Zwei

»Madam Präsidentin«, sagte Kommodor Asima Marphissa in einem übertrieben formalen Tonfall, als würde sie eine Grabrede halten. »Sie müssen mir die Optionen nicht erklären, die uns zur Verfügung stehen.«

»Nein«, erwiderte Iceni und versuchte, weder ihren Worten noch ihrem Mienenspiel jene eisige Kälte anmerken zu lassen, die Besitz von ihrem Inneren genommen hatte, während sie darauf wartete, dass Marphissa entweder offenen Verrat an ihr beging oder einen hohen Preis für ihre weitere Loyalität forderte. Sie hatte das Kommandozentrum nicht verlassen, und sie wusste, dass Drakon nicht weit entfernt stand und sie beobachtete, auch wenn er von der Unterhaltung selbst nichts mitbekam.

Da sich Marphissas Flaggschiff (vormals der Schwere Kreuzer C-448 der Syndikatwelten, nun umgetauft in Manticore) im Orbit um den Planeten aufhielt, gab es bei der Übermittlung keine spürbare Verzögerung. Dennoch hielt Marphissa inne, als sei sie sich nicht sicher, ob sie weiterreden sollte.

Der erste massive Verrat ist immer der schwerste, dachte Iceni verbittert. Keine Sorge, Mädchen, das fällt dir mit der Zeit immer leichter. Doch die nächsten Worte der Kommodor waren ganz andere als die, die Iceni erwartet hatte.

»Ich bitte um Erlaubnis, mit der Flotte meine Position zu verlassen, damit wir uns den beiden Schweren Kreuzern bei der Einrichtung der mobilen Streitkräfte im Orbit um den Gasriesen anschließen können.«

»Welchem Zweck soll das dienen?«, wollte Iceni wissen, die sich nun bemühen musste, ihr Erstaunen zu überspielen. Wenn Marphissa mit ihren Schiffen Kurs auf den Gasriesen nahm, würden die sich deutlich näher an den Enigmas, aber nur unwesentlich näher an Boyens Flotte befinden.

»Um unser Sternensystem zu beschützen«, erklärte Marphissa. »Um das Volk zu verteidigen.«

Iceni schüttelte den Kopf verständnislos und ablehnend zugleich. Diese Frau ist im Syndikat-System in den Dienstgrad einer Executive aufgestiegen. Sie muss gelernt haben, wie man geschickt verhandelt, aber davon merke ich nichts. »Lassen Sie es mich einfacher formulieren, Kommodor. Ich frage Sie noch mal: Was wollen Sie?«

»Unsere Streitkräfte bündeln, Madam Präsidentin.«

»Selbst gebündelt bleiben Ihre Streitkräfte so unterlegen, dass Sie es mit keiner der beiden Bedrohungen in diesem Sternensystem aufnehmen können.« Wenn sie sich die beiden anderen Schweren Kreuzer aneignen will, muss sie ihnen nur befehlen, sich ihr auf dem Weg zu einem der Sprungpunkte anzuschließen. Warum stellt sie nicht einfach ihre Forderungen?

Aber Kommodor Marphissa nickte nur zustimmend. »Ja, Madam Präsidentin. Das ist korrekt. Wir können nicht darauf hoffen, eine der beiden Streitkräfte zu schlagen, weder die Enigmas noch CEO Boyens’ Flotte. Wenn wir jedoch unsere Schiffe zusammenschließen, dann stehen meine Chancen besser, ihnen einige schwere Treffer zuzufügen, bevor meine Kriegsschiffe zerstört werden. Wir werden kämpfen, so lange wir das können.«

Nun zögerte Iceni. Diese unerwartete Wendung hatte sie aus dem Konzept gebracht. Keine Forderungen, kein Todeskuss? Dafür das Angebot sich für die anderen zu opfern? Ist das nicht nur Gerede? Glaubst du wirklich an das, was du da sagst? »Kommodor«, entgegnete Iceni fest entschlossen, alles auszusprechen, was hier eine Rolle spielte. »Ihnen ist doch bewusst, dass ich Sie zu einem solchen Vorgehen nicht zwingen kann. Ihnen sind sicher auch die anderen denkbaren Optionen bewusst.«

Wieder nickte Marphissa. »Selbstverständlich sind mir die bewusst, Madam Präsidentin.«

»Und warum wollen Sie bleiben und kämpfen, Kommodor?«, hakte sie nach.

»Das tue ich für das Volk, Madam Präsidentin.«

»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte Iceni, die davon überzeugt war, dass sie nur den Rest von Marphissas Antwort gehört hatte.

»Ich bleibe zusammen mit dieser Flotte hier, um für das Volk zu kämpfen, Madam Präsidentin.«

Auch jetzt brauchte Iceni einige Zeit, ehe sie antworten konnte, da sie erst nach den richtigen Worten suchen musste. »Für das Volk? Sie wollen einen aussichtslosen Kampf für ein Volk austragen, das so oder so untergehen wird? Für ein Ideal?«

»Früher oder später ereilt der Tod jeden von uns, Madam Präsidentin. Ich möchte lieber für ein Ideal sterben als auf der Jagd nach irgendeinem Profit. Und ich möchte nicht mit dem Wissen leben, dass ich nicht alles gegeben habe, um diejenigen zu beschützen, die sich nicht selbst beschützen können. Ich weiß, Sie fragen mich das, weil Sie Gewissheit haben wollen, dass ich so wie Sie an die Sache glaube und dass ich auch bereit bin, für die zu sterben, die auf mich bauen.«

Diesmal konnte Iceni den Schock kaum noch überspielen, der sie erfasst hatte. Sie will für das Volk sterben? Denkt sie wirklich, ich bin so naiv?

Zugegeben, ich habe Togos Anraten zur Flucht sofort abgewiesen, aber doch nur, weil …

Warum zum Teufel habe ich das getan?

Um neben Artur Drakon nicht schwach zu wirken. Ja, das muss der Grund gewesen sein.

Und nun musste sie sich Gedanken darüber machen, wie sie im Vergleich zu Kommodor Marphissa dastand, die als eine der Wenigen in diesem Sternensystem eine Chance haben könnte, dem Konflikt zu entfliehen. Stattdessen beschloss sie, zu bleiben und in einen hoffnungslosen Kampf zu ziehen.

Für das Volk.

Marphissas Arbeiter wussten ebenfalls, welche Wege ihr zur Verfügung standen — jene Besatzungen, die auf Icenis Befehl zu Spezialisten ernannt worden waren, damit jeder von ihnen seine Arbeit voller Stolz erledigte. Diese Worte würden als Inspiration für die Besatzungen dabei helfen, den Kampf auch dann noch fortzuführen, wenn es längst keine Hoffnung mehr gab. Aber auch wenn Marphissas Einstellung in diesem Extremfall von Nutzen war, würde sie zukünftig Probleme mit sich bringen.

Falls es für sie alle überhaupt noch eine Zukunft geben sollte, was momentan sehr unwahrscheinlich war. »Also gut, Kommodor. Bringen Sie Ihre Flotte zum Gasriesen, schließen Sie sich mit der Flotte zusammen und verteidigen Sie dieses Sternensystem.« Damit hatte sie das Todesurteil für diese Kriegsschiffe und deren Besatzungen gesprochen und genau jenen Stich verspürt, den sie früh zu ignorieren gelernt hatte, wenn sie die Hinrichtung eines Individuums anordnete.

»Jawohl, Madam Präsidentin.« Die Kommodor hielt kurz inne. »Eine Frage noch, Madam Präsidentin. Die gesamte Flotte? Ich kann einen Jäger für den Fall zurücklassen, dass er noch benötigt wird, nachdem die übrige Flotte zerstört worden ist.«

Für den Fall, dass Iceni den Jäger brauchte, um von diesem Planeten und aus dem Sternensystem zu entkommen.

