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»Hier!« sagte Grunt und deutete aus der Höhe seines Kaiilasattels auf den Boden. »Siehst du die Wagenspuren?«

»Ja«, antwortete ich. Die Spuren lösten sich aus einem kleinen Bachlauf und waren mehrere Tage alt.

»Es ist nicht mehr weit.«

»Du hast den Rauch gesehen?« fragte ich. Ich meinte das langsame Aufsteigen etlicher Rauchwolken links hinter uns und rechts vor uns. Die Entfernung zwischen den beiden Feuern mochte zehn bis fünfzehn Pasangs betragen.

»Ja«, sagte Grunt. »Aber soweit ich die Zeichen deuten kann, steht keine feindliche Absicht dahinter. Vielmehr werden Informationen weitergegeben. Unser Weg wird beschrieben.«

Solche Signale sind im flachen Ödland gebräuchlich, wenn auch nicht ganz so häufig wie Spiegelsignale. Die Sprache der Spiegel, bei der die Anzahl der Blitzzeichen ausschlaggebend ist, ähnelt den Rauchsignalen. Übrigens stellen diese Rauchsymbole keinen Ersatz für die Sprachen der roten Wilden dar, da es sich nicht im eigentlichen Sinn um Schriftsprachen handelt, die ein feststehendes Alphabet aufweisen. Vielmehr haben die Zeichen, von denen es fünfzig bis sechzig gibt, allgemeine Aussagen, etwa: ›Wir sind Kaiila‹, ›Wer seid ihr?‹ ›Kehrt um!‹ ›Wir haben Coups gezählt‹ und ›Wir kehren ins Lager zurück.‹ Die Zeichen werden produziert, indem man Grünzeug, Zweige oder Gras, auf ein Feuer legt. Der dabei entstehende Rauch wird in seinem Aufstieg durch einen Mantel oder eine Decke gesteuert. Nachts lassen sich solche Signale durch das Entzünden und die Plazierung mehrerer Feuer darstellen oder durch das rhythmische Ver- und Aufdecken einer einzelnen Feuerstelle, wieder mit Mantel und Decke. Es gibt andere Verständigungsmethoden: Man kann Staub in die Luft werfen, Mäntel auf eine bestimmte Weise bewegen oder Kaiila auf eine nach bestimmten Regeln lenken.

»Es gefällt mir gar nicht, so unter Beobachtung zu stehen«, sagte ich.

»In gewisser Weise ist das sogar ermutigend«, widersprach Grunt. »Weißt du, man zeigt dir, daß du beobachtet wirst. Wenn die Wilden feindselig wären oder uns an den Kragen wollten, würden sie sich nicht so freimütig äußern.«

»Da hast du recht«, räumte ich ein.

»Soweit ich die Rauchzeichen verstehe, melden sie, daß eine kleine Gruppe Weißer nach Osten zieht. Der Rauch rechts bestätigt den Empfang der Nachricht.«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Das wäre die übliche Deutung«, schränkte Grunt ein. »Natürlich kann es Vereinbarungen geben, wonach solche Zeichen eine andere Bedeutung bekommen.«

»Großartig!« sagte ich bitter.

Grunt zuckte die Achseln. »Diese Leute müssen überleben und miteinander auskommen. Halt!« fügte er plötzlich hinzu und spannte sämtliche Muskeln an.

Der Reiter war überraschend auf einer kleinen Anhöhe vor uns erschienen, etwa zwanzig Meter entfernt. Er zügelte seine Kaiila. Staub wirbelte zwischen den Pfoten und Beinen des Reittiers auf.

»Greift nicht nach den Waffen«, sagte Grunt. »Das ist ein Flieher.«

»Woher weißt du das?«

»Ich sehe es am Haar, das zu einer hohen Frisur zurückgekämmt ist.«

»Wie bei Kornähre«, fügte ich hinzu. Das Haar des Mannes hing weit hinab, wehte sogar noch über dem Rücken der Kaiila. Er ritt ohne Sattel und trug eine lange gefiederte Lanze und einen kleinen runden Schild, einen Kriegsschild, auf dem ich Medizinzeichen ausmachen konnte.

Der Krieger lenkte seine Kaiila den Abhang herab auf uns zu.

»Vorsicht!« mahnte Grunt. »Er hat zwei Männer getötet und weist mehrere Coups aus. Die roten Kreise an den Federn, das sind die toten Gegner, und die roten Zeichen an seinen Beinen und auf der Nase der Kaiila geben die Coups an.«

Der Flieher ließ seine Kaiila dicht vor uns anhalten. Grunt entspannte sich sichtlich und lächelte breit. Er hob die rechte Hand an die Seite des Gesichts, Zeige- und Mittelfinger parallel nach oben gerichtet, die anderen geschlossen.

