Sechzehn

Nachdenklich biss sich Marphissa auf die Unterlippe. Es würde schwer werden, sich gegen Angriffe auf die Frachter zur Wehr zu setzen. »Wir müssen dicht bei den Frachtern bleiben. Genau über ihnen.«

Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie aufblicken — genau in Bradamonts Gesicht. Sie sah Marphissa an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Marphissa warf einen Blick auf ihr Display, dann stand sie abrupt auf. »Bin gleich zurück«, sagte sie zu Diaz und verließ abermals die Brücke.

Wie erwartet war Bradamont ihr auf den Fersen. »Wir müssen reden«, sagte die Allianz-Offizierin. »In Ihrem Quartier.«

Dort angekommen verschloss sie die Luke, kaum dass Bradamont eingetreten war. »Was wollen Sie? Ich weiß nicht, wie ich das lösen soll. Ich habe andere Operationen geleitet, ich verfüge über einige Erfahrung. Aber der Schutz eines Konvois? Das eine Mal, als ich so etwas Ähnliches mitgemacht habe, hatte ich den untersten Junior Executive-Dienstgrad inne. Da war ich nicht mal auf der Brücke.«

»Ich weiß, was zu tun ist«, gab Bradamont zurück.

»Fangen Sie jetzt bitte nicht mit der Geschichte an, wie Black Jack bei Grendel einen Konvoi gerettet ha …«

»Das war etwas ganz anderes. Da war er zahlenmäßig erheblich unterlegen. Sie haben demgegenüber einen zahlenmäßigen Vorteil gegenüber den feindlichen Kriegsschiffen in diesem System. Den können Sie nutzen, um das Hypernet-Portal zu erreichen, ohne dabei auch nur einen Frachter zu verlieren.«

»Wenn Sie wissen, was zu tun ist, dann sollten Sie …«

»Nein, Sie haben das Kommando. Ich sage Ihnen, worauf es ankommt. Sie dürfen die verteidigenden Schiffe nicht zu nahe an die Frachter heranbringen. Das ist zwar der natürliche Instinkt, aber es ist auch das Schlimmste, was Sie tun können.«

»Wieso?«, fragte Marphissa, die sich hinsetzte und Bradamont nur ratlos anstarren konnte.

»Weil Sie den Anflug der Angreifer stören müssen, bevor die so nahe an die Frachter herangekommen sind, dass Sie sie nicht mehr aufhalten können. Das heißt, Sie müssen auf Abstand gehen und die Angreifer treffen, während die noch dabei sind, ihre Positionen für den Angriff auf die Frachter einzunehmen. Nach oben und unten, nach links und rechts, einfach in alle Richtungen. Feuern Sie auf die Angreifer, dann haben die keine Gelegenheit, den Frachtern nachzustellen.«

Sie konnte zwar verstehen, was Bradamont ihr da sagte, aber ihr Instinkt rebellierte gegen die Taktik. »Es tut mir leid, aber das ergibt doch keinen Sinn. Wenn ich mit meinen Kriegsschiffen auf Abstand zu den Frachtern gehe, dann sind die doch jedem Angriff schutzlos ausgeliefert. Ich habe nicht so viele Schiffe, um mit großem Abstand einen Schutzschild zu schaffen, der dicht genug ist, um keinen Gegner durchzulassen.«

»Das ist auch nicht nötig. Was Sie stattdessen aufbauen, ist eine aktive Verteidigung. Beobachten Sie die Bewegungen der Angreifer, bringen Sie Ihre eigenen Schiffe dorthin, und wenn sich die Gegner in Position bringen, um die Frachter anzugreifen, dann attackieren Sie

Marphissa dachte sorgfältig darüber nach und versuchte alle ablenkenden Gedanken und Ängste zu verdrängen, die sie in ihrer Konzentration stören wollten. »Woher weiß ich, wohin sich die Angreifer begeben werden, damit ich meine Schiffe in die richtige Richtung schicken kann?«

»Das ist das Leichteste von allem, Asima. Die Angreifer müssen immer dorthin gehen, wo sich Ihre Frachter befinden. Wenn es Ihnen gelingt, sie daran zu hindern, ist es völlig egal, wohin sie sonst noch in diesem System fliegen mögen.« Bradamont hockte sich vor Marphissa hin, damit sie auf Augenhöhe mit ihr war. »Sie können das. Sie sind gut. Sie hören auf die Bewegungen Ihrer Schiffe, Sie fühlen, auf welche Position sie gehen sollten und wie sie dorthinkommen. Das Gleiche machen Sie, wenn Sie die anderen Schiffe beobachten. Viele Schiffsführer kommen nie dahinter und sind auf automatische Systeme angewiesen, die alles für sie erledigen. Natürlich benötigen Sie noch mehr Erfahrung, aber ich habe gesehen, wie Sie mit diesem Schiff umgehen. Sie können das.«

»Bin ich so gut wie Black Jack?«, fragte Marphissa, stand auf und atmete tief durch.

»Niemand ist so gut wie Black Jack. Aber eines Tages werden Sie es vielleicht sein«, antwortete Bradamont, die sich ebenfalls aufgerichtet hatte.

»War nur ein Scherz«, murmelte sie.

»Meinerseits nicht.«

Marphissa stutzte und musterte Bradamonts Augen auf der Suche nach einem Hinweis auf Ironie oder Spott. »Ist das Ihr Ernst?«

»Ja, und jetzt kehren Sie auf die Brücke zurück und schaffen Sie Ihre Flotte sicher zum Hypernet-Portal, Kommodor.«

»Sagen Sie das, um … um mich zu motivieren?«

Nun war es Bradamont, die irritiert dreinschaute. »Ja … aber es ist trotzdem genau so gemeint, wie ich es gesagt habe.«

»Wie eigenartig. Das Syndikat motivierte einen immer mir Sprüchen wie: ›Erledigen Sie das anständig, sonst werden Sie erschossen.‹«

Bradamont musste lachen. »Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen, wie?«

»Nein, keineswegs.« Marphissa atmete noch einmal tief durch und tat so, als wäre ihr der konsternierte Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nicht aufgefallen. »Bleiben Sie bei mir auf der Brücke. Wenn ich irgendetwas übersehe oder wenn es etwas gibt, das ich tun sollte, aber nicht tue, dann sagen Sie es mir.«

»Sie brauchen mich nicht«, erwiderte Bradamont, »aber ich werde da sein. Einzig und allein aus dem Grund, dass ich mit solchen Situationen mehr Erfahrung habe.«

Augenblicke später kehrten die beiden auf die Brücke zurück. Marphissa nahm ihren Platz ein und fühlte sich ein bisschen selbstsicherer, da sie nun eine Ahnung hatte, wie sie vorgehen sollte. Die Sorge und Unsicherheit der Wach-Spezialisten auf der Brücke war indes so intensiv, dass man sie fast hätte greifen können. Doch als ihnen die veränderte Einstellung der Kommodor zur Situation auffiel, löste sich die Stimmung auf der Brücke etwas.

