4 Masken

Es war sinnlos, so spät an einem Schultag noch zu Mutters Haus zurückzukehren. Wahrscheinlich würde er den Rest der Unterrichtszeit allein für die Erklärung benötigen, wieso er einfach gegangen war. Er konnte bis morgen damit warten, sich Entschuldigungen auszudenken.

Vielleicht würde er auch niemals zurückgehen. Ja, warum eigentlich nicht? Mebbekew ging schließlich auch nicht zur Schule. Eigentlich tat er überhaupt nichts, kam nicht einmal nach Hause, wenn er keine Lust dazu hatte.

Wann hatte das angefangen? Hatte Meb das schon mit vierzehn Jahren gemacht? Nafai konnte jedenfalls jetzt damit anfangen, und wer sollte ihn aufhalten? Er war so groß wie ein Mann, und er war alt genug, um in einem Männerberuf zu arbeiten. Aber nicht in Vaters Gewerbe – niemals das Pflanzengeschäft. Wenn man diesem Beruf lange genug nachging, hatte man im Dunkeln neben Wüstenstraßen Visionen.

Aber es gab andere Berufe. Vielleicht konnte Nafai bei einem Künstler in die Lehre gehen. Ein Dichter oder ein Sänger – Nafais Stimme war jung, aber er konnte einen Ton halten, und mit der richtigen Ausbildung könnte er vielleicht sogar ziemlich gut werden. Oder vielleicht war er eigentlich ein Tänzer oder ein Schauspieler, trotz Mutters Scherz an diesem Morgen. Diese Künste bedurften keiner Schulausbildung – wollte er eine davon ausüben, wäre es sowieso Zeitverschwendung, bei Mutter zu bleiben.

Diese Vorstellung beschäftigte ihn den gesamten Nachmittag über und ließ ihn zuerst in südliche Richtung wandern, zum inneren Markt, wo er Liedern und Gedichten lauschen konnte und es vielleicht sogar einen schönen neuen Mjachik zu kaufen gab, den er sich zu Hause anhören konnte. Natürlich würde Mutter zweifellos sein Taschengeld für Mjachiks streichen, wenn er der Schule fernblieb. Doch als Lehrling würde er wahrscheinlich auch ein kleines Taschengeld bekommen, und wenn nicht, würde es ihm auch nichts ausmachen. Er würde wahre Kunst vorführen. Bald würde er Aufzeichnungen von Kunst in kleinen Glaskugeln nicht einmal mehr haben wollen.

Als er den inneren Markt erreichte, hatte er sich eingeredet, kein Interesse mehr an Aufzeichnungen zu haben, nun, da er bald einen Beruf ergreifen und echte Kunst schaffen würde. Er wandte sich nach Osten, durch die Viertel namens Pferche und Gärten und Olivenhain, ein paar enge, hausumsäumte Straßen zwischen der Stadtmauer und dem Rand des Tals, das Männer nicht besuchen durften. Schließlich gelangte er an den schmälsten Ort überhaupt, eine einzige Straße mit einer hohen, weißen Mauer hinter den Häusern, damit die Männer, die auf der roten Stadtmauer standen, nicht über die Häuser und ins Tal sehen konnten. Er war in seinem ganzen Leben nur ein paar Mal hier gewesen, und niemals allein.

Niemals allein, weil die Puppenstadt ein Viertel für Gesellschaft und Kameradschaft war, in dem man in großen Menschenmengen saß und sich Tänze und Stücke ansah oder Rezitationen und Konzerten lauschte. Nun jedoch kam Nafai als Künstler in die Puppenstadt, nicht als Teil des Publikums. Er suchte keine Gesellschaft, sondern einen Beruf.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, und daher waren die Straßen fast noch leer. Die Dämmerung würde die ausgelassenen Lehrlinge und Schuljungen aus den Häusern locken, und die vollständige Dunkelheit die Liebenden und die Genießer und die Feiernden. Doch auch jetzt, am späten Nachmittag, hatten schon einige Theater geöffnet, und die Galerien tätigten im Tageslicht gute Geschäfte.