Willst du, dass ich »für das Volk« sterbe, oder nicht, du junge Närrin?, fragte Iceni stumm an Marphissas Bild gerichtet. Aber vor die letzte Wahl gestellt war ihr die Antwort längst klar. Sie würde bleiben. Und wenn sie alle Kriegsschiffe wegschickte und sich damit um ihre einzige Fluchtmöglichkeit brachte, würde jeder sehen, dass sie zu ihrem Wort stand. Vielleicht habe ich ja den Verstand verloren. Aber ich habe damit begonnen, hier etwas aufzubauen, verdammt! Vielleicht sind mir dabei Fehler unterlaufen, und vielleicht ist es ja auch dumm von mir, so was zu tun, aber es ist etwas, das ich geschaffen habe. Das werde ich jetzt weder den Enigmas noch Boyens überlassen. Und ich werde es auch nicht Drakon überlassen. Es ist meins. Und dazu gehören auch meine verrückte Kommodor und ihre Leute, die in eine Schlacht ziehen, um die Ideale tatsächlich zu verteidigen, die die Syndikatwelten immer gepredigt, gleichzeitig aber um jeden Preis auszurotten versucht hatten. Sie ziehen in eine Schlacht, um auf meinen Befehl hin und in meinem Namen zu sterben, weil sie glauben, dass ich diese Ideale ebenfalls akzeptiere. Bin ich zu stolz dafür, oder beschämt es mich? Meine Ausbildung und all meine Erfahrungen mit dem Syndikat sagen, dass nur ein Narr solche Gefühle empfinden würde.

Tja, dann bin ich wohl ein Narr.

Iceni schüttelte den Kopf. »Nein. Alle Kriegsschiffe werden Sie begleiten. General Drakon und ich halten hier die Stellung.«

»Wir wussten, Sie würden das sagen«, erwiderte Marphissa lächelnd. Sie hob die rechte Faust und legte sie auf die linke Brust, doch dabei verlieh sie dieser routinemäßigen Geste etwas fast Feierliches. »Für das Volk. Marphissa, Ende.«

Das hast du gewusst? Wie willst du das gewusst haben, wenn es mir selbst bis gerade eben nicht klar gewesen ist? Während ihres langen und unappetitlichen Aufstiegs zur CEO hatte fast jeder von Icenis Mentoren sie vor Untergebenen gewarnt, die sich in zu weitreichenden Annahmen ergingen oder die ein unerklärliches Verhalten erkennen ließen.

Aber es war geschehen. Die Entscheidung war gefallen. Und Marphissa hatte in der Vergangenheit hervorragende Dienste geleistet. Sie würde auch in den kommenden Stunden, die ihr und ihren Kriegsschiffen noch verblieben, für die Flotte von unschätzbarem Wert sein.

Iceni schaltete ihre Privatsphäre ab und drehte sich zu General Drakon um. »Ich habe Kommodor Marphissa angewiesen, mit allen Kriegsschiffen den Orbit zu verlassen und sich mit den Schweren Kreuzern nahe dem Gasriesen zusammenzuschließen. Die vereinte Flotte wird dann …« Iceni schluckte und wunderte sich, dass ihre Kehle mit einem Mal wie zugeschnürt war. »… sie wird sich dann dem Feind stellen und bis zu ihrer Vernichtung kämpfen«, führte sie den Satz zu Ende.

Langes Schweigen folgte, dann fragte Colonel Malin in respektvollem Ton: »Alle Kriegsschiffe, Madam Präsidentin?«

»Ja, das sagte ich doch gerade«, herrschte sie den Mann an. Was sie an der Frage so ärgerte, wusste sie selbst nicht so recht. Sie tat, als würde sie das leise Raunen im Kommandozentrum ebenso wenig bemerken wie die erstaunten und dankbaren Blicke der Arbeiter. Seid ihr zufrieden, weil ich euch nicht allein dem Tod überlasse? Kann man eure Loyalität so einfach kaufen?

Drakon kam auf sie zu. Er bewegte sich wieder auf diese selbstsichere Art, die Iceni so gut gefiel, auch wenn ihr das bislang gar nicht bewusst gewesen war. Sie mochte es, wie er zielstrebig und unbeirrt einen Fuß vor den anderen setzte. Er war wie ein unverrückbarer Fels in einer Welt, in der nichts länger gewiss war. »Gut«, sagte er, als würden sich Icenis Worte auf eine zuvor geäußerte Vereinbarung beziehen. »Dann sollten wir jetzt über unsere Pläne reden, wie wir diesen Planeten verteidigen können.«

»Auf jeden Fall«, entgegnete sie. Ein Mann, der nach außen hin meine Entscheidungen ohne zu zögern unterstützt und der dennoch seine eigene Autorität wahrt. Wärst du doch bloß kein CEO, Artur Drakon. Einen Mann wie dich könnte ich lieben, wenn ich wüsste, ich kann ihm vertrauen.

Ihr Blick wanderte kurz zu Colonel Malin, um nach Hinweisen auf einen warnenden Ausdruck in seinen Augen oder in seiner Haltung zu suchen. Drakon hatte keine Ahnung, dass Malin sie jahrelang mit Insiderinformationen versorgt hatte. Hätte Drakon vorgehabt sie zu hintergehen, dann wäre Malin als einer seiner vertrauenswürdigsten Adjutanten von ihm eingeweiht worden. Aber Malin gab ihr keinerlei warnenden Hinweis, als sie neben Drakon zu einem der gesicherten Konferenzräume ging, in die man vom Kommandozentrum aus gelangen konnte.

»Was genau hat Ihre Kommodor gesagt?«, wollte Drakon wissen, als sich die Tür hinter ihnen schloss und die Sicherheitsleuchten auf Grün umschlugen, um anzuzeigen, dass alle Schutzmechanismen des Raums aktiviert waren.

Iceni sagte es ihm.

»Verdammt«, murmelte er. »Sie ist tatsächlich eine Idealistin. Ich hätte nicht gedacht, dass es so was in den Syndikatwelten oder irgendwo anders noch gibt.«

»Wahrscheinlich wird ihre Art in diesem Sternensystem nicht mehr lange existieren. Sie macht mir Sorgen«, räumte Iceni ein.

»Das kann ich verstehen. Aber bei einem solchen Kampf brauchen Sie jemanden von ihrer Art.«

»Und wenn der Kampf vorüber ist?«, fragte sie.

»Das stärkste Pferd ist am schwierigsten zu bändigen«, antwortete Drakon.

»Was soll denn das bitte bedeuten?«

»Es bedeutet, dass die besten Untergebenen geführt, nicht gegängelt werden müssen. Normalerweise zahlt sich das dann aber in einer Krisensituation aus.« Er sah sich um und bewegte die Hände, als suche er für sie nach irgendeiner Beschäftigung. »Meine Truppen graben sich momentan weiter ein. Diese Aktivität spielt sich vor allem in den Großstädten ab, was einige Bürger beunruhigen könnte. Aber wenn es zum Kampf auf Leben und Tod kommt, können meine Soldaten in einer besiedelten Umgebung länger durchhalten, selbst wenn die Enigmas alles in Trümmer schießen.«

Iceni stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch in der Mitte des Raums auf und starrte die Oberfläche aus synthetischer Koralle an, während sie vor dem geistigen Auge die zahlreichen Inseln sah, die über ihre Welt verteilt lagen. »Die Aliens sind viereinhalb Lichtstunden entfernt. Wenn ihre Schiffe genauso arbeiten wie unsere, dann bleiben uns noch drei bis vier Tage, bis sie hier eintreffen, natürlich abhängig davon, ob sie ihren momentanen Kurs beibehalten. Wäre es sinnvoll, die Bevölkerung zu evakuieren und sie auf die Inseln zu verteilen?«

»Hätten sie da auch zu trinken und zu essen?«

»Aus dem Ozean. Die Fischerboote könnten mit ihrem Fang statt zu den Hafenstädten zu den Inseln fahren. Außerdem verfügen wir über etliche mobile Entsalzungsanlagen.«

Drakon zuckte mit den Schultern und schaute unzufrieden drein. »Sie müssen das entscheiden, aber die Bürger draußen auf den Inseln? Ich weiß nicht, aber wenn die Enigmas mit ihren Schiffen zu nahe kommen, werden sie die Menschen bemerken.«

»Und dann wird jede Insel zum Ziel für ein Bombardement«, fügte Iceni hinzu. »Und auf den Inseln stellen die Leute ein konzentrierteres Ziel dar.« Sie wusste, wie das ablief. Im Krieg gegen die Allianz hatte sie an einigen planetaren Bombardements teilgenommen. Um die Erinnerungen daran machte sie stets einen großen Bogen, und gelegentlich litt sie immer noch an Albträumen, auch wenn jede Behandlungsmethode der modernen Wissenschaft zum Einsatz gekommen war. Die Therapien hätten dem Patienten — ihr — helfen sollen mit dem zurechtzukommen, was er gesehen — oder getan — hatte. Doch … »Die Landfläche der Inseln genügt nicht, um die Menschen weiträumig zu verteilen.«

»Richtig«, stimmte Drakon ihr zu. »Der Platz dort reicht nicht aus.«

»Und jedes großes Projektil, das im Wasser landet, löst Flutwellen aus, die die flacheren Inseln überspülen werden. Ich werde tun, was ich kann, um die Bürger zu beruhigen, und ich werde eine begrenzte Evakuierung in die Wege leiten. Vielleicht werden die Enigmas keine zivilen Familien abschlachten, wenn die unbewaffnet sind und erkennbar keine Bedrohung darstellen.« Sie wusste, das war nur Wunschdenken. Drakon versuchte nicht so ganz erfolgreich, seine Skepsis zu überspielen, aber das konnte sie ihm auch nicht verübeln.