Marphissa widmete sich konzentriert dem Display. Die Syndikatsflotte näherte sich leicht schräg von unten der Steuerbordseite der Schiffe von Midway. Die Frachter waren übereinander in zwei Reihen zu je drei Fahrzeugen angeordnet, wobei man eher von ungefähren Reihen sprechen musste, da selbst die automatischen Systeme nicht verhindern konnten, dass die immer noch mit Passagieren vollgestopften Schiffe wieder und wieder wie leicht abgelenkte Packesel die eigentliche Flugbahn verließen und seitlich abdrifteten. Die Kriegsschiffe nahmen Positionen zu beiden Seiten dieser Formation ein.

Zögerlich bewegte Marphissa ihre Hand über das Display und begann Kurse zu neuen Positionen weit vor den Frachtern einzuzeichnen. Je länger sie daran arbeitete, umso selbstsicherer wurde sie. Ja, genau.

Die Manticore und die Kraken auf eine Position an den direkten Abfangvektoren, auf denen sich die Syndikatsschiffe derzeit bewegten. Die vier Leichten Kreuzer ober- und unterhalb der Schweren Kreuzer, dabei ein klein wenig nach hinten versetzt. Die sechs Jäger rings um die Leichten Kreuzer, links und rechts, darüber und darunter sowie ein Stück weit hinter ihnen, damit sie jederzeit einschreiten und die Leichten Kreuzer oder die Schweren Kreuzer unterstützen konnten. Sie widerstand der Versuchung, Bradamont einen fragenden Blick zuzuwerfen und auf deren Zustimmung zu hoffen. Jeder hätte diese Geste bemerkt, mit der sie eigenhändig ihre Autorität untergraben hätte. Stattdessen tippte sie demonstrativ auf ihre Komm-Kontrolle. »An alle Einheiten der Heimkehrerflotte, hier spricht Kommodor Marphissa. Sie erhalten in diesem Augenblick Ihre Befehle für Ihre neuen Positionen. Führen Sie die Anweisungen sofort nach Erhalt aus.«

Diaz löste seinen besorgten Blick von der Syndikat-Flotte und sah sich den Befehl für die Manticore an, dann zog er die Augenbrauen hoch. »Da draußen?«

»Ja«, bestätigte sie. »Da draußen. Wir werden uns den Kriegsschiffen frühzeitig in den Weg stellen und ihnen einen harten Schlag verpassen, bevor sie auch nur in die Nähe der Frachter kommen können.«

»Aber …«

»Machen Sie schon, Kapitan.«

»Ja, Kommodor.«

Die Hauptantriebseinheiten der Manticore wurden gezündet und brachten das Schiff weg von den Frachtern. Ringsum setzten sich auch die anderen Schiffe von Midway in Bewegung und änderten ihre Vektoren, um zu den neuen Positionen zu gelangen.

»Kommodor?«, meldete sich der Komm-Spezialist zu Wort. »Alle Executives der Frachter wollen mit Ihnen reden.«

Marphissa winkte ärgerlich ab. »Sagen Sie ihnen, ich werde verhindern, dass sie beschädigt oder zerstört werden, solange man mich nicht mit unnötiger Kommunikation von meiner Arbeit ablenkt und solange sie auf ihren Vektoren in Richtung Portal bleiben. Wenn sie auf die Idee kommen sollten, einen Fluchtversuch zu unternehmen und den Kurs zu verlassen, dann werden sie das nicht überleben.«

»Jawohl, Kommodor, ich werde es ihnen sagen.«

Es war ein gutes Gefühl, dass andere ihre Befehle befolgten, aber es fühlte sich auch ein wenig … unheimlich an. Diese Leute taten das, was sie ihnen sagte. Aber wenn der Plan nicht funktionierte, dann würde es allein ihr Fehler sein. Vermutlich käme ich damit durch, wenn ich es wie beim Syndik machen und meinen Untergebenen die Schuld in die Schuhe schieben würde. Aber das werde ich nicht tun. Außerdem würde das nicht die Frachter zurückbringen, falls die doch von der Syndikat-Flotte zerstört werden sollten.

Die Entfernung der mobilen Streitkräfte des Syndikats war auf acht Lichtminuten geschrumpft, während Marphissa ihren Schiffen befahl, die neue Abwehrformation einzunehmen. Als ihre Kriegsschiffe die zugewiesenen Positionen erreicht hatten, war der Gegner nur noch drei Lichtminuten entfernt und näherte sich mit konstant 0,1 Licht, was der Geschwindigkeit von Marphissas Kriegsschiffen entsprach.

Drei Lichtminuten bei einer kombinierten Anfluggeschwindigkeit von 0,2 Licht ließen sich innerhalb von fünfzehn Minuten zurücklegen.

Marphissa betätigte erneut ihre Kontrollen. »An alle Einheiten der Heimkehrerflotte: Hier spricht Kommodor Marphissa. Unser vorrangiges Ziel ist der Schutz der Frachter. Das heißt, wir müssen versuchen, die mobilen Streitkräfte des Syndikats von ihrem Angriffskurs abzubringen. Schiffe, die wir nicht vom Kurs ablenken konnten, sind außer Gefecht zu setzen oder zu zerstören, bevor sie in Reichweite der Frachter gelangen. Sobald ein Kriegsschiff des Syndikats vom Kurs abweicht, unternehmen Sie nichts. Sie werden nicht die Verfolgung aufnehmen, sondern Ihre Position beibehalten, von der aus Sie versuchen können, andere gegnerische Schiffe abzufangen. Eine Verfolgung des Gegners ist Ihnen ausdrücklich nur dann gestattet, wenn dessen Schiff unserem Verteidigungsschild entkommt und weiter auf die Frachter zufliegt, um sie unter Beschuss zu nehmen. Wenn das passiert, muss das Kriegsschiff des Syndikats unbedingt gestoppt werden. Wir haben unsere Kameraden aus der Gefangenschaft befreit, und jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Schlangen nicht verhindern, dass wir diese Kameraden nach Midway bringen. Für das Volk! Marphissa, Ende.«

Die Syndikatsflotte, die ohnehin zahlenmäßig unterlegen war, befand sich weiter auf einem Abfangkurs zu den Frachtern, wobei die sanft geschwungene Linie ihres Vektors genau durch die Mitte des von Marphissa aufgebauten Abwehrschilds hindurch verlief. Die Syndikatsschiffe hatten eine einfache Standardformation eingenommen, ein Rechteck mit den drei Leichten Kreuzern im Zentrum und den Jägern unmittelbar davor. Auf dem Display erinnerte diese Formation ein wenig an einen Rammbock, der auf den Schutzschild aus Midway-Kriegsschiffen gerichtet war. »Wird er versuchen, mitten durch uns hindurchzufliegen?«, überlegte sie laut.

