zu übernehmen. Doch ich benötige Ihr Einverständnis, um diesen Posten offiziell einrichten zu können, von dem aus meiner Sicht alle Beteiligten profitieren werden. Die Gesandten der Allianz-Regierung, die diese Flotte begleiten, haben bereits ihre Zustimmung gegeben, sodass wir nur noch von Seiten Ihrer Regierung eine Entscheidung hören müssen. Ich hoffe, bald von Ihnen bezüglich beider Angelegenheiten eine Antwort zu bekommen. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«
Die Nachricht war am Ende angelangt, trotzdem saß Drakon noch einige Zeit da und sagte nichts. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Er will die Beziehungen zur neuen Regierung von Midway weiter ausbauen? Deute ich das richtig?«
»Ja, das heißt, die Allianz erkennt unsere Regierung an. Black Jack persönlich erkennt unsere Regierung an. Nur gibt es zwei Komplikationen.«
»Befassen wir uns erst mal mit der leichteren Sache«, schlug er vor. »Diese Leute, die von den Enigmas festgehalten wurden.«
»Die sind die leichtere Sache?« Sie sah ihn forschend an. »Nehmen Sie Black Jack wirklich ab, dass keiner von denen irgendwas über die Enigmas gewusst haben soll?«
»Ja.« Drakon verzog den Mund. »Nicht weil ich von Natur aus Allianz-Offizieren alles glauben würde, sondern weil es unsinnig wäre, uns eine Lüge aufzutischen, wenn er die Leute zu uns zurückschicken will. Wollte er sie behalten, wäre es eine andere Sache. Dann wäre ich misstrauisch. Aber wenn sie zurück bei uns sind, können wir sie selbst fragen, so gründlich wir nur wollen.«
»Und wieder einmal beweist Black Jack, dass er ein brillanter Politiker ist. Er liefert uns die Wahrheit und macht uns ein Angebot, das wir nicht abschlagen können.« Iceni trommelte mit den Fingern auf ihre Armlehne. »Diese Bürger … wir müssen sie aufnehmen. Wenn ansonsten herauskäme, dass wir sie nicht aufgenommen und Black Jacks Angebot abgelehnt haben, dann würden wir das teuer bezahlen. Man würde uns unterstellen, wir hätten uns mit ihm verschworen, um das Wissen dieser Bürger über die Enigmas zu verschweigen.«
»Wie Sie schon sagten, er ist brillant.«
»Nachdem er uns mit dieser Sache in die Ecke getrieben hat, stellt sich die Frage, wo wir sie unterbringen sollen. Was hat er gesagt, wo sie festgehalten wurden?«
»In einem Asteroiden.« Drakon rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hört sich an, als hätte man sie sehr lange Zeit dort festgehalten. Sie wollen bestimmt nicht auf einer Planetenoberfläche ausgesetzt werden. Da hätten sie viel zu viel Raum um sich herum.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Iceni. »Black Jack sprach davon, dass sich die Gefangenschaft auf sie ausgewirkt hat, aber er hat keine Einzelheiten genannt.«
Drakon wirkte, als überlege er, ob er darauf etwas erwidern sollte, dann zuckte er mit den Schultern. »Ich kenne einige Leute, die nach langer Gefangenschaft aus einem Arbeitslager entlassen wurden. Für sie war es … sehr unangenehm, nicht ständig von vier Wänden umgeben zu sein.«
Iceni fragte sich, was sie dazu sagen konnte. Wer von uns kennt nicht irgendjemanden, der in ein Arbeitslager geschickt wurde? Aber nicht viele von uns begegnen jemandem, der aus einem dieser Lager entlassen worden war. Zu viele sind dort gestorben. »Waren das Freunde von Ihnen?«
»Ja.« Drakon hatte den Blick gesenkt, seine Miene war wie versteinert.