»Wir wissen nicht, was aus den Bürgern in den Sternensystemen geworden ist, die von der Enigma-Rasse übernommen wurden«, gab er zu bedenken.

»Wir wissen allerdings, dass wir danach nie wieder etwas von ihnen gehört haben«, gab Iceni zurück und atmete tief durch. Sie straffte die Schultern und sah Drakon in die Augen. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht, und von Zeit zu Zeit Mitteilungen an die Enigmas und an Boyens schicken. Wenn jemand reagiert, werde ich mit ihm verhandeln.«

»Und ich werde dafür sorgen, dass meine Truppen bereit sind, wenn die Enigmas hier eintreffen.« Er salutierte, doch nicht ernsthaft. »Haben Sie schon mal diese alten Dramavideos gesehen? In denen es um dieses antike Reich mit den Arenen ging, in denen bis zum Tod gekämpft wird?«

»Ja, die Gladiatoren. Die Todgeweihten grüßen dich.« Sie erwiderte den Salut und lächelte zynisch. »Werden Sie mich hintergehen, Artur?«

Er sah sie an, blieb aber ernst. »Nein. Glauben Sie mir das?«

Das möchte ich gern. »Ich glaube, wir beide haben keine Chance, das hier zu überleben, ganz gleich was wir auch unternehmen. Es ist wirklich ärgerlich. Ich hatte immer darauf gehofft, selbst über meinen Tod zu bestimmen.«

Drakon sah finster zu Boden, dann wandte er sich ihr wieder zu. »Es wird kein Messerstich in den Rücken sein. Nicht von mir.«

Er klang so, als meinte er das ernst.

»Was zum Teufel machen die da?« Iceni war so frustriert, dass sie laut aussprach, was ihr durch den Kopf ging. »Zwölf Stunden sind inzwischen vergangen, und die hocken einfach weiter da rum.«

Die einzige andere Person im Büro abseits des Kommandozentrums war Mehmet Togo, der unschlüssig zu sein schien, was er darauf erwidern sollte.

Iceni betrachtete die deutlich kleinere Version des über dem Konferenztisch schwebenden Sternendisplays. »Ich weiß, was Boyens macht. Er hat mir nicht geantwortet, und seine Flotte rührt sich nicht, weil er das Risiko für sich selbst möglichst klein halten will. Er wird gar nichts tun und allenfalls vorgeben, dass er sich bereithält, um zur Rettung der Menschen in diesem System zu eilen, während er in Wahrheit alle Vorbereitungen trifft, um zum Hypernet-Portal zu rasen und zu entkommen.«

»Wenn er flieht«, warf Togo ohne eine Gefühlsregung ein, »dann wird er sich vor seinen Vorgesetzen auf Prime aber rechtfertigen müssen, warum er es nicht geschafft hat, dieses Sternensystem vor den Enigmas zu schützen.«

»Ganz sicher denkt er sich in diesem Moment eine gute Ausrede aus«, sagte Iceni voller Verachtung. »Prime wird sich nicht damit zufriedengeben, dass er dem Gegner hoffnungslos unterlegen war. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass er behaupten wird, alles nur Erdenkliche versucht zu haben. Man wird nicht übersehen können, dass er beim Kampf gegen uns und die Enigmas nicht einen einzigen Kratzer abgekriegt hat. Aber seine Ausrede muss ja nicht der Wahrheit entsprechen, sie muss nur einfach gut klingen. Nun, ich begreife Boyens’ Verhalten, aber ich weiß nicht, worauf die Enigmas warten.«

Wieder warf sie dem Display einen giftigen Blick zu, als könnte sie es einschüchtern und ihm so eine Antwort entlocken, die Togo ihr nicht liefern konnte. Die Enigmas hatten sich vom Sprungpunkt nach Pele seit ihrer Ankunft nur dreißig Lichtminuten ins System hineinbewegt. Der Angriff der Aliens war dort abgebremst worden, sodass alle zweihundertzweiundzwanzig Schiffe sich in Relation zum Sprungpunkt kein Stück mehr von der Stelle gerührt hatten.

»Welchen Grund könnte es für sie geben, einfach da herumzuhocken und nichts zu tun?«, wollte Iceni wissen. »Wir sind ihnen ausgeliefert, und das müssen sie auch wissen.«

Sie sprang auf und verließ das Büro, als wollte sie verlangen, dass irgendjemand im Kommandozentrum eine Erklärung für das Unerklärliche lieferte.

Als Erstes sah sie General Drakon, der in einer kleinen Gruppe bestehend aus ihm selbst, Colonel Malin und Colonel Morgan dastand und eine gedämpfte Unterhaltung führte. Das darf ich nicht vergessen, sagte sie sich und überspielte hastig ihre erste Reaktion auf den Anblick von Morgan. Wenn wir das hier überleben, werde ich mich ausführlich mit Drakon unterhalten, warum dieses mordlüsterne Miststück eigentlich immer noch für ihn arbeitet. Loyalität gegenüber Untergebenen ist ja schön und gut, und Togo hat mir genug darüber berichtet, wie fähig und todbringend Morgan ist. Mir ist schon klar, wie wichtig sie für Drakon ist. Aber meiner Meinung nach bewegt sie sich haarscharf an der Grenze zur Psychopathin. Mir ist egal, ob sie so geworden ist, weil das Syndikat irgendwas mit ihr gemacht hat, um sie auf diese Mission ins Enigma-Gebiet zu schicken. Das ist weder meine Schuld noch mein Problem.

Und sie hat mit diesem Idioten Drakon geschlafen, nur weil er mehr getrunken hatte, als er vertragen kann. Ich bin davon überzeugt, dass sie ganz genau gewusst hat, was sie da tat. Und welchen Sinn sollte das Ganze haben? Durch dieses Erlebnis war Drakon nur in seiner Überzeugung bestärkt worden, so etwas bloß nie wieder zu machen. Was also hatte Morgan erreichen wollen?

Und warum stört mich diese Erkenntnis so sehr, dass Drakon mit ihr geschlafen hat? Weil es beweist, dass Drakon tief in seinem Inneren auch nur ein Idiot ist? Oder weil …?

Nein, ich weiß es. Wenn man Geschäft mit Vergnügen verbindet, ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Colonel Malin ließ Iceni nach wie vor keine dezente Warnung zukommen, dass ihr Gefahr drohte. Auch hatte er den ganzen letzten Tag über von keiner der komplexeren Methoden Gebrauch gemacht, mit denen er ihr sonst Informationen zukommen ließ. Hatte er ein doppeltes Spiel getrieben? Hatte er mit Drakons Wissen Informationen weitergegeben, damit er sie in einer Situation wie dieser im Ungewissen lassen konnte und sie sich in Selbstgefälligkeit ergehen würde? Oder hatte Malin ganz eigene Prioritäten? Was für ein Spiel treiben Sie, Colonel Malin?

Sie wusste nie, ob ihre Bedenken berechtigt oder nur ein Ergebnis des Systems waren, in dem sie aufgewachsen und später befördert worden war. Paranoia war nicht fehl am Platz, wenn allzu viele Leute einem fast ständig nach dem Leben oder zumindest dem Posten trachteten. Aber Paranoia lähmte einen auch, was nach Icenis Einschätzung der andere und durchaus gewollte Zweck war. Ein Umfeld, das auf gegenseitigem Misstrauen basierte, hatte erfolgreich verhindern können, dass sich irgendwelche Gruppen bildeten, die sich geschlossen gegen die Führung durch das Syndikat auflehnten.

