»General«, sagte Malin aufgeregt. Er hatte sich unbemerkt Drakon genähert, während alle wie gebannt und voller Verzweiflung auf das Display starrten, das die für diese ganze Welt todbringende Nachricht übertrug. »Im Orbit befinden sich immer noch ein paar Frachter. Wir können Sie zu einem von ihnen bringen.«
»Sie wollten doch, dass ich bleibe«, erwiderte Drakon, der tiefe Verbitterung darüber verspürte, dass seine Hoffnungen für dieses Sternensystem auf eine solche Weise ein Ende nahmen.
»Da hat es auch noch etwas bedeutet, General. Jetzt ist das nicht mehr der Fall. Das Bombardement lässt sich nicht aufhalten. Sie können sich in Sicherheit bringen, und solange Sie leben, können Sie immer noch versuchen, aus den Ruinen etwas auferstehen zu lassen. Mit der Flotte unter dem Kommando von Kommodor Marphissa können Sie zum Beispiel in einem System wie Taroa Ihren Einfluss geltend machen.«
»Und meine Truppe, Colonel Malin? Was ist mit meinen Soldaten?«
»Wir bringen so viele wie möglich nach oben auf die Frachter, General.«
So viele wie möglich? Das würden ein paar hundert sein, ein paar hundert von Tausenden. Colonel Rogero würde vermutlich bis zum Ende bei seiner Einheit bleiben und mitansehen, wie die Projektile der Enigmas als feurige Geschosse vom Himmel fielen und beim Aufprall Rauchpilze in die Luft aufsteigen ließen. Colonel Kai würde ganz genauso handeln. Colonel Gaiene? Drakon konnte sich vorstellen, dass Gaiene das Bombardement mit einem Gefühl der Erleichterung aufnehmen würde, weil seine lang anhaltende Trauer dann endlich ein Ende nahm. Gaiene würde vermutlich aus Trotz sein Glas erheben und dem Projektil, das seinen Namen trug, einen Toast entgegenrufen. Er würde sein Ende mit eben jener Mischung aus Eleganz und Traurigkeit akzeptieren, die ihn in den letzten Jahren ausgezeichnet hatte. »Bran, ich glaube, ich möchte das nicht. Wie soll ich all diese Soldaten im Stich lassen, und all die Bürger, die auf uns gezählt haben, dass wir sie beschützen?«
»Sir, bei allem Respekt«, drängte Malin. »Es geht nicht um Sie. Es ist Ihre Pflicht, diesen Kampf fortzuführen, mit allem, was wir aus den Überresten dieser Welt noch bergen können.«
Morgan tauchte plötzlich auf der anderen Seite von Drakon auf. Sie zeigte eine überzogen überraschte Miene. »Sogar er liegt manchmal richtig. General, kommen Sie, wir müssen los. Wir haben noch etwas Zeit, bevor die Steine einschlagen und hier alles verwüsten. Aber sobald der Mob erfährt, was da vom Himmel kommt, wird es einen Aufstand geben, und sie werden versuchen, den Landeplatz zu stürmen.«
Beide hatten recht. Malin und Morgan hatten die Logik und die Vernunft auf ihrer Seite. Aber Drakon musste nur einmal zu Iceni sehen, die mit versteinerten Gesichtszügen das Display betrachtete. Sie spürte seine Blicke und drehte sich zu ihm um. Sie sagte kein Wort, doch Drakon war sich sicher, dass sie ihm soeben wortlos ihr Einverständnis gegeben hatte. Gehen Sie. Los.
Stattdessen aber trat er zu ihr und ließ Malin und Morgan stehen. »Madam Präsidentin«, sagte er förmlich. »Sie müssen sich zu einem Shuttle begeben. Ich werde meinen Soldaten befehlen, rund um den Landeplatz einen Kordon zu bilden. Das sollte genügen, um die Menschenmenge zurückzuhalten, bis die Shuttles landen können.«
Sie sah ihm tief in die Augen. »Und dann lassen wir diese Soldaten hier zurück? Sie würden zu unserem Schutz dastehen, während wir uns in Sicherheit bringen und sie dem sicheren Tod überlassen?«
»Soldaten tun so etwas, Madam Präsidentin. Manchmal müssen sie das. Auf jeden Fall werden Sie den Planeten verlassen können.«
»Ich werde den Planeten verlassen können? Und was ist mit Ihnen, General?«
Ehe er darauf antworten konnte, rief der Supervisor des Kommandozentrums: »Wir erhalten eine Nachricht von den Allianz-Streitkräften. Sie ist an Präsidentin Iceni und General Drakon gerichtet.«
»Öffnen Sie uns ein privates Komm-Fenster«, wies sie den Mann an.
Augenblicke später entstand vor ihnen ein virtuelles Fenster, das für alle anderen nicht sichtbar war. Drakon hatte schon Bilder von Black Jack Geary gesehen. Der große Held der Allianz sah nicht wie ein Held aus, sondern wie ein Mann, der seine Arbeit erledigte und der sich selbst nicht für einen Helden hielt. Drakon hatte das vom ersten Moment an gefallen. Im Augenblick sah Black Jack gar nicht erfreut darüber aus, dass er die Enigma-Armada zum größten Teil ausgelöscht hatte. Entsprechend düster war sein Tonfall, als er sagte: »Hier spricht Admiral Geary. Wir haben unser Bestes gegeben, die Enigma-Streitmacht unschädlich zu machen. Trotzdem sind uns Schiffe entkommen, von denen einige begonnen haben, Ihre bewohnte Welt zu bombardieren. Wir werden weiter die Enigma-Schiffe verfolgen, aber wir können nichts gegen die Projektile unternehmen, die auf Ihre Welt zusteuern. Ich muss Sie auffordern, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit Ihres Volks zu gewährleisten. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«
Morgan beendete spöttisch das Schweigen, das nach dem Ende der Nachricht eingesetzt hatte: »Konnte er uns irgendwas erzählen, was wir nicht längst wissen? General, wir müssen los.«
»Er hat alles getan, was er konnte«, erwiderte Iceni und warf Morgan dabei einen zornigen Blick zu.
»Richtig«, stimmte Drakon ihr zu. »Black Jack trifft keine Schuld.« Aber davon abgesehen hatte Morgan recht. Es wurde Zeit aufzubrechen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Es schien, als hätten seine Füße Wurzeln geschlagen. Auch Iceni stand unverändert neben ihm. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Soldaten, all die Männer und Frauen, die ihm über Jahre hinweg auf zahlreichen Welten in den Kampf gefolgt waren. Die auf jeder dieser Welten Kameraden verloren hatten, während sie seine Befehle ausführten. Und er sah sie, wie sie dastanden, entschlossen die in Panik geratene Menge zurückzuhalten, damit ihr Kommandeur in ein Shuttle einsteigen konnte, das ihn in Sicherheit brachte, während er sie alle dem sicheren Tod überließ. Hinter ihnen sah er die weißen Strände dieser Welt und die sanften Anhöhen der Inseln. Er erinnerte sich an die sanfte Brise, die vom Wasser an Land wehte, und an die Sonnenuntergänge, deren spezieller Farbton im Lauf weniger Jahre zu einem sehr vertrauten Anblick geworden war. Diese Welt an sich zu verlassen, das war eine Sache. Doch eine ganz andere Sache war es, die Soldaten und die Welt in der Gewissheit zu verlassen, dass schon bald nichts davon mehr existieren würde.
Auch nach all den Jahren, in denen er in der Hierarchie des Syndikats Dienstgrad für Dienstgrad aufgestiegen war, nach allem, was er dafür hatte leisten müssen, gab es doch immer noch Dinge, die General Artur Drakon unmöglich tun konnte.
»General«, sagte Malin wieder zu ihm, auch wenn in seinen Tonfall bereits die Erkenntnis mitzuschwingen schien, dass jedes weitere Drängen sinnlos war.
Drakon schüttelte den Kopf. »Begleiten Sie die Präsidentin, wenn sie den Planeten verlässt, Colonel Malin. Sie wird Ihre Ratschläge und Ihre Unterstützung gebrauchen können.«
Malin senkte kurz den Blick, dann erklärte er: »Ich würde lieber bleiben, General.«
»Das ist ein Befehl, Bran.«
»Ich glaube nicht, dass unter den gegebenen Umständen eine disziplinarische Bestrafung wegen Befehlsverweigerung noch viel bewirken würde«, betonte Malin. »Auch wenn wir es im Hauptquartier vielleicht überleben würden.«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, brummte Drakon. »Also gut, dann verdammt noch mal eben so. Beschaffen Sie eine Eskorte, die Präsidentin Iceni zum Landeplatz bringt. Aber sorgen Sie für eine ordentliche Eskorte. Es wird in Kürze eine Massenpanik geben.«
Morgan stand ein Stück von ihm entfernt, ihre Haltung verriet eine für sie äußerst untypische Unschlüssigkeit. Sie schien einfach nicht zu wissen, was sie tun sollte, stattdessen starrte sie Drakon an.
