1 Vaters Haus

Nafai erwachte im Morgengrauen auf seiner Matte in seines Vaters Haus. Da er vierzehn Jahre alt war, durfte er nicht mehr im Haus seiner Mutter schlafen. Keine anständige Frau auf Basilika würde ihre Tochter in Rasas Haushalt schicken, wenn dort ein vierzehnjähriger Junge wohnte – besonders, da Nafai mit zwölf Jahren noch einmal einen Wachstumsschub eingelegt hatte, der noch lange nicht aufzuhören schien, obwohl er schon fast zwei Meter groß war.

Erst gestern hatte er zufällig mitbekommen, wie seine Mutter mit ihrer Freundin Dhelembuvex gesprochen hatte. »Die Leute überlegen schon, wann du ein Tantchen für ihn finden wirst«, hatte Dhel gesagt.

»Er ist doch noch ein Junge«, erwiderte seine Mutter.

Dhel johlte vor Gelächter. »Rasa, meine Liebe, hast du solche Angst davor, alt zu werden, daß du dir nicht eingestehen kannst, daß dein kleines Baby ein Mann ist?«

»Es ist nicht die Furcht vor dem Alter«, sagte Mutter. »Wir können mit Tantchen und Gefährtinnen und dem ganzen Zeug anfangen, wenn er selbst daran denkt.«

»Oh, er denkt schon daran«, sagte Dhel. »Er spricht nur nicht mit dir darüber.«

Dies entsprach allerdings den Tatsachen; Nafai war errötet, als er gehört hatte, wie sie es sagte, und lief nun, als er sich daran erinnerte, erneut rot an. Woher konnte Dhel wissen, obwohl sie ihn an jenem Tag nur einen Augenblick lang gesehen hatte, daß seine Gedanken so oft ›diesem ganzen Zeug‹ galten? Aber nein, Dhel wußte es nicht, weil sie es Nafai angesehen hatte. Sie wußte es, weil sie die Männer kannte. Ich durchlaufe gerade ein gewisses Alter, dachte Nafai. Alle Jungs in diesem Alter denken daran. Jeder kann auf einen Jungen zeigen, der fast zwei Meter groß, aber noch bartlos ist, und sagen: »Dieser Junge denkt gerade an Sex!«, und wird dabei meistens recht behalten.

Aber ich bin nicht wie all die anderen, dachte Nafai. Wenn ich höre, wie Mebbekew und seine Freunde darüber sprechen, wird mir übel. Ich mag nicht so grobschlächtig von Frauen denken, sie abschätzen wie Stuten, um festzustellen, wozu sie wohl zu gebrauchen sind. Ein Pack- oder ein Reittier? Geht sie im Schritt, oder können wir galoppieren? Halte ich sie im Stall, oder kann ich sie meinen Freunden zeigen?

Nafai dachte ganz und gar nicht so über Frauen. Vielleicht, weil er noch in der Schule war, noch immer tagtäglich mit Frauen über intellektuelle Themen sprach. Ich liebe Eiadh nicht, weil sie die schönste junge Frau in Basilika und daher wahrscheinlich auf der ganzen Welt ist. Ich liebe sie, weil wir uns unterhalten können, wegen ihrer Denkweise, dem Klang ihrer Stimme, der Weise, wie sie den Kopf neigt, wenn sie eine Idee vernimmt, der sie nicht zustimmt und wegen der Art und Weise, wie sie ihre Hand auf die meine legt, wenn sie versucht, mich zu überzeugen.

Plötzlich merkte Nafai, daß der Himmel draußen vor seinem Fenster schon hell wurde und er noch im Bett lag und von Eiadh träumte, wo er doch schon längst aufgestanden und in die Stadt gegangen sein sollte, um sie zu sehen.