Schon gut, ich werde nicht weiter nachfragen. Ich werde sogar das Thema wechseln. »Was schlagen Sie vor, wo wir diese ehemaligen Gefangenen unterbringen sollen?«
Er hob den Kopf, sichtlich erleichtert darüber, dass sie ihn nicht nach weiteren Details gefragt hatte. »Auf der Orbitaleinrichtung. Sie ist nicht allzu groß, und die Räumlichkeiten ähneln in gewisser Weise einem Gefängnis, so wie sie es gewohnt sind. Es handelt sich um eine gemischt genutzte Einrichtung mit Militär und Zivilisten. Die Sicherheit ist kein nennenswertes Thema, da es dort sehr einfach ist, den Zugang zu bestimmten Bereichen einzuschränken. Und niemand kann uns vorwerfen, wir würden sie wegsperren, damit wir Ruhe vor ihnen haben.«
»Hmm.« Iceni lächelte. »Wir könnten sogar Lob dafür erhalten. Seht her! Zum ersten Mal wurde jemand aus dem von den Enigmas kontrollierten Gebiet zurückgeholt. Und dank unserer Beziehungen zu Black Jack sind sie jetzt wieder frei!«
Drakon nickte, sah sie dann aber eindringlich an. »Sie sind eigentlich nicht die Ersten.«
»Die aus dem Gebiet der Enigmas zurückkehren?«, fragte Iceni. »Ich nehme an, Colonel Morgan darf diesen Titel für sich beanspruchen. Sie haben mir noch immer nicht den Grund genannt. Wissen Sie, warum sie sich für diese Selbstmordmission freiwillig gemeldet hat?«
»Nein. Sie wuchs in einem staatlichen Waisenhaus auf, beide Elternteile waren im Krieg gefallen. Aber Morgan verliert nie ein Wort darüber. Ich weiß nicht mehr, als dass sie eine medizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung erhalten hat, sodass sie nach dieser Mission wieder eingesetzt werden konnte.«
»Ach ja? Und was steht da genau drin?«
Drakon zog die Brauen zusammen. »Nicht viel, außer dass sie diensttauglich ist. Sie benötigte diese Bescheinigung, sonst hätte man sie als Soldatin auf Arbeiter-Ebene ins Gefecht geschickt. Das widerfuhr dem Mann, der mit ihr auf dieser Mission unterwegs gewesen war. Er wurde einen Monat später in eine von diesen Schlachten zwischen uns und der Allianz geschickt, in der so viele Männer, Frauen, Schiffe und Waffen zum Einsatz kamen, als hätten wir gehofft, die Kriegsmaschinerie zum Erliegen zu bringen, wenn wir sie nur mit einer ausreichenden Zahl von Opfern verstopfen. Er fiel in der ersten Schlacht.«
Sie musterte Drakon. Sie wusste, von welcher Art Schlacht Drakon redete, und sie kannte dieses schreckliche Gefühl völliger Sinnlosigkeit, das durch diese Kämpfe verursacht worden war. Es hatte immer so gewirkt, als könne nichts und niemand jemals dieses sinnlose Abschlachten stoppen. »Aber Morgan wurde vor diesem Schicksal bewahrt«, meinte sie nachdenklich. »Sie muss einen Gönner gehabt haben, dass ihr diese Bescheinigung ausgestellt wurde. Haben Sie eine Ahnung, wer das war?«
»Nein. Ich musste davon ausgehen, dass sie die Voraussetzungen für die Bescheinigung erfüllt hatte, denn Morgan hat keine Verbindungen zu irgendjemandem, der so was für sie hätte arrangieren können.«
»Keine Verbindungen, von denen Sie wissen«, hakte Iceni nach.
»Ich habe sehr intensiv nachgeforscht«, sagte Drakon in einem Tonfall, der deutlich machen sollte, dass er nichts unversucht gelassen hatte, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. »Aber dass sie aus dem Enigma-Gebiet zurückgekehrt ist, wussten Sie ja schon. Ich habe das überhaupt nur angesprochen, weil wir beide wissen, dass Morgan … na ja, dass sie ein paar Probleme hat.«
»Das ist noch harmlos ausgedrückt.«
»Ein paar von diesen Problemen könnten zugegebenermaßen auch schon vor der Mission existiert haben. Das würde dann auch erklären, wieso sie sich freiwillig gemeldet hat. Ob es allerdings so ist, wissen wir nicht. Aber das alles«, redete er weiter, »gilt auch für diese Bürger, die von den Enigmas festgehalten wurden. Einige von ihnen könnten jetzt auch Probleme haben. Sie werden jedenfalls eine Menge Hilfe benötigen.«
»Stimmt«, sagte Iceni und nickte bedächtig. »Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ja, solange diese Leute nicht untersucht worden sind, können wir sie nicht auf die Bevölkerung loslassen. Das ist eine gute Rechtfertigung dafür, sie bis auf Weiteres in der Orbitaleinrichtung unterzubringen. Dann kommt wenigstens niemand auf die Idee, an unseren Absichten zu zweifeln.«
»Haben wir denn irgendwelche anderen Absichten?«, wollte Drakon wissen.
