18

»Das ist der Junge, von dem die Waniyanpi gesprochen haben«, sagte Grunt. Ich schloß mich meiner Gruppe auf einer kleinen Anhöhe an, am Ostrand des Schlachtfeldes gelegen. Der Jüngling war etwa zwanzig Jahre alt, und man hatte ihn nackt im Gras angepflockt. Um seine Lanze, die neben ihm mit dem Schaft nach unten in der Erde steckte, war ein Stück Tuch gewickelt.

»Ist dies der Bursche, von dem du sprachst?« fragte Grunt.

»Ja«, antwortete ich und sah mir den jungen Mann an. »Er war bei der Kolonne.«

»Er ist ein Staubfuß«, meinte Grunt.

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Sprichst du Goreanisch?«

Der junge Mann öffnete die Augen und schloß sie wieder.

»Ich habe in den Dialekten der Staubfüße, der Kaiila und Flieher zu ihm gesprochen«, sagte Grunt. »Er reagiert nicht.«

»Warum?«

»Wir sind Weiße.«

»Sein Zustand ist nicht gut«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, daß er es noch lange macht«, sagte Grunt. »Die Waniyanpi haben ihm wenig Wasser und Nahrung gegeben; wahrscheinlich hat man ihnen das befohlen.«

Ich nickte. Sie sollten ihn am Leben halten, bis sie das Schlachtfeld verließen, dann sollte er zurückgelassen werden, um zu sterben. Von der Anhöhe schaute ich in die Senke zwischen den niedrigen grasbestandenen Hügeln. Dort unten waren die Waniyanpi am Werk und sammelten Unrat ein und stapelten ihn auf. Dahinter machte ich einige Wagenwracks aus.

»Daß du dich nicht einmischst!« sagte Grunt warnend.

Ich ging zu meiner Kaiila und holte einen Wasserbehälter aus Verrleder. Er war halb gefüllt.

»Er ist den Waniyanpi anvertraut«, sagte Grunt.

Ich beugte mich neben dem Jungen nieder und legte ihm sanft eine Hand in den Nacken. Er öffnete die Augen und sah mich an. Er brauchte wohl einige Zeit, bis er deutlich sehen konnte.

»Er ist den Waniyanpi anvertraut«, wiederholte Grunt.

»Die sich aber nicht gut um ihn zu kümmern scheinen«, sagte ich.

»Misch dich nicht ein!« warnte Grunt.

»Ich sehe Anzeichen von Austrocknung«, sagte ich. Solche Dinge kannte ich aus der Tahari. Aus eigener Anschauung wußte ich, wie unangenehm solche Mangelerscheinungen sein konnten.

»Nicht!« sagte Grunt.

Den Jungen halb im Arm haltend, hob ich die Wasserhaut. Der Junge nahm einen Schluck in den Mund, und ich zog die Öffnung zurück. Er sah mich an. Dann wandte er plötzlich voller Haß den Kopf zur Seite und spuckte das Wasser ins Gras. Und er legte mit geschlossenen Augen den Kopf zurück.

»Er ist stolz«, sagte ich. »Stolz wie ein Krieger.«

»Du hättest seine Qualen nur verlängert«, sagte Grunt.

»Was hat diese Lanze zu bedeuten?« fragte ich.

»Es ist eine Kriegerlanze«, erwiderte Grunt. »Und siehst du nicht selbst, was das für ein Tuch ist?«

Ich schaute mir das Gewebe genauer an. »Ein Frauenkleid«, sagte ich.

»Ja.«

Ich kehrte zur Pack-Kaiila zurück und hängte die Wasserhaut an ihren Platz.

»Wir müssen reiten«, sagte Grunt nervös. »Es sind Waniyanpi aus verschiedenen Stämmen in der Gegend gewesen.«

Ich mußte daran denken, daß wir diese Information vorhin von den Waniyanpi erhalten hatten. Auch da hatte Grunt schon ziemlich nervös reagiert.

»Was machst du?« fragte Grunt.

»Wir können ihn nicht so liegen lassen«, sagte ich. Mit gezogenem Messer hockte ich mich neben dem Jüngling nieder.