»Gehen Sie, Colonel Morgan«, sagte er zu ihr, dann drehte er sich zu Iceni um, die sich noch immer nicht rührte, sondern mit geballten Fäusten dastand und ihren Blick durch das Kommandozentrum schweifen ließ. »Sie müssen die Eskorte der Präsidentin befehligen und dafür sorgen, dass sie an Bord des Shuttles gebracht wird. Helfen Sie ihr, an Bord eines Frachters im Orbit zu gelangen, und dann bleiben Sie bei ihr und passen auf sie auf, egal wohin sie auch geht. Schaffen Sie sie hier raus, bringen Sie sie in Sicherheit. Begleiten Sie sie, wohin sie will, und damit kommen Sie auch sicher hier raus.«
»Nein.« Morgan schüttelte den Kopf wie jemand, der soeben aus einer tiefen Trance erwacht war. »Sie …«
»M-Madam Präsidentin?«, rief der Supervisor verdutzt. »Da … da tut sich was.«
»Was tut sich wo?«, fuhr Iceni den Mann an und war sofort wieder ganz auf die Situation konzentriert.
»Diese sechs Schiffe, Madam Präsidentin. Die … die tun etwas.«
»Was tun sie denn?«, gab sie noch energischer als zuvor zurück. Aber als sie dann wieder das Display betrachtete, wich ihre Verärgerung völligem Unverständnis. »Was tun die da?«, fragte sie völlig ratlos.
Die sechs rätselhaften Schiffe, die fast schon in Vergessenheit geraten waren, hatten sich kontinuierlich dem Stern genähert. Jetzt kehrten sie auf die Ebene des Sternensystems zurück und demonstrierten dabei eine beeindruckende Beschleunigung. Ihre Vektoren führten sie zu …
»Das Bombardement«, flüsterte der Supervisor verblüfft. »Die wollen das Bombardement abfangen.«
»Wieso?« Icenis Frage war an das gesamte Kommandozentrum gerichtet. »Welchen Sinn soll das haben? Wozu sind die in der Lage?«
Der Supervisor, der in seiner Position derjenige war, der als Erster eine Antwort geben sollte, konnte nur stammeln: »Ich, ich habe … keine Ahnung, Madam Präsidentin.«
Iceni drehte sich abrupt zu Drakon um. »Mobile Streitkräfte können kein Bombardement stoppen, weil die Feuerkontrollsysteme von dieser Problemstellung überfordert sind. Was haben diese Schiffe vor?«
»Das da sind keine von unseren Schiffen«, antwortete stattdessen Colonel Malin. »Es sind auch keine Allianz-Schiffe. Es sind nicht mal menschliche Schiffe. Vielleicht können die etwas, was unsere nicht schaffen.«
Alle Augen waren auf das Display gerichtet, als die sechs Schiffe auf die Projektile zurasten und sich direkt hinter ihnen in Position brachten. Das Manöver, das sie dabei flogen, war so gewagt, dass Iceni und einigen anderen vor Bewunderung der Atem stockte. Die Schiffe eröffneten das Feuer und landeten irgendwie ihre Treffer. Die Schüsse vermochten zwar die Projektile aus massivem Metall nicht zu zerstören, aber es gelang ihnen, sie auf andere Flugbahnen zu lenken, die sie mit großem Abstand am Planeten vorbeifliegen lassen würden.
Drakon verfolgte das Geschehen beeindruckt mit, auch wenn er nicht die ganze Tragweite dieser Leistung verstand, während ein Projektil nach dem anderen auf einen anderen Kurs geschickt wurde. Allerdings fiel ihm auf, dass die Trefferquote abnahm, je weiter sich die Projektile von den sechs Schiffen entfernten.
Am Ende war es aber nur noch ein Projektil, das weiter auf diese Welt zuhielt. Immer wieder feuerten die sechs Schiffe auf das Objekt, ohne jedoch irgendeine Wirkung zu erzielen. Drakon versuchte zu berechnen, wie viel Schaden ein einzelnes Projektil anrichten konnte, wenn es auf dem Planeten einschlug. »Irgendwelche Schätzungen?«, fragte er an Malin und Morgan gewandt, die beide mit Kopfschütteln reagierten.
»Das hängt zu sehr davon ab, wo das Projektil einschlägt«, erklärte Malin.
Der Beschuss endete, im Kommandozentrum war ein lautes Seufzen zu hören, da jeder im gleichen Moment enttäuscht auszuatmen schien. Sie waren so dicht vor einem kompletten Erfolg gewesen, und dann hatte es doch nicht geklappt …
Aber niemand wollte sich beklagen, immerhin war ein Bombardement, das die gesamte Bevölkerung auslöschen sollte, auf ein einzelnes Projektil reduziert worden. Dieser eine Treffer würde zwar immer noch schwere Verwüstungen anrichten, aber keine planetenweite Katastrophe mehr auslösen können. »Wenn Sie beide sich dann entschlossen haben sollten, wieder meine Befehle auszuführen, dann könnten Sie jetzt die Flugbahn dieses einzelnen Steins berechnen, damit wir ungefähr wissen, wo der einschlagen wird«, wies er Morgan und Malin an. »Wir müssen …«
Die sechs Schiffe feuerten gleichzeitig eine einzelne Salve ab.
Anstatt den Erfolg zu vermelden, schluchzte der Supervisor vor Erleichterung.
Iceni war im Begriff, den Mann zu ermahnen, aber dann lächelte sie und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß zwar nicht, woher sie kommen und wer oder was sie sind, aber wir haben unglaubliches Glück gehabt, dass sie heute hergekommen sind.«
»Vielleicht hatte das mit Glück gar nichts zu tun«, sagte Malin, der mit berechnender Miene die Darstellungen der sechs seltsamen Schiffe betrachtete.
Drakon sah zu Morgan und stellte bei ihr den gleichen Gesichtsausdruck fest wie bei Malin. »Was denken Sie?«
Morgan grinste wieder auf ihre gewohnt freche Weise. »Wir brauchen, was die haben.«
»Fangen Sie gar nicht erst damit an, einen Plan zu entwickeln, wie wir eines von diesen Schiffen entern können!«, warnte Drakon sie.
»Und für eine Siegesfeier könnte es noch zu früh sein«, warf Malin ein. »Die zweite Gruppe Enigmas hat ein Bombardement gestartet.«
Leise fluchend drehte sich Drakon zum Display um. Tatsächlich hatten die Schiffe, die auf dem Weg zum Gasriesen waren, Projektile abgeworfen, die die Einrichtung der mobilen Streitkräfte und damit auch das dort angedockte Schlachtschiff treffen sollten. »Wir müssen das Ding von der Stelle bewegen.«
»Wir können keine Nachricht senden, die würde viel zu spät dort eintreffen«, stellte Iceni klar. »Was geschehen ist, ist geschehen. In der Vergangenheit hat Kapitan-Leytenant Kontos einige bemerkenswerte Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Ich bin mir sicher, er wird einsehen, dass er das Schiff aus der Schussbahn nehmen muss, bevor die Projektile dort ankommen. Kommodor Marphissa konnte die Enigma-Schiffe nicht mehr rechtzeitig erreichen, um das Bombardement zu verhindern, aber sie wird dafür sorgen, dass die nicht noch mehr Schaden anrichten.«
Doch im nächsten Moment war es mit Icenis aufgesetzter Gelassenheit vorbei. »Was macht er denn da?«
Drakon sah zum Display und versuchte zu verstehen, was sich da vor seinen Augen abspielte. »Das Schlachtschiff hat den Hauptantrieb gestartet.«
»Aber es ist immer noch an der Einrichtung angedockt! Es wird sich vom Dock losreißen und völlig unnötig beschädigt werden!« Icenis Meinung von Kapitan-Leytenant Kontos schien sich von einem Augenblick auf den anderen radikal zu verschlechtern.
Doch während Minute um Minute verstrich, änderte sich Icenis Mienenspiel abermals, nun in Richtung Unglauben. »Laut der Daten des Schlachtschiffs arbeitet der Hauptantrieb mit voller Leistung, aber das Schiff ist immer noch angedockt. Wie soll das möglich sein?«
»Die Einrichtung bewegt sich als Ganze von der Stelle«, meldete der Supervisor des Kommandozentrums prompt.