Darüber musste sie erst einmal nachdenken. »Wenn sie wirklich überhaupt nichts wissen? Wahrscheinlich. Ich glaube, Ihre Überlegungen bezüglich der freigelassenen Bürger sind sehr gut. Wir könnten auch die Leute aus Taroa bei uns behalten, bis wir von den Freien Taroanern hören.« Iceni lächelte ironisch. »Allerdings könnte die Interimsregierung der Freien Taroaner noch lange brauchen, ehe sie in dieser Sache entscheidet. Diese Leute scheinen immer endlos lange diskutieren zu müssen.«
»Dann wollen wir hoffen, dass die taroanischen Bürger nicht an Altersschwäche sterben, während sie auf ihre Heimkehr warten«, meinte Drakon. »Wir zahlen schon jetzt genug Bestechungsgelder und üben an verschiedenen Stellen Druck aus, damit das Verteidigungsabkommen abgesegnet wird, bevor irgendjemand auf Taroa begreift, wie eng sie sich mit diesem Abkommen an uns binden. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr zu investieren, nur damit Taroa uns die befreiten Gefangenen abnimmt. Gut, dann zur zweiten Sache. Sie wissen über diese Allianz-Offizierin Bradamont Bescheid?«
»Ich weiß«, antwortete Iceni und achtete genau darauf, was sie sagte, »dass sie mit Colonel Rogero zu tun hat. Und ich weiß, dass wir diese Verbindung gerade erst dazu benutzt haben, um unsere Version der Ereignisse an Black Jack zu übermitteln. Und ich weiß auch, dass sich in den von den Schlangen erbeuteten Unterlagen eine Akte befand, in der diese Bradamont als Quelle mit dem Codenamen Gottesanbeterin geführt wurde. Kennen Sie die ganze Geschichte, die sich dahinter verbirgt?«
»Ich schätze, heute ist der Tag, um über meine Mitarbeiter zu reden.« Drakon drehte sich zur Seite und legte eine Hand auf den Mund, während er nachdachte. »Die Kurzfassung sieht wie folgt aus: Vor einigen Jahren wurden Colonel Rogero und eine kleine Gruppe Soldaten nach der Rückkehr aus dem Heimaturlaub als Wachen dazu verpflichtet, auf einem umgebauten Frachter Kriegsgefangene der Allianz zu einem Arbeitslager zu begleiten. Auf dem Weg dorthin kam es an Bord des Frachters zu einem schweren Unfall. Rogero befreite die Allianz-Gefangenen aus ihren Kabinen, um ihnen das Leben zu retten. Danach ließ er sie bei der Reparatur der Schäden am Frachter mithelfen, weil sonst niemand überlebt hätte.«
Iceni schüttelte den Kopf. »Moralisch völlig richtig, aber auch genau das Gegenteil von dem, was die Vorschriften besagen.«
»Ganz genau. Nachdem sie sich in Sicherheit gebracht hatten, wurde Rogero verhaftet. Der beteiligte CEO war der Meinung, wenn Rogero das Wohl der Allianz-Gefangenen schon so sehr am Herzen lag, dann könne er auch gern mehr Zeit mit ihnen verbringen, und zwar in einem der typischen mörderischen Arbeitslager, in denen die Gefangenen untergebracht wurden. In dieser Zeit …« Drakon unterbrach sich und machte eine hilflose Geste. »… verliebten sich die beiden ineinander.«
»Ziemlich ungewöhnliche Umstände für so etwas«, stellte Iceni fest.