Nafai betrat mehrere dieser Galerien eher aus dem Grund, weil sie geöffnet hatten, als daß er ernsthaft in Erwägung zog, er könne sich bei einem Maler oder Bildhauer als Lehrling bewerben. Nafais Begabung fürs Zeichnen war niemals herausragend gewesen, und als er sich als Kind an der Bildhauerei versucht hatte, hatten alle seine Skulpturen Titel getragen, damit die Leute wußten, was sie darstellen sollten. Als Nafai die Galerien durchstöberte, versuchte er, einen nachdenklichen und eifrig bemühten Eindruck zu machen, doch die Kunstverkäufer ließen sich nie täuschen – Nafai mochte zwar so groß wie ein Mann sein, war jedoch noch viel zu jung, um ein wichtiger Kunde zu sein. Also kamen sie nicht zu ihm und sprachen ihn an, wie sie es taten, wenn Erwachsene die Läden betraten. Er mußte seine Informationen aus Gesprächen zusammentragen, die er zufällig mithören konnte. Natürlich waren die Originale für ihn völlig unerschwinglich, doch sogar die Hologrammkopien mit hoher Auflösung waren viel zu teuer, als daß er auch nur davon träumen konnte, eine zu erstehen. Am schlimmsten war die Tatsache, daß die Gemälde und Skulpturen, die ihm am besten gefielen, unweigerlich die teuersten waren. Vielleicht bedeutete das, daß er einen ausgezeichneten Geschmack hatte. Oder es bedeutete, daß der Künstler, der wußte, wie er die Unwissenden beeindrucken konnte, das meiste Geld verdiente.

Schließlich wurde es ihm in den Galerien langweilig. Entschlossen, endlich herauszufinden, in welcher Kunst seine Zukunft lag, wanderte er zum Offenen Theater, einer Reihe winziger Bühnen, die die breiten Rasenflächen vor der Mauer bevölkerten. Dort wurden ein paar Stücke geprobt. Da praktisch noch kein Publikum vorhanden war, waren die Tonblasen noch nicht eingeschaltet, und als Nafai von Bühne zu Bühne ging, drangen die Geräusche der entfernteren Bühnen zu ihm vor, wann immer auf der, vor der er stand, eine Pause eingelegt wurde. Nach einer Weile fand Nafai jedoch heraus, daß er die anderen Geräusche nicht mehr bemerkte, wenn er eine Probe nur lange genug beobachtete, daß er etwas von dem Inhalt mitbekam.

Am meisten interessierte ihn eine Truppe Satiriker. Er war schon immer der Ansicht gewesen, daß die Satire die aufregendste Theaterkunst darstellte, da die Manuskripte immer so neu waren wie der Klatsch von heute. Und genau, wie er es sich vorgestellt hatte, war der Satiriker bei der Probe anwesend, kritzelte seine Verse auf Papier – auf Papier – und gab die Zettel einem Scriptjungen, der sie zur Bühne brachte und den Schauspielern gab, für die sie bestimmt waren. Die Schauspieler, die sich im Augenblick nicht auf der Bühne befanden, schritten entweder auf dem Rasen auf und ab oder saßen dort und wiederholten ihre Texte immer wieder, um sie sich für die heutige Aufführung einzuprägen. Deshalb waren Satiren mit ihren plötzlichen Leerläufen und absurden Trugschlüssen handwerklich immer schlampig und ungelenk. Doch niemand erwartete, daß eine Satire gut sein mußte – sie mußte nur lustig und gemein und neu sein.

Bei dieser Satire hier schien es um einen alten Mann zu gehen, der Liebestränke verkaufte. Der Maskenträger, der den alten Mann spielte, war offenbar ziemlich jung, nicht älter als zwanzig, und es gelang ihm nicht besonders gut, eine alte Stimme nachzuahmen. Aber das machte ja gerade einen Teil des Spaßes aus – Maskenträger waren fast immer Neulinge, denen es noch nicht gelungen war, bei einer ernsthaften Schauspieltruppe eine Rolle zu bekommen. Sie behaupteten, Masken statt Make-up zu tragen, um sich vor der Rache wütender Opfer der Satire zu schützen – doch als Nafai sie nun beobachtete, kam er zum Schluß, daß die Maske den jungen Schauspieler wohl eher vor dem Spott seiner erfahrenen Kollegen schützen sollte.