Drakon sah zu Iceni, als sie sich der Gruppe näherte. Er lächelte sie an, wurde jedoch sofort wieder ernst.

Konnte der Mann sie tatsächlich gut leiden? Das war ein faszinierender Gedanke.

»Die Enigmas rühren sich nicht von der Stelle«, sagte sie ohne Vorrede und ignorierte die Anwesenheit von Colonel Malin und Colonel Morgan, ganz so, wie Drakon keine Notiz von Togo nahm, der links hinter ihr stand. Togo hatte seine Position ein wenig geändert, als sie beide stehen geblieben waren, weil er sicher sein wollte, dass er Morgan ständig im Blick hatte für den Fall, dass sie irgendeine verdächtige Bewegung vollführte.

Drakon reagierte mit einem Nicken auf Icenis Feststellung und ließ die gleiche Unzufriedenheit erkennen, die ihr selbst auch zu schaffen machte. »Ist mir schon aufgefallen. Was glauben Sie, wofür das gut sein soll?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ich kann nur eine Einschätzung liefern, aber die basiert darauf, was man in einer solchen Situation von Menschen erwarten würde«, sagte Drakon und zeigte verärgert Richtung Hauptdisplay, auf dem die weit entfernten Enigma-Schiffe deutlich zu sehen waren. »Wäre das eine menschliche Streitmacht, hätte ich nur eine Erklärung parat, nämlich die, dass sie den Befehl haben, auf irgendjemanden oder irgendetwas zu warten.«

»Zu warten? Auf was denn?«

»Ich weiß nicht. Aber wenn die Typen da Menschen wären, würde ich vermuten, ihre Anweisungen lauten, nicht anzugreifen, bis ein bestimmter Zeitpunkt eintritt oder bis ein CEO eingetroffen ist, der den Sieg für sich verbuchen will. Oder sie warten auf Verstärkung, die sie eigentlich nicht brauchen.«

Iceni zog die Stirn in Falten und musterte das Display. »Diese Gründe würden einen Sinn ergeben — wenn die Enigmas menschlich wären.«

»Dass sie das nicht sind, weiß ich sehr wohl«, konterte Drakon. »Aber vielleicht sind sie uns ja in dieser Hinsicht ähnlich.«

»Es wäre schön zu wissen, dass wir nicht die einzige intelligente Spezies sind, die zu so einem sinnlosen Verhalten fähig ist. Aber selbst wenn sie einfach nur dumm sind, können wir weiterhin nichts unternehmen«, sagte Iceni.

»Wir könnten angreifen«, erwiderte Drakon und grinste dabei ironisch.

»Wenn sie darauf warten, sollten sie aber besser sehr viel Geduld haben. Kommodor Marphissa ist immer noch auf dem Weg zum Gasriesen.«

»Wohin wird sie sich begeben, wenn sie die beiden Kreuzer von da abgeholt hat?«

»Ich habe ihr befohlen, die weitere Entwicklung abzuwarten und darauf zu achten, dass irgendwer anders etwas unternimmt, damit wir wissen, auf wen wir reagieren müssen.«

»Guter Gedanke. Was geschieht mit dem Schlachtschiff?«

Diesmal musste Iceni mit den Schultern zucken. »Das bleibt, wo es ist. Bis auf weiteres jedenfalls.«

»Warum schaffen wir es nicht aus dem Sternensystem? Es hat für uns keinen militärischen Nutzen.«

Sie seufzte müde. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal geschlafen hatte? »Dieses Schlachtschiff ist für jeden, der es sieht, die stärkste Verteidigungskraft in diesem Sternensystem. Selbst für diejenigen, die über Scanner verfügen, von denen sie erfahren können, dass die Waffen nicht funktionstüchtig sind, wirkt es trotz allem wie ein gewaltiges Kriegsschiff. Was wird passieren, wenn alle zusehen, wie wir es von hier wegschaffen?«

Colonel Morgan warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als sei sie überrascht, dass Iceni noch wach genug war, um sich solche Gedanken über Konsequenzen zu machen. Diese hochtrabende Miene war ein Grund mehr, Morgan umbringen zu lassen, auch wenn sie mit Drakon vereinbart hatte, Attentate nur im beiderseitigen Einvernehmen über die Zielperson auszuführen. Aber ein Anschlag auf eine Assistentin, die Drakon so nahestand, würde zu massiven Problemen führen, selbst wenn das Attentat erfolgreich ausgeführt würde. Und nach allem, was sie bislang über Morgan gehört hatte, würde die sich nicht so leicht eliminieren lassen, selbst dann nicht, wenn Iceni Togo auf sie ansetzte.

»Also werden wir auch warten«, sagte Drakon und klang darüber so unglücklich, wie sie selbst sich fühlte. »Eine Sache an den Enigmas wundert mich ja sehr.«

»Wenn Sie vorhaben mich zu fragen, will ich hoffen, dass Sie nicht von mir erwarten, mehr zu wissen als jeder andere hier.«

»Es ist eine Frage, die die mobilen Streitkräfte betrifft«, sagte Drakon und benutzte dabei die alte Syndikatsbezeichnung für Kriegsschiffe, während er auf die Darstellungen der Enigma-Invasoren deutete. Die fremden Schiffe erinnerten in ihrer Form an Schildkröten; gewölbte Panzer bildeten abgeflachte Hüllen. Die dunkle Enigma-Panzerung glänzte matt im Schein des weit entfernten Sterns von Midway. »Mir ist ja klar, wieso der Panzer so geschwungen ist. Da wird jeder Treffer viel besser abgelenkt als bei einer geraden Oberfläche. Außerdem wird das Material viel stärker belastet, wenn man eine Konstruktion mit Ecken und Kanten entwirft.«

Seine Hand bewegte sich zur Seite, um auf die Umrisse der menschlichen Kriegsschiffe zu zeigen, die sich an einer anderen Stelle innerhalb des Displays befanden. Es waren an Haifische erinnernde Hüllen, von den schlanken Jägern und den Leichten Kreuzern bis hin zu den fülligeren Schweren Kreuzern. Nahe dem Gasriesen war das Schlachtschiff Midway im Raumdock festgemacht, und das Schiff wirkte wie eine noch größere, plumpere Version der Schweren Kreuzer. »Wieso verfügen die Enigmas nicht über Schlachtschiffe?«, redete Drakon weiter. »Ihre größten Schiffe überragen unsere Schweren Kreuzer nur um ein kleines bisschen.«

»Dafür sind deren Schiffe auch viel besser zu manövrieren als unsere eigenen«, hielt Iceni dagegen. »Wegen der Panzerung, der Schildgeneratoren und der Waffen, deren Gewicht ebenfalls zu Buche schlägt, sind unsere Schlachtschiffe am schwerfälligsten. Sie beschleunigen nur langsam und brauchen lange, um abzubremsen. Außerdem müssen sie einen sehr weiten Radius fliegen, wenn sie eine Vektorenänderung vornehmen sollen. Ein so träges Schiff dürfte nicht mit der Art vereinbar sein, auf die die Enigmas kämpfen.«

»Aber was ist mit Schlachtkreuzern?«, wollte Drakon wissen. »Sind die nicht ziemlich gut zu manövrieren?«

»Ja. Sie sind sehr flink, weil sie den Antrieb eines Schlachtschiffs haben, aber nicht annähernd so massiv gepanzert sind und zudem deutlich weniger Waffen an Bord haben. Auch die Schildstärke fällt bei ihnen geringer aus.« Iceni schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Enigma-Schiffe. »Ich weiß einfach nicht, warum die Enigmas keinen Schiffstyp besitzen, der auch nur annähernd so groß ist wie unsere Schlachtkreuzer. Vielleicht hat Black Jack ja die Antwort darauf gefunden.«

Drakons Gesicht wirkte mit einem Mal wie versteinert. »Sie meinen, während seine Flotte in Stücke geschossen wurde, nachdem die auf Seiten der Enigmas für so viel Wirbel gesorgt hat, dass die sich zu einem erneuten Angriff auf uns entschieden haben?«

Sie stellte fest, dass sie den Allianz-Admiral verteidigen wollte, auch wenn so etwas vor nicht einmal einem Jahr völlig undenkbar gewesen wäre. »Wir wissen nicht, ob die Enigmas nicht so oder so irgendwann wieder hergekommen wären. Und wir wissen auch nicht, ob Black Jacks Flotte tatsächlich zerstört wurde.«

Malin stutzte, als er über seine Komm-Verbindung eine Nachricht erhielt, dann wandte er sich zu Drakon um. »General, einer unserer Satelliten ist mit dem Rand eines eng gebündelten Komm-Strahls in Berührung gekommen, der von diesem Planeten kommend auf die Syndikat-Flotte gerichtet war.«

Sie sollte so tun, als würde sie ihren Verdacht in andere Richtungen lenken, aber Iceni konnte nicht anders. Ihre Augen richteten sich auf Drakon. Die Blicke trafen sich, und jeder schien den anderen vorwurfsvoll zu fragen: Haben Sie die Nachricht gesendet?