»Das sehe ich auch!«, fauchte Iceni. »Und wieso wird die Station nicht unter dem Druck zerrissen? Was zum Teufel veranstaltet Kontos da?«
Als wollte er ihr auf diese Frage antworten, ging in dieser Sekunde eine Mitteilung ein, die Kapitan-Leytenant Kontos auf der Brücke des Schlachtschiffs Midway zeigte. Wie immer gab sich der jugendliche Kontos von den ernsten Umständen völlig unbeeindruckt. »An Präsidentin Iceni. Als die Enigma-Streitmacht ins System kam, habe ich mir überlegt, dass es womöglich notwendig werden würde, diese Einrichtung vor der üblichen Art von Angriffen beschützen zu müssen. Daher habe ich den Werftarbeitern aufgetragen, die Verbindungen zwischen Schiff und Dock mit allen verfügbaren Mitteln zu verstärken. Sie haben rund um die Uhr gearbeitet, und sie sind sogar jetzt noch im Einsatz, während ich versuche, den Antrieb der Midway zu benutzen, um die Einrichtung aus dem Einzugsbereich des nahenden Bombardements zu bringen. Ich glaube, unsere Chancen stehen ganz gut. Ich habe Kommodor Marphissa ebenfalls von meinem Vorhaben berichtet. Wenn wir Erfolg haben, werde ich mich melden und berichten. Für das Volk. Kontos, Ende.«
»Er ist verrückt«, flüsterte jemand so laut, dass es jeder im totenstillen Kommandozentrum hören konnte.
»Es könnte funktionieren«, wandte der Supervisor ein.
Iceni sah aus, als würde sie jeden Moment vor Wut platzen. »Er setzt das Schlachtschiff aufs Spiel … mein Schlachtschiff! Dieser haarsträubende Plan kann unmöglich funk …«
»Madam Präsidentin?«, wurde sie von einem Spezialisten gefragt, der bei jeder Silbe unüberhörbar zwischen Zögern und Wagemut schwankte. »Die Berechnungen ergeben, dass die Einrichtung rechtzeitig das Gefahrengebiet verlassen wird.«
»Was? Ganz sicher?«
»Wenn man die eingehenden Datenströme ins Verhältnis zur bekannten Masse der Einrichtung und zu den Leistungsdaten des Hauptantriebs der Midway setzt, lautet das Ergebnis ja, Madam Präsidentin.«
Iceni starrte aufs Display und schwieg, da ihr die Worte fehlten. Die Einrichtung der mobilen Streitkräfte und das Schlachtschiff bewegten sich quälend langsam aus der Gefahrenzone. Die Projektile der Enigmas trafen ein, schossen bedenklich nahe an der Einrichtung vorbei, trafen dann auf den Gasriesen, prallten von seiner Atmosphäre ab und flogen ziellos in die Tiefen des Alls.
»Colonel Rogero hatte mir gesagt, dass Kontos gut ist«, merkte Drakon an.
»Ja«, stimmte Iceni ihm zu. Ihre Stimme war noch ein wenig zittrig. »Er hat eine großartige Zukunft vor sich. Sofern ich ihn nicht vorher umbringe.«
»Eine Gruppe ist immer noch übrig«, warf Morgan ein, während sie zusahen, wie Kommodor Marphissas Flotte sich bemühte, die Enigmas abzufangen, die eben erst die Einrichtung der mobilen Streitkräfte angegriffen hatten. »Die Gruppe, die Kurs auf das Portal genommen hat.«
Mit mürrischer Miene musterte Drakon diese Schiffe. »Die rätselhaften Schiffe haben uns vor der ersten Gruppe bewahrt, Kapitan-Leytenant Kontos hat den Angriff der zweiten ins Leere laufen lassen, und Kommodor Marphissa wird sich um die Gruppe selbst kümmern, sobald sie sie erreicht hat. Und jetzt sind wir darauf angewiesen, dass CEO Boyens sich der dritten Gruppe annimmt.«
»Na ja, mindestens ein Wunder haben wir heute ja schon erlebt, eigentlich sogar zwei«, erwiderte Iceni. »Vielleicht ist es nicht zu viel verlangt, auch noch auf Wunder Nummer drei zu hoffen.«
Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass die letzte Gruppe Enigma-Kriegsschiffe den Angriff abbrach und stattdessen mit maximaler Geschwindigkeit Kurs auf den Sprungpunkt nach Pele nahm. »Die haben erst mal genug«, stellte Drakon fest. Er hatte das oft genug bei Kämpfen zwischen menschlichen Kontrahenten beobachtet. Irgendwann war bei jedem Gefecht ein Punkt erreicht, an dem der Kampfgeist kapitulierte. Je besser ein Kämpfer war, umso länger dauerte es, bis er an diesen Punkt gelangte, aber grundsätzlich galt diese Beobachtung für jede Streitmacht, wenn sie erst einmal ausreichend schwere Verluste erlitten hatte. Auch wenn die Enigmas in jeder anderen Hinsicht nicht so sein mochten wie Menschen, gab es zumindest in diesem Punkt eine Art Verwandtschaft zwischen den Spezies. In gewisser Weise hatte diese Erkenntnis etwas Tröstendes.
Sein Blick wanderte zu Black Jacks Flotte, die in das von den Enigmas kontrollierte Gebiet vorgedrungen und von dort zurückgekehrt war — und die dabei von den sechs mysteriösen Schiffen und jenem gigantischen Etwas begleitet wurde, das von Allianz-Schlachtschiffen geschleppt werden musste. »Was glauben Sie, wie viel er uns darüber verraten wird, was er alles herausgefunden hat?«
Nachdenklich schüttelte Iceni den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er könnte einen Preis dafür fordern, dass er uns verrät, was er weiß.«
»Was denn für einen Preis? Wir haben fast nichts, was wir ihm bieten könnten.«
»Ich weiß auch nicht.« Iceni schien besorgt zu sein, während Morgan ein überhebliches Lächeln zur Schau stellte, als wüsste sie die Antwort.
»Wir sollten wohl mit ihm reden«, sagte Drakon.
»Ja. Machen wir es auf die formale Art.« Iceni führte ihn in das private Büro, wo er wieder neben ihr Platz nahm. »Was wollen Sie ihm sagen?«
Was wollte er sagen? Sein Blick wanderte unauffällig zu Malin, der genauso dezent wortlos den Vorschlag unterbreitete, Iceni den Vortritt zu lassen. Also gut. Lieber gar nichts sagen anstatt Unsinn zu reden. »Das überlasse ich Ihnen«, sagte er zu Iceni. »Wir sollten Black Jack auf jeden Fall wissen lassen, dass uns mit Boyens’ Flotte keine Freundschaft verbindet.«
»Ja, natürlich. Wenn wir Black Jack dazu bekommen, sich zu uns zu bekennen, dann hat CEO Boyens keine Chance. Sonst noch was?«
»Nein. Ich will nur sicherstellen, dass Black Jack uns zusammen sieht, damit er weiß, dass wir gemeinschaftlich zu allem stehen, was wir sagen.«
Iceni nickte ihm zu, dann drehte sie sich zur Kamera um und gab ein Zeichen, damit die Übertragung beginnen konnte. »Wir stehen abermals in Ihrer Schuld, Admiral Geary. Ich weiß nicht, wer Ihre Verbündeten sind, aber ihnen sind wir ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. Meine Kriegsschiffe werden sich den Enigmas widmen, die es auf mein Schlachtschiff abgesehen haben. Ich habe keinen Einfluss auf die Flotte nahe dem Hypernet-Portal, aber ich kann Ihnen sagen, dass Sie nicht davon ausgehen können, dass diese Flotte in unserem Interesse handeln wird. Ihr Befehlshaber CEO Boyens ist Ihnen ja bekannt. Wenn Sie ihm Ihre Befehle klar machen, wird er es sich womöglich überlegen, ob er ihnen zuwiderhandeln soll. Es ist wichtig, Boyens zu verstehen zu geben, dass er nicht die Kontrolle über dieses System besitzt und dass er nicht vorschreiben kann, was hier zu geschehen hat. Für das Volk, Iceni, Ende.«
Sie entspannte sich, bis ihr Drakons Blick auffiel. »Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«
Er gab Malin ein Zeichen, damit der sie allein ließ. Dann wartete er, bis sich die Tür hinter dem Colonel geschlossen hatte. »Meine Kriegsschiffe? Mein Schlachtschiff?«
»Habe ich das gesagt? Ich dachte, ich hätte unsere gesagt.«
»Haben Sie aber nicht.« Es war nur eine Kleinigkeit, aber es war auch ein eindeutig einseitiger Anspruch auf die mächtigsten militärischen Posten in diesem Sternensystem. Drakon wurde bewusst, dass ihn die jüngsten Ereignisse verärgert hatten, weil er gezwungen gewesen war, zusammen mit seinen Soldaten dazusitzen und zuzuschauen, wie andere Midway verteidigten und retteten. Ich weiß, dass die Bodenstreitkräfte gegen diese Bedrohung nichts ausrichten konnten, aber es stört mich trotzdem ungemein, dass sie und Black Jack gemeinsam mit ihren Kriegsschiffen alle Arbeit geleistet haben.