Der Nachmittag war heiß geworden, und einige Schauspieler hatten die Hemden ausgezogen; die mit heller Haut schienen völlig vergessen zu haben, daß sie sich einen Sonnenbrand zuzogen, der ihre Haut tomatenrot färben würde. Nafai lachte insgeheim über den Gedanken, daß die Maskenträger wohl die einzigen Menschen in Basilika waren, die überall einen Sonnenbrand bekommen konnten, nur nicht im Gesicht.

Der Scriptjunge gab einem Schauspieler, der im Gras gesessen hatte, ein Blatt. Der junge Mann betrachtete es, stand dann auf und ging zum Satiriker.

»Das kann ich nicht vortragen«, sagte er.

Da der Satiriker Nafai den Rücken zuwandte, konnte dieser die Antwort nicht verstehen.

»Was, ist mein Teil so unwichtig, daß sich mein Text nicht reimen muß?«

Nun war die Antwort des Satirikers laut genug, daß Nafai ein paar Brocken verstehen konnte, die mit der Aufforderung endeten: »Dann schreib die Sache doch selbst!«

Der junge Mann zog wütend die Maske vom Gesicht. »Einen schlechteren Text könnte ich auch nicht schreiben!« rief er.

Der Satiriker brach in Gelächter aus. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Mach schon, versuch es mal, ich habe keine Zeit, bei jeder Szene brillant zu sein.«

Etwas besänftigt setzte der junge Mann die Maske wieder auf. Doch Nafai ‚hatte genug gesehen. Denn der junge Maskenträger, der verlangte, daß sein Text sich reimte, war kein anderer als Nafais Bruder Mebbekew.

Also war das seine Einkommensquelle. Er hatte gar keine Kredite aufgenommen. Die Idee, die Nafai so klug vorgekommen war – eine Lehrstelle bei einem Künstler anzunehmen, die ihm die Unabhängigkeit einbrachte –, war Mebbekew schon längst in den Sinn gekommen, und er hatte sie in die Tat umgesetzt. In gewisser Hinsicht eine ermutigende Feststellung – wenn Mebbekew es kann, kann ich es auch –, doch in anderer Hinsicht war es geradezu deprimierend, daß Nafai ausgerechnet in Mebbekews Fußstapfen treten wollte. Meb, der Bruder, der ihn sein ganzes Leben lang gehaßt hatte und nicht erst, wie Elja, seit neuestem. Wurde ich dazu geboren? Damit aus mir ein zweiter Mebbekew wird?

Dann kam ihm der häßlichste Gedanke überhaupt. Wäre es nicht ein Heidenspaß, wenn ich Jahre nach Meb den Schauspielerberuf antreten und sofort eine Anstellung bei einer richtigen Truppe bekommen würde? Das wäre so köstlich erniedrigend; Meb würde sich vor Wut umbringen.

Na ja, vielleicht auch nicht. Meb würde wohl eher eine mörderische Wut bekommen.

Die Szene auf der Bühne riß Nafai aus seinem gehässigen Tagtraum. Der alte Liebestrankverkäufer versuchte, eine zögerliche junge Frau zu überreden, eine Kräutermischung von ihm zu kaufen.

Schütt die Mischung in sein Bier

Leg die Blume in dein Bett

Und du wirst sehen, um halb vier

Ist er tot – oh, sei so nett,

Verzeihe mir, wird er um dich werben.

Endlich ergab die Handlung Sinn. Der alte Mann wollte den Geliebten des Mädchens vergiften, indem er dem Mädchen einredete, die tödliche Kräutermischung sei ein Liebestrank. Das begriff sie anscheinend nicht – alle Personen dieser Satire waren unglaublich dumm –, und sie widersetzte sich dem Kauf aus anderen Gründen.