»Das schon, aber die beiden kannten sich ja. Von Rogero weiß ich, dass Bradamont diejenige war, die nach dem Unfall und während der Reparaturen den anderen Gefangenen sagte, was sie zu tun hatten. Das hat ihn unglaublich beeindruckt. Sie wiederum hatte im Gegenzug miterlebt, wie er sein Leben aufs Spiel setzte, um die Gefangenen zu retten.«
Iceni nickte, der jetzt alles klar wurde. »Beide hatten etwas sehr Wichtiges über den jeweils anderen erfahren.«
»Während sich das abspielte, versuchte ich herauszufinden, wieso Rogero nicht aus dem Heimaturlaub zurückgekehrt war. Ich hatte ihn gerade erst in diesem Arbeitslager aufgespürt, da fanden die Schlangen heraus, was zwischen ihm und Bradamont lief. Mir wurde gesagt, dass die einzige Frage zu Rogeros Zukunft sich darum drehte, ob man ihn als Insasse in ein anderes Arbeitslager schicken oder gleich hinrichten sollte.«
»Und was war dann seine Rettung?«
»Ich war seine Rettung«, antwortete Drakon in sachlichem Tonfall und ohne eine Spur von Prahlerei. »Ich schlug den Schlangen vor, sie könnten doch Bradamonts Gefühle für Rogero zu ihren Gunsten nutzen. Sie sollten Bradamont dazu bringen, dass sie von der Allianz aus Informationen lieferte.« Drakon grinste breit. »Die Schlangen waren von dem Vorschlag begeistert. Natürlich bedeutete die Umsetzung, dass man Bradamont zur Allianz zurückkehren lassen musste. Also arrangierten die Schlangen das Ganze so, dass sie sie mit einem Transporter losschickten, dessen Kurs nahe der Grenze zur Allianz verlief. Dann ließen sie diese Information in Richtung Allianz durchsickern. Der Transporter wurde abgefangen, Allianz-Marines holten sie raus und brachten sie zurück nach Hause. Rogero wurde in der Zwischenzeit zu mir zurückgeschickt. Mir sagte man, er solle so tun, als schleuse er wichtige Informationen an Bradamont weiter. Die versorgte ihn im Gegenzug mit Nachrichten aus der Allianz. Also lief alles ganz so, wie ich es vorgeschlagen hatte. Doch Rogero ließ mich sofort wissen, dass die Schlangen von ihm verlangten, mich ebenfalls auszuspionieren.«
»Ja, natürlich. Aber da Sie wussten, wer deren Spion war, konnten Sie sich umso besser vor den Schlangen schützen.« Sie legte eine Hand an ihre Stirn. »Die Beziehung ist echt? Angesichts der Nachricht Rogeros, die wir an Black Jack geschickt haben, kam es mir so vor.«
»Das ist echt.«
»Und hat sie für uns tatsächlich die Allianz ausspioniert?«
»Daran habe ich ernsthafte Zweifel. Was Rogero ihr im Auftrag der Schlangen geschickt hat, waren Dinge, die man in der Allianz längst wusste. Manchmal auch Fehlinformationen, mit denen man den Feind in die Irre führen wollte. Soweit Rogero das beurteilen konnte, kam von ihr die gleiche Art Müll zurück.«
Iceni sah zu Drakon. »Glauben Sie, die Allianz hat sie auf die gleiche Weise benutzt, wie die Schlangen es mit Rogero gemacht haben?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Dann ist sie also schon seit Jahren eine Agentin für den Geheimdienst der Allianz.«
»Warum sollten sie die Frau sonst hierher versetzen?«, gab Drakon zurück. »Aber wie Black Jack gesagt hat, hat sie immerhin auch als Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers Dienst getan.«
»Ja, während Black Jacks Feldzug gegen die Syndikatwelten«, fügte Iceni nachdenklich hinzu. »Was muss diese Frau alles über seine Gefechtstaktiken wissen.« Sie setzte sich etwas gerader hin. »Black Jack sprach davon, dass sie eine Art Beraterin sein soll. Auch in Verteidigungsangelegenheiten. Dieses Wissen könnte von unschätzbarem Wert für uns sein. Oh, was ist dieser Mann raffiniert. Militärische Beratung, aber auf eine Weise dargeboten, die das Ganze völlig harmlos aussehen lässt.«
»Dann wollen Sie den Vorschlag akzeptieren?«
»Wir können es uns nicht leisten, dieses Angebot abzulehnen! Und wenn Colonel Rogero tatsächlich für sie bürgen kann …« Iceni biss sich auf die Lippe, während sie überlegte. »Das ist alles heikel, sehr heikel sogar. Sie ist der Feind. Offiziell natürlich nicht mehr, aber wir haben ein Leben lang ihre Uniform gesehen, und das war immer die Uniform des Feindes. Eines Feindes, der unzählige unserer Bürger auf dem Gewissen hat.«
»Wir haben diesen Krieg angefangen«, konterte Drakon.