»So etwas wurde schon versucht«, merkte Bradamont an. »Wenn er es macht, wie viele werden dann durchkommen?«

»Wenn ich meinen Verteidigungsschild ganz auf seinen Vektor konzentriere und mit allem auf ihn feuere, was mir zur Verfügung steht, wird das nicht viel sein. Aber wenn es ihm ausschließlich darum geht, die Frachter zu erreichen, dann würde ich vermuten, dass ein oder zwei Jäger und vielleicht auch noch ein Leichter Kreuzer durchkommen werden, außer natürlich wir landen etliche Glückstreffer.« Nachdenklich beugte sich Marphissa vor. »Er ist eine Schlange. Es kümmert ihn nicht, wie viele Bürger sterben. Aber Ausrüstung ist ihm wichtig. Wenn er versucht, sich den Weg freizurammen, wird er mindestens zwei Drittel seiner Streitmacht verlieren, und das nur, wenn es uns nicht gelingt, auch noch seine Überlebenden zu erwischen, nachdem die es geschafft haben, die Frachter zu treffen. Das ist eben die große Frage: Wie wichtig ist es ihm, die Frachter zu zerstören?«

»Wir kennen seine Befehle nicht«, warf Kapitan Diaz ein.

»Aber er ist eine Schlange. Er befehligt diese Flotte, und das heißt, er befolgt die Befehle der Senior-Schlange in diesem Sternensystem. Was würde eine Senior-Schlange wollen?«

Diaz schnaubte verächtlich. »Er ist CEO des Syndikats, richtig? Also will er mit dem geringsten Aufwand das beste Ergebnis herausholen.«

Marphissa nickte. »Genau. Er wird bei dieser Operation keine Verluste hinnehmen wollen. Oder zumindest sollen sich die Verluste auf ein Minimum beschränken. Das hier ist kein Kriegseinsatz, sondern eine Maßnahme der Inneren Sicherheit. Unsere Verluste sind ihnen völlig egal, aber ihre eigenen Verluste wollen sie so gering wie möglich halten.«

»Aber warum bleibt er dann auf diesem Kurs? Wir werden unseren Verteidigungsschild zusammenziehen, um ihn mit allem unter Beschuss zu nehmen, das wir zu bieten haben. Er wird massive Verluste erleiden und nicht mehr über genügend Feuerkraft verfügen, um die Frachter ernsthaft zu beschädigen.«

»Ja!« Marphissa klatschte mit der Faust gegen ihre Stirn. »Das macht er! Sein Ziel ist es, zu den Frachtern durchzukommen!«

»Das habe ich doch gerade eben gesagt«, beklagte sich Diaz.

»Er will, dass ich den Schutzschild konzentriere! Und ich werde ihn glauben lassen, dass ich genau das auch mache!« Ihre Finger huschten über das Display und zeichneten neue Kurse für ihre Schiffe ein, die sie als Phase Eins des Manövers kennzeichnete. Anschließend ließ sie sie für Phase Zwei massive Kursänderungen vornehmen. Ich muss das zeitlich ganz genau abpassen. Er soll glauben, ich wäre auf ihn reingefallen. »An alle Kriegsschiffe der Heimkehrerflotte, anhängend erhalten Sie neue Kursvorgaben. Setzen Sie sie bei Zeit eins sieben um. Marphissa, Ende.«

Zunächst nickte Diaz noch, als er die neuen Befehle las, dann jedoch stutzte er. Aber er war innerhalb des Syndikatssystems aufgewachsen und ausgebildet worden, also gab er ohne weitere Kommentare oder Fragen die Anweisungen ins Steuersystem der Manticore ein.

Bei Zeit eins sieben wurden die Steuerdüsen der Kreuzer und Jäger der Midway-Streitmacht gezündet. Die Schiffe rückten daraufhin näher zusammen, um den Verteidigungsschild deutlich schrumpfen zu lassen und die herannahende Syndikatsflotte noch konzentrierter unter Beschuss zu nehmen. Was ist, wenn ich mich irre?, überlegte Marphissa. Wenn ich falsch liege, werde ich ihm mit dem nächsten Manöver den Weg zu seinem Ziel frei machen, und er wird viel weniger Schiffe verlieren. Aber ich darf mich nicht irren. Sub-CEO Qui mag egal sein, wie hoch seine Verluste ausfallen, aber er wird darauf bedacht sein, seine Befehle auszuführen, und dafür brauchte er einsatzfähige Schiffe.

»Fünf Minuten bis zum Kontakt«, meldete der Ablaufspezialist.

»An alle Einheiten«, befahl Marphissa ihrer Flotte. »Eröffnen Sie das Feuer auf jedes Kriegsschiff des Syndikats, das in Feuerreichweite kommt. Hindern Sie alle Schiffe daran, auf Vektoren einzuschwenken, auf denen sie die Frachter abfangen können.«

»Auf den Vektoren sind sie bereits«, warf Diaz ein.

»Aber nicht mehr lange«, erwiderte Marphissa in einem überzeugten Tonfall, der gar nicht so sehr dem entsprach, was sie insgeheim empfand.

Zwei Minuten vor dem Kontakt setzte die zweite Phase ihres Plans ein. Wieder wurden die Steuerdüsen abgefeuert, die Schiffe bewegten sich in alle Richtungen weg von dem Kurs, auf dem die Syndikatsflotte die Frachter ansteuerte. Selbst die beiden Schweren Kreuzer machten der nahenden gegnerischen Streitmacht Platz.

Diaz musste sich sichtlich zusammenreißen, nicht offen an Marphissas Plan zu zweifeln, doch dann sah er völlig verwundert auf sein Display. »Was machen die denn?«

»Genau das, was ich von ihnen erwartet habe«, erwiderte sie triumphierend.

Die Syndikatsformation begann zu zerfallen, die einzelnen Kriegsschiffe wechselten auf Vektoren, die sie auf allen Seiten an dem dichten Schutzschild der Midway-Flotte vorbeiführen sollten.

»Wenn wir uns auf die bisherigen Vektoren konzentriert hätten …«, begann Diaz.