Lieber würd’ ich sterben.

Ich will keine gemeinen Umtriebe.

Ich will nur seine wahre Liebe.

Plötzlich brach der alte Mann in einen Operngesang aus. Seine Stimme war wirklich nicht schlecht, trotz der komischen Übertreibungen.

Der Traum von Liebe ist so schön!

In diesem Augenblick trat Mebbekew auf, die Maske vor dem Gesicht, und wandte sich direkt an das Publikum.

Hört dieses alten Mannes widerlich Getön!

Sie führten nun ein seltsames Duett auf, bei dem der alte Liebestrankverkäufer eine Zeile sang und der junge Mebbekew einen direkten Kommentar zum Publikum sprach.

Liebe geht nicht nur durch den Magen!

(Ich folge ihm seit vielen Tagen.)

Ein Geliebter könnte wohl erröten!

(Ich weiß, er will ihren Geliebten töten.)

Ein andrer zieret sich vielleicht.

(Sein Grips ist einfach unerreicht.)

Du brauchst nur eine Demonstration!

(Ich geb dem Narren ’ne Vision.)

Auf daß dein Zauder nicht mehr schwele!

(Er glaubt, sie käme von der Überseele.)

Dann gewinnst sein Herz du doch im Nu!

(Eine kleine Flamme gehört dazu.)

Ganz gleich, wie du sie gewinnst,

Sobald du deine Fäden spinnst

genießt die Liebe deines Schatzes

du doch immerzu.

Eine Vision der Überseele. Eine Flamme. Die Wendung, die die Satire nahm, gefiel Nafai keineswegs. Dun gefiel nicht, daß die Maske des alten Liebestrankverkäufers eine wilde, weiße Haarmähne und einen weißen Vollbart hatte. War es möglich, daß sich die Nachricht so schnell und weit verbreitet hatte? Einige Satiriker waren dafür bekannt, daß sie wichtigen Klatsch vor allen anderen aufschnappten – meistens sah sich das Publikum eine Satire nur an, um herauszufinden, was gerade so geschah, und viele Zuschauer fragten einander nach der Vorstellung: Was hatte das wirklich zu bedeuten?

Mebbekew hantierte auf der Bühne an einer Kiste herum. »Vergiß den Feuereffekt!« rief der Satiriker ihm zu. »Tu einfach so, als würde es funktionieren!«

»Irgendwann müssen wir es mal ausprobieren«, erwiderte Mebbekew.

»Jetzt nicht.«

»Wann?«

Der Satiriker stand auf, schritt zum Fuß der Bühne, bis er direkt vor Mebbekew stand, und bildete mit den Händen vor dem Mund einen Trichter. »Wir … werden … den … Effekt … später … . ausprobieren!« rief er.

»Na schön«, sagte Meb.

Der Satiriker kehrte zu seinem Platz auf dem Hügel zurück. »Und du wirst den Feuereffekt sowieso nicht auslösen«, sagte er.

»Tut mir leid«, sagte Meb. Er kehrte zu seinem Platz hinter der Kiste zurück, aus der heute abend wahrscheinlich eine Flammensäule emporschießen würde. Auch die anderen Maskenträger kehrten auf ihre Plätze zurück.

»Ende des Liedes«, sagte Meb. »Feuereffekt.«

Augenblicklich rissen der Liebestrankverkäufer und das Mädchen in einer Geste der spöttischen Überraschung die Hände hoch.

»Eine Flammensäule!« rief der Liebestrankverkäufer.