»Er hat keinen Sattel«, sagte Grunt. »Sein Körper und der seiner Kaiila sind noch immer mit Coupzeichen bemalt. Sicher war er kürzlich bei dem Massaker dabei.«

Noch immer lächelnd umfaßte Grunt die linke Hand mit der rechten und schüttelte sie. Bei einigen Stämmen galt diese Geste als Freundschaftszeichen.

»Kodakiciyapi«, sagte Grunt. »Hou, Koda. Hou, Mitakoda.« Er hatte dem anderen Frieden und Freundschaft gewünscht und ihn als Freund angesprochen, und zwar in der Sprache der Staubfüße. Anschließend wiederholte er diese Botschaft mehr oder weniger wörtlich im Kaiila-Dialekt.

Wortlos starrte der Mann uns an.

Ich wußte nicht recht, ob es klug war, den Mann in der Sprache der Kaiila anzureden, denn die Flieher und die Kaiila sind Erzfeinde. Andererseits deuten die Ähnlichkeiten zwischen den Stammessprachen auf gemeinsame Wurzeln hin.

»Wopeton«, fuhr Grunt fort und deutete auf mich. »Wopeton«, wiederholte er und wies auf sich selbst. Bei den Staubfüßen und bei den Kaiila ist dies die Bezeichnung für Händler oder Kaufmann.

Der Mann verzichtete darauf, seine Lanze in Angriffsstellung zu bringen; er hielt sie lediglich fest unter dem rechten Arm verankert.

»Nicht bewegen!« sagte Grunt.

Der Bursche trieb seine Kaiila an und begann langsam um uns herumzureiten.

»Steht gerade!« mahnte Grunt die Mädchen, die ihre Lasten abgesetzt hatten. »Schaut ihn nicht an!«

Grunt handelte sicher weise, die Mädchen nicht in die Augen des Flieher-Kriegers schauen zu lassen. Ein solcher Blickkontakt kann wie ein elektrischer Schlag sein, von großer, nicht zu ermessender Bedeutung. Wer konnte voraussagen, was der Mann und ein Mädchen in den Augen des anderen ausmachten?

Langsam ritt der Kaiilakrieger an der Reihe der Mädchen entlang. Sein Tier schnaubte, bewegte unruhig den Kopf und wieherte schrill, als der Maulzügel heftig zurückgerissen wurde.

Auf der Nase des Tiers befanden sich Coupzeichen, rote Linien, die zu den Markierungen an den Beinen des Kriegers paßten. Am linken Vorderbein zog sich eine Zickzacklinie entlang, die Blitze darstellte. Auf dem rechten Vorderbein entdeckte ich fünf umgekehrte U-Symbole. Im rechten Ohr zeichnete sich eine V-förmige Kerbe ab. An der linken Flanke schimmerte ein rot ausgemalter Kreis mit einer daraus abwärts führenden gewellten Linie. An beiden Flanken außerdem eine schwarze waagerechte Linie, darüber ein blaues Halbrund. Die Coupzeichen und die auf dem Kopf stehenden U verzeichneten Leistungen des Mannes. Die Kreise um die Augen und die Blitz-Symbole am linken Vorderbein stellten Kriegsmedizinen dar: Das Tier sollte gut sehen und etwas von der jähen, schnellen, kraftvollen Bewegung eines Blitzes entwickeln. Der Kreis mit der Wellenlinie stellte ein Wundersymbol dar, den Ort einer früheren Verletzung. Was das eingekerbte Ohr und die anderen Zeichen besagten, wußte ich nicht.

Langsam nahm der Flieher jedes unserer Mädchen in Augenschein.

»Unser Freund«, sagte Grunt zu mir, »ist ein Mitglied der Reiter des Blauen Himmels, einer Kriegergemeinschaft der Flieher.«

»Und vor solchen Burschen muß man sich in acht nehmen?« fragte ich.

»Ich nehme es an«, sagte Grunt lächelnd.

»Du leitest seine Zugehörigkeit von den Zeichen an der Flanke der Kaiila ab?«

»Ja. Insbesondere von der Linie mit dem blauen Halbkreis darüber.

»Ich verstehe.« In den meisten Stämmen gab es mehrere Kriegergemeinschaften, die großen Einfluß hatten – allerdings auf wechselnder Basis, damit keine bestimmte Gemeinschaft innerhalb eines Stammes zu mächtig wurde. Von den Mitgliedern wurde erwartet, daß sie beim Kampf und auf der Jagd allen anderen ein gutes Beispiel gaben.