Iceni tippte ein paar Mal mit einem Finger auf die Tischplatte und fixierte dabei ihre Hand, als erfordere diese Geste äußerste Konzentration. »Wenn das ein Grund zur Sorge sein sollte, dann werde ich die Beschreibung der Streitkräfte anpassen, wenn ich das nächste Mal mit ihm rede.« Sie sah ihn an und machte dabei ein Pokerface, das Drakon rätseln ließ, was in diesem Moment tatsächlich in ihrem Kopf vor sich ging.
»Gut. Solange Klarheit darüber besteht, dass ich hier das gleiche Maß an Kontrolle besitze.«
»Daran bestand nie ein Zweifel.« Sie sah ihm in die Augen. »General Drakon, wir können uns keine Fehler bei der Frage leisten, wer unsere Verbündeten sind.«
»Gwen … ich bedauere unser vorangegangenes Missverständnis.«
»Sie meinen, als Ihre Offizierin mich bedroht hat?«
Iceni wollte es ihm ganz offensichtlich nicht leicht machen. »Es wird nicht wieder vorkommen. Dafür werde ich sorgen.«
Sie sah zu den Sicherheitsanzeigen über der Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand ihre Unterhaltung belauschte. »Artur, um sicherzustellen, dass diese Offizierin das nicht noch mal macht, muss man sie schon kaltstellen. Das wissen Sie so gut wie ich.«
»Wenn Sie ihre Vorgeschichte kennen würden …«, begann Drakon beharrlich.
»Ich kenne ihre Vorgeschichte.«
Auch wenn diese Aufzeichnungen über Morgan strenger Geheimhaltung unterlagen, überraschte es ihn nicht, dass Iceni darüber Bescheid wusste. Sie hatte eindeutig ihre Hausaufgaben gemacht. »Morgan hat einige schwere Schläge einstecken müssen. Das würde nicht als Rechtfertigung dienen, wenn sie ihre Arbeit nicht erledigen könnte. Genau das kann sie aber. Sie hat vor allen anderen die Agentin im Kommandozentrum aufgespürt.«
Iceni lehnte sich zurück und sah ihn ernst an. »Es könnte so arrangiert worden sein. Die Schlangen, die sich noch immer in diesem Sternensystem versteckt halten, müssen gewusst haben, dass wir dieser Agentin auf der Spur waren. Sie könnten Morgan die Informationen zugespielt haben.«
»Wozu?«
»Um jeden Verdacht von ihr abzulenken.«
Einen Moment lang war Drakon sprachlos. »Gwen, ganz ernsthaft. Wenn Sie Morgan besser kennen würden, wüssten Sie, dass das unmöglich ist. Sie hasst die Schlangen, und sie hasst das Syndikat. Das Syndikat hat ihr übel mitgespielt, und auch wenn sie das nicht zugeben würde, sinnt sie auf Rache.«
Iceni schürzte die Lippen und überlegte eine Weile. »Bestätigen Sie, was ich weiß. Das Syndikat spielte ihr übel mit, wie Sie es ausdrücken, als sie mit gerade mal achtzehn Jahren ein mentales Training für ein Selbstmordkommando im Territorium der Enigmas über sich ergehen lassen musste.«
»Richtig. Sie verbrachte ungefähr zwanzig Jahre im Kälteschlaf, während sie in einem ausgehöhlten Asteroiden auf eine von den Enigmas besetzte Welt zusteuerte. Sie und die anderen Teilnehmer dieser Mission sollten aufgeweckt werden, kurz bevor der Asteroid in die Atmosphäre eintauchte. Dann sollten sie auf der Oberfläche landen und alle Informationen senden, die sie sammeln konnten, bevor die Enigmas sie töten würden. Aber die Mission wurde abgebrochen, als die vordersten Asteroiden dieser Gruppe von den Enigmas zerschossen wurden. Morgan und ein anderer Soldat wurden zurückgeholt, um herauszufinden, wie die Enigmas so schnell von ihrer Anwesenheit hatten erfahren können.«
»Das passt«, sagte Iceni. Was sie in diesem Moment dachte, blieb hinter ihren Augen verborgen. »Chronologisch gesehen ist sie doppelt so alt, wie sie aussieht.«
»Ja, biologisch ist sie ungefähr so alt wie Malin. Auch wenn das für keinen von beiden ein Anlass ist, besser miteinander auszukommen.«
Iceni schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie Ihren Stab zu leiten haben, aber ich kann Ihnen sagen, dass diese Frau meiner Meinung nach gefährlich ist.«
»Sie glauben, sie stellt eine Bedrohung für mich dar?«, fragte Drakon.
»Ja«, erwiderte sie und überraschte ihn damit. »Regen Sie sich nicht gleich auf, sondern hören Sie mich erst mal an. Ich glaube nicht, dass Colonel Morgan Ihnen vorsätzlich Schaden zufügen würde. Dafür ist ihre Loyalität Ihnen gegenüber viel zu stark. Gedanken sollten Sie sich allerdings darüber machen, wohin diese Loyalität sie führen könnte und wozu sie möglicherweise fähig ist, weil sie davon überzeugt ist, in Ihrem besten Interesse zu handeln.«
In meinem besten Interesse? Wo habe ich denn das schon mal gehört?, überlegte Drakon.
Taroa. Morgan selbst hatte genau das zu ihm gesagt: »General Drakon, alles, was ich tue, geschieht nur in Ihrem besten Interesse.« Selbst damals hatte er sich schon gefragt, wie sie das wohl meinte.
Dass das für ihn zur Gefahr werden sollte? Morgan hatte ihre Macken, aber sie hätte niemals diese medizinische Bescheinigung erhalten, wenn sie nicht die Standards des Syndikats erfüllt hätte. Zugegeben, solche Standards ließen sich auch in die eine oder andere Richtung auslegen, aber da war kein Spielraum für schießwütige Verrückte, wenn die nicht gerade einen einflussreichen Fürsprecher auf ihrer Seite hatten. Einen solchen Fürsprecher hatte Morgan definitiv nicht gehabt.
Dennoch konnte Drakon den Grund für Icenis Bedenken nachvollziehen. »Also gut, ich werde Morgan wissen lassen, wenn Ihnen oder irgendwem sonst ohne meinen eindeutigen und ausdrücklichen Befehl etwas zustößt, dann werden ihre bisherigen Leistungen sie nicht vor den Konsequenzen bewahren.«
Sie sah ihm lange forschend in die Augen, schließlich erwiderte Iceni: »Das ist ein echtes Dilemma. Ich mag Sie, weil Sie die Leute nicht abschieben, die Ihnen lästig werden. Aber dieser Charakterzug macht mir das Leben umso schwerer. Also gut, warnen Sie sie. Doch ich werde sie auf jeden Fall im Auge behalten.«
»Das werde ich machen«, entgegnete er, dann sah er sie skeptisch an. »Sie mögen mich?«
Iceni seufzte und spreizte die Hände. »Ein wenig. Ist das so ungewöhnlich?«
»Wenn Sie es genau wissen wollen: Ja.« Er lächelte ironisch. »Ich bin nämlich nicht sehr umgänglich.«
»Und ich bin nicht billig«, gab sie amüsiert zurück, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Ich habe noch Arbeit zu erledigen.«
»Ja, ich auch.« Niemandem vertrauen, niemanden zu nahe an sich heranlassen, nie die Arbeit mit Privatem vermischen. Und zu keiner Zeit wegen persönlicher Gefühle in der eigenen Wachsamkeit nachlassen. Das waren alles altbekannte Warnungen, die ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatten, während er in den Dienstgraden der Syndikatshierarchie aufgestiegen war. Sie hallten endlos in Drakons Kopf nach, während sie das Büro verließen.
Verdammt, ich mag sie ebenfalls. Ein klein wenig.