Gesagt, getan. Er setzte sich auf, kniete neben seiner Matte nieder, schlug sich auf die nackten Schenkel und die Brust, um der Überseele den Schmerz darzubringen, rollte dann sein Bett auf und steckte es in den Kasten in der Ecke. Eigentlich brauche ich gar kein Bett, dachte Nafai. Wäre ich ein richtiger Mann, würde ich auf dem Boden schlafen und keinen weiteren Gedanken darüber verschwenden. Auf diese Weise würde ich so hart und mager werden wie Vater. Wie Elemak. Heute abend werde ich auf das Bett verzichten.

Er ging auf den Hof zum Wassertank. Er tauchte die Hände in den kleinen Ausguß, befeuchtete die Seife und verteilte sie auf seinem Körper. Die Luft war kalt, und das Wasser noch kälter, doch Nafai gab vor, nichts davon zu spüren, bis er sich vollständig eingeseift hatte. Er wußte, daß dieses Frösteln nichts im Vergleich zu dem war, was gleich folgen würde. Er stand unter der Dusche und griff nach der Schnur – und zögerte dann, bereitete sich auf das bevorstehende Elend vor.

»Ach, zieh einfach dran«, sagte Issib.

Nafai sah zu Issibs Zimmer hinüber. Er schwebte direkt vor der Schwelle in der Luft. »Du hast gut reden«, erwiderte Nafai.

Da Issib ein Krüppel war, konnte er die Dusche nicht benutzen; seine Schwebeflossen durften nicht naß werden. Also nahm ihm ein Diener jeden Abend die Flossen ab und badete ihn. »Du bist ein richtiges Baby, wenn es um kaltes Wasser geht«, sagte Issib.

»Erinnere mich daran, dir beim Mittagessen einen Eiswürfel den Nacken hinabrutschen zu lassen.«

»Wenn du mich schon aufweckst, weil du so laut zitterst und mit den Zähnen klapperst …«

»Ich habe nicht das geringste Geräusch gemacht«, sagte Nafai.

»Ich habe mich entschlossen, dich heute in die Stadt zu begleiten.«

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, entgegnete Nafai.

»Willst du die Seife trocknen lassen? Sie verleiht deiner Haut eine bezaubernde weiße Färbung, aber nach ein paar Stunden wird es wahrscheinlich jucken.«

Nafai zog an der Schnur.

Augenblicklich ergoß sich eiskaltes Wasser aus dem Tank über ihm. Er keuchte auf und bückte und drehte und wand sich dann, um die Seife abzuspülen. Er hatte nur dreißig Sekunden, um sich zu säubern, bis der Strahl nachließ und schließlich ganz schwand, und wenn er bis dahin nicht fertig war, mußte er entweder den Rest des Tages über mit der nicht abgespülten Seife leben – und es juckte wirklich wie tausend Mückenstiche – oder ein paar Minuten lang warten und sich den Arsch abfrieren, bis sich der kleine Duschtank wieder mit Wasser aus dem großen Haupttank gefüllt hatte. Beide Möglichkeiten waren gleichermaßen unangenehm, und so hatte er sich schon vor langer Zeit eine Routine angeeignet, die es ihm ermöglichte, stets sauber zu sein, bevor das Wasser versiegte.

»Ich liebe es geradezu, deinen kleinen Tanz zu beobachten«, sagte Issib.

»Tanz?«

»Nach links beugen, die Achselhöhle ausspülen, nach rechts beugen, die andere Achselhöhle ausspülen, vorbeugen und die Backen spreizen, um den Arsch auszuspülen, zurückbeugen und …«

»Schon gut, ich hab’s kapiert«, sagte Nafai.