»Dann wären sie einfach um uns herumgeflogen! Das war der Plan von Sub-CEO Qui: Er wollte uns zu einer kompakten Formation verleiten, damit seine Schiffe bequem an unseren vorbeifliegen sollten. Und jetzt, Kapitan, holen Sie mir einen von diesen Leichten Kreuzern!«

Der neue Vektor der Manticore wies nach oben und nach Backbord, genau in Richtung des um vierzig Grad in die Höhe geänderten Vektors, auf dem der Leichte Kreuzer über die Midway-Streitkräfte hatte hinwegfliegen wollen.

Marphissas Finger wirbelten über das Display, um dafür zu sorgen, dass auf jedes Syndikatsschiff mindestens ein Midway-Schiff entfiel, um den Gegner abzufangen, bevor der am Verteidigungsschild vorbei entkommen konnte.

Die Manticore nahm auf einen Leichten Kreuzer Kurs, die Kraken auf einen anderen, während drei von Marphissas Leichten Kreuzern — Harrier, Kite und Eagle — nach rechts unten abtauchten, um den dritten Leichten Kreuzer des Syndikats abzufangen. Der Leichte Kreuzer Falcon hatte einen feindlichen Jäger ins Visier genommen, während Marphissas sechs Jäger auf Vektoren beschleunigten, die die übrigen drei Syndikat-Jäger zum Ziel hatten. Hatte bis gerade eben noch nur ein Zeitpunkt für den Kontakt mit dem Gegner gegolten, gab es nun ein Dutzend Schätzungen, wann welches der Schiffe auf den Feind treffen würde.

Diese Schätzungen begannen sich aber gleich darauf schon wieder zu ändern, da die Syndikatsschiffe erkannten, dass ihr Plan gescheitert war und sie sich nun auf jeder zu den Frachtern führenden Route mit einer überlegenen Anzahl an Verteidigern konfrontiert sahen. Die Leichten Kreuzer und Jäger des Syndikats veränderten in aller Eile ihre Vektoren und verteilten sich immer weiter im System, um jeden Kontakt mit den Midway-Kriegsschiffen zu vermeiden.

Der Leichte Kreuzer, auf den die Manticore zuhielt, flog nach außen und Steuerbord, wechselte dann nach innen und Backbord, um auf einem Kurs, der einem riesigen Korkenzieher glich, dem Schweren Kreuzer zu entkommen. Diaz folgte mit vor Konzentration angespannter Miene jedem Manöver und versuchte alles, um auf einem Abfangkurs zu bleiben, ohne dabei an dem Angreifer vorbeizujagen und ihm so doch noch den Anflug auf die Frachter zu ermöglichen.

Rings um die Vektoren, auf denen sich die Frachter weiter in Richtung Hypernet-Portal bewegten, spielten sich ähnliche Flugmanöver ab, bei denen Kriegsschiffe mit einer Geschwindigkeit von 0,1 Licht oder dreißigtausend Kilometern in der Sekunde Kurven flogen, die man auf einer Planetenoberfläche als sehr großzügig bezeichnet hätte. Die Entfernungen, die man zurücklegen musste, wenn man bei solchen Geschwindigkeiten eine Kursänderung vornahm, waren zwar für sich betrachtet immens, fielen aber winzig und unbedeutend aus, wenn man sie ins Verhältnis zu dem sich in alle Richtungen unendlich weit erstreckenden Schlachtfeld setzte, auf dem diese Kriegsschiffe aufeinandertrafen.

Ein Syndikat-Jäger, dem von zwei Midway-Jägern der Weg versperrt wurde, hielt auf eine scheinbare Lücke zwischen den beiden zu, kam am ersten vorbei, konnte dem zweiten aber nicht ausweichen. Höllenspeere schossen zwischen beiden Jägern hin und her und hämmerten auf die relativ schwachen Schilde und die quasi nichtvorhandene Panzerung dieser Schiffe ein.

Der Leichte Kreuzer, der der Manticore auszuweichen versuchte, geriet unabsichtlich einen Moment lang in die Waffenreichweite der Kraken, deren automatische Feuerkontrolle sofort zwei Raketen abfeuerte, was die Crew der Kraken zweifellos genauso erschreckte wie die des Leichten Kreuzers. Während die Kraken weiter nach Backbord drehte, um dem Leichten Kreuzer den Weg abzuschneiden, der ihr eigentliches Ziel darstellte, folgten die Raketen dem anderen Leichten Kreuzer, der von der Manticore gejagt wurde. Von zwei Seiten gleichzeitig bedroht zu werden, musste diesem Schiff zu viel sein, denn er rollte sich kurz entschlossen zur Seite und beschleunigte, so schnell er nur konnte, und ließ Manticore und Raketen weit hinter sich, wobei Letztere sich nicht davon abhalten ließen, ihm weiter nachzujagen.

Der einzelne Syndikat-Jäger, der am Leichten Kreuzer Falcon vorbeizukommen trachtete, versuchte unter diesem hindurchzutauchen. Doch die Falcon hatte dieses Manöver bereits erwartet und bombardierte den Jäger mit einer Salve Höllenspeere. Das getroffene Kriegsschiff flog taumelnd davon und beschleunigte hektisch. Große Löcher klafften in der Hülle, wo sich die Höllenspeere ihren Weg in den Rumpf gebahnt hatten. Auf dem Weg durch das Schiff war kein Ausrüstungsgegenstand und kein Besatzungsmitglied vor den Partikelstrahlen geschützt, die das Pech hatten, dem Höllenspeer im Weg zu stehen.

Die anderen Kriegsschiffe des Syndikats zogen sich zurück, bis sie sich in sicherer Entfernung zur Midway-Flotte befanden. Dieses Mal war es ihnen nicht gelungen, an den Verteidigern vorbei bis zu den Frachtern vorzudringen, doch es war nicht zu übersehen, dass sie sich auf einen neuen Anlauf vorbereiteten.

Die gesamte Brückenbesatzung der Manticore schien gleichzeitig vor Erleichterung seufzend aufzuatmen, als offensichtlich wurde, dass sie den ersten Angriff des Syndikats abgewehrt hatten.

»Werden Sie nicht unaufmerksam«, ermahnte Kapitan Diaz seine Leute. »Wir konnten sie stoppen, aber sie werden wiederkommen.«

Marphissa, die erst einmal erfassen musste, über welche Distanzen sich die Verteidigungsmaßnahmen erstreckt hatten, schüttelte den Kopf. Der Leichte Kreuzer, der von den Raketen der Kraken gejagt worden war, hatte es geschafft, die Geschosse abzuhängen und kehrte nun zu seinen Kameraden zurück, während der beschädigte Jäger sich langsamer den eigenen Schiffen näherte. Die Syndikatskriegsschiffe waren zu allen Seiten um die Route herum verteilt, auf der sich die Frachter vorwärtsbewegten, doch zwischen den einzelnen Positionen klafften große Lücken. Keines der Schiffe befand sich hinter dem vordersten Frachter, sodass ein Areal in der Form einer halbierten und in die Länge gezogenen Sphäre entstanden war, das gegen die Angreifer verteidigt werden musste.

