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»Hier ist sie«, sagte Grunt und drehte sich auf seiner Kaiila um. »Siehst du die Stangen?«

»Ja«, erwiderte ich. Wir befanden uns zwei Pasangs östlich von Kailiauk.

Das Gras reichte bis zu den Knien der Kaiila und bis an die Oberschenkel der Sklavinnen, die in kurzen einteiligen braunen Reptuch-Tuniken an einer Fessel gingen und auf den Köpfen Vasen balancierten.

Die Stange vor uns war etwa sieben Fuß hoch; diese Größe sollte offenbar gewährleisten, daß sie auch bei Schnee noch zu sehen war, in den Wintermonaten wie Waniyetuwi und Wanicokanwi. Sie bestand aus geschältem Ka-la-na-Holz und wies an ihrer Spitze zwei lange, schmale gelb-schwarz abgesetzte Federn auf, die aus dem Schwanz des schuppigen Herlit stammten, eines riesigen, breitflügeligen, fleischfressenden Vogels, der unter Goreanern zuweilen auch der Sonnenschläger genannt wird oder genauer, wenn auch unschöner übersetzt: Aus-der-Sonne-schlägter-zu. Dies geht vermutlich auf seine Angewohnheit zurück, seine Beute wie der Tarn stets so anzugreifen, daß er die Sonne über und hinter sich hat. Ähnliche Stangen erblickte ich etwa zweihundert Meter entfernt links und rechts. Wie Grunt mir mitteilte, ist die gesamte Grenze mit solchen Zeichen abgesteckt, wenn auch nicht immer in Sichtweite. Die Stangen stehen natürlich in Gegenden, wo Weiße siedeln, dichter zusammen.

Grunt schaute nun wieder nach vorn über die weiten Grasflächen und die sanft auf und ab schwingenden Hügel. Das Terrain jenseits der Grenzstangen schien sich kaum von dem davor liegenden Land zu unterscheiden. Die Hügel, das Gras, der hohe blaue Himmel, die weißen Wolken – dies alles schien zu beiden Seiten der Federzeichen identisch zu sein. Die Stangen erschienen mir als Fremdkörper, als geographische Unsinnigkeit. Sie konnten gewiß keine überragende Bedeutung haben, wie sie da standen, sich im Wind neigend, der auch die Federn rascheln ließ. Es war eine frische Brise. Ich erschauderte auf dem Rücken meiner Kaiila.

Wer sich dafür interessiert: Wir erreichten die Grenzstangen im Frühlingsanfang, zu Beginn der Magaksicaagliwi, des Mondes der zurückkehrenden Gant. Der Monat davor war der Wundauge-Mond gewesen: Istawincayazanwi. Wegen der unsicheren Wetterlage, der Gefahr von Frösten und Unwettern und wegen der unangenehmen Stürme hatte Grunt diesen Monat gemieden. Der folgende Mond würde Wozupiwi sein, der Pflanz-Monat, eine Bezeichnung, die ich im gegebenen Zusammenhang sehr aufschlußreich finde. Er scheint darauf hinzuweisen, daß die Bewohner dieser Gegend irgendwann einmal fest siedelnde Bauern waren. Das mußte natürlich vor dem Auftauchen der Kaiila gewesen sein, die offenbar in dieser Gegend für einen durchgreifenden kulturellen Umschwung gesorgt hatte. Oft bildet man sich ein, eine Jagdkultur stelle gewissermaßen eine niedrigere Entwicklungsstufe dar als eine Wirtschaft, die auf Ackerbau und Viehzucht basiert. Vielleicht liegt dies an dem Umstand, daß die Landwirtschaft im allgemeinen ein stabileres kulturelles Milieu schafft und normalerweise auf kleinerem Gebiet größere Bevölkerungszahlen zuläßt. Von der Landwirtschaft ernährt, braucht ein einzelner Mensch weniger als einen Morgen Land. Derselbe Mensch, müßte er sich auf die Jagd verlassen, bräuchte ein Gebiet von mehreren Quadratmeilen. Hier scheint allerdings die bewußte Entscheidung eines Volkes gegen die Landwirtschaft und für die nomadische Jagdkultur vorzuliegen. Ermöglicht wurde diese Entscheidung zweifellos durch die Mobilität, die von der Kaiila ausging, und von der großen Zahl der Kailiauk – eine Entscheidung für die weit herumkommenden Jäger, den stolzen und freien Krieger, eine Entscheidung gegen den Bauern, dem die fernen Horizonte verschlossen blieben, der der Gnade der Elemente ausgeliefert blieb, gefesselt an seinen Boden.