»Nein, ganz im Ernst, das ist eine wunderschöne kleine Routine. Du solltest sie mal dem Leiter des Offenen Theaters vorführen. Oder sogar dem Leiter des Orchesters. Du könntest ein Star werden.«

»Ein Vierzehnjähriger, der nackt unter einem Wasserstrahl tanzt«, sagte Nafai. »So etwas führt man wohl in einer anderen Art von Theater vor.«

»Aber immerhin in der Puppenstadt! Du wärest trotzdem ein Hit in der Puppenstadt!«

Mittlerweile hatte Nafai sich abgetrocknet – bis auf sein Haar, das noch immer fürchterlich kalt war. Er wollte in sein Zimmer laufen, wie er es getan hatte, als er noch klein gewesen war und unsinnige Worte vor sich hingeplappert hatte -»Uga-buga-luga-buga« war eins seiner liebsten gewesen –, während er sich anzog und abrieb, um warm zu werden. Aber jetzt war er ein Mann, und es war erst Herbst, noch nicht einmal Winter, und so zwang er sich, langsam zu seinem Zimmer zu gehen. Und deshalb war er noch auf dem Hof, splitternackt und frierend wie ein Schneider, als Elemak durch das Tor kam.

»Hundertachtundzwanzig Tage!« bellte er.

»Elemak!« rief Issib. »Du bist wieder da!«

»Trotz der Hügelräuber«, sagte Elemak. Er ging schnurstracks zur Dusche und zog sich dabei aus. »Sie haben uns vor keinen zwei Tagen überfallen, ganz in der Nähe von Basilika. Ich glaube, diesmal haben wir einen getötet.«

»Weißt du es nicht genau?« fragte Nafai.

»Ich habe natürlich einen Pulsator benutzt.«

Natürlich? dachte Nafai. Eine Jagdwaffe gegen einen Menschen?

»Ich sah, wie er umkippte, aber ich wollte nicht zurückgehen und mich überzeugen. Vielleicht ist er nur ausgerutscht und in dem Augenblick gestürzt, in dem ich geschossen habe.«

Elemak zog die Schnur, bevor er sich einseifte. Als das Wasser ihn traf, jaulte er auf, und dann vollführte er seinen eigenen kleinen Duschtanz, schüttelte den Kopf und verspritzte Wasser auf dem ganzen Hof, während er wie ein kleines Kind »Uga-buga-luga-buga!« rief.

Es war völlig in Ordnung, daß Elemak sich so benahm. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt, hatte gerade eine Karawane sicher zurückgeführt, nachdem er in der Dschungelstadt Tischchetno exotische Pflanzen erworben hatte – das erste Mal seit Jahren, daß jemand aus Basilika dorthin gezogen war – und hatte unterwegs vielleicht tatsächlich einen Räuber getötet. Jeder wußte, daß Elemak ein Mann war. Nafai kannte die Regeln: Wenn sich ein Mann wie ein Kind benimmt, ist er jungenhaft, und alle nehmen es erfreut hin; wenn ein Junge sich genauso benimmt, ist er kindisch, und alle sagen ihm, er solle endlich ein Mann werden.

Elemak seifte sich nun ein. Nafai, der noch immer fror, obwohl er die Arme vor der Brust verschränkt hatte, wollte gerade in sein Zimmer gehen und sich anziehen, als Elemak wieder zu sprechen begann.

»Du bist seit meinem Aufbruch gewachsen, Njef.«

»Ich bin in letzter Zeit ziemlich in die Höhe geschossen.«

»Das steht dir gut. Und du hast auch Muskeln bekommen.

Du schlägst deinem alten Herren genau auf die richtige Art und Weise nach. Aber du hast das Gesicht deiner Mutter.«

Nafai gefiel der anerkennende Tonfall in Elemaks Stimme, doch irgendwie war es auch erniedrigend, nackt wie ein Eichelhäher dort zu stehen, während man von seinem Bruder von Kopf bis Fuß gemustert wurde.

Issib machte es natürlich nur noch schlimmer. »Zum Glück hat er Vaters wichtigstes Merkmal mitbekommen«, sagte er.

»Tja, das haben wir alle«, sagte Elemak. »Alle Babies des alten Herrn waren Jungs – oder zumindest die, von denen wir wissen.« Er lachte.