Der General schüttelte den Kopf als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. »Es müssen noch immer Agenten der Schlangen hier auf dem Planeten aktiv sein«, sagte er.

»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Die Übertragung ist von keiner mir bekannten Quelle aus erfolgt. Konnten wir die Herkunft des Strahls lokalisieren?«

»Nein, Madam Präsidentin«, antwortete Malin. »Der Kontakt war zu kurz, und dann wurde der Strahl auch schon abgeschaltet. Es war eine komprimierte Übertragung, was bedeutet, dass in der kurzen Zeit, in der er aktiv war, eine ganze Enzyklopädie an Informationen übertragen worden sein kann.«

»Wir sollten dennoch in der Lage sein, einen Hinweis zu finden, woher der Strahl kam«, beharrte Morgan.

Malin sah sie ausdruckslos an. »Die sofort durchgeführte Analyse konnte bestimmen, dass der Strahl von dieser Hälfte der Hemisphäre des Planeten gesendet wurde.«

»Und über dieses Maß an Inkompetenz freuen Sie sich vermutlich auch noch, wie?«, fuhr Morgan ihn energisch an.

»Ich bin bereit, die Grenzen zu akzeptieren, die in der realen Welt existieren, aber ich habe nicht die Absicht, mich mit diesem Maß an Analyse zufriedenzugeben«, konterte Malin und behielt den emotionslosen Gesichtsausdruck bei, da er zweifellos wusste, dass er Morgan damit nur noch mehr ärgern konnte.

Eine winzige Geste von Drakon genügte, und die beiden verstummten sofort, auch wenn Morgan unübersehbar für eine weitere verbale Salve bereit gewesen war. »Ich will, dass Sie beide die Daten überprüfen, die der Satellit aufgefangen hat. Machen Sie das unabhängig voneinander, und finden Sie heraus, ob einer von Ihnen die Herkunft dieses Strahls präziser bestimmen kann.«

Beide Offiziere salutierten, Malin kehrte an sein Terminal zurück, während Morgan mit eiligen Schritten das Kommandozentrum verließ.

»Was ist?«, fragte Drakon, als ihm bewusst wurde, dass Iceni ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte.

»Ich habe zugesehen, wie Sie die Lage entschärft haben«, sagte sie. »Ich muss zugeben, mich wundert, warum Sie die beiden als Ihre Assistenten behalten, auch wenn sie fraglos individuelle Fähigkeiten besitzen. Aber dann sehe ich, wie Sie aus der Rivalität zwischen den beiden Nutzen ziehen. Wenn jemand die Position enger eingrenzen kann, von der aus das Signal gesendet wurde, dann einer von diesen beiden, weil sie sehr gut in dem sind, was sie tun. Und dann will keiner von beiden, dass der andere erfolgreich ist und man selbst das Nachsehen hat.«

»Das ist im Wesentlichen der Hintergedanke dabei«, bestätigte Drakon. »Sie unterstützen außerdem mich und sich gegenseitig auch noch. Wenn mir in einem Plan ein Denkfehler unterläuft, wird einer von beiden ihn entdecken und mich unverzüglich darauf hinweisen. Wenn einer von beiden etwas übersieht, dann fällt es dem anderen auf. Das Ganze bringt zwar so manches Drama mit sich, aber beide wissen, wann Schluss ist.«

»Wirklich?«, hakte sie nach.

Vielleicht lag es an ihrem Tonfall, der es offensichtlich machte, dass sie sich auf Morgan bezog, denn Drakon errötete ein wenig. »Niemand ist vollkommen«, murmelte er, dann befasste er sich intensiv mit dem Display.

Iceni fragte sich, ob er damit sie, sich selbst oder Morgan meinte. Waren Drakons Worte eine indirekte Entschuldigung, Kritik an ihr oder eine trotzige Verteidigung seines eigenen Verhaltens?

Warum kümmert mich das? Es ist schließlich nicht so, als wären da nicht viel wichtigere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erfordern.

Auf dem Display blieben die Syndikat-Flotte und die Enigma-Streitmacht weiterhin passiv und ließen nicht erkennen, welche Absichten sie hegen mochten. Es war schon seltsam, wie schwierig es sein konnte, sich mit einem gänzlich untätigen Gegner konfrontiert zu sehen.

Einundzwanzig Stunden nach der Ankunft der Enigma-Flotte ertönten im Kommandozentrum erneut die Alarmsirenen. In diesem Teil des Planeten war es fast Mitternacht, dennoch benötigte Iceni nur wenige Momente, dann kam sie in den Raum gestürmt. Drakon wartete bereits auf sie.

»Was gibt es?«, fragte sie und versuchte, die auf dem Display auftauchenden Symbole mit ihren eigenen Erwartungen in Einklang zu bringen. Aber die Symbole weigerten sich beharrlich, irgendeinen Sinn zu ergeben, bis Drakon auf einmal zu einem rauen Lachen ansetzte.

»Ihr Held Black Jack ist zurück.«

Sie stutzte, die Symbole ordneten sich vor ihrem geistigen Auge neu und ergaben endlich einen Sinn. »Die Allianz-Flotte. Die Enigmas haben sie also doch nicht zerstört.«

»Sie haben aber ein Großteil zu Trümmern zerschossen«, brummte Drakon und deutete auf das Display. »Ich sehe nur Schlachtkreuzer, Leichte Kreuzer und Zerstörer, und selbst das sind deutlich weniger Schiffe verglichen damit, wie Black Jack von hier aufgebrochen ist.«

Iceni starrte auf die Anzeigen und wechselte von den Summen zu den individuellen Schiffssymbolen. »Kein Schlachtschiff? Kein Schwerer Kreuzer? Die Enigmas haben ihnen aber schwer zugesetzt.«

Drakon zog die Brauen zusammen. »Wie kann eine mobile Streitmacht ausschließlich alle Schlachtschiffe und Schweren Kreuzer verlieren?«

»Wenn sie die Flucht ergreifen mussten«, gab Iceni in einem frostigen Tonfall zu bedenken, da ihr Gedächtnis düstere Erinnerungen an manche Ereignisse an die Oberfläche steigen ließ, die sie selbst während ihrer Zeit bei den mobilen Streitkräften mitangesehen hatte. »Die Schlachtschiffe sind langsam, aber ihre Masse ist immens groß. Sie bilden die Nachhut, um alle Verfolger aufzuhalten. Schlimmstenfalls opfern sie sich, damit die schnelleren und beweglicheren Schiffe entkommen können. Vermutlich sind die Schweren Kreuzer bei den Schlachtschiffen geblieben.«

»Verdammt.« Das eine Wort, das über Drakons Lippen kam, vermittelte eine schwerwiegende Einsicht. »Ich weiß, wie das bei den Bodenstreitkräften funktioniert. Es fällt einem unglaublich schwer, jemandem zu befehlen, dass er bis zum Tod kämpfen soll, damit die anderen entkommen können.«

Kopfschüttelnd musterte sie weiter das Display. »Ihre Hilfsschiffe sind auch nicht mit dabei.«

»Hilfsschiffe?«

»Die Reparaturschiffe, die die Allianz mit einer Flotte mitschickt. Und die Truppentransporter kann ich auch nirgends entdecken. Die Enigmas müssen sie ebenfalls erwischt haben, weil sie nicht schnell genug eine ausreichende Fluchtgeschwindigkeit erreichen konnten.«

»Könnte es sein«, warf Drakon ein, »dass wir unsere Beobachtungen falsch auslegen?«

»Das lässt sich überprüfen.« Iceni machte ein paar Schritte auf die primäre Kontrollkonsole zu. »Zeigen Sie uns eines dieser Allianz-Schiffe in Nahaufnahme«, sagte sie zum Controller.