»Ich habe mir das Verhörprotokoll der Agentin angesehen, das Präsidentin Icenis Leute erstellt haben«, berichtete Colonel Malin. »Ich habe auch ein eigenes Verhör durchgeführt und kann den Resultaten zustimmen, die man Ihnen vorgelegt hat. Diese spezielle Agentin weiß nichts, was für uns von Nutzen sein könnte. Ihre Entsorgung wird vorgenommen, sobald Sie die Anweisung geben.«
Drakon lehnte sich in seinem Sessel nach hinten. Er war endlich zurück in seinem Büro, zurück in seinem eigenen Hauptquartier, umgeben von Leuten, deren Loyalität ihm gegenüber über jeden Zweifel erhaben war. Er ließ sich Malins Worte durch den Kopf gehen, während der Colonel geduldig wartete und in respektvollem Abstand und in einer Beinahe-Habachthaltung dastand, was die lässigste Haltung zu sein schien, die sich Malin in Drakons Gegenwart erlaubte.
»Entsorgung.« Das war einer der offiziellen und zugelassenen Begriffe, die in den Syndikatwelten für eine Hinrichtung standen. »Die Entsorgung der Gefangenen«. Wie oft habe ich das wohl zu hören bekommen?, fragte Drakon sich.
Er hasste dieses Wort, nicht erst seit Jüngstem, sondern schon seit langer Zeit.
Aber von der Wortwahl abgesehen gab es keinen Diskussionsspielraum, was diese Frau anging. Sie hatte für die Schlangen gearbeitet. Ihre Behauptung, durch Drohungen gegenüber ihrer Familie erpresst worden zu sein, hatte sich während des Verhörs bestätigt, doch das änderte nichts an der Tatsache an sich. Sie konnte keine Gnade erwarten, nicht einmal von ihren ehemaligen Kollegen. Sie aus der Haft zu entlassen war schlicht unmöglich.
Und dennoch verspürte Drakon einen merkwürdigen Unwillen, sie zu »entsorgen«. »Was ist mit Präsidentin Iceni? Hat sie einen Befehl hinsichtlich der Gefangenen erteilt?«
»Ihr Büro hat der Entsorgung zugestimmt, General.«
»Wer genau hat zugestimmt? Ihr Büro oder sie selbst?«
Malin verstummte kurz. »Sir, ich werde nachfragen müssen, ob Präsidentin Iceni persönlich entschieden hat.«
Gehörte etwas so Routinemäßiges zu seiner Vereinbarung mit Iceni? Vermutlich ja. Sie hätte sich mit ihm absprechen sollen, bevor sie der Tötung der Agentin zustimmte. Vor allem weil es keinen Grund gab, die Hinrichtung zu überstürzen. Aber warum sollte sie aufgeschoben werden? Wäre die Agentin für sie noch von Nutzen, dann sähe die Sache anders aus …
Unwillkürlich begann Drakon zu lächeln. »Colonel Malin, angenommen, wir lassen sie leben …«
»Leben?« Zum ersten Mal überhaupt machte der Mann einen verdutzten Eindruck.
»Angenommen, Sie wären eine der Schlangen, die sich noch immer auf diesem Planeten oder in diesem Sternensystem versteckt halten. Sie wüssten, wir haben diese Frau gefangengenommen, und dann würden Sie erfahren, dass sie nicht hingerichtet wurde. Was würden Sie dann denken?«
Malin dachte nur kurz über diese Frage nach, dann hellte sich seine Miene auf. »Ich würde glauben, dass sie für sie immer noch von Nutzen ist.«
»Richtig. Dass sie immer noch wertvoll für uns ist. Und was würden Sie dann tun?«
»Ich würde versuchen, zu ihr zu gelangen, um sie höchstpersönlich zu eliminieren.« Malin lächelte Drakon erfreut an. »Sie wollen sie als Köder benutzen, um ein paar von den verbliebenen Agenten der Schlangen hier im Sternensystem zu entlarven.«
»Das war mein Gedanke.« Das stimmt doch, oder nicht? Vielleicht war das tatsächlich der einzige Grund, weshalb er die Entsorgung dieser Frau nicht anordnen wollte.
Aber er hatte genug vom Tod. Gwen Iceni hatte mit ihm über etwas gesprochen, unmittelbar bevor die Enigmas und Boyens hier aufgetaucht waren. Etwas, das mit einer neuen Vorgehensweise zu tun hatte, die auf beiläufige Hinrichtungen verzichtete und die den Führern keine grenzenlosen Befugnisse gewährte. »Bran, können Sie auf irgendwelche Informationen über Regierungssysteme zugreifen, die die Befugnisse der Machthaber beschneiden?«
Malin nickte prompt. »Ja, Sir, da kann ich Ihnen Verschiedenes liefern. Texte über Politikwissenschaft und Geschichte.«
»Wenn Politik tatsächlich eine Wissenschaft ist, dann ist sie in meinen Augen pervertiert«, polterte Drakon. »Ich weiß, warum so viele Leute die Macht unterstützen, über die ein CEO im Syndikatsystem verfügt. Sie hoffen darauf, eines Tages selbst CEO zu werden und dann auch diesen Einfluss übertragen zu bekommen.«
»Unterschätzen Sie nicht die Angst, die ein solches System erzeugt«, warnte Malin ihn. »Viele fürchten sich davor, überhaupt etwas zu sagen, wenn selbst die harmloseste Bemerkung missbraucht werden kann, um jemanden zu bestrafen. Und um ehrlich zu sein: Eine Menge Menschen sind doch davon überzeugt, dass so viel Macht in den Händen der Anführer nötig ist, damit Ruhe und Ordnung herrscht.«
»Und dennoch hassen sie die Schlangen«, fügte Drakon verächtlich an. »Dazu hat das Syndikatsystem letztlich geführt: zu einem Inneren Sicherheitsdienst, vor dem wir uns mehr fürchten als vor der Allianz.«
»Ja, Sir, das ist genau das, wohin es führt. Ich werde Ihnen die Texte beschaffen, General.«
Auch wenn Icenis Verdächtigung, Morgan könnte für die Schlangen arbeiten, völlig absurd war, musste er dennoch wieder über diese Äußerung nachdenken. Die Erwähnung der Schlangen hatte diese Sache ungewollt in den Vordergrund rücken lassen. »Colonel Malin, wie sicher können wir uns sein, was die Echtheit der Informationen über Colonel Morgans Vergangenheit angeht? Gibt es da irgendetwas Wichtiges, was ich bislang noch nicht zu Gesicht bekommen habe?«
Für einen winzigen Augenblick flammte eine intensive Gefühlsregung in Malins Augen auf, die so schnell wieder verschwunden war, dass Drakon sich nicht sicher sein konnte, was er gerade eben gesehen hatte. Schmerz? Das ergab keinen Sinn. Wut? Ja, vielleicht. Frust? Ganz sicher. Malin hatte zweifellos viele Stunden damit verbracht, nach irgendeinem noch so winzigen Hinweis zu suchen, mit dem er Morgan loswerden konnte. Dass es ihm nicht gelungen war, etwas Belastendes zutage zu fördern, musste eine herbe Enttäuschung gewesen sein.