»Und Sie wissen genau, wie wenig das den typischen Arbeiter kümmert.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen einen Weg finden, wie wir das regeln. Die formale Anerkennung unseres Status als unabhängiges Sternensystem durch die Allianz, eine Offizierin, die Black Jack repräsentiert und als taktische Beraterin fungiert. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen!«
Drakon nickte. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber Sie haben auch recht, dass es schwierig werden wird, irgendjemanden dazu zu bringen, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wollen Sie sie auf der Orbitaleinrichtung einsperren?«
»Nein, ich will, dass sie sich frei bewegen und machen kann, was sie will.« Iceni lächelte ihn an. »Auf diese Weise finden wir heraus, was sie unternimmt und was sie vorhat.«
»Hört sich gut an. Wir wissen sowieso, dass sie Black Jack über alles Bericht erstatten wird, was hier bei uns passiert.«
»Solange sie nicht versucht, einen Spionagering einzurichten, kann ich damit leben.«
Drakon drückte für einen Moment auf den Kontrollen herum und spielte noch einmal die Stelle ab, an der Geary sagte: »… oder der weiteren Demokratisierung Ihrer Regierung.«
»Es könnte ein Problem werden«, räumte sie ein, »wenn er tatsächlich von uns erwartet, dass wir den Bürgern noch mehr Freiheiten und weitere Mitspracherechte in der Regierung einräumen. In gewisser Weise haben wir das ja schon eingeleitet, indem wir auf den unteren Ebenen Wahlen stattfinden lassen. Das sollte die Allianz eigentlich zufriedenstellen.«
»Mir wurde geraten, diesen Prozess so auszuweiten, wie es uns gefahrlos möglich ist«, sagte Drakon. »Das soll langfristig für Stabilität sorgen und sicherstellen, dass die Bürger unsere Regierung unterstützen.«
Wo habe ich das denn schon mal gehört? Ja, dieser Assistent von Drakon, dieser Colonel Malin. Er muss in der Angelegenheit wohl immer noch auf Drakon einwirken. »Solange wir das ›wie es uns gefahrlos möglich ist‹ nicht aus den Augen verlieren, habe ich keine Einwände gegen das theoretische Konzept«, gab Iceni zurück. »Aber das ist ohnehin ein längerfristiges Problem. Wir haben allerdings auch noch ein kurzfristiges Problem. Was ist mit Ihrem Colonel Rogero?«
Drakon dachte ein paar Sekunden über diese Frage nach. »Das möchte ich gern Colonel Rogero überlassen. Ich werde jede Entscheidung akzeptieren, die er trifft.«
Die Antwort habe ich in dem Moment erwartet, als ich meine Frage ausgesprochen hatte. »Das könnte schwierig für ihn werden«, warnte Iceni ihn. »Wenn die Bürger herausfinden, dass sie nicht nur eine Offizierin der Allianz ist, sondern auch als Quelle für die Schlangen tätig war …«
»Rogero war genau genommen auch für die Schlangen tätig. Er hat sie zwar in die Irre geführt, wo er nur konnte. Aber wir sollten das in beiden Fällen verschweigen.«
»Sehe ich auch so.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Weiß sonst noch jemand über Rogero und Bradamont Bescheid? Über Rogeros Verbindung zu den Schlangen?«
Drakon nickte bedeutungsschwanger. »Eine Person.«
Etwas an der Art, wie er es sagte, schnürte ihr die Kehle zu. Eine Person. »Nicht sie.«
»Doch, Colonel Morgan.«
»Warum um alles in der Welt mussten Sie ihr erzählen …«
»Ich habe ihr gar nichts erzählt!« Drakon warf ihr einen finsteren Blick zu. »Sie kam vor einiger Zeit dahinter, als sie nach der Bescherung mit Colonel Dun nach verborgenen Agenten der Schlangen gesucht hatte. Ich sagte doch, sie ist gut.«
»Na, großartig!« Iceni hatte Mühe, ihre Verärgerung zu unterdrücken. »Können wir ihr Überleben garantieren?«
»Morgans?«
»Bradamonts!«
»Oh.« Drakon setzte eine entschlossene Miene auf. »Ja, da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
»Nichts für ungut, aber ich werde mir Sorgen machen!« Iceni seufzte und bekam sich dann wieder unter Kontrolle. »Wenn Sie mir erklären, dass Bradamont vor … Bedrohungen sicher ist, werde ich Black Jack wissen lassen, dass sie zu uns kommen kann. Und auch die Bürger, die aus den Klauen der Enigmas befreit worden sind.«