Nafai haßte es, wenn Elemak so von Vater sprach. Jeder wußte, daß Vater ein keuscher Mann war, der nur mit seiner gesetzlichen Gefährtin schlief. Und in den vergangenen fünfzehn Jahren war diese Gefährtin Rasa gewesen, Nafais und Issibs Mutter; Jahr für Jahr hatten sie den Vertrag erneuert. Er war so treu, daß die Frauen es aufgegeben hatte, ihn zu besuchen und anzudeuten, daß sie verfügbar waren, wenn sein Vertrag auslief. Natürlich war Mutter genauso treu, und noch immer bedachten zahlreiche Männer sie mit Geschenken und Andeutungen – aber so waren manche Männer nun einmal, sie fanden Treue noch verlockender als Liederlichkeit, als bliebe Rasa dem Wetschik nur so treu, um sie dazu zu bringen, ihr nachzusetzen. Und eine Verbindung mit Rasa bedeutete, Teil des – wie viele glaubten – besten Hauses zu werden und die – wie alle übereinstimmten – beste Aussicht in Basilika zu bekommen. Ich würde mich niemals nur wegen ihres Hauses mit einer Frau paaren, dachte Nafai.

»Bist du verrückt oder was?« fragte Elemak.

»Bitte?« fragte Nafai.

»Hier draußen ist es kalt wie eine Hexentitte, und du stehst da pitschnaß und splitternackt.«

»Ja«, sagte Nafai. Aber er lief nicht zu seinem Zimmer – das käme einem Eingeständnis gleich, daß die Kälte ihm zu schaffen machte. Also grinste er zuerst Elemak an. »Willkommen zu Hause«, sagte er.

»Hör doch auf, mir zu zeigen, daß du schon ein Mann bist, Njef«, sagte Elemak. »Ich weiß, daß du vor Kälte bald eingehst. Guck mal zwischen deine Beine.«

Nafai stürzte zu seinem Zimmer und zog Hosen und Hemd an. Es störte ihn wirklich, daß Elemak immer zu wissen schien, was in Nafais Kopf vorging. Elemak käme nie auf den Gedanken, daß Nafai vielleicht schon so abgehärtet und männlich war, daß die Kälte ihm einfach nichts ausmachte. Nein, Elemak ging immer davon aus, daß Nafai sich nur produzieren wollte. Natürlich wollte er den anderen etwas vormachen, so gesehen hatte Elemak schon recht, doch das machte die Sache nur noch ärgerlicher. Wie werden Männer männlich, wenn nicht, indem sie so taten, bis es zur Gewohnheit und dann schließlich zum Charakterzug wurde? Außerdem machte er ihnen nicht ausschließlich etwas vor. Als er den heimkehrenden Elemak gesehen und gehört hatte, wie er davon erzählte, auf seiner Reise vielleicht einen Menschen getötet zu haben, hatte Nafai vergessen, daß er fror, hatte er einfach alles vergessen.

Auf der Schwelle bewegte sich ein Schatten. Es war Issib. »Warum läßt du dir das so nahe gehen, Nafai?«

»Was meinst du?«

»Wieso wirst du so wütend, wenn er dich aufzieht?«

Nafai war ehrlich verwirrt. »Was meinst du mit wütend? Ich war nicht wütend!«

»Als er diesen Witz darüber gemacht hast, wie sehr du frierst«, sagte Issib. »Ich dachte schon, du würdest ihn anfallen und ihm den Kopf abschlagen.«

»Aber ich war nicht wütend.«

»Dann stimmt in deinem Oberstübchen etwas nicht, mein Junge«, sagte Issib. »Ich habe gedacht, du wärest wütend. Er hat gedacht, du wärest wütend. Die Überseele hat gedacht, du wärest wütend.«

»Die Überseele weiß, daß ich überhaupt nicht wütend war.«

»Dann lerne, deinen Gesichtsausdruck zu beherrschen, Njef, denn anscheinend zeigt er Gefühle, die du nicht empfindest. Du hattest dich kaum umgedreht, da zeigte er mit dem Finger auf dich, für so wütend hielt er dich.«