Als Malin dann antwortete, klang seine Stimme so beherrscht wie immer. »Nein, Sir. Was hat sie jetzt wieder angestellt?«
»Seit ihrem kleinen Auftritt im Kommandozentrum nichts weiter.« Drakon rieb sich die Augen und sah Malin wieder an. »Sind unsere Informationen korrekt? Oder besteht die Möglichkeit, dass wir über Morgan Dinge zu wissen glauben, die gar nicht zutreffen?«
»Nein, Sir. Ich bin mir absolut sicher, dass Ihre Informationen über Colonel Morgan stimmen.«
»Ich weiß, was Sie von ihr halten, deshalb werde ich Sie diese Sache geradeheraus fragen: Besteht Ihrer Meinung nach irgendeine Möglichkeit, dass Morgan für die Schlangen arbeitet?«
Diesmal war Malins Reaktion zweifelsfrei zu erkennen: Verwunderung. »Nein, Sir, ich kann mir nicht vorstellen, dass … Sie hasst die Schlangen, Sir.«
»Mehr als sie Sie hasst?«
Malin reagierte mit einem schwachen Lächeln. »Das möchte ich bezweifeln, General. Aber ich werde Colonel Morgan im Auge behalten.«
Und Morgan wird Sie im Auge behalten. Überhaupt behalten wir uns alle ständig gegenseitig im Auge. Wie um alles in der Welt bekommen wir eigentlich noch irgendwas getan? »Danke, Bran. Sorgen Sie dafür, dass Präsidentin Icenis Leute erfahren, dass die Agentin am Leben bleibt. Ich will, dass Sie die Frau in einer Hochsicherheitszelle unterbringen, deren Sicherheitssystem ein paar erkennbare Lücken aufweist.«
Diesmal lächelte Malin verstehend. »Inklusive einer vollständigen Überwachung aller Lücken, damit wir sehen können, wer versucht, die Schlupflöcher für sich zu nutzen. Jawohl, Sir. Ich werde mich sofort darum kümmern.«
Präsidentin Iceni zeigte ihr freundlichstes Lächeln, was etwas leichter für sie war, da sie das Kommandozentrum verlassen hatte und in ihren eigenen Regierungskomplex zurückgekehrt war. In einer vertrauten Umgebung an ihrem eigenen Schreibtisch zu sitzen war eine willkommene Abwechslung, nachdem sie tagelang damit hatte rechnen müssen, dass die Enigmas sie auslöschen würden. »Admiral Geary, ich möchte Ihnen meinen persönlichen Dank aussprechen für Ihr Handeln zum Schutz des von Menschen besiedelten Weltalls und des Midway-Sternensystems vor erneuten Angriffen durch die Enigma-Rasse.«
Nun ging es an den heikleren Teil. »Midway steht auch weiterhin zu seinen Verpflichtungen aus den Verträgen, die mit der Regierung der Syndikatwelten auf Prime geschlossen wurden«, fuhr Iceni fort. »Da wir inzwischen allerdings ein unabhängiges Sternensystem sind, werden Nachverhandlungen über die Vereinbarungen erforderlich. Ich versichere Ihnen, wir sind an Übereinkünften interessiert, von denen Midway und die Allianz gleichermaßen profitieren werden. Ich gehe nicht davon aus, dass es auf dem Weg zu diesen Vereinbarungen irgendwelche Schwierigkeiten geben wird.« So. Kurz und knapp und ein bisschen schwammig. Sag nichts, was nach Unterwürfigkeit oder Drohung klingen könnte. Die Flotte von CEO Boyens hält sich noch immer in der Nähe des Hypernet-Portals auf, und wenn ich mir eines nicht erlauben kann, dann ist es Black Jack zu verärgern. Aber ich kann auch nicht zulassen, dass er mich als selbstverständlich hinnimmt. »Für das Volk. Iceni, Ende.«
Iceni rieb sich das Genick und versuchte, die verspannten Muskeln zu lockern. »Sorgen Sie dafür, dass eine Kopie davon an General Drakon geht, damit er weiß, dass ich nicht hinter seinem Rücken mit Black Jack rede«, wies sie Togo an. »Geben Sie mir Bescheid, sobald wir eine Antwort erhalten.«
»Ja, Madam Präsidentin.«
»Noch keine Reaktion von CEO Boyens?«
»Nein, Madam Präsidentin. Einer unserer Leichten Kreuzer ist unterwegs, um die Übertragungen zwischen der Syndikat-Flotte und dem Allianz-Flaggschiff abzufangen, aber er wird erst in einer Stunde eine geeignete Position erreicht haben.«
Mit finsterer Miene betrachtete sie das Display, das den Leichten Kreuzer zeigte, wie er sich scheinbar im Schneckentempo auf einen Orbit zubewegte, auf dem er sich zwischen den Streitkräften von Black Jack und Boyens befinden würde. Das Display gab an, dass das Kriegsschiff in Wahrheit mit 0,2 Licht unterwegs war, was sogar nach den Standards der Weltraumreise beeindruckend war. Ich könnte mich bei Kommodor Marphissa darüber beklagen, wie lange das alles dauert, aber ich weiß ja, dass ihre Streitkräfte damit befasst waren, auf meinen Befehl hin die Enigmas zu jagen. Diese Tatsache wäre trotzdem für etliche CEOs, unter denen ich leider gedient habe, noch lange kein Grund gewesen, einfach zu schweigen. Aber ich habe von derartigen Brüllaffen gelernt, dass man auf diese Weise niemanden motiviert. Man bewirkt nichts als das Gegenteil, da die Leute aus Widerwillen oder Angst nur umso langsamer werden. Ich hoffe, Marphissa weiß meine Zurückhaltung zu schätzen.
»Der Botschafter von Taroa wartet auf Sie«, sagte Togo.
»Schicken Sie ihn rein.«
So wie andere Sternensysteme, die sich gegen das Syndikat aufgelehnt hatten, hatte auch Taroa unter einer massiven Ausbeutung durch die älteren und erfahreneren Regierungsvertreter gelitten. Einige von diesen Leuten waren tot, anderen war die Flucht gelungen, und wieder andere saßen im Gefängnis. Der Botschafter gehörte zur neuen Garde, ein ehemaliger Universitätslehrer, der durch enge persönliche Verbindungen zur neuen Regierung sehr schnell in ein hohes Amt aufgestiegen war.
Zumindest war ihm bekannt, dass das offizielle Protokoll vorsah, Besuche wie diesen persönlich zu erledigen.
Iceni lächelte höflich und bedeutete dem Botschafter, Platz zu nehmen. Sie sah ihm zu, wie er sich ein wenig misstrauisch hinsetzte und ihr einen Blick zuwarf, der seine Nervosität verriet. Jemand mit deutlich mehr Erfahrung hätte das mühelos überspielt. Iceni war eine CEO gewesen, bevor sie sich den Titel Präsidentin gegeben hatte. Den Bürgern der Syndikatwelten hatte man eingeimpft, einem CEO nicht in die Augen zu sehen, weshalb selbst ein frischgebackener Botschafter Mühe hatte, diese Angewohnheit abzulegen. »Sie haben unser Angebot erhalten?«, fragte Iceni.
Der Botschafter nickte. »Ja, Madam Präsidentin. Es erscheint uns … extrem großzügig.«
»Und jetzt fragen Sie sich, was denn wohl der Haken an der Sache ist, richtig?«
Ihre offene Art überraschte den neuen Botschafter und brachte ihn aus dem Konzept, was genau ihre Absicht gewesen war.
»Wenn Sie wünschen, dass ich offen spreche …«, begann der taroanische Botschafter.
»Ich bitte darum. So etwas spart Zeit.«
Zögerlich begann er zu lächeln. »Sie bieten uns ein Teileigentum an der Hauptorbitaleinrichtung an, ebenso an dem Schlachtschiff, das dort gebaut wird. Im Gegenzug bitten Sie um ein Abkommen, das jede Seite verpflichtet, der anderen im Verteidigungsfall beizustehen.«
Iceni erwiderte das Lächeln und strahlte Selbstbewusstsein und scheinbare Offenheit aus. »Sie unterschätzen, welche Bedeutung derartige Abkommen für uns haben. Schlachtschiffe können wir uns beschaffen, zwei Stück haben wir bereits. Aber zuverlässige Verbündete in einer Region zu finden, in der jederzeit aus jeglicher Richtung eine Bedrohung auftauchen kann, ist weitaus schwieriger. Midway kann sich nicht allein gegen diese Bedrohungen behaupten, auch wenn uns die Sprungpunkte und das Hypernet-Portal viele Vorteile verschaffen. Taroa kann sich ebenfalls nicht allein behaupten. Wir haben Ihnen gerne dabei geholfen, sich vom Joch des Syndikats zu befreien.« Es konnte nie schaden, zwischendurch noch einmal zu betonen, was Midway für die Freien Taroaner geleistet hatte. »Gemeinsam und mit den Ressourcen von zwei Sternensystemen können wir uns viel besser verteidigen und sogar Expeditionen starten, falls es erforderlich werden sollte, anderen Sternensystemen zu helfen.«
Der Botschafter nickte nachdrücklich, womit er verriet, wie wichtig ihm das Abkommen war. »Ja. Ich bin mir sicher, dass meine Regierung das verstehen wird. Niemand möchte vom Syndikat zurückerobert werden. Und vielleicht könnte Kane ja unsere Hilfe gebrauchen.«
Die jüngsten Berichte von Kane deuteten auf anhaltendes Chaos hin. Dutzende kleiner Gruppen rangen um die Kontrolle über den Planeten, seit die Syndikregierung zusammengebrochen und in der Folge alle Versuche gescheitert waren, eine neue, stabile Regierung zu bilden. »Ein Eingreifen bei Kane wäre gefährlich«, wandte Iceni ein. »Wenn Taroa daran interessiert ist, können wir aber natürlich darüber reden. Doch meine Leute sind der Meinung, dass Kane sehr wahrscheinlich in mehrere miteinander wetteifernde Regierungen innerhalb des Sternensystems zerfallen wird. Ich neige dazu, diesen Prozess erst noch eine Weile laufen zu lassen, bis Ruhe einkehrt. Vorher möchte ich unsere eigenen, beschränkten Ressourcen nicht dort einsetzen.«
»Ich verstehe, Madam Präsidentin. Verzeihen Sie, aber ich muss Gewissheit haben. Ihr Angebot erfolgt in Ihrem und im Namen von General Drakon?«
»Das ist richtig. Sie müssen Ihrer Regierung deutlich machen, dass wir nicht ewig auf eine Antwort warten können. Wenn wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir das Schlachtschiff bei Taroa auch aus eigener Kraft fertigstellen können, werden wir von Ihnen keine Hilfe mehr benötigen.«
»Ja, Madam Präsidentin, ich werde darauf hinweisen, dass schnelles Handeln erforderlich ist.«
»Vielen Dank«, sagte Iceni in einem Tonfall, der erkennen ließ, dass die Besprechung beendet war. Der Botschafter verabschiedete sich und strahlte vor Freude über die in Aussicht gestellte Vereinbarung, für deren Zustandekommen er zweifelsohne das eigene Verhandlungsgeschick geltend machen würde.