Drakon nickte und beugte sich vor, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Fragen Sie ihn, ob Bradamont auch Informationen mitbringen wird, die Black Jacks Flotte im Gebiet der Enigmas gesammelt hat. Und ob wir erfahren, wo er auf die sechs mysteriösen Schiffe und das monströse Schlachtschiff gestoßen ist. Wir haben immer noch keine Ahnung, was es mit beidem auf sich hat. Wenn Black Jack an ernsthaften formalen Beziehungen interessiert ist, dann sollte seine Repräsentantin ein paar Informationen an uns weitergeben. Wir sind den Enigmas näher als jedes andere Sternensystem. Wir müssen wissen, was er dort in Erfahrung gebracht hat.«
»Ja, auf jeden Fall«, pflichtete sie ihm bei. »Ich werde es diplomatisch verpacken. Aber er soll schon verstehen, dass wir auf diese Informationen hoffen, dass wir sie für dieses Sternensystem als überlebenswichtig ansehen.« Plötzlich ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie veranlasste, Drakon fragend zu mustern. »Bradamonts Deckname war Gottesanbeterin. Warum wurde sie von den Schlangen so genannt?«
Er zuckte kurz mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die Schlangen haben sich noch nie die Mühe gemacht, anderen irgendetwas zu erklären. Wieso ist das wichtig? Eine Gottesanbeterin ist ein Insekt, nicht wahr? Ein Käfer, oder? Wahrscheinlich sollte der Deckname Bradamont herabwürdigen.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach ihm Iceni. »Eine Gottesanbeterin ist nicht einfach irgendein Insekt, sondern ein sehr todbringendes Insekt. Ein Jäger. Und es handelt sich um eine Spezies, bei der das Weibchen das Männchen auffrisst.«
Drakon warf Iceni einen erstaunten Blick zu und schüttelte den Kopf. »Na ja, sie befehligt einen Schlachtkreuzer der Allianz. Solche Frauen sind zäh, nicht wahr? Vielleicht bezog es sich ja darauf. Oder die Schlangen hielten das für einen besonders gelungenen Witz.«
»Mag sein. Wenn sie für den Geheimdienst der Allianz gearbeitet hat, wird man ihr dort ebenfalls einen Decknamen gegeben haben. Ich würde zu gern wissen, wie man sie dort genannt hat.«
Nachdem Drakon gegangen war, saß Iceni noch eine Weile da und ließ ihren Gedanken freien Lauf. So gut wie jedes akute Problem war weder schnell noch einfach zu lösen, und bei einigen sah es nicht danach aus, dass es für sie überhaupt eine Lösung gab. Dieses Problem schien von exakt dieser Art zu sein. Genauso im Falle Morgans. Ich kann Togo nicht auf sie ansetzen. Er könnte sie erledigen. Er ist so gut, dass er sogar mir Angst macht. Doch jegliche Verbindung zwischen mir und demjenigen, der Morgan tötet, würde eine weitere Zusammenarbeit mit Drakon unmöglich machen. Dafür ist er vom Thema Loyalität viel zu besessen.
Ich muss wieder Kontakt mit Malin aufnehmen. Er hat sich zuvor geweigert, Morgan zu töten, aber vielleicht ist er ja jetzt damit einverstanden. Warum sollte er den Tod dieser Frau nicht wollen? Wenn er sie noch immer nicht aus dem Weg räumen möchte, werde ich ihn wissen lassen, dass er gut beraten ist, wenn er sie zumindest davon abhält, irgendetwas gegen mich oder Captain Bradamont zu unternehmen. Wenn Morgan mich oder sie angreift, dann soll Malin klar sein, dass ich ihn dafür verantwortlich machen werde.
»Kommodor! Ein neues Kriegsschiff ist durch das Hypernet-Portal ins System gekommen!«
Marphissa war sofort wach. Aufgrund der langwierigen Pattsituation hatte sie nur wenig Schlaf bekommen. Tag für Tag standen sich die Flotte des Syndikats und die Midway-Flotte in einem Abstand von fünf Lichtminuten Auge in Auge gegenüber, während die Allianz-Flotte in einem Abstand von zwei Lichtstunden ihre Kreise zog und jede offensive Aktion durch CEO Boyens im Keim erstickte. Der CEO konnte nicht angreifen, aber er wollte sich auch nicht zurückziehen. Und sie verfügte wiederum nicht über so viel Feuerkraft, dass sie ihn hätte verjagen können.
Obwohl Eile geboten war, schaute Marphissa vor Verlassen ihres Quartiers im Gang erst nach rechts und links, ob ihr nicht jemand auflauerte. Executives und CEOs der Syndikatwelten gewöhnten sich diese Verhaltensweise an, und wenn nicht, dann fielen sie ehrgeizigen Untergebenen zum Opfer, die dafür sorgten, dass ein paar Planstellen neu besetzt werden mussten. Das war jetzt zwar im Wandel begriffen, aber angeblich hielten sich im Militär und in der Zivilbevölkerung immer noch Schlangen versteckt. Also war es nur ratsam, bis auf Weiteres an alten Gewohnheiten festzuhalten.
Der Weg schien frei zu sein, außerdem war ihre Handfeuerwaffe feuerbereit. Sie zog die Luke ganz auf, verließ ihr Quartier und rannte dann zur Brücke.