»Wie kann auf einem kahlen Felsen in der Wüste plötzlich Feuer erscheinen?« rief das Mädchen. »Es ist ein Wunder

Der Liebestrankverkäufer wirbelte zu ihr herum. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Hure! Ich bin der einzige, der das sehen kann! Es ist eine Vision!«

»Nein!« rief Mebbekew mit tiefster Stimme. »Es ist ein Bühneneffekt!«

»Ein Bühneneffekt!« rief der Liebestrankverkäufer. »Dann bist du …«

»Endlich hast du kapiert!«

»Der alte Mumpitz, die Überseele!«

»Ich bin stolz auf dich, du alter Depp! Fast hättest du das dumme Huhn geneppt!«

»Sie ist nur ein kleiner Fisch – du bist jedoch betrügerisch!«

»Nein!« rief der Satiriker. »Nicht ›jedoch‹, du Idiot! ›Doch betrügerisch‹, sonst stimmt die Betonung nicht!«

»Tut mir leid«, sagte der junge Maskenträger, der den Liebestrankverkäufer spielte. »›Depp‹ reimt sich auch nicht mit ›geneppt‹, und Sinn macht der ganze Text auch nicht, aber das liegt wohl an meiner falschen Betonung.«

»Es muß keinen Sinn ergeben, du großkotziger Grünschnabel, es muß nur Geld bringen!«

Alle lachten – doch es war klar, daß die Schauspieler den Satiriker nicht besonders mochten. Sie arbeiteten sich wieder in die Szene ein, und kurz darauf sangen Meb und der Liebestrankverkäufer herumtanzend, wie gut sie darin waren, die Leute hereinzulegen, und wie unvorstellbar leichtgläubig die meisten Menschen doch waren – besonders Frauen. Anscheinend hatten alle Verse des Lieds den Zweck, einen Teil des Publikums tödlich zu beleidigen, und es ging so weiter, bis jede nur erdenkliche Gruppe in Basilika ihr Fett wegbekommen hatte. Während sie sangen und tanzten, tat das Mädchen so, als würde es ein Stück Fleisch in den Flammen braten.

Meb vergaß seinen Text nicht so oft wie der andere Maskenträger, und obwohl Nafai wußte, daß die ganze Szene darauf ausgelegt war, Vater zu erniedrigen, mußte er anerkennen, daß Meb ziemlich gut war und so klar und deutlich sang, daß man jedes Wort genau verstehen konnte. Das könnte ich auch schaffen, dachte Nafai.

Das Lied kehrte immer wieder zu demselben Refrain zurück:

Ich stehe neben einem Feuer

Und mir ist nicht geheuer

Denn der bester aller Lügner spielt neben mir zum Tanz.

Als das Lied zu Ende war, hatte die Überseele – Meb – den Liebestrankverkäufer überzeugt, die beste Möglichkeit, die Frauen Basilikas zu dem zu bringen, was er wollte, bestand darin, sie zu überzeugen, die Überseele gäbe ihm Visionen ein. »Sie lassen sich so leicht betrügen«, sagte Meb, »wir müssen diese Mädchen nur belügen.«

Die Szene schloß damit, daß der Liebestrankverkäufer das Mädchen von der Bühne führte und ihr erzählte, er habe eine Vision gehabt, in der die Stadt Basilika verbrannt sei. Der Satiriker griff nun auf alliterierende Reime zurück, die Nafai etwas natürlicher vorkamen als die Knüttelverse, aber nicht so lustig waren. »Willst du die letzten Wochen der Welt wartend mit einem starken, aber schussligen jungen Schurken verbringen? Bist du nicht besser bedient mit einem alten, aber aufgeklärten Angetrauten, der ein das normale Maß überschreitendes, alles überstrahlendes Verhältnis zur Überseele hat?«

»Gut«, sagte der Satiriker. »Das ist prima. Probieren wir jetzt die Straßenszene.«

Eine andere Gruppe von Maskenträgern kam auf die Bühne. Nafai eilte augenblicklich zu dem Rasenstück, auf dem Mebbekew, die Maske noch über dem Gesicht, den neuen Dialog auf einen Zettel schrieb.

»Meb«, sagte Nafai.

Meb sah verblüfft auf und versuchte, ihn durch die kleinen Augenschlitze der Maske zu erkennen. »Wie hast du mich genannt?« Dann sah er, daß es Nafai war. Augenblicklich sprang er auf und ging davon. »Verschwinde, du kleiner Rattenfresser.«

»Meb, ich muß mit dir sprechen.«

Mebbekew ging weiter.