Grunt saß auf dem Rücken seiner Kaiila, eines vornehmen gelben Tiers, und schaute nach Osten über die Grenzstangen hinaus. Am Zügel führte er eine Pack-Kaiila, die mit Waren beladen war. Ich ritt ebenfalls auf meiner Kaiila, einem langhalsigen schwarzen Tier mit seidigem Fell. An meinem Sattel war ebenfalls eine Pack-Kaiila angebunden. Unsere Lasttiere, die vierbeinigen wie auch die zweibeinigen, trugen die verschiedensten Güter. Während ich nur die Kaiila zur Verfügung hatte, konnte Grunt neben seinem zweiten Tier zehn andere Pack-Träger einsetzen, die seine Habe trugen. Ich hatte mich hauptsächlich für Decken, bunte Stoffe, Bänder, Spiegel und Perlen, Töpfe und Pfannen entschieden, die im Ödland sehr begehrt waren, dazu für harte Süßigkeiten, Zucker und Färbungsmittel. Grunt führte ähnliche Artikel mit, darüber hinaus aber auch lange Nägel, Nieten, Beile, metallene Lanzenspitzen, Messerklingen und Schlachtermesser. Die Messerklingen und langen Nägel werden zuweilen an Knüppeln befestigt. Daneben lassen sich die Messer natürlich mit geschnitzten Griffstücken aus Holz oder Knochen verbinden. Die Nieten dienen dazu, Klingen und Lanzenspitzen zu befestigen. Die metallene Lanzenspitze vereinfacht das Leben der roten Wilden. Sie läßt sich leicht auf den Schaft montieren. Im Gegensatz zu einer Steinspitze bricht sie nicht so schnell. Und sie macht gefährliche Ausflüge in feuersteinreiche Gegenden überflüssig.

Grunt stellte sich hinter dem hohen Sattelknauf hoch und hob die Zügel. Dann ließ er jählings die Füße nach hinten zucken und spornte das Tier an. Es setzte sich in Bewegung und überquerte mit seinem glatten schlenkernden Schritt die Reihe der Grenzstangen. Auf diese Weise ritt Grunt etwa zwanzig Meter weit und zog seine Kaiila dann herum. Er lockerte die lange zusammengerollte Peitsche, die an einem Schnapphaken auf der rechte Seite seines Sattels befestigt war, und kam zu uns zurück, an der rechten Seite der Kette seiner barfüßigen Schönheiten entlang. »Hei! Hei!« rief er. Zweimal ließ er die Peitsche knallen. Dann ritt er um das Ende der Kette herum und bewegte sich an der linken Seite entlang wieder nach vorn. Er war Rechtshänder.

»Wir sind Frauen und hilflose Sklaven!« rief Ginger. »Bitte, Herr, führe uns nicht über die Grenze!«

»Überleg es dir, Herr, wir bitten dich!« flehte Evelyn.

»Hei! Hei!« brüllte Grunt und ließ seine Peitsche ihr Werk tun.

Daraufhin setzte sich die Kette in Bewegung, angeführt von der entsetzten Rothaarigen, der ehemaligen Millicent Aubrey-Welles aus Pennsylvanien. Ginger und Evelyn stolperten weinend mit. Andere Mädchen folgten schluchzend. Nur Ginger und Evelyn schienen den Ort, der ihr Ziel war, ungefähr zu kennen, obwohl sie letztlich doch nur Barbarinnen waren. Auch sie konnten nicht voll ermessen, was ihnen bevorstand. Ich beobachtete die Mädchen, die ihre Lasten auf dem Kopf balancierten; ich sah die Kette, die sie in einer langgestreckten Linie zusammenhielt; ich sah, wie sie die Ihanke überschritten. Früh genug würden sie erfahren, was es bedeutete, in einem solchen Land, im Land der Kailiauk und des hohen Grases, eine weiße Sklavin zu sein.

Grunt hatte nun wieder die Spitze der Prozession übernommen; eine Pack-Kaiila führte er hinter sich.

Mein Blick fiel auf das rothaarige Mädchen, die erste an der Kette. Grunt hatte besondere Pläne mit ihr. Trotzdem diente sie im Augenblick wie die anderen als Lasttier, das Grunts Waren schleppen mußte. Es durfte eben kein Weißer mehr als zwei Kaiila über die Linie zwischen den Grenzstangen bringen.

Ich trieb meine Kaiila an; gleich darauf hatte auch ich mit meinen beiden Tieren die Ihanke überschritten. Nun befand auch ich mich im gefürchteten Ödland. Eilig ritt ich hinter Grunt und der Sklavenkette her. Ich wollte nicht zurückbleiben.

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