Iceni gab Togo ein Zeichen. »Geben Sie mir einen aktuellen Bericht über unsere einflussreichen Agenten im Taroa-System. Ich will Gewissheit haben, dass wir genügend Leute an den richtigen Stellen besitzen, damit der Vereinbarung ohne Verzögerung zugestimmt wird. Vor allem ohne zu viele Fragen, welches Maß an Autorität Midway durch die Vereinbarung über das Militär von Taroa erlangen wird. Sprechen Sie sich mit Drakons Stab ab, damit die Agenten, die für seine Leute arbeiten, die gleichen Anweisungen erhalten. Ich will diese Anweisungen mit dem gleichen Schiff nach Taroa schaffen wie das Angebot.«
»Jawohl, Madam Präsidentin. Um eine rasche Zustimmung der taroanischen Regierung zur Vereinbarung zu erreichen, könnte es notwendig werden, mehr Bestechungsgeld auszugeben als bislang einkalkuliert.«
Diesmal lächelte Iceni ironisch. »Nicht unbedingt. Ich habe festgestellt, dass gewählte Volksvertreter oftmals viel günstiger zu haben sind als Bürokraten, denn die haben eine viel bessere Vorstellung davon, was sie wert sind. Aber zusätzliche Zahlungen sind hiermit genehmigt, sollten sie notwendig werden. Wir können uns einfach nicht darauf verlassen, dass Black Jack jedes Mal zur Verteidigung dieses Sternensystems eilt, wenn wir bedroht werden.« Colonel Malin verdiente einen stillschweigenden Bonus dafür, dass er diese Vereinbarung überhaupt erst vorgeschlagen hatte, aber er würde diesen Bonus sehr wahrscheinlich ablehnen. Das Streben nach Reichtum gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die Malin antrieben.
Black Jacks Antwort auf ihre Nachricht traf sechs Stunden später ein, was in etwa der minimalen Zeitspanne entsprach, die die Übermittlung zu und von der Allianz-Flotte benötigte. Die Flotte hatte sich mittlerweile zu einer einzigen, gewaltigen Formation zusammengeschlossen, die nun in einer Entfernung von fast drei Lichtstunden um den Planeten kreiste, auf dem Iceni sich aufhielt. Black Jack machte keinen sonderlich triumphierenden Eindruck, sondern wirkte so überarbeitet, wie Iceni sich fühlte. Ich beneide ihn nicht darum, die mächtigste Person im von Menschen besiedelten All zu sein. Was fängt man mit solcher Macht an, wenn man bei Verstand ist und ein Gewissen besitzt? So übermüdet er auch sein mochte, seine Uniform saß tadellos. Er muss einen sehr guten Assistenten haben, der darauf achtet, dass er sich immer von seiner besten Seite präsentiert …
Assistent? Oder vielleicht jemand, der ihm etwas näher steht? Es gab da doch Gerüchte …
»Hier spricht Admiral Geary«, begann Black Jack. »Die Verhandlungen über solche Vereinbarungen werde ich den beiden Gesandten der Allianz-Regierung übertragen, die uns auf dieser Mission begleiten. Die beiden werden zu diesem Zweck mit Ihnen in Kürze Kontakt aufnehmen. In einer anderen Sache besteht für uns dringender Handlungsbedarf, denn die Rohstoffbestände meiner Hilfsschiffe sind stark gesunken. Ich möchte Sie daher um Ihr Einverständnis bitten, auf einigen Asteroiden in diesem Sternensystem Rohstoffe abzubauen, damit wir damit beginnen können, die hier erlittenen Gefechtsschäden zu reparieren.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Bitte richten Sie Kommodor Marphissa meinen persönlichen Dank dafür aus, dass sie und ihre Schiffe gemeinsam mit uns dieses Sternensystem verteidigt haben. Sie und ihre Leute haben gut gekämpft. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«
Iceni dachte eine Zeit lang über ihre Antwort nach.
»Er benötigt diese Rohstoffe sehr dringend«, sagte Togo. Er war ein paar Minuten zuvor in ihr Büro zurückgekehrt und hatte ihr eine abgefangene und entschlüsselte Kopie der streng geheimen Mitteilung gebracht, die der taroanische Botschafter hinsichtlich des Verteidigungsabkommens an seine Regierung gerichtet hatte. Seitdem hatte er schweigend dagestanden. Nun sprach er verhalten weiter: »Sonst würde Black Jack sich nicht an die Führung eines Sternensystems des Syndikats wenden.«
»Wir sind kein Sternensystem des Syndikats mehr«, erwiderte Iceni.
»In deren Köpfen sind wir das immer noch, Madam Präsidentin.« Weder sein Gesichtsausdruck noch sein Tonfall gaben irgendeinen Hinweis darauf, wie er selbst darüber dachte. »Wir hatten außerdem Zeit, die offensichtlichen Schäden an den Allianz-Kriegsschiffen zu analysieren. Man hat ihnen im Gefecht schwer zugesetzt, und es müssen umfangreiche Reparaturen vorgenommen werden.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auf eine Geschäftsvereinbarung zu unseren Gunsten, Madam Präsidentin. Wir können Profite aushandeln, die Ihr Format betonen und Ihre Position stärken werden.«
Iceni dachte auch darüber nach. Die Idee ist verlockend. Ich sitze am längeren Hebel und kann Bedingungen stellen.
Wirklich verlockend.
Vielleicht zu verlockend?
Benötigt Black Jack die Rohstoffe tatsächlich so dringend? Er befindet sich auf dem Heimweg, und er verfügt über eine gewaltige Feuerkraft. Selbst wenn diese Reparaturschiffe keine Materialien mehr haben, könnten sie sich in jedem beliebigen Sternensystem einfach einen Asteroiden aneignen, ohne jemanden um Erlaubnis fragen und erst recht ohne dafür bezahlen zu müssen.
Das könnte er sogar hier machen. Er könnte sich nehmen, was er haben will, und argumentieren: »Sie schulden mir das.« Und wir könnten nichts dagegen einwenden.
Stattdessen fragt uns Black Jack, ob er etwas haben darf, obwohl er eine überwältigend große Streitmacht im Rücken hat.
O ja, Sie sind ein wahrer Meister der Irreführung. Sie wollen, dass ich den Köder schlucke. Sie wollen sehen, ob ich mich bei der erstbesten Gelegenheit vielleicht doch so verhalte, wie man es von einem CEO des Syndikats kennt. So hat er uns schließlich immer wieder aufs Neue geschlagen. Er lässt uns glauben, dass wir uns in der mächtigeren Position befinden, und dann …
»Wir können es uns nicht leisten, Black Jack zu unterschätzen«, sagte sie schließlich.