»Sie hatten recht«, sagte Marphissa zu Bradamont. »Sie haben sich großflächig verteilt, um mich dazu zu verleiten, meine Schiffe ähnlich anzuordnen. Aber wenn ich versuchen würde, jeden Punkt in einem so großen Gebiet zu verteidigen, wäre das ein hoffnungsloses Unterfangen. Das kann nur funktionieren, wenn wir uns auf die Angreifer konzentrieren und sie an den Stellen abpassen, an denen sie versuchen, die Verteidigung zu durchdringen.«

»Wären Sie zahlenmäßig nicht so deutlich überlegen, hätten Sie mit sehr viel mehr Problemen zu kämpfen«, machte Bradamont ihr klar. Sie musste bemerkt haben, dass Kapitan Diaz aufmerksam zwischen ihr und Marphissa hin und her schaute, deshalb fügte sie hinzu: »Ich habe die Theorie einer solchen Art von Einsatz mit Ihrem Kommodor diskutiert, Kapitan Diaz. Sie ist diejenige, die über Ihre Verteidigung entscheidet.«

Marphissa sah wieder Bradamont an. »Was glauben Sie, was Sub-CEO Qui als Nächstes versuchen wird? Das Gleiche wie eben?«

»Ja, und das vermutlich immer und immer wieder«, antwortete Bradamont. »Einzelne Schiffe werden versuchen, zu den Frachtern vorzudringen, sobald sie glauben, dass sie eine Lücke entdeckt haben. Und sie werden weitere koordinierte Attacken unternehmen, um an mehreren Stellen gleichzeitig durchzubrechen. Aber Sie werden auch damit rechnen müssen, dass er das eine oder andere Schiff vorsätzlich opfert, indem er es auf Vektoren schickt, die gleich mehrere von Ihren Schiffen zu einer Verfolgungsjagd anstiften soll. Wenn Qui es richtig anstellt, könnten große Lücken in Ihrer Verteidigung entstehen, durch die er seine übrigen Schiffe auf die Frachter hetzen kann.«

Erneut schüttelte Marphissa den Kopf. »Nein, das würde nicht funktionieren. Ich habe jedem meiner Schiffe inzwischen ein bestimmtes Ziel zugewiesen. Niemand wird einem anderen Schiff folgen, wenn ich das nicht ausdrücklich befehle.«

»Wie?« Bradamonts verwunderter Gesichtsausdruck hielt nur einen Moment lang an, dann verstand sie. »Oh, das hatte ich schon ganz vergessen. Sie sind ja Syndiks.«

»Was haben Sie gesagt?« Normalerweise hätte sich Marphissa darüber amüsiert, dass Bradamont einen Moment lang vergessen hatte, dass sie und ihre Kameraden vor nicht allzu langer Zeit noch Teil der Syndikatwelten gewesen waren. Aber eine Aussage mit dem Inhalt, sie gehörten immer noch zum Syndikat, war doch etwas ganz anderes.

Die heftige Reaktion bewirkte bei Bradamont, dass sie einen roten Kopf bekam. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint. Ich habe überlegt, wie man eine Allianz-Streitmacht überwinden könnte, die diese Frachter beschützt. Aber Sie sind ja anders ausgebildet worden.«

Anders ausgebildet. Das war eine freundliche Beschreibung für ein System, in dem alles andere als völliger Gehorsam äußerst ernste Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Aber … »Es freut mich zu hören, dass wir wenigstens in einem Punkt Black Jacks Flotte überlegen sind«, sagte Marphissa.

»Ich schätze, in diesem Punkt sind Sie das wirklich«, räumte Bradamont ein.

»Kommodor«, warf Diaz zögerlich ein. »Ich glaube, die Allianz-Kapitan könnte mit ihrem Vorschlag recht haben.«

»Ach, tatsächlich?« Marphissa erschrak, als ihr bewusst wurde, dass sie Diaz am liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte, weil der eine andere Meinung vertrat als sie. Seit wann ärgere ich mich über Leute, die nicht meiner Meinung sind? Seit wann fällt es mir so schwer, anderen zuzuhören? »Tatsächlich?«, wiederholte sie daraufhin ihre Frage in einem zivileren Tonfall, der nicht so einschüchternd klingen sollte.

»Sub-CEO Qui ist eine Schlange«, erläuterte Diaz. »Schlangen glauben immer, dass die Bürger die Dinge tun, die sie nicht tun sollen. Qui ist ein Sub-CEO. Sie wissen, wie CEOs und Sub-CEOs sind. Sie glauben, wenn sie nicht hinter einem Arbeiter stehen und ihm über die Schulter sehen, um sich davon zu überzeugen, dass der Arbeiter auch ja alles tut, was man ihm sagt, dann wird dieser Arbeiter prompt alles verkehrt machen und sich um Dinge kümmern, die ihn nicht zu kümmern haben. Es ist egal, wie oft sie diesen Arbeiter dabei beobachtet haben, wie er alles richtig macht, sie glauben trotzdem, ihn lückenlos kontrollieren zu müssen.«

»Nicht alle CEOs und Sub-CEOs sind so«, widersprach Marphissa ihm. »Sehen Sie sich nur Präsidentin Iceni an. Aber davon abgesehen haben Sie durchaus recht. Qui könnte glauben, dass es funktionieren wird, vor allem da er davon ausgehen dürfte, dass unsere Schiffe von gerade erst beförderten Executives und Arbeitern kontrolliert werden.«

»Das stimmt ja auch«, betonte Diaz. »Jedenfalls in vielen Fällen.«

Womöglich lag Diaz gar nicht so verkehrt mit seiner Andeutung, dass nicht alle neuen Kommandanten sich zwangsläufig an die strenge Syndikatsdisziplin halten würden, weil es ihnen an Erfahrung mit den höheren Dienstgraden in diesem System mangelte. Die Befehlshaber auf zwei der Midway-Jäger waren sogar noch schneller und weiter befördert worden als Marphissa. »Danke, dass Sie das angesprochen haben«, sagte sie. »Sie beide meine ich damit.«

Nach kurzem Überlegen betätigte sie wieder das Komm. »An alle Kriegsschiffe der Heimkehrerflotte: Jeder von Ihnen bleibt auf die Syndikat-Kriegsschiffe konzentriert, die Ihnen zugewiesen wurden. Nicht ein Schiff wird versuchen, ein anderes als das zugeteilte gegnerische Schiff zu verfolgen oder unter Beschuss zu nehmen, solange Sie von mir keinen ausdrücklichen Befehl dazu erhalten haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir das Syndikat besiegen werden, wenn Sie auch weiterhin so gute Leistungen erbringen.«

Sie ließ sich in ihren Sessel sinken, ihr Blick war weiter auf das Display gerichtet. Warum fühle ich mich nur so müde? Ich komme mir vor, als würden wir schon seit Stunden kämpfen.