Vor ihr und Drakon öffneten sich große virtuelle Fenster, in denen man jetzt jedes Detail der noch weit entfernten Schiffe deutlich sehen konnte. Diese Schiffe waren viereinhalb Lichtstunden entfernt. Sie hatten alle gleichzeitig den Sprungpunkt verlassen, durch den zuvor die Enigmas hergekommen waren. Jede Lichtstunde betrug etwas mehr als eine Milliarde Kilometer, womit diese Schiffe rund viereinhalb Milliarden Kilometer entfernt waren. Aber Kameras im Orbit um diese Welt konnten mit kristallklarer Präzision sehen, was sich dort draußen abspielte. Jedes Detail der Allianz-Kriegsschiffe war klar und deutlich zu erkennen. Die übertragenen Bilder waren so scharf, dass man Mühe hatte, sich dabei vor Augen zu halten, dass die Kameras in Wahrheit nur das Licht dieser weit entfernten Objekte erfassten.

»Sehen Sie sich nur die Schäden an, die an vielen Schiffen zu erkennen sind«, sagte Iceni. »Die haben schwere Kämpfe hinter sich.« Sekundenlang hielt sie inne. »Dann wollen wir doch mal sehen, wohin sie fliegen … geflogen sind«, korrigierte sie sich. Sie sahen die Allianz-Schiffe jetzt so, wie sie viereinhalb Stunden zuvor im System eingetroffen waren. Was hatten sie nach ihrer Ankunft gemacht? Hatte Black Jack mit den Überresten seiner Flotte sofort Kurs auf das Hypernet-Portal genommen, um so schnell wie möglich heimzukehren? Oder würde die Allianz-Flotte einen Sprungpunkt nutzen, von denen es in diesem Sternensystem etliche gab? Sollten sie das Hypernet-Portal ansteuern, dann mussten sie an den Enigmas vorbei und … »Darauf haben sie gewartet!«

»Wer hat gewartet?«, fragte ein verdutzter Drakon.

»Die Enigmas«, erklärte sie. »Sie hatten recht, die haben tatsächlich gewartet, und zwar auf Black Jack. Sie befinden sich auf einer Position genau zwischen dem Sprungpunkt von Pele und unserem Hypernet-Portal. Wenn die Allianz-Flotte das Portal erreichen will, muss sie sich den Weg dorthin freikämpfen.«

»Die Enigmas wussten, dass Black Jacks Schiffe hierher unterwegs waren«, folgerte Drakon nachdenklich. »Sie wollen erst seine Flotte auslöschen, bevor sie sich mit uns befassen. Aber nach den Vektoren zu urteilen, die das Display anzeigt, fliegen die Allianz-Schiffe geradewegs auf die Enigmas zu. Sie wollen kämpfen.«

»Wenn sie nach Hause eilen wollen, um sich in Sicherheit zu bringen, dann ergibt das aber keinen Sinn, oder? Allerdings hat der Allianz-Flotte auch noch niemand vorgeworfen, die Besatzungen bestünden aus Angsthasen.«

»Richtig.« Drakons Blick war wieder so in die Ferne gerichtet, wie er es jedes Mal machte, wenn er Erinnerungen vor seinen Augen vorbeiziehen sah, aber nichts von dem wahrnahm, was sich tatsächlich vor ihm befand. »Deren Bodenstreitkräfte waren ebenfalls keine Feiglinge, auch wenn die Propaganda des Syndikats etwas anderes behauptete. Auf diese Flotte mag im Kampf noch so heftig eingeprügelt worden sein, trotzdem ist sie nicht geschlagen.« Er sah Iceni an, sein Blick nahm sie erst jetzt wieder wahr. »Werden wir ihnen helfen?«

»Wir können nicht viel aufbieten, das ihnen helfen würde.« Iceni war klar, dass sie um das Thema drum herum redete.

Colonel Malin war mittlerweile zu ihnen gekommen und sprach aus, was sie vermieden hatte: »Wenn wir Black Jacks Flotte in diesem Kampf beistehen, wird das von enormem symbolischem Wert sein. Black Jack wird wissen, dass wir zu ihm gestanden haben, auch wenn wir kaum eine Chance hatten. Wenn wir uns aus dem Kampf heraushalten und abwarten, was geschieht, wird das ebenfalls eine hohe symbolische Bedeutung haben. Allerdings aus Black Jacks Sicht eine, die gegen uns spricht.«

Sie wusste, dass Malin recht hatte, und doch zögerte sie. Ich verfüge über so wenig Kriegsschiffe. Wenn ich sie in diesen Kampf schicke, verliere ich womöglich alle. Außerdem werden meine wenigen Kreuzer und Jäger bei einem Kampf zwischen Black Jack und den Enigmas nicht den Ausschlag zugunsten von Black Jack geben. Schließlich haben diese vergangenen einundzwanzig Stunden, in denen wir voller Ungeduld darauf gewartet haben, wann die Enigmas zuschlagen und uns vernichten werden, mehr als deutlich gezeigt, dass ich es mir nicht leisten kann, mich darauf zu verlassen, dass die Allianz zu unserer Rettung eilt.

Selbst wenn wir den Gedanken weiterverfolgen, mit Taroa zusammenzuarbeiten, um das zweite Schlachtschiff fertigzustellen, wird es noch Monate dauern, bis es einsatzbereit ist. Wir brauchen unsere eigenen Schiffe. Andererseits: Wenn ich sie nicht aufs Spiel setze, könnte ich den wichtigsten Verbündeten im gesamten von Menschen besiedelten Weltall verlieren.

Sehr wahrscheinlich konnte Drakon das Dilemma nachvollziehen, vor dem sie stand, denn nach ein paar Augenblicken sagte er verhalten, aber eindringlich: »Wenn wir Black Jack helfen, könnten wir gewinnen. Wenn wir nichts tun, werden wir so oder so verlieren, unabhängig davon, ob Black Jack die Enigmas besiegt oder nicht.«

Sie erwiderte nichts, sondern sah zu Boden, da sie in diesem Moment mit sich selbst kämpfen musste, um eine Entscheidung zu treffen, deren Konsequenzen gravierend sein konnten. Sicherer wäre es natürlich abzuwarten, so wie CEO Boyens es ihr vormachte. Daran gab es keinen Zweifel.

Aber diese Sicherheit würde nur von sehr kurzer Dauer sein.

Sie hätte abwarten können, anstatt ihren Plan umzusetzen, sich gegen die Syndikatsregierung aufzulehnen. Sie hätte Drakons Vortasten als verfrüht zurückweisen und alles andere vermeiden können, das in den Augen der ISD-Schlangen zu ihrer Verdammung führen musste. Doch wenn die Schlangen dann den Befehl erhalten hätten, die CEOs im System einer Loyalitätsüberprüfung zu unterziehen, wie es immer wieder vorkam, wäre sie ihnen hilflos ausgeliefert gewesen.

Manchmal war es tatsächlich die beste Lösung, ein völlig irrsinniges Risiko einzugehen.

»Sie haben recht«, sagte sie zu Drakon. »Black Jack wird es uns nicht verzeihen, wenn wir diesen Kampf aussitzen.« Iceni gab dem Supervisor des Kommandozentrums ein Zeichen. »Ich brauche eine Verbindung zu Kommodor Marphissa auf dem Kreuzer Manticore

Nur ein paar Sekunden später meldete der Supervisor: »Wir sind zur Übertragung bereit, Madam Präsidentin.«

Vor ihrem geistigen Auge konnte sie Marphissa auf der Brücke der Manticore sehen, wie die Kommodor ihr Bestes gab, um vor einer Crew Entschlossenheit und Mut auszustrahlen, die zweifellos umso unglücklicher geworden war, je länger sie damit beschäftigt gewesen waren, ihre Überlebenschancen zu bewerten. Wie mochten sie auf den Anblick der Allianz-Flotte reagiert haben, nachdem ihnen ein Leben lang eingeredet worden war, dass die Allianz als Feind den Enigmas in nichts nachstand? »Kommodor«, sagte Iceni, »nehmen Sie die notwendigen Kursänderungen vor, um mit Ihrer Flotte auf einen Vektor einzuschwenken, der Sie zur Streitmacht der …« Fast hätte sie zur Streitmacht der Allianz gesagt, doch das wäre verkehrt gewesen. Auch wenn diese Allianz-Schiffe zusammen mit ihnen einen gemeinsamen Feind bekämpften, konnte man ein Jahrhundert Krieg und Hass nicht so einfach abstreifen. »… zur Streitmacht von Jack Black bringt. Unterstützen Sie seine Flotte, die hier ist, um dieses Sternensystem zu verteidigen. Befolgen Sie jeden Befehl, den Black Jack Ihnen gibt, solange die Anweisungen nicht im Widerspruch zu Ihrer Verantwortung mir gegenüber stehen. Für das Volk. Hier spricht Präsidentin Iceni, Ende.«