»Madam Präsidentin?«
»Er will, dass wir mit ihm zusammen handeln, auch wenn wir glauben, dass er sich in einer Position der Schwäche befindet. Er will feststellen, ob wir die Gelegenheit nutzen und ihn auszunehmen versuchen. Wir sehen ihn an und glauben, er ist bloß ein einfacher Matrose, der eine schlichte Bitte äußert. Hätte so ein einfacher Matrose die mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten vernichten können? Und dann lenkt er mich auch noch mit Lob für Kommodor Marphissa ab. Eine geschickte Manipulation, die ihn offen und ehrlich dastehen lassen soll. Tatsächlich aber hat er eine nahezu perfekt getarnte Fußangel ausgelegt, in die wir blindlings hätten hineinspazieren können.«
Einen Moment lang sah Togo sie überrascht an. »Verzeihen Sie, aber mir war nicht bewusst, dass Black Jack so verschlagen sein könnte.«
»Aber jetzt wissen wir es. Ich werde ihm geben, was er haben will. Ganz großzügig, ohne Gegenleistung.« Iceni lächelte finster. »Er soll merken, dass er jemanden vor sich hat, der intelligent genug ist, einen Bogen um seine Fallen zu machen.«
»Ja, Madam Präsidentin.« Togo hob eine Hand ein Stück weit hoch. »Wir sollten sicherstellen, dass die Aktionen der Allianz von unserer Behörde für den Abbau von Bodenschätzen im All koordiniert werden. Indem wir vorgeben, dass es sich dabei um die standardmäßige Vorgehensweise handelt, können wir genau beobachten, was da geschieht.«
»Hervorragende Idee. Geben Sie der Behörde Bescheid, dass die Allianz in Kürze mit ihr Kontakt aufnehmen wird und dass sie ohne Zögern ihren Wünschen nachkommen soll.« Sie schickte Black Jack ihre Antwort, in der sie ihm gut gelaunt die gewünschte Erlaubnis gab, dann leitete sie den zweiten Teil von Black Jacks Mitteilung an Marphissa weiter und verband dies mit ihren eigenen Glückwünschen.
»Die Behörde ist benachrichtigt worden, Madam Präsidentin«, meldete Togo.
»Gut.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. Der Verdacht, den sie zuvor noch gegen ihren Assistenten gehegt hatte, war deutlich abgeschwächt, da er die ganze Zeit über nichts anderes als angemessene Hochachtung und Gehorsam demonstriert hatte. Nach der Ankunft der Enigmas und allem, was sich in der Zeit danach abgespielt hatte, war ich so aufgewühlt, dass ich offenbar an allen Ecken und Enden Bedrohungen gesehen habe. »Black Jack wird ganz sicher Informationen über alles zusammentragen, was hier und in den umliegenden Sternensystemen vor sich geht. Seine Schiffe werden zweifellos alle Übermittlungen, Nachrichten und alles andere zusammentragen, was sich nur aufzeichnen lässt. Wir müssen dafür sorgen, dass Black Jack ein vorteilhaftes Bild von uns erhält.«
Togo stand reglos da, die Augen waren auf ein weit entferntes Objekt gerichtet, das nur in seinem Geist existierte. »Wir benötigen eine Methode, um ihm die Dinge zu erzählen, die er auch auf andere Weise in Erfahrung bringen könnte, die wir ihm aber so präsentieren wollen, wie es uns am liebsten ist«, sagte er schließlich.
»Wenn wir ihm einfach ein Datenpaket schicken, ist das zu offensichtlich. Wir müssen ihm den Anstrich geben, dass es objektive Fakten sind.«
»Das würde es erforderlich machen, mit der Allianz-Flotte offiziell Kontakt aufzunehmen, aber ohne es … offiziell zu machen.«
»Es ist ja nicht so, als hätten wir an Bord irgendeines von Black Jacks Schiffen Freunde, denen wir so etwas zukommen lassen könnten«, murmelte Iceni.
Freunde? Auf einem von Black Jacks Schiffen?
Togo wollte eben wieder etwas sagen, aber mit einer Geste brachte Iceni ihn zum Verstummen, um diesem flüchtigen Gedankengang zu folgen. Ah, das ist es. Eine Angelegenheit, die einen von Drakons Untergebenen und eine von Black Jacks Untergebenen betrifft. »Verbinden Sie mich mit General Drakon, ich muss schnellstens mit ihm reden.«
Das gefällt mir nicht, überlegte Drakon. »Bereitet Ihnen das, worum ich Sie bitte, keine Probleme?«, fragte er Colonel Rogero. Genau genommen hat Iceni mich gebeten, Rogero zu fragen, aber es war meine Entscheidung, das Anliegen an ihn weiterzugeben, und ich weigere mich, mich dabei hinter irgendwem zu verstecken.
Rogero nickte und zeigte äußerlich keine Regung. »Ich begrüße die Gelegenheit, eine, äh, persönliche Nachricht zu übermitteln, General.«
»Donal, Sie waren ehrlich zu mir, was Ihnen diese Frau sogar jetzt noch bedeutet. Ich weiß, das wird Ihnen nicht leichtfallen, zumal Sie wissen, dass wir diesen Weg gehen, um Black Jack unsere eigene Version der jüngsten Ereignisse zuzuspielen.«
»Ich lasse mich lieber von Ihnen und Präsidentin Iceni benutzen als von den Schlangen, Sir«, erwiderte Rogero und zeigte den Anflug eines Lächelns. »Ich komme damit zurecht, General. So kann ich mich verabschieden. Dazu hatten wir nie eine Gelegenheit.«
Drakon wich dem Blick des Mannes aus, da ihm das Ganze einfach nur unangenehm war. »Wir schicken die Nachricht offen rüber, weil wir uns nicht länger Gedanken darüber machen müssen, dass die Schlangen uns Fragen stellen könnten. Zeichnen Sie auf, was Sie möchten. Den Teil werde ich mir nicht ansehen. Aber Sie müssen den Text anfügen, den die Leute der Präsidentin ausgearbeitet haben. Der enthält nichts Unangemessenes, es ist nur ein aktueller Lagebericht, der uns alle in gutem Licht dastehen lässt. Die Sache mit den Wahlen, was wir auf Taroa gemacht haben, solche Dinge eben. Danach werde ich die Nachricht persönlich an Black Jack weiterleiten. Ich kann nicht garantieren, dass sie an Captain …«
»Bradamont.«
Es war erstaunlich, wie mit einem einzigen Namen so viel Gefühl vermittelt werden konnte, obwohl Rogero erkennbar versucht hatte, genau das zu vermeiden. »… dass sie die Nachricht erhält. Aber ich werde Black Jack bitten, sie an sie weiterzuleiten.«
»Jawohl, Sir. Darf ich mir ein paar Minuten Zeit dafür nehmen?«
»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Und danke, Donal. Ich wünschte wirklich, die Dinge wären anders gekommen.«
»Wir wissen beide, das ist unmöglich, Sir. Sie ist eine Offizierin der Allianz-Flotte, und ich war bis vor Kurzem ein Offizier der Bodenstreitkräfte der Syndikatwelten. Das Schicksal hat uns zusammengebracht, aber keiner von uns hat jemals geglaubt, dass auf uns etwas anderes als eine Trennung wartet.«
Nicht mal eine halbe Stunde nach dieser Unterhaltung saß Drakon an seinem Schreibtisch und gab den Befehl ein, um eine Nachricht an das Flaggschiff der Allianz-Flotte zu senden. »Ich möchte Sie um einen persönlichen Gefallen bitten, Admiral Geary. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie keinen Grund haben, einem ehemaligen Feind einen Gefallen zu tun. Allerdings geht es hier auch nicht um mich, sondern um meinen Untergebenen. Colonel Rogero ist einer meiner vertrauenswürdigsten und angesehensten Offiziere. Er hat mich gebeten herauszufinden, ob die angehängte Nachricht an einen Ihrer Offiziere weitergeleitet werden kann. Angesichts seines loyalen Dienstes mir gegenüber und von einem Befehlshaber zum anderen bitte ich Sie daher, diese Nachricht an den vorgesehenen Empfänger weiterzuleiten. Falls Fragen gestellt werden, Präsidentin Iceni weiß von dieser Kontaktaufnahme und vom Inhalt der angehängten Nachricht. Sie hat nichts dagegen einzuwenden. Wenn Sie Fragen zu dieser Angelegenheit haben, stellen Sie die mir, ich werde Ihnen auf alles antworten.«
Fertig. Mehr musste er nicht sagen. Aber es war seine erste — und womöglich auch einzige — persönliche Nachricht an Black Jack. Drakon stellte sich vor, wie der legendäre Admiral der Allianz ihm gegenübersaß.
Sind Sie als Person so real, wie Sie erscheinen? Ich will es doch hoffen. Wenn Sie wirklich dieser Mann sind, würde ich genau das von einem Befehlshaber zum anderen zu Ihnen sagen. »Ich bin froh, dass wir uns nie im Krieg begegnet sind, Admiral. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine solche Begegnung überlebt hätte, aber ich weiß, ich hätte Ihnen zuvor noch die Schlacht Ihres Lebens geliefert. Für das Volk. Drakon, Ende.«
Ein paar Minuten später saß er noch an seinem Schreibtisch, da meldete sich Colonel Malin bei ihm. Selbst wenn Drakon durch die jüngsten Ereignisse nicht schon wachsam genug gewesen wäre, hätte ihn die finstere Miene des Mannes so oder so augenblicklich in Unruhe versetzt. »Was ist los?«
»Die Agentin ist tot, General.«