Issib schwebte davon. Nafai zog seine Sandalen an und verschnürte die Senkel um seine Hosenbeine. Es war zur Zeit Mode unter den jungen Männern Basilikas, oberschenkelhohe Senkel zu tragen und sie direkt unter dem Schritt zu verschnüren, doch Nafai schnitt die Senkel ab und trug sie nur kniehoch, wie ein richtiger Arbeiter. Mit einem dicken Lederknoten zwischen den Beinen stolzierten die anderen jungen Männer daher und schwankten beim Gehen von einer Seite zur anderen, um zu verhindern, daß sich ihre Schenkel aneinanderrieben und der Knoten sie wundscheuerte. Nafai schwankte nicht und verabscheute diese Mode, die das Tragen der Kleidung unbequemer machte.

Die Tatsache, daß er sich der Mode verweigerte, bedeutete natürlich, daß er in gewisser Hinsicht ein Außenseiter unter den Jungen seines Alters war, doch daran störte sich Nafai kaum. Er genoß am meisten die Gesellschaft von Frauen, und jene Frauen, deren gute Ansichten er schätzte, ließen sich von Trivialitäten wie Modeerscheinungen nicht beeinflussen. Eiadh zum Beispiel hatte sich oft gemeinsam mit ihm spöttisch über diese hochgeschnürten Sandalen geäußert. »Stell dir mal vor, damit ein Pferd zu reiten«, hatte sie einmal gesagt.

»Damit könnte man einen Bullen zu einem Stier machen«, hatte Nafai erwidert, und Eiadh hatte gelacht und seinen Witz im Laufe des Tages dann mehrmals wiederholt. Warum sollte ein Mann sich mit dummen Modeerscheinungen abgeben, wenn es so eine Frau auf der Welt gab?

Als Nafai in die Küche kam, schob Elemak gerade einen gefrorenen Reispudding in den Ofen. Der Pudding sah groß genug aus, um sie alle satt zu bekommen, doch Nafai wußte aus Erfahrung, daß Elemak das ganze Ding allein verdrücken wollte. Er war monatelang unterwegs gewesen, hatte hauptsächlich kalte Nahrung zu sich genommen und war fast ausschließlich des Nachts gereist – Elemak würde den gesamten Pudding mit etwa sechs Bissen verschlingen, dann auf seinem Bett zusammenbrechen und bis zur nächsten Morgendämmerung schlafen.

»Wo ist Vater?« fragte Elemak.

»Eine kurze Reise«, sagte Issib, der rohe Eier über seinem Toast aufschlug und sie für den Ofen vorbereitete. Das machte er ganz geschickt, wenn man bedachte, daß er seine ganze Kraft aufbringen mußte, um auch nur ein Ei in die Hand zu nehmen. Er hielt das Ei ein paar Zentimeter über den Tisch und spannte dann genau jenen Muskel, der die Flosse löste, die seinen Arm in der Luft hielt, wodurch der Arm mitsamt dem Ei auf den Tisch fiel. Das Ei brach jedesmal genau richtig auf, und dann spannte er einen anderen Muskel, die Flosse schwang seinen Arm über den Teller, und er öffnete das Ei mit der anderen Hand, und der Inhalt ergoß sich auf den Toast. Da die Flossen die Schwerkraft für ihn regelten, kam Issib hervorragend allein zurecht. Andererseits jedoch würde er niemals auf Reisen gehen können, wie Vater und Elemak und Mebbekew es taten. Sobald er sich von den Magnetfeldern der Stadt entfernte, mußte Issib auf seinen Stuhl zurückgreifen, eine schwerfällige Maschine, mit der er nur von einem Ort zum anderen fahren konnte. Dann konnte er gar nichts mehr allein machen. Fern von der Stadt, auf seinen Stuhl beschränkt, war Issib wirklich ein Krüppel.