Erst nachdem sie geendet hatte, wurde Iceni bewusst, dass sie »für das Volk« betont, aber nicht als jene belanglose Floskel ausgesprochen hatte, zu der sich diese Worte schon vor langer Zeit entwickelt hatten. Seit der von Iceni und Drakon angeführten Rebellion waren viele Menschen im Midway-Sternensystem dazu übergegangen, diese Worte nicht mehr so beiläufig auszusprechen. Personen, die die Worte »für das Volk« tatsächlich ernst nahmen, galten zwar als sehr motiviert, aber sie konnten auch auf den Gedanken kommen, dass andere Führer als die herrschenden »für das Volk« besser wären. Und trotzdem habe ich selbst diese Worte auch so ausgesprochen, als hätten sie eine Bedeutung. Hatte Marphissa recht? Färbt die Einstellung meiner Untergebenen tatsächlich auf mich ab?

Drakon sah sie weiter an, sagte aber nichts, doch sie konnte ihm auch so anmerken, was ihm durch den Kopf ging. »Ich habe eben Kommodor Marphissa auf die wirkungsvollste Weise motiviert«, murmelte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. »Die Sache mit dem stärksten Pferd, von der Sie gesprochen hatten.«

Er war klug genug, darauf nur mit einem Nicken zu reagieren.

Iceni stand da und sah sich im Kommandozentrum um, wobei sie versuchte, zu erfassen was für eine Veränderung auf einmal von diesem Ort ausging. Etwas hatte sich hier getan. Angst und Furcht, die seit dem Eintreffen von Boyens Flotte und der Enigma-Streitmacht hinter der Fassade der stoischen Gesichter ihrer Arbeiter gelauert hatten, waren etwas Anderem gewichen. Sorge war ihnen allen immer noch anzusehen, aber sie bemerkte auch eine seltsame Entschlossenheit, die Iceni von den Arbeitern um sie herum nicht kannte.

In sanftem Tonfall meldete sich Colonel Malin zu Wort. »Die Allianz ist eingetroffen, und sie wollen vor der Allianz nicht schlecht dastehen. Wer bei den Bodenstreitkräften oder den mobilen Streitkräften ist, der hat schon oft so empfunden, während das für den durchschnittlichen Bürger und Arbeiter nicht galt. Sie haben den Leuten aber erlaubt, viel mehr Stolz auf ihre Arbeit und auf sich selbst zu empfinden, Madam Präsidentin. Wenn die Allianz die Augen auf sie gerichtet hat, dann wollen sie nicht versagen.«

»Zu schade, dass ich über solche motivierenden Faktoren nicht schon früher nachgedacht habe«, gab Iceni ironisch in der gleichen Lautstärke zurück. Genau genommen habe ich das sehr wohl, aber das Syndikatssystem wollte mir derartige Experimente nicht gestatten. Lieber lassen wir das Universum verrotten, ehe wir irgendetwas machen, das den Gehorsam der Arbeiter gefährden könnte.

»Wir sollten Black Jack eine Nachricht zukommen lassen«, sagte Drakon. »Sie und ich.«

»Wir beide zusammen?«, vergewisserte sie sich.

»Ja.«

»Einverstanden. Erledigen wir das von unserem privaten Büro aus.«

Drakon ging mit ihr zum Büro. Er wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte: »Diesmal haben Sie aber schnell eingelenkt.«

»Finden Sie? Ich hielt es für richtig, mich allein an die Enigmas zu wenden, weil ich das schon zuvor gemacht habe, Sie aber nicht. Aber es ist Ihr gutes Recht darauf zu bestehen, dass wir uns gemeinsam an Geary wenden.« Und auch wenn ich das niemals laut aussprechen würde, aber all meiner Unabhängigkeit zum Trotz macht es mir nichts aus, die momentane Last auf meinen Schultern mit jemandem zu teilen, der mich noch nicht offen hintergangen hat.

»Ich hätte fast darauf bestanden, dies auch bei Ihrer Nachricht an Boyens zu tun, aber der kennt Sie noch als CEO dieses Sternensystems«, sagte Drakon, »daher hatte ich letztlich auch nichts dagegen einzuwenden, dass Sie sich allein an ihn gewandt haben.«

Iceni drehte sich zu Drakon um und sah ihm in die Augen. »General Drakon, mir ist seit unserer ersten Begegnung bewusst, dass Sie sich als Militär sehen. Ihren CEO-Anzug haben Sie nur getragen, weil Sie dazu verpflichtet waren, aber in Wahrheit war er für Sie ein Instrument zur Demütigung und Bestrafung.«

»Mir war nicht klar, dass das so offensichtlich war«, antwortete er.

»Es war so unauffällig wie ein durchschnittlicher Pulsar, der seine Umgebung auf Lichtjahre hinaus mit Radioaktivität flutet. Ich kann verstehen, dass Sie sich als mir gleichgestellt präsentieren möchten, wenn wir mit anderen militärischen Führern zu tun haben. Ihnen ist wichtig, Black Jack zu zeigen, dass Ihre Rolle genauso groß und genauso wichtig ist wie meine.« Sie lächelte ihn verhalten an. »Das ist das, was Sie denken, richtig? Denn wenn Sie sich stattdessen als derjenige ins Bild rücken wollen, der das Sagen hat, dann gibt es etwas, worüber wir reden müssen.«

Drakon hob seine Schultern an. »Gleichgestellt zu sein ist gut. So war es doch schon von Anfang an. Aber Sie haben völlig recht: Ich will Black Jack mehr darüber wissen lassen, wer ich bin. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was wir über ihn gehört haben, dann möchte ich ihn gern persönlich kennenlernen.«

»Sie werden sich mit Langstreckenkommunikation begnügen müssen«, gab Iceni zurück und deutete auf den Schreibtisch. »Wir setzen uns nebeneinander hin. Auf diese Weise betonen wir …«

In dem Moment kam Malin in den Raum gestürmt, über seine Schulter hinweg konnte Iceni Togo sehen, der dicht hinter dem Colonel stand und bereit schien, bei der ersten bedrohlichen Geste auf den Mann loszugehen. Doch Malin war nur hergekommen, um ungewöhnlich hastig Bericht zu erstatten. »General, es sind weitere Schiffe ins Sternensystem gekommen!«

Drakon stutzte, da Malin zögerte. »Von wem?«, wollte er wissen. »Weitere Syndikat-Streitkräfte? Mehr Enigmas? Mehr Allianz-Schiffe?«

»Nein, Sir.«

»Sondern?«

Malin schaute beunruhigt drein, während er den Kopf schüttelte. »Die neuen Schiffe gehören nicht zur Allianz, es sind keine Enigma- und auch keine Syndikat-Streitkräfte. Sie passen zu nichts, was wir je gesehen haben.« Er ging zum Display des Schreibtischs und rief die Bilder auf. »Es sind sechs Stück — was auch immer sie darstellen mögen.«

Iceni starrte auf die Bilder und merkte, wie Drakon sie beobachtete, ob sie die Schiffe erkannte. »Was ist das für ein Maßstab?«, wollte sie von Malin wissen. Der nahm die entsprechenden Anpassungen bei den Einstellungen vor, was Togo mit finsterer Miene mitverfolgte, da der Colonel damit seine rechtmäßige Rolle als Icenis Assistent unterhöhlte.

»Dann erkennen Sie es auch nicht wieder?«, fragte Drakon.

»Nein.« Sie biss sich auf die Lippe, dann atmete sie tief durch. »Eiförmige Objekte ohne irgendwelche Merkmale. Eine fast völlig glatte Oberfläche. Folgen sie Black Jacks Flotte, oder wird er von ihnen gejagt?«

»Warum sollte Black Jack vor Schiffen von dieser Größe davonlaufen?«, wunderte sich Drakon. »Die sind ja gerade mal so groß wie unsere Leichten Kreuzer.«

»Wir haben keine Ahnung, wie es mit der Bewaffnung dieser Schiffe aussieht«, machte Malin ihm klar. »Wir wissen ja nicht mal, was sich im Inneren befindet.«

Drakon erwiderte nichts, aber Iceni bemerkte aus dem Augenwinkel, dass er sie weiter beobachtete. »Sie haben irgendwas gesehen«, sagte er schließlich.