»Töte ihn nicht!« sagte Grunt. »Das überlaß der Prärie, dem Hunger, dem Durst, den herumstreifenden Sleen.«

Aber da lag mein Messer schon an den Lederfesseln, die den linken Fuß des Jungen festhielten.

»Du kennst das Ödland noch gar nicht«, sagte Grunt. »Laß ihn in Ruhe. Misch dich nicht ein!«

»Ich bin kein Waniyanpi«, sagte ich.

»Siehst du die Lanze und das Kleid?«

»Was bedeuten sie?«

»Er hat seine Kameraden beim Kampf nicht unterstützt«, antwortete Grunt. »Er hat sich ihnen auf dem Kriegspfad nicht angeschlossen.«

»Ah«, sagte ich. Wer sich weigert, selbst zu kämpfen, überläßt es anderen, für ihn zu streiten. Er überläßt anderen die Risiken, die zuweilen lebensbedrohend sind und die er eigentlich mit ihnen teilen müßte. Warum sind andere weniger kostbar als er? Ein solches Verhalten wird dementsprechend hart geahndet.

»Aber die Lanze ist nicht gebrochen«, sagte ich.

»Nein«, gab Grunt zurück.

»Aus welchem Stamm kommt die Lanze?«

»Von den Kaiila; das ergibt sich aus der Umwicklung und aus den roten Längsstreifen am Ende des Schafts.«

»Aha«, sagte ich.

Mein Messer durchschnitt nun die Fesseln an der linken Hand. Anschließend begab ich mich auf die andere Seite.

»Halt!« rief Grunt.

»Nein.«

Ich hörte, wie hinter mir eine Armbrust gespannt und ein Bolzen auf die Führung gelegt wurde.

»Würdest du wirklich auf mich schießen?« fragte ich Grunt, ohne mich umzusehen.

»Zwing mich nicht dazu!«

»Wir können ihn nicht so liegen lassen«, sagte ich.

»Ich möchte nicht schießen.«

»Keine Sorge«, sagte ich, »du wirst nicht schießen!«

Ich hörte, wie der Pfeil von der Führung genommen und das Kabel entspannt wurde.

»Dein Freund muß dich wirklich sehr mögen«, sagte der rothäutige Jüngling plötzlich auf goreanisch. »Er hat dich nicht getötet.«

»Du sprichst Goreanisch!« rief ich lächelnd.

»Du kannst dich glücklich schätzen, einen solchen Freund zu haben«, sagte er.

»Ja.«

»Weißt du, was du da tust?« fragte der Jüngling.

»Wahrscheinlich nicht.«

»Ich bin nicht mit auf den Kriegspfad gegangen.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte keine Händel mit den Fliehern.«

»Das ist eine Sache zwischen dir und deinem Volk«, sagte ich.

»Befrei mich nicht!« bat er.

Mein Messer hielt inne. »Warum nicht?«

»Weil ich hier nicht angepflockt wurde, um befreit zu werden.«

Ich antwortete nicht, setzte aber die Befreiungsarbeit fort.

»Ich bin Sklave«, sagte er. »Jetzt bin ich dein Sklave.«

»Nein«, widersprach ich. »Du bist frei.«

»Frei?« fragte er matt.

»Ja.«

Er ließ sich herumrollen. Offenbar konnte er sich kaum bewegen.

Ich stand auf und steckte das Messer fort.

»Du hast es getan«, sagte Grunt bedrückt.

»Du wußtest genau, daß wir ihn nicht so liegen lassen konnten«, sagte ich.

»Ich?«

»Ja – warum wärst du sonst auf diesen Hügel geritten?«

»Hältst du mich für schwach?« fragte er.

»Nein. Ich halte dich für stark.«

»Wir sind Dummköpfe«, sagte er.

»Warum?« fragte ich.

»Schau doch!«

Aus drei Richtungen näherten sich berittene Krieger, jeweils fünfzehn bis zwanzig. Ihre Kriegsbemalung schimmerte grell.

»Sleen, Gelbe Messer und Kaiila«, sagte Grunt.

»Du bist doch ein Kaiila, nicht wahr?« fragte ich den Jungen.

»Ja«, antwortete er. Ich hatte mit dieser Antwort gerechnet. Ich hatte mir nicht vorstellen können, daß die Staubfuß-Krieger, von denen er in der Grenzzone verkauft worden war, einen der ihren in die Sklaverei geben würden. Die Lanze neben ihm hatte auf seine wahre Herkunft hingewiesen.