Dort hatte aufgeregte Anspannung jene Langeweile ersetzt, die ihnen allen zu schaffen gemacht hatte. »Ein neues Kriegsschiff? Was für eines?«, wollte Marphissa wissen, während sie sich in ihren Kommandosessel sinken ließ.
»Ein Schwerer Kreuzer, Kommodor«, erwiderte der Senior-Wachspezialist. »Umgebaut, um die Frachtkapazität zu erhöhen und die Lebenserhaltungssysteme leistungsfähiger zu machen. Sie haben die Flotte des Syndikats gesehen und die Flucht ergriffen.«
»Sie haben die Flucht ergriffen?« Marphissa betrachtete aufmerksam die Situation auf ihrem Display, dann erst konzentrierte sie sich auf die Bewegungen des neuen Schweren Kreuzers. »Haben wir ihn bereits identifiziert?«
»Die Identifizierung hätte in dem Moment erfolgen müssen, als wir die Ankunft des Kreuzers gesehen haben, Kommodor«, entgegnete der Wachspezialist. »Bislang wird nichts angezeigt.«
Noch einmal sah sie sich den Neuankömmling an, dessen erste Reaktion beim Anblick der Syndikatsschiffe die Flucht gewesen war. »Senden Sie ihm unsere Identifizierung. Ich werde ihm außerdem eine persönliche Nachricht übermitteln.«
Die Aktivitäten auf der Brücke kamen einen Moment lang zum Erliegen, da Kapitan Toirac eintraf und sich hastig auf den Platz neben Marphissa setzte. »Was ist passiert?«
Sie sah ihn kurz an und dachte darüber nach, dass man jeden anderen CEO, Sub-CEO und Executive öffentlich dafür hätte kielholen lassen, erst nach seiner Vorgesetzten auf die Brücke zu kommen.
»Schauen Sie auf Ihr Display«, antwortete Marphissa und wandte sich der Kamera zu, die ihre Nachricht aufzeichnen sollte. »An den unbekannten Kreuzer, der soeben durch das Hypernet-Portal ins Midway-Sternensystem gekommen ist. Hier spricht Kommodor Marphissa von der Midway-Flotte. Wir sind ein freies und unabhängiges Sternensystem, das nicht länger der Autorität der Syndikatwelten untersteht. Wenn Sie sich uns anschließen möchten, sind Sie hier willkommen. Wenn Sie auf dem Weg in ein anderes Sternensystem sind, nähern Sie sich unserer Flotte, damit wir Sie vor der anwesenden Syndikat-Flotte beschützen und zum Sprungpunkt Ihrer Wahl eskortieren können. Unsere Streitkräfte werden jedem beistehen, der nach Freiheit von der Tyrannei der Syndikatwelten strebt. Für das Volk. Marphissa, Ende.«
»Kommodor«, meldete sich der Senior-Wachspezialist hastig zu Wort.
»Ich sehe es.« Warnsymbole waren auf ihrem Display aufgetaucht, als Schiffe der Syndikat-Flotte auf einmal ihre Vektoren veränderten. »Sie beschleunigen und drehen bei. Alle Schweren Kreuzer und alle Jäger.«
»Nehmen sie Kurs auf den neuen Kreuzer?«, fragte Kapitan Toirac.
»Davon können wir ausgehen«, antwortete Marphissa. »Wir müssen herausfinden, ob …«
»Kommodor!«, fiel ihr der Wachspezialist ins Wort. »Wir haben den Kurs berechnet. Wenn die Schiffe des Syndikats mit Höchstgeschwindigkeit weiterfliegen, werden wir selbst bei maximaler Beschleunigung den neuen Kreuzer nicht vor ihnen erreichen können.«
Die Beförderung dieses Wachspezialisten war längst überfällig. »Kann der neue Kreuzer ihnen entkommen? Er sollte doch genügend Vorsprung haben.«
»Er ist mit einer großen Menge zusätzlicher Masse unterwegs, Kommodor. Das behindert ihn beim Beschleunigen. Wenn alles entsprechend der Berechnungen abläuft, werden die Syndikatsschiffe ihn einholen.«
Verdammt. Sie sah zu Kapitan Toirac, der mit starrem Blick auf sein Display schaute und dabei den Eindruck eines Mannes machte, der von der aktuellen Situation völlig überfordert war und sich alle erdenkliche Mühe gab, das niemanden merken zu lassen. Ich habe die Empfehlung ausgesprochen, ihm die Chance zu geben, dieses Schiff zu befehligen. Viele Junior-Executives haben sehr schnell Karriere gemacht, als wir die Reihen von den Syndikatsloyalisten gesäubert haben. Einige von ihnen sind damit gut zurechtgekommen. Aber mein alter Freund Toirac … Er war ein guter Executive. Aber war das womöglich das Höchstmaß an Verantwortung, das man ihm übertragen konnte? »Was meinen Sie, Kapitan?«, fragte sie.