Bei den Sternen im Himmel, das tun wir ja auch.

Während die Leichten Kreuzer und die Jäger des Syndikats unablässig um den schützenden Schild aus Midway-Kriegsschiffen kreisten, überprüfte Marphissa den Kurs der Frachter, die sich weiter zum rettenden Hypernet-Portal schleppten.

Der Flug bis zum Portal würde noch einundvierzig Stunden dauern.

Ungläubig und mit einem Anflug von Verzweiflung starrte sie auf die Zeitangabe. Sie mussten lediglich die nächsten einundvierzig Stunden damit fortfahren, das zu tun, was sie in den letzten Stunden auch schon unternommen hatten, wobei jedes Kriegsschiff aufmerksam auf alle Bewegungen achtete, die das ihm zugeteilte Syndikat-Schiff machte. Und Marphissa musste nur alle Kriegsschiffe im Auge behalten, um sicherzustellen, dass keines der Syndikat-Schiffe einen Versuch unternahm, die Verteidigungslinie zu durchbrechen, und dass keines von ihren eigenen Schiffen seine Verantwortung vernachlässigte. Na, wenn das alles ist, dachte Marphissa ironisch. Sind ja nur noch einundvierzig Stunden. Sie atmete schnaubend durch und wandte sich schließlich an den Senior-Wachspezialisten auf der Brücke. »Nehmen Sie Kontakt mit dem Bordarzt auf. Wir benötigen hier oben einen ordentlichen Vorrat an Aufputschern.«

»Ja, Kommodor«, erwiderte der Spezialist und gab Augenblicke später zurück: »Der Doktor möchte wissen, was ein ›ordentlicher Vorrat‹ sein soll.«

»So viel, wie nötig ist, um mich die nächsten einundvierzig Stunden wach und einsatzbereit zu halten.«

»Kommodor, der Doktor sagt …«

»Ich kenne die Vorschriften! Schaffen Sie einfach nur die verdammten Aufputscher auf die Brücke!«

»Jawohl, Kommodor«, kam Sekunden später die verhaltene Antwort des Wachspezialisten.

Bradamont kniete sich neben Marphissas Sessel hin und fragte im Flüsterton: »Was besagen denn die Vorschriften?«

»Die besagen«, entgegnete sie genauso leise, »dass die Anwendung von Aufputschern über einen Zeitraum von mehr als sechsunddreißig Stunden vom Seniorbefehlshaber genehmigt werden muss. In diesem Fall bin ich das.«

»Bringt das keine Probleme für Sie mit sich? Ich kann Sie für eine Weile ablösen, wenn Sie sich ausruhen möchten.«

Marphissa schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Display abzuwenden. »Sie haben es selbst gesagt, Honore, und Sie hatten damit recht. Nachdem sie jetzt wissen, was Sie sind, werden sie sich von Ihnen nichts befehlen lassen. Ich muss das selbst erledigen.«

»Dann sorgen Sie wenigstens dafür, dass ich auch genug Aufputscher abbekomme.«

»Und ich ebenfalls«, warf Diaz ein.

Sie überlegte, ob sie den beiden Ruhepausen befehlen sollte, entschied sich aber dagegen. Wenn diese beiden es nicht schaffen, schaffe ich es auch nicht. Also werden wir es zu dritt angehen. »Achten Sie darauf, dass die Wachspezialisten und anderen Crewmitglieder sich an ihre Schichten halten und Ruhezeiten bekommen«, wies sie Diaz an.

»Wir werden den Wachwechsel anpassen müssen, damit es funktioniert«, sagte Diaz. »Acht Stunden Dienst, dann vier Stunden Pause, wobei individuelle Schichten gestaffelt werden. Wir haben nicht genug Spezialisten an Bord, und nur auf diese Weise können wir rund um die Uhr den Gefechtsstatus gewährleisten.«

Das verdammte Syndikat mit seinen Kürzungen beim Personal! Keine Sorge, hatte man immer zu hören bekommen, wenn etwas kaputtgeht, reparieren wir es, wenn Sie das nächste Mal in der Werft sind. Ein toller Trost für jemanden, der sich mitten in einem Raumgefecht befindet! »Ich verstehe. Ich habe das schon durchgemacht. Wir müssen in den nächsten einundvierzig Stunden perfekte Gefechtsbereitschaft wahren, weil wir davon ausgehen können, dass uns diese Syndikat-Flotte keine Ruhepause gönnen wird.«

»Eine Nachricht von Colonel Rogero geht ein«, meldete der Komm-Spezialist.

Jede Nachricht bedeutete in diesem Moment für Marphissa eine unwillkommene Ablenkung, aber sie konnte Rogero nicht einfach ignorieren. »Ja, Colonel?«

Rogero stand auf der Brücke des Frachters, er trug seine Gefechtsrüstung. »Kommodor, ich wollte Ihnen mitteilen, dass Sie nicht befürchten müssen, einer der Frachter könnte sich über Ihre Befehle hinwegsetzen. Ich habe auf der Brücke jedes Frachters Wachleute postiert. Ich lasse mindestens einen Soldaten dort, solange wir in Indras sind, um dafür zu sorgen, dass keiner Ihrer Befehle falsch ausgelegt oder falsch verstanden wird.«

Ihr war klar, was sie zwischen den Zeilen daraus lesen musste: Mindestens ein Frachter-Executive hatte versucht, aus der Formation auszubrechen und die Flucht zu ergreifen, und er war nur von Rogeros bewaffneten Soldaten daran gehindert worden, die darauf achteten, dass Marphissas Befehle befolgt wurden. »Danke, Colonel. Das ist schon mal eine Sorge weniger.«

Rogero lächelte finster. »Ich werde Sie nur wieder stören, wenn es unbedingt notwendig ist, Kommodor. Für das Volk. Ende.«

»Irgendwelche Probleme?«, erkundigte sich Diaz.