»So etwas habe ich befürchtet«, sagte Grunt. »Es waren mehrere Waniyanpi-Gruppen in der Nähe. Das sagte man uns. Natürlich konnten dann auch die Aufseher nicht fern sein. Wir sahen Rauch aufsteigen. Im Südosten ist nun auch Rauch zu sehen.«

»Ja«, sagte ich nach einem Blick in die angegebene Richtung.

»Das ist ein Lagerfeuer«, sagte Grunt. »Dort wird die Abendmahlzeit zubereitet.«

Ich nickte. Zum erstenmal begriff ich, warum Grunt so nervös gewesen war. »Wir haben doch kein Gesetz übertreten«, sagte ich.

»Die roten Krieger sind an Zahl und Waffen überlegen«, sagte Grunt. »Ich glaube, mehr Gesetz brauchen sie gar nicht.«

»Außerdem hast du mich befreit«, sagte der Junge, der im Gras saß und sich Hand- und Fußgelenke rieb.

»Es gibt doch sicher kein Gesetz, das verbietet, dich zu befreien«, sagte ich.

»Natürlich nicht«, antwortete er. »Trotzdem würde ich nicht damit rechnen, daß die Krieger sonderlich erfreut darüber sind.«

»Das kann ich verstehen.« Aufmerksam beobachtete ich die näherkommenden Reitergruppen. Ich zählte einundfünfzig berittene Krieger.

»Die vordersten sind Sleen«, meldete Grunt. »Die Gruppe im Süden, das sind Gelbe Messer. Aus dem Osten kommen Kaiila.«

Der Junge versuchte aufzustehen, war dazu aber noch nicht kräftig genug. Schließlich mühte er sich hoch, und ich stützte ihn. Für einen Jüngling schien er ungewöhnlich stark zu sein.

»Du bist ein Kaiila«, sagte Grunt zu ihm.

»Ja.«

»Dann kannst du dich sicher bei deinem Stamm für uns verwenden.«

»Aber es waren die Kaiila, die mich angepflockt haben«, antwortete er.

»Oh!« sagte Grunt.

Ich lächelte vor mich hin. So etwas hatte ich halb erwartet.

»Vielleicht geben sie sich ja mit Geschenken zufrieden«, sagte Grunt.

Ich beobachtete die langsame Annäherung der Reiter. Sie ließen uns Zeit. In ihrer Gelassenheit schien eine besondere Drohung zu liegen.

»Es werden wohl großzügige Geschenke sein müssen«, fuhr Grunt fort.

»Meine Leute werden die gefährlichsten sein«, sagte der Jüngling voller Stolz.

Aber davon war ich gar nicht überzeugt.

»Wie heißt du?« fragte Grunt.

»Eure Leute nannten mich ›Urt‹«, antwortete er. »Bei den Staubfüßen hieß ich ›Nitoske‹.«

»Frauenkleid«, übersetzte Grunt. »Schnell, Bursche, wie heißt du bei den Kaiila? Wir können dich unmöglich ›Frauenkleid‹ nennen!«

»Cuwignaka«, sagte der Jüngling.

Angewidert spuckte Grunt ins Gras.

»Was ist los?« fragte ich.

»Es bedeutet dasselbe, nur in der Kaiilasprache«, sagte Grunt. »In beiden Dialekten ist es außerdem die Bezeichnung für das Kleid einer weißen Frau.«

»Wunderbar!« sagte ich. »Wie sollen wir dich nun nennen?«

»Cuwignaka«, antwortete er. »Frauenkleid.«

»Na schön«, sagte ich resigniert.

»Das ist nun mal mein Name.«

»Schön«, sagte ich.

Und schon hatten die Wilden uns umringt. Angstvoll wimmernd kauerten sich die Mädchen an ihrer Kette zusammen. Ein Lanzenschaft berührte mich an der Schulter. Ich hielt mich aufrecht, so gut es ging. Ich wußte, die Krieger lauerten auf das geringste Anzeichen von Zorn oder Widerstand.

»Lächelt!« sagte Grunt. »Lächelt!«

Ich konnte nicht lächeln, aber wenigstens leistete ich keinen Widerstand.

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