»Wie? Ähm …« Wieder sah Toirac angestrengt auf sein Display. »Wir können sie nicht einholen … und wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Ich wüsste nicht, dass wir irgendetwas tun könnten.«
»Nichts zu tun ist auch eine Entscheidung, Kapitan«, sprach Marphissa mit leiser Stimme. »Das Ausbleiben einer Handlung ist auch eine Handlung. Ich werde nicht die Entscheidung treffen, dazusitzen und tatenlos zuzusehen, während dieses Schiff da draußen von den Streitkräften des Syndikats ausgelöscht wird.«
Toirac bekam einen roten Kopf. »Das könnte eine Falle sein.«
»Eine Falle? Der neue Kreuzer als ein Ablenkungsmanöver, um uns dazu zu veranlassen, ihn retten zu wollen?« Marphissa dachte darüber nach. »Es wäre möglich. Aber wenn es so ist, stellen sie sich ziemlich tollpatschig an. Sie hätten die Situation so arrangieren sollen, dass wir den Kreuzer noch rechtzeitig erreichen können, um ihm beizustehen. Und wenn es keine Falle ist? Was können wir unternehmen?«
Toirac saß da und zog nachdenklich die Brauen zusammen. »Eine Machtdemonstration? Etwas, um die Syndikatsschiffe abzulenken?«
»Ich wüsste nicht …« Marphissas Blick erfasste das Flaggschiff der Syndikatsstreitkräfte. Ein Schlachtschiff, das viel zu viel Feuerkraft besaß, als dass ihre Flotte einen Angriff hätte versuchen können. Nur ein verrückter Befehlshaber würde versuchen, dieses Schiff anzugreifen, während fast alle Eskortschiffe Jagd auf den Neuankömmling machten. »Rechnen Sie das durch«, befahl sie. »Ein Abfangkurs zum Flaggschiff der Syndikat-Flotte. Haben deren Schwere Kreuzer und Jäger Zeit genug, um den neuen Kreuzer anzugreifen und zu ihrem Schlachtschiff zurückzukehren, bevor wir es erreichen?«
Angefangen bei Toirac starrte jeder auf der Brücke sie für einen Sekundenbruchteil an, dann erwachte der eingeimpfte Sinn für Gehorsam, und sofort wurden in aller Eile Berechnungen durchgeführt.
»Nein«, verkündete Toirac vor allen anderen und lächelte, weil es ihm gelungen war, sein Geschick bei der Berechnung von Manövern zu beweisen. »Das heißt, wenn wir das versuchen würden, dann könnten sie nicht rechtzeitig wieder zurück sein, um uns davon abzuha …«
»Dann machen wir das.« Sie hatte das eigentliche Manöver bereits auf ihrem eigenen Display erstellt. »An alle Einheiten der Midway-Flotte: Hier spricht Kommodor Marphissa. Führen Sie das angehängte Manöver sofort durch. Ende.«
Vier Stunden später beobachtete Präsidentin Gwen Iceni auf dem bewohnten Planeten die Situation, die sich nahe dem Hypernet-Portal abspielte. Vier Stunden, die das Licht der Ereignisse benötigt hatte, um bei ihr einzutreffen. Durch die Ankunft eines unbekannten Kreuzers aufmerksam geworden sah sie nun mit an, wie eben dieser Kreuzer die Flucht ergriff und CEO Boyens einen Großteil seiner Flotte die Verfolgung aufnehmen ließ. Sie sah auf ihrem Display die Bestätigung, dass der neue Kreuzer seinen Verfolgern nicht würde entkommen können. Und sie wurde Zeuge, wie die Schiffe der Midway-Flotte auf neue Vektoren schwenkten und beschleunigten. Was hat Kommodor Marphissa vor? Sie wird doch nicht …
Ungläubig starrte Iceni auf die Anzeigen, als sich die Vektoren von Marphissas Kriegsschiffen einpendelten. Sie hatten geradewegs Kurs auf Boyens’ Schlachtschiff genommen — ein einzelnes Schlachtschiff, das der kompletten Midway-Flotte hoffnungslos überlegen war.
Das alles hatte sich schon vor vier Stunden abgespielt, was bedeutete, dass Marphissas gesamte Flotte — nein, meine gesamte Flotte — inzwischen vermutlich längst ausgelöscht war.