»Ja«, bestätigte sie. »Die Formation der Allianz-Schiffe. Die ist nach vorn ausgerichtet, nämlich auf die Enigmas. Diese neuen Schiffe können auch nur von Pele kommen, also müssen die Allianz-Schiffe sie gesehen haben, bevor sie zum Sprung hierher ansetzten. Black Jacks Flotte macht sich jedoch offensichtlich keinerlei Sorgen über das, was hinter ihnen passiert. Sind das also Verbündete?«, fragte Iceni. »Hat Black Jack da draußen noch jemanden entdeckt, nicht nur die Enigmas?«

»Er hat sie hierher mitgebracht«, warf Togo vorwurfsvoll ein. »Wer immer das auch sein mag, auf jeden Fall wissen die jetzt, wo sie Midway finden können.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es tatsächlich Verbündete sind«, gab Iceni zurück und fragte sich, wie sie diese neue Entwicklung der Öffentlichkeit verkaufen konnte. Es wäre besser, wenn niemand außerhalb des Kommandozentrums etwas von diesen neuen Schiffen erfuhr.

Die Arbeiter sollten beobachten und herausfinden, was es herauszufinden gab, und darauf warten, dass sie neue Anweisungen erhielten. Aber sie kannte Menschen wie diese Arbeiter. Sie hatten zweifellos längst Freunde und Bekannte auf der ganzen Welt von den Neuankömmlingen berichtet. Außerdem hatte inzwischen jeder diese neuen Schiffe gesehen, der auf Informationen aus dieser Region zugreifen konnte oder der zufällig mit der richtigen Ausrüstung in diese Richtung sah. »Das sind Verbündete«, sagte sie überzeugt.

Drakon sah sie an, dann nickte er. »Ja. Verbündete. Natürlich.« Er verstand so gut wie sie, dass diese Neuigkeit unter keinen Umständen die Verteidiger von Midway beunruhigen durfte.

Sie stand vom Schreibtisch auf und kehrte ins Kommandozentrum zurück. »Finden Sie alles über diese sechs Schiffe heraus«, ordnete sie mit fester Stimme an. »Black Jack hat Verbündete mitgebracht, die uns gegen die Enigmas unterstützen werden. Wir müssen erfahren, wozu diese Verbündeten in der Lage sind.«

Mit gemäßigter Selbstsicherheit drehte sie sich um und kehrte in das Büro zurück, in dem Drakon, Malin und Togo auf sie warteten.

Drakon verfolgte, wie Iceni das Büro betrat. Jede Bewegung strahlte Ruhe und Gefasstheit aus. Präsidentin Iceni kann ja noch besser lügen, als ich es bisher gedacht hatte.

»Wir sollten jetzt besser Kontakt mit Black Jack aufnehmen«, sagte Drakon. »Colonel Malin, während die Spezialisten da draußen bemüht sind, mehr über diese sechs neuen Schiffe zu erfahren, möchte ich, dass Sie sich auf die Suche nach Aufzeichnungen machen, die darauf hindeuten, dass solche Schiffe irgendwann schon einmal gesichtet wurden. Vielleicht finden Sie etwas in den erbeuteten Akten der Schlangen, das seinerzeit vor aller Welt geheim gehalten wurde.«

»Jawohl, Sir.« Malin salutierte und setzte sich fast gleichzeitig in Bewegung.

Iceni nahm am Schreibtisch Platz und deutete auf den Stuhl rechts von ihr. Einen Moment lang spielte Drakon mit dem Gedanken, sich links von ihr zu platzieren, nur um zu unterstreichen, dass Iceni ihm nicht zu sagen hatte, wo er sitzen sollte. Aber dann schaltete sich noch schnell genug sein gesunder Menschenverstand ein und empfahl ihm, eine solche Demonstration für etwas wirklich Wichtiges aufzusparen, um nicht unsicher oder kleinlich zu wirken.

Während er Platz nahm, stellte ihr Assistent Togo den Kameraausschnitt für die Übertragung richtig ein. »Was wollen Sie sagen?«, fragte Iceni.

Was will ich sagen? Bis jemand versucht, irgendwo Truppen abzusetzen, ist das Ganze eigentlich nur eine Begegnung im All, und das Weltall ist Icenis Spielfeld. Außerdem geht es hier um Black Jack, und ich will mich nicht wie ein Trottel anhören, wenn ich das erste Mal mit ihm rede. »Ich werde mich diesmal einfach nur vorstellen, Sie können den Rest übernehmen.«

»Tatsächlich?« Iceni beugte sich vor. »Fangen Sie etwa wirklich an, mir zu vertrauen, General Drakon?«, zog sie ihn auf.

Es klang wie im Spaß gesagt, doch er wusste, dass sich hinter ihren Worten eine immense Bedeutung verbarg. Da momentan mindestens zwei mächtige Feinde darauf aus waren, ihn zu töten, kam Drakon mit einem Mal zu dem Entschluss, nicht länger die Spiele zu spielen, zu denen man ihn über Jahre hinweg gezwungen hatte. »Ja … Gwen.«

Iceni sah ihn nur skeptisch an. Ihr persönlicher Schutzschild umgab sie auch weiterhin, doch letztlich lächelte sie ihn an. »Vielen Dank … Artur.« Sie setzte sich wieder gerade hin und nickte Togo zu. »Fangen Sie an.«

»Hier spricht Präsidentin Iceni vom unabhängigen Sternensystem Midway.« Dann hielt sie inne.

Drakon gab sich kurz und knapp. »Hier spricht General Drakon, Befehlshaber der Bodenstreitkräfte von Midway.« So. Jetzt weiß er, wer ich bin. Das muss für den Augenblick genügen.

»Wir freuen uns, die Allianz-Flotte wieder in unserem System begrüßen zu dürfen«, fuhr Iceni fort, als sie sicher war, dass er nicht weiterreden würde. »Das gilt vor allem mit Blick auf die gegenwärtigen Umstände und die zuvor zwischen uns getroffenen Vereinbarungen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unser Sternensystem gegen Invasoren zu verteidigen. Wir bitten Sie nur, uns bei dieser Aufgabe zu unterstützen, bis das Volk von Midway wieder in Sicherheit leben kann. Kommodor Marphissa, die Seniorbefehlshaberin unserer Kriegsschiffe, hat den Befehl erhalten, Ihre Anweisungen zu befolgen, solange die nicht im Widerspruch zu ihren Pflichten stehen, dieses Sternensystem zu verteidigen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Schlachtschiff in unserer Militärwerft derzeit zwar über einen funktionstüchtigen Antrieb verfügt, jedoch nicht über einsatzbereite Schilde oder Waffen. Hier spricht Präsidentin Iceni. Für das Volk. Ende.«

Die Übertragung war beendet, Drakon entspannte sich. »Bis wir die Antwort erhalten haben, wird schon gekämpft worden sein.«

»Ja«, stimmte Iceni ihm zu. »Vielleicht werden sie uns ja zeigen, was diese sechs Schiffe können.«

»Wir haben ihm die Unterstützung durch unsere mobilen Streitkräfte angeboten, also wird Black Jack keinen Grund haben, an unserer Entschlossenheit zu zweifeln. Ich frage mich, wie Boyens auf Black Jack und diese neuen Mitwirkenden reagieren wird.«

Ehe sie etwas darauf entgegnen konnte, kehrte Colonel Malin fast so flink zu ihnen zurück, wie er zuvor davongeeilt war. »General … Madam Präsidentin, ich musste die Recherche wegen dieser sechs neuen Schiffe unterbrechen. Das Ergebnis meiner Suche nach der Herkunft der unbekannten Übermittlung an die Flotte des Syndikats ist eingegangen. Der Ausgangspunkt befindet sich in einem Radius von zwei Kilometern rund um dieses Kommandozentrum.«

Drakon sah Malin an, während er überlegte, was das zu bedeuten hatte — auch mit Blick auf die Frau auf dem Stuhl neben ihm. Hatte sie ihm die ganze Zeit über etwas vorgemacht? »Oder aus dem Kommandozentrum selbst?«

»Das kann ich nicht ausschließen, Sir.«

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