»Bevor du heute abend in diesem Stück auftrittst!« sagte Nafai.

Meb fuhr herum. »Das ist kein Stück, es ist eine Satire. Ich bin kein Schauspieler, ich bin Maskenträger. Und du bist nicht mein Bruder, du bist ein Arsch.«

Mebs Zorn erstaunte Nafai. »Was habe ich dir getan?« fragte er.

»Ich kenne dich, Njef. Ganz gleich, was ich jetzt sage oder tue, du wirst es Vater erzählen.«

Als würde Vater nicht früher oder später selbst herausfinden, daß sein Sohn in einer Satire auftrat, die ihn vor der ganzen Stadt lächerlich machen sollte. »Mich macht es einfach krank«, sagte Nafai, »daß dich nur interessiert, ob du selbst Probleme bekommen könntest. Du hast gar keinen Familiensinn.«

»Damit schade ich meiner Familie nicht. Das Maskentragen ist eine völlig legitime Möglichkeit, mir erste Sporen als Schauspieler zu verdienen. Es bringt mir meinen Lebensunterhalt ein, und gelegentlich sogar etwas Vergnügen und Respekt, was ich bei der Arbeit für Vater niemals erlebt habe!«

Wovon sprach Meb? »Mir ist es egal, ob du ein Maskenträger bist. Das finde ich sogar großartig. Ich habe mich heute hier herumgetrieben, weil ich mit dem Gedanken spiele, es selbst einmal zu versuchen.«

Meb nahm die Maske ab und musterte Nafai von Kopf bis Fuß. »Dein Körper würde auf der Bühne Eindruck machen. Aber du klingst noch wie ein Junge.«

»Mebbekew, das spielt im Augenblick keine Rolle. Ob du nun Maskenträger bist oder nicht – das kannst du Vater einfach nicht antun!«

»Ich tue Vater gar nichts an! Ich mache das nur für mich.«

So war es immer, wenn man mit Mebbekew sprach. Er schien nie zu begreifen, worauf das Gespräch hinauslief. »Na schön, du bist ein Maskenträger«, sagte Nafai. »Aber ich traue nicht einmal dir zu, daß du deinen eigenen Vater dermaßen verspotten willst!«

Meb sah ihn verdutzt an. »Meinen Vater verspotten?«

»Du kannst mir nicht erzählen, daß du es nicht weißt.«

»Wieso soll diese Satire ihm gelten?«

»Die Szene, in der du gerade mitgespielt hast, Meb.«

»Vater ist nicht der einzige Mensch in Basilika, der an die Überseele glaubt. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, daß es ihm gar nicht so ernst damit ist.«

»Die Vision, Meb! Das Feuer in der Wüste, die Prophezeiung über das Ende der Welt! Was glaubst du denn, was damit gemeint ist?«

»Keine Ahnung. Der alte Drotik erzählt uns nicht, wem seine Satiren gelten. Wozu auch, wenn wir den Klatsch doch noch gar nicht gehört haben? Wir sprechen nur seine Texte.« Dann legte sich ein seltsamer, nachdenklicher Ausdruck auf sein Gesicht. »Was hat diese Sache mit der Überseele mit Vater zu tun?«

»Er hatte eine Vision«, sagte Nafai. »Auf der Wüstenstraße, heute morgen vor Tagesanbruch, als er von seiner Reise zurückkam. Er hat auf einem Felsen eine Feuersäule und das brennende Basilika gesehen, und er vermutet, daß damit die Vernichtung der Welt gemeint ist, wie die Zerstörung der Erde in der alten Legende. Mutter glaubt ihm, und er muß bereits mit einigen Leuten darüber gesprochen haben. Wie hätte dein Satiriker davon erfahren sollen?«

»Das ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe«, sagte Mebbekew.