»Wo ist Mebbekew?« fragte Elemak. Der Pudding war gar – eigentlich schon mehr als das, aber so wollte Elemak sein Frühstück immer haben, so lange gekocht, bis es so weich war, daß man keine Zähne brauchte, um es zu essen. Nafai vermutete, daß er es auf diese Weise schneller verschlingen konnte.

»Hat die Nacht in der Stadt verbracht«, sagte Issib.

Elemak lachte. »Das wird er sagen, wenn er zurückkommt. Aber ich glaube, Meb pflügt nur, ohne zu pflanzen.«

Es gab nur eine Möglichkeit für einen Mann in Mebbekews Alter, eine Nacht innerhalb der Mauern Basilikas zu verbringen, und die bestand darin, im Heim irgendeiner Frau zu übernachten. Elemak mochte darüber spotten, daß Mebbekew behauptete, mehr Frauen zu haben, als er bewältigen konnte, doch Nafai hatte zumindest gesehen, wie Meb mit einigen Frauen umgegangen war. Mebbekew mußte nicht vorgeben, eine Nacht in der Stadt zu verbringen; wahrscheinlich akzeptierte er weniger Einladungen, als er bekam.

Elemak aß einen großen Bissen Pudding. Dann brüllte er auf, öffnete den Mund und goß direkt aus dem Krug auf dem Tisch Wein hinein. »Heiß«, sagte er, als er wieder sprechen konnte.

»Ist es das nicht immer?« fragte Nafai.

Er hatte es als Scherz gemeint, als kleiner Witz zwischen Brüdern. Doch aus irgendeinem Grund faßte Elemak es völlig falsch auf, als habe Nafai ihn einen Dummkopf genannt, weil er in den Pudding gebissen hatte. »Hör zu, Kleiner«, sagte Elemak, »wenn du zweieinhalb Monate lang unterwegs warst, nur kalte Nahrung gegessen und im Staub und Schlamm geschlafen hast, vergißt du vielleicht auch, wie heiß ein Pudding sein kann.«

»Es tut mir leid«, sagte Nafai. »Es war nicht bös gemeint.«

»Gib nur acht, über wen du deine Witze reißt«, sagte Elemak. »Schließlich bist du nur mein Haftbruder.«

»Schon in Ordnung«, sagte Issib fröhlich. »Bei seinen Ganzbrüdern ist er genauso.« Issib versuchte offensichtlich, die Sache beizulegen, bevor sie zu einem Streit führen konnte.

Elemak schien bereit, darauf einzuschwenken. »Ich kann mir denken, daß du es schwerer haben mußt«, sagte er. »Zum Glück bist du ein Krüppel, oder unser Nafai hier hätte sein achtzehntes Jahr wohl nicht erlebt.«

Falls die Bemerkung über die Verkrüppelung Issib traf, zeigte er es jedenfalls nicht. Issib versuchte, den Frieden zu bewahren, und Elemak beleidigte ihn dafür ganz beiläufig. Während Nafai zuvor nicht die geringste Absicht gehabt hatte, einen Streit anzufangen, war er nun dazu entschlossen. Daß Elemak sein Alter nach Pflanzstatt nach Tempeljahren gezählt hatte, war ein so guter Vorwand wie jeder andere. »Ich bin vierzehn«, sagte Nafai. »Keine achtzehn.«

»Tempeljahre, Pflanzjahre«, sagte Elemak. »Wärest du ein Pferd, wärest du achtzehn.«

Nafai erhob sich und blieb einen Schritt vor Elemaks Stuhl stehen. »Aber ich bin kein Pferd«, sagte er.