»Nein«, antwortete sie. »Nur ein wenig Verstärkung für das Rückgrat des einen oder anderen Frachter-Executive.«

»Aha. Kein Wunder«, meinte Diaz. »Die Frachter-Executives sind ja auch kein Militär. Keine Waffen, keine Panzerung, gar nichts. Die sitzen einfach die ganze Zeit auf dem Präsentierteller. Das kann nicht leicht für sie sein.«

»Finden Sie, was wir tun, ist leicht?«

Ihr Tonfall ließ ihn leicht zusammenzucken. »Nein, Kommodor.«

Dennoch dachte sie darüber nach, dachte an all die Männer und Frauen auf den Frachtern. Die meisten von ihnen waren ohne Zugriff auf ein Display, so dass sie keine Ahnung hatten, was sich um sie herum überhaupt abspielte. Sie konnten sich nicht verteidigen, konnten nur dasitzen und abwarten, ob sich womöglich Höllenspeere durch die Schiffshülle bohrten und Tod und Elend verbreiteten.

Wenigstens verfügten die Kriegsschiffe über eine zumindest theoretisch ausreichend große Zahl an Rettungskapseln, um der Crew ein Entkommen zu ermöglichen, wenn das Schiff kurz vor seiner völligen Zerstörung stand. Theoretisch, weil die Zahl der Plätze nicht für die komplette Besatzung ausreichte, sondern auf eine durchschnittliche Anzahl von Crewmitgliedern zugeschnitten war, von denen — statistisch betrachtet — anzunehmen war, dass sie zu dem Zeitpunkt noch lebten, wenn ein Schiff so stark beschädigt worden war, dass es aufgegeben werden musste. Das alles war streng wissenschaftlich errechnet worden, um zu ermitteln, wie man günstiger davonkam: ob man einer überlebenden Crew die Möglichkeit zur Rettung gewährte oder sie sie einfach durch neue Besatzungsmitglieder ersetzte, die aber erst noch einberufen, transportiert und geschult werden mussten.

Trotz all dem war man auf einem Kriegsschiff immer noch besser aufgehoben als auf einem dieser Frachter. Die einzige Rettungskapsel an Bord eines Frachters war für die Crew und bestenfalls eine Hand voll Passagiere ausgelegt. »Ja, Sie haben recht«, sagte Marphissa schließlich zu Kapitan Diaz. »Es kann nicht leicht für die Leute auf den Frachtern sein.«

»Für Sie ist es aber auch nicht leicht, oder?«, fragte er.

»Nein, das ist es nicht«, räumte sie ein. »Es ist immer angenehmer, wenn man sich an einen Vorgesetzten wenden kann, wenn ein anderer da ist, der die Entscheidungen treffen muss. Nachdem ich mein Leben lang bei den mobilen Streitkräften von Vorgesetzten geplagt worden bin, die diese Rolle nicht gut ausfüllten, habe ich jetzt die Freiheit, selbst zu entscheiden und meine eigenen Fehler zu machen. Da, passen Sie auf.«

Die Kriegsschiffe des Syndikats hatten alle gleichzeitig beigedreht und waren wieder auf Vektoren eingeschwenkt, die auf die Frachter abzielten. Marphissa beobachtete mit höchster Konzentration die gesamte Situation und suchte nach möglichen Stellen, an denen eines ihrer Schiffe von den Angreifern abgehängt werden könnte. Dabei nahm sie kaum wahr, wie Diaz die Manticore in Richtung des ihnen zugewiesenen Leichten Kreuzers manövrierte, achtete dafür auf ihrem Display aber genauestens auf jeden noch so kleinen Hinweis darauf, ob der Kapitan sich verkalkulierte und der Leichte Kreuzer die Gelegenheit bekam, unbehelligt an ihnen vorbeizufliegen. Gleichzeitig behielt sie dabei auch die Flugbewegungen aller anderen Schiffe im Auge, während sie nur hoffen konnte, dass weder ihr noch den anderen Schiffskommandanten ein wichtiges Detail entging.

Ein Syndikatsschiff nach dem anderen brach den Anflug auf die Frachter ab, sobald ihm klar wurde, dass ein Midway-Schiff mit überlegener Feuerkraft auf Abfangkurs gegangen war. Sie zogen sich auf ihre Positionen rings um die Midway-Flotte zurück und bewegten sich dort angekommen ohne Unterlass hin und her, wie rastlose Wölfe, die auf eine Unaufmerksamkeit des Schäferhunds warten, um ein Schaf reißen zu können.

Im Verlauf der nächsten Stunden wiederholte sich dieses Spiel in unregelmäßigen Abständen unzählige Male.

Manchmal stürmten alle Angreifer gleichzeitig los, dann wieder rückten sie gestaffelt vor, und etliche Male stellten nur ein oder zwei Schiffe die Verteidiger der Frachter kurz auf die Probe. »Sub-CEO Qui versucht Sie mürbe zu machen«, sagte Bradamont. »Er hofft, wenn er nur lange genug Druck auf Sie ausübt, werden Sie oder irgendeiner Ihrer Kommandanten die Geduld verlieren und einen folgenschweren Fehler begehen.«

»Ich halte das länger durch als er«, erwiderte Marphissa. Der Aufputscher an ihrem Arm gab beständig Medikamente an ihren Körper ab, die dafür sorgten, dass sie hellwach und aufmerksam blieb. Später würde sie dafür zwar bezahlen müssen, doch im Augenblick fühlte sie sich gut.

Weitere Stunden verstrichen, in denen die Syndikat-Flotte ihre Taktik beibehielt. Gleichzeitig schwärmten die Schiffe immer weiträumiger um die Midway-Flotte aus, bis sie schließlich komplett in dem die Frachter und Marphissas Kriegsschiffe umgebenden Raum verteilt waren. Verteidigt werden musste inzwischen eine sehr in die Länge gezogene Blase, die sich entlang des Vektors erstreckte, auf dem die Frachter sich dem Hypernet-Portal näherten. Im All konnte jedes Schiff eine hohe Geschwindigkeit erreichen, wenn man ihm nur genügend Zeit zum Beschleunigen ließ. Frachter flogen normalerweise nicht so schnell, weil die Beschleunigungs- und Bremsmanöver Brennstoffzellen kosteten, die Transportunternehmen ihre Kosten aber am liebsten so gering wie möglich hielten. Diesmal allerdings hatte Marphissa den Executives befohlen, auf 0,1 Licht zu beschleunigen und diese Geschwindigkeit beizubehalten.

Es wäre schön gewesen, die Frachter noch etwas schneller in Richtung Portal fliegen zu sehen, doch Marphissa war in Sorge, sie könnten ihre Brennstoffzellen aufbrauchen, bevor das Ziel erreicht war. Die ständigen Attacken und Gegenattacken hatten aber auch dem Energievorrat auf ihren Kriegsschiffen zu schaffen gemacht. Die Syndikatsschiffe verbrauchen bei den dauernden Manövern genauso viel von ihren Brennstoffzellen wie wir. Die Frage ist nur, wie nahe sie dem Maximalbestand an Zellen gewesen waren, als sie sich auf den Weg gemacht hatten, um uns an der Heimreise zu hindern.