»Ich habe es mir nicht ausgedacht«, sagte Nafai. »Ich saß heute morgen in Mutters Säulengang und …«

»Die Szene im Säulengang! Das ist … Er schrieb, wie der Apotheker … das soll Vater sein?«

»Was meinst du denn, was ich dir zu erklären versuche?«

»Arschloch«, flüsterte Meb. »Dieses Arschloch. Und mich bringt er als die Überseele auf die Bühne.«

Meb drehte sich um und lief zu dem Maskenträger, der den Apotheker spielte. Er blieb vor ihm stehen und betrachtete die Maske und das Kostüm. »Es ist so offensichtlich, daß ich den Verstand einer Stechmücke gehabt haben muß -aber eine Vision!«

»Wovon sprichst du?« fragte der Maskenträger.

»Gib mir die Maske«, sagte Mebbekew. »Gib sie her!«

»Hier.«

Meb riß sie dem anderen Mann aus den Händen und lief den Hügel hinauf zum Satiriker. Nafai folgte ihm. Meb schwenkte die Maske vor dem Gesicht des Satirikers. »Wie kannst du es wagen, Drotik, du verschlagener alter Furz?«

»Jetzt tu doch nicht so, als hättest du es nicht gewußt, mein Junge.«

»Woher sollte ich es denn wissen? Ich habe bis zum Beginn der Proben geschlafen. Du bringst mich auf die Bühne, damit ich meinen Vater verspotte, und ganz zufällig erzählst du mir nichts davon. Ja, das will ich dir glauben.«

»He, das bringt doch jede Menge Publikum.«

»Was hattest du vor? Wolltest du den Leuten verraten, wer ich bin, nach all deinen Versprechen, niemand würde es erfahren? Was haben diese Masken überhaupt zu bedeuten?« Meb drehte sich zu den anderen um, die die ganze Sache mehr oder weniger verblüfft beobachten. »He, Leute, wißt ihr, was dieser alte Scheißkerl vorhatte? Er wollte meinen Vater verspotten und den Leuten dann verraten, daß ich die Überseele gespielt habe. Er wollte mich entmaskieren!«

Dem Satiriker behagte diese Wendung der Dinge offensichtlich überhaupt nicht. Die Gesichter der meisten Maskenträger waren zwar noch bedeckt, doch man spürte, daß sie über die Vorstellung wütend waren, ein Satiriker könnte die Identität seiner Maskenträger enthüllen. Also versuchte der Mann, die Sache wieder in den Griff zu bekommen. »Macht euch keine Gedanken über diesen Unsinn«, sagte er zu den anderen. »Ich habe den Jungen gerade gefeuert, weil er die unangenehme Neigung hat, meine Texte umzuschreiben, und nun will er sich rächen und die ganze Vorstellung platzen lassen.«

Die Maskenträger entspannten sich merklich.

Meb mußte gemerkt haben, daß er den Wortwechsel verloren hatte – die Maskenträger wollten dem Satiriker glauben, weil sie sonst ihre Arbeit verloren hätten. »Nicht mein Vater ist der Lügner«, sagte Meb, »du bist es.«

»Die Satire ist doch wunderbar, nicht wahr?« sagte Drotik, »bis ihr Blitz zu Hause einschlägt.«

Meb hob die Maske des weißhaarigen Apothekers über den Kopf, als wollte er den Satiriker damit schlagen. Drotik riß einen Arm hoch und sprang zurück. Doch Meb hatte gar nicht vorgehabt, ihn anzugreifen. Statt dessen zerbrach er die Maske über seinem Knie. Dann warf er die beiden Hälften dem Satiriker vor die Füße.

Drotik senkte den Arm und erwiderte Mebbekews Blick. »Der Maskenbauer braucht keine zehn Minuten, um den Bart an eine andere Maske zu kleben. Oder wolltest du eine metaphorische Drohung aussprechen?«

»Keine Ahnung«, sagte Meb. »Wolltest du mich dazu bringen, meinen Vater metaphorisch zu ermorden?«

Der Satiriker schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir sprechen von dem Pfeil des Spotts, Junge. Nur Worte. Ein paar Lacher.«

»Ein paar zusätzliche Eintrittskarten.«

»Mit denen wir deinen Lohn bezahlen.«

»Mit denen du reich wirst.« Meb drehte sich um und ging davon. Nafai folgte ihm. Er hörte, wie Drotik den Scriptjungen losschickte, Maskenträger zu suchen, die glaubten, die Rolle in drei Stunden lernen zu können.