»Du bist auch noch kein Mann«, sagte Elemak. »Und ich bin zu müde, um dich jetzt grün und blau zu schlagen. Also mach dir dein Frühstück und laß mich meins essen.« Er wandte sich an Issib. »Hat Vater Raschgallivak mitgenommen?«

Diese Frage überraschte Nafai. Wie konnte Vater den Gutsverwalter mitnehmen, wenn Elemak ebenfalls fort war? Truzhnischa würde natürlich für den Haushalt sorgen, doch wer, wenn nicht Raschgallivak, sollte sich um die Treibhäuser, die Ställe, die Paten, die Marktbuden kümmern? Ganz bestimmt nicht Mebbekew – er hätte nicht das geringste Interesse an den alltäglichen Pflichten, die Vaters Gewerbe einem auferlegte. Und von Issib würden die Männer wohl kaum Befehle entgegennehmen – sie brachten ihm Rücksicht oder Mitleid entgegen, aber keinen Respekt.

»Nein, Vater hat Rasch die Leitung übergeben«, sagte Issib. »Rasch hat diese Nacht wahrscheinlich beim Kühlhaus geschlafen. Aber du weißt doch, daß Vater niemals aufbrechen würde, wenn er nicht alles geregelt hätte.«

Elemak warf einen schnellen, verstohlenen Blick auf Nafai. »Ich habe mich nur gefragt, warum manche Leute so anmaßend werden.«

Jetzt endlich dämmerte es Nafai: Elemaks Frage war eigentlich ein verhaltenes Kompliment – er hatte sich gefragt, ob Vater während seiner Abwesenheit die Leitung des Guts in Nafais Hände gelegt hatte. Und offensichtlich gefiel Elemak die Vorstellung nicht, daß Nafai irgendeinen Teil des Unternehmens der Familie Wetschik leitete, die bekannt für die Züchtung seltener Pflanzen war.

»Ich habe kein Interesse daran, den Unkrauthandel zu übernehmen«, sagte Nafai, »falls du dir darüber Sorgen machst.«

»Ich mache mir über gar nichts Sorgen«, sagte Elemak. »Ist es für dich nicht an der Zeit, zu Mamas Schule zu gehen? Sie wird Angst haben, ihr kleiner Junge könnte auf der Straße überfallen und verprügelt worden sein.«

Nafai wußte, daß er nicht auf Elemaks Stichelei reagieren, ihn nicht noch mehr provozieren sollte. Er wollte sich Elemak auf keinen Fall zum Feind machen. Doch schon allein die Tatsache, daß er so sehr zu seinem Bruder aufsah, machte es Nafai unmöglich, die höhnische Bemerkung unerwidert zu lassen. Als er zur Tür zum Hof ging, drehte er sich noch einmal um. »Ich habe für mein Leben viel höhere Ziele gesteckt, als darüber zu prahlen, auf Räuber geschossen zu haben, mit Kamelen zu schlafen und Tundrapflanzen in die Tropen und Tropenpflanzen zu den Gletschern zu schleppen. Dieses Spielchen überlasse ich dir.«

Plötzlich flog Elemaks Stuhl durch das Zimmer. Er war aufgesprungen, hatte Nafai mit zwei Schritten erreicht und drückte dessen Gesicht gegen den Türrahmen. Es tat weh, doch Nafai bemerkte den Schmerz kaum, befürchtete nicht einmal, daß Elemak ihn noch schlimmer verletzen könnte. Statt dessen empfand er ein seltsames Gefühl des Triumphs. Ich habe es geschafft, daß Elemak die Beherrschung verliert. Er tut nicht mehr so, als wäre ich es gar nicht wert, daß er mich beachtet.

»Dieses Spielchen, wie du es nennst, hat das Geld für alles eingebracht, was du hast und was du bist«, sagte Elemak. »Glaubst du denn, ohne dieses Geld, das Vater und Rasch und ich verdienen, würde dir irgend jemand in Basilika Beachtung schenken? Glaubst du, deine Mutter hätte so viel Ehre, daß sie sich tatsächlich auf ihre Söhne überträgt? Wenn du das glaubst, weißt du nicht, wie es in der Welt aussieht. Deine Mutter wäre vielleicht imstande, ihre Töchter zu gefragten Frauen zu machen, aber aus einem Sohn kann eine Frau nur einen Gelehrten machen.« Er spuckte das Wort Gelehrten förmlich aus. »Und glaube mir, Junge, mehr wird aus dir nie werden. Ich weiß nicht, warum sich die Überseele die Mühe gemacht hat, dich mit den Teilen eines Jungen zu behängen, kleines Mädchen, denn wenn du erwachsen bist, wirst du in dieser Welt nur bekommen, was eine Frau bekommt.«