Nach sechzehn Stunden wagten ein Leichter Kreuzer und zwei Jäger einen Vorstoß in Richtung der Frachter, der so angelegt war, dass die Schiffe förmlich dazu einluden, von mehreren Verteidigern gleichzeitig abgefangen und unter Beschuss genommen zu werden. Sub-CEO Qui versuchte nun endlich den Trick, vor dem Bradamont sie gewarnt hatte.

»An alle Einheiten: Bleiben Sie auf das Ihnen zugewiesene Ziel konzentriert. Versuchen Sie nicht, andere als das Ihnen zugeteilte Schiff abzufangen, solange ich nicht den ausdrücklichen Befehl dazu erteile.«

Der Leichte Kreuzer und die Jäger blieben auf ihrem Kurs, bis sie fast in Feuerreichweite der Midway-Kriegsschiffe waren, dann drehten sie ab, so schnell sie konnten, und jagten davon, um nicht doch noch beschossen zu werden.

Fünfundzwanzig Stunden nach Beginn des Kampfs griffen erneut alle Syndikat-Schiffe gleichzeitig an. Zwei von Marphissas Schiffen — der Leichte Kreuzer Harrier und der Jäger Vanguard — reagierten etwas langsamer als zuvor. Der andere Midway-Jäger Scout, der diesen speziellen Syndikat-Jäger beobachtete, jagte seinem Ziel so energisch hinterher, dass der Angreifer kehrtmachte.

Doch der Syndikat-Jäger, der von der Harrier hätte aufgehalten werden sollen, flog weiter und weiter.

Marphissas Blick zuckte über ihr Display. Die Zeit reichte nicht, um erst noch Abfangkurse zu berechnen, doch ihr Instinkt erkannte den richtigen nächsten Zug in der Sekunde, in der sie sich entscheiden musste. »Kite, ändern Sie den Kurs, um das neue Ziel abzufangen. Maximale Beschleunigung genehmigt.«

Hatte sie richtig entschieden? Niemand war eigentlich nahe genug an diesem Syndikat-Jäger, doch der Leichte Kreuzer Kite hatte noch die besten Chancen, ihn zu erreichen. Der Kommandant der Kite wird das Schiff bis über die roten Markierungen hinaus antreiben müssen, die vor zu großer Belastung der Schiffshülle warnen, um den Jäger noch abfangen zu können. Womöglich verliere ich die Kite durch einen Hüllenbruch, und der Syndikat-Jäger kommt trotzdem durch.

Die Kite befand sich über den Frachtern in etwa auf gleicher Höhe mit seinen Schutzbefohlenen. Der Syndikat-Jäger kam hinter den zwei Reihen Frachtern von schräg unten angeflogen. Wären diese Schiffe nicht mit 0,1 Licht unterwegs gewesen, was den Jäger zu einer längeren Verfolgung zwang, um den Abstand zu ihnen zu verkürzen, hätte überhaupt keine Chance bestanden, den Angriff zu verhindern.

Ein einziges Fingertippen versorgte Marphissa mit allen Details der Statusinformationen über die Kite, die von dem Leichten Kreuzer als ständiger Datenstrom geliefert wurden. Steuerdüsen wurden gezündet, die das Schiff seitlich nach unten wegdrückten. Gleichzeitig flammte der Hauptantrieb mit maximaler Leistung auf, was die Anzeige für die Belastung der Hülle in die Höhe schnellen ließ.

Ein Alarmzeichen leuchtete auf Marphissas Display gleich neben dem Symbol für die Kite auf. Überlastung der Hülle steht kurz bevor. Beschleunigung verringern.

Sie ignorierte die Warnung und schloss dieses Fenster, das sich gleich darauf erneut öffnete. Handeln erforderlich, stand dort diesmal geschrieben.

Daraufhin tippte Marphissa persönlich den Befehl ein, die Meldung zu ignorieren, aber im nächsten Moment war das Fenster schon wieder da. »Ich dachte, wir hätten diese Funktion aus der Software gelöscht«, beklagte sie sich.

Diaz gab dem Senior-Wachspezialisten ein Zeichen, damit der Mann sich des Problems annahm.

Der Vektor des Syndikat-Jägers verlief in einer abgeflachten Kurve, die zwischen der oberen und der unteren Kolonne aus Frachtern hindurchführte. Der Bogen, den der Vektor der Kite beschrieb, näherte sich konstant einem Punkt, an dem er den momentanen Kurs des Syndikat-Jägers kreuzte.

Ein weiterer Alarm leuchtete über dem Symbol der Kite auf, diesmal blinkte ein rotes Licht. Übermäßige Hüllenbelastung. Beschleunigung sofort verringern.

Bradamont kniete wieder neben Marphissas Platz. »Kann die Kite das schaffen?«

»Das hängt ganz von ihrem Kommandanten ab«, antwortete sie, ohne den Blick vom Display abzuwenden. »Nur er kann beurteilen, ob die Hülle der Kite das durchhält.«

Übermäßige Hüllenbelastung. Strukturelles Versagen steht unmittelbar bevor. Beschleunigung sofort verringern.

Der Punkt, an dem sich die Vektoren der beiden Schiffe kreuzten, hatte sich ein wenig verschoben, da der Jäger nun ebenfalls nach Kräften beschleunigte, um der Kite zu entkommen. Allerdings konnte er den massiven Anstrengungen des Leichten Kreuzers nichts entgegensetzen. Das reicht jetzt, verdammt noch mal!, dachte Marphissa und bewegte einen Finger zu den Komm-Kontrollen.

Aber noch bevor sie eine Taste berühren konnte, änderte sich der Datenstrom der Kite. »Er hat die Beschleunigung runtergefahren.«

Würde das ausreichen? Die Warnungen blinkten weiter rot auf, und dann geriet der Datenstrom in Bewegung, da die Schadensmeldungen eingingen. »Asima«, sagte Bradamont in entsetztem Tonfall. »Wenn einer dieser Belastungspunkte vollständig versagt, wird das Schiff auseinanderbrechen.«

Diesmal bewegte sich Marphissas Finger zur Eingriffstaste. In allen Schiffen, die nach Syndikatsstandard gebaut waren, fanden sich solche Vorrichtungen, die es dem Flottenbefehlshaber ermöglichten, die unmittelbare Kontrolle über ein ihm unterstelltes Schiff zu übernehmen. Marphissa hatte sich einmal geschworen, so etwas unter keinen Umständen zu tun.

Aber es war möglicherweise sowieso längst zu spät.

Загрузка...