Mebbekew beachtete den ihm nachlaufenden Nafai gar nicht. Er ging immer schneller, bis sie schließlich in vollem Lauf durch die Straßen rannten, die Hügel hinauf und hinab. Doch Mebbekew war nicht beharrlich genug, um Nafai endgültig abzuschütteln, und schließlich lehnte er sich gegen eine Haus wand und bückte sich keuchend.

Nafai wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte Meb nicht hinterherlaufen wollen, nur um ihm zu sagen, was er dachte – daß er großartig gewesen war, als er den Satiriker zurechtgewiesen, ihn einen Lügner genannt und jedes Argument aus den Angeln gehoben hatte, das sich Drotik zu seiner Verteidigung ausgedacht hatte. Als du die Maske zerbrochen hast, wollte ich laut jubeln – das wollte Nafai ihm sagen.

Doch als er ihn eingeholt hatte, sah er, daß Meb nicht nur außer Atem war. Er weinte, nicht vor Kummer, sondern vor Zorn, und als Nafai neben ihn trat, schlug Meb mit der Faust gegen die Wand. »Wie konnte er mir das nur antun!« sagte Meb immer wieder. »Dieses selbstsüchtige Arschloch!«

»Laß es dir nicht zu nahe gehen«, sagte Nafai, um ihn zu trösten. »Drotik ist es nicht wert.«

»Nicht Drotik, du Idiot!« schrie Meb. »Drotik ist genau der, für den ich ihn immer gehalten habe. Aber jetzt habe ich mein Engagement verloren, und ich werde nie wieder eins bekommen, denn Drotik wird überall verbreiten, daß ich drei Stunden vor der Premiere die Brocken hingeschmissen habe.«

»Auf wen bist du dann wütend?«

»Auf Vater! Was denkst du denn? Eine Vision – ich kann es nicht glauben, ich dachte, Drotik würde mir sagen, daß er nicht Vater verspotten wollte, sondern einen anderen, und wie käme ich denn darauf, daß er den Wetschik meinte, nur ein Holzkopf käme auf die Idee, daß der ehrwürdige Wetschik glaubt, die erstaunliche, unglaubliche Überseele würde ihm Visionen eingeben!«

»Mutter glaubt ihm«, sagte Nafai.

»Mutter hat seit dem Jahr, da du gezeugt wurdest, jedes Jahr seinen Vertrag verlängert! Offensichtlich ist sie genau die richtige, auf deren Urteil wir Wert legen müssen. Glaubst du ihm denn? Glaubt ihm irgend jemand, der nicht mit ihm geschlafen hat?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wer von der Sache gehört hat.«

»Ich will dir was sagen. In sechs Stunden wird ganz Basilika davon wissen, ganz Basilika! Ich würde ihn am liebsten umbringen, diesen eitlen, alten Geck!«

»Beruhige dich, du meinst das doch nicht so …«

»Ach nein? Glaubst du mir nicht, daß ich ihm diese Faust am liebsten ins Gesicht schmettern würde?« Meb drehte sich um und schrie seinen nächsten Satz einem unbeteiligten Passanten entgegen. »Ich werde dir ein paar Visionen zeigen, du klotzköpfiger Unkrautjäter!«

Auf der Straße blieben die Leute stehen und sahen zu ihnen hinüber.

»Genau«, sagte Nafai. »Vater bringt dich in eine peinliche Lage.«

»Ich habe dich nicht gebeten, mir zu folgen. Du bist mir doch nachgelaufen! Wenn dir meine Gesellschaft nicht paßt, dann verschwinde doch; es ist mir völlig egal!«

»Gehen wir nach Hause«, sagte Nafai, weil ihm nichts anderes einfiel.

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