Erneut wußte Nafai, daß er besser schwieg und Elemak das letzte Wort überließ. Aber die Erwiderung kam im selben Augenblick über seine Lippen, da er sie dachte. »Nennst du mich Frau, weil du mich verstohlen wissen lassen willst, daß du etwas für mich übrig hast? Du mußt wirklich zu lange unterwegs gewesen sein, wenn ich schon unwiderstehlich aussehe.«

Augenblicklich ließ Elemak ihn los. Nafai drehte sich um und erwartete, Elemak lachen zu sehen. Statt dessen stand sein Bruder mit rot angelaufenem Gesicht dort, schwer atmend, wie ein sprungbereites Tier. »Verschwinde aus diesem Haus«, sagte Elemak, »und komme nicht zurück, solange ich hier bin.«

»Es ist nicht dein Haus«, stellte Nafai klar.

»Wenn ich dich noch mal hier sehe, bringe ich dich um.«

»Komm schon, Elja, du weißt, daß ich nur Spaß gemacht habe.«

Issib trieb vergnügt zwischen sie und legte unbeholfen einen Arm um Nafais Schulter. »Wir kommen zu spät in die Stadt, Njef. Mutter wird sich wirklich Sorgen machen.«

Diesmal hatte Nafai Verstand genug, um die Klappe zu halten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Er wußte, wie man die Klappe hielt – er erinnerte sich lediglich niemals rechtzeitig genug daran, es auch wirklich zu tun. Nun war Elemak wütend auf ihn. Vielleicht würde er tagelang wütend bleiben. Wo werde ich schlafen, wenn ich nicht nach Hause gehen kann? fragte sich Nafai. Augenblicklich blitzte in seinem Geist ein Bild Eiadhs auf, die ihm zuflüsterte: »Warum bleibst du diese Nacht nicht in meinem Zimmer? Schließlich werden wir eines Tages Gefährten sein. Eine Frau unterweist ihre Lieblingsnichten darin, eines Tages Gefährtinnen für ihre Söhne zu sein, oder etwa nicht? Das wußte ich schon, als ich dich das erste Mal sah, Nafai. Warum sollten wir noch länger warten? Schließlich bist du nur in etwa der dümmste Mann in ganz Basilika.«

Nafai löste sich von seinen Tagträumen und begriff, daß Issib mit ihm sprach und nicht Eiadh. »Warum stachelst du ihn auch nur immer so auf«, sagte Issib, »wo du doch weißt, daß Elemak dich eines Tages am liebsten umbringen würde?«

»Manchmal fallen mir bestimmte Sachen ein, und ich sage sie, obwohl ich sie eigentlich nicht sagen sollte.«

»Dir fallen dumme Sachen ein, und du bist so dumm, sie auch jedesmal zu sagen.«

»Nicht jedesmal

»Ach, du meinst, es gibt sogar noch dümmere Sachen, die du nicht sagst? Was für einen Verstand du doch hast! Eine wahre Schatzkammer!« Issib trieb vor ihm. Das machte er immer, wenn sie zur Kammstraße hinaufgingen; er vergaß, daß für Menschen, die sich mit der Schwerkraft befassen mußten, ein langsameres Tempo vielleicht angenehmer gewesen wäre.

»Ich mag Elemak«, sagte Nafai betroffen. »Ich verstehe nicht, warum er mich nicht mag.«

»Eines Tages mache ich dir eine Liste«, sagte Issib. »Ich klebe sie dann an eine Wand meines Zimmers.«

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