»Ich glaube nicht, daß er uns etwas antun will«, sagte Grunt. »Er scheint nur neugierig zu sein.«

Kriegergemeinschaften haben bei den Stämmen vielfältige Funktionen. Sie sind ein wesentliches Element des Stammeslebens. Im Wechsel mit anderen Gemeinschaften wahren sie die Ordnung in Lagern und auf Trecks. Sie werden auch als Wächter und Polizeimacht eingesetzt. Und es gehört zu ihren Aufgaben, die Stämme über die Bewegungen der Kailiaukherden zu informieren und Stammesjagden zu organisieren und zu beaufsichtigen. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht sind solche Gemeinschaften nützlich. Sie stellen Institutionen dar, durch die Leistungen Anerkennung und Lohn finden, durch die Stammestraditionen aufgefrischt, bewahrt und erneuert werden. Sie heben Medizinbeutel auf, führen Zeremonien durch und lehren Geschichte. Häufig geben sie Feste und führen Tanzveranstaltungen durch. Die Rivalitäten, die zwischen ihnen herrschen, bilden ein Ventil für innerhalb des Stammes aufkommende Aggressionen, und der sich daraus ergebende Wettbewerb ermuntert zu Höchstleistungen. Innerhalb der Gemeinschaft profitieren die Angehörigen natürlich vom Geiste ihrer Allianz, von der Kameradschaft und Freundschaft unter den Männern. Natürlich hat jede Gemeinschaft ihre eigenen Medizinen und Geheimnisse.

Sorgfältig beobachtete ich den Flieher. Wie kompliziert war doch der innere Aufbau eines Stammes!

»Das Ohr der Kaiila ist eingekerbt«, sagte ich zu Grunt. »Ist das eine exzentrische Verstümmelung, oder hat es etwas zu besagen?«

»Die Kerbe zeigt an, daß die Kaiila ein kostbares Tier ist«, antwortete Grunt, »das für die Jagd und das Kämpfen trainiert wurde.«

Wohlgefällig musterte der Flieher die Mädchen und kehrte dann in seine alte Position vor uns zurück. Er war nicht so nahe, daß er nicht noch jederzeit seine Lanze in Angriffshaltung bringen konnte.

»Nicht bewegen«, sagte Grunt zu mir und lächelte den Flieher an.

Dieser lächelte plötzlich breit zurück. Er nahm die Lanze in die linke Hand, was mich beruhigte. Dann hielt er die rechte Hand in die Nähe seines Körpers, die Handfläche nach unten, den Daumen auf seine linke Brustseite deutend. Aus dieser Stellung schwenkte er die Hand nach rechts auswärts, das Zeichen für ›gut‹, das sich offenbar auf die Mädchen bezog.

Grunt hob die rechte Hand, bis sich der Handrücken in der Nähe der rechten Schulter befand. Der Zeigefinger deutete dabei vorwärts, während der Rest der Hand zur Faust geballt war, wobei der Daumen auf dem Mittelfinger ruhte. Dann bewegte er die Hand ein wenig nach rechts und bildete gleichzeitig mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, das Zeichen für ›Ja‹. Anschließend senkte er die Hände mit den Handflächen nach unten und signalisierte damit seinen Dank.

Der Flieher grinste und nahm die Lanze wieder in die andere Hand. Mit einem lauten Kriegsschrei trieb er seine Kaiila plötzlich an und galoppierte davon.

»Mit den Fliehern bin ich immer gut zurechtgekommen«, sagte Grunt.

Ich schaute dem davonstürmenden Krieger nach. Er gehörte den Reitern zum Blauen Himmel an. Solch eine Mitgliedschaft fällt keinem Krieger in den Schoß. Ich schwitzte.

»Ich dachte schon, er wollte ein oder mehrere Mädchen haben«, sagte ich.

»Wahrscheinlich hat er mindestens so gute oder bessere Sklavinnen in seinem Lager«, meinte Grunt.

»Möglich«, sagte ich. »Gleichwohl war er beeindruckt.«

»Ich bin stolz auf meine Mädchen«, sagte Grunt. »Und ich bin dir dankbar, daß du mir hilfst, ihnen ihre Sklaverei bewußt zu machen.«

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte viel Freude daran gehabt, das eine oder andere Mädchen zu mir auf die Decke zu holen. »Es sind eifrige Schülerinnen«, sagte ich, »die allmählich verstehen, daß sie echte Sklavinnen sind.«

»Gut«, sagte Grunt.

Ich fragte mich, warum sich Grunt nicht selbst in entsprechender Weise um seine Mädchen kümmerte. Sicher wußte auch er um ihre Schönheit und Anziehung.

»Nehmt die Lasten auf, meine hübschen Ungeheuer!« rief er. »Glaubt ihr, ich ernähre euch für nichts? Meint ihr, wir können hier den ganzen Tag herumtrödeln? Nein! Wir müssen weiter!«

»Was hat der Flieher hier gesucht?« fragte ich.

»Wahrscheinlich wurde er zurückgelassen, um Überlebende zu töten«, sagte Grunt.

»Wir befinden uns bereits im Territorium der Flieher?«

»Er trug Kriegsbemalung.«

»Aber er hat sich nicht feindselig verhalten.«

»Wir hatten mit der anderen Gruppe nichts zu tun.«

»Dann müßte das Massaker ganz in der Nähe stattgefunden haben.«

»Ich befürchte es«, sagte Grunt.

»Vielleicht sollten wir ein Stück vor der Kette reiten«, schlug ich vor.

»Das ist sicher ein guter Gedanke«, meinte Grunt.

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