6 Feinde

»Wo hast du den gestrigen Tag verbracht?«

Nafai hatte dieses Gespräch nicht gewollt, doch es ließ sich nicht vermeiden. Mutter nahm nicht hin, daß einer ihrer Schüler einen ganzen Tag lang verschwand, ohne eine Erklärung zu verlangen.

»Ich bin umherspaziert.«

Wie er erwartet hatte, gab sich Mutter damit nicht zufrieden. »Ich habe auch nicht angenommen, daß du geflogen bist«, sagte sie. »Obwohl es mich überrascht, daß du dich nicht irgendwo zusammengerollt und geschlafen hast. Wo bist du gewesen?«

»An ein paar Orten, an denen man sehr viel lernen kann«, sagte Nafai. Er dachte dabei an Gaballufix’ Haus und das Offene Theater, doch Mutter würde seine Worte natürlich interpretieren, wie es ihr genehm war.

»In der Puppenstadt?« fragte sie.

»Da kann man tagsüber nicht viel erleben, Mutter.«

»Und du solltest überhaupt nicht dorthin gehen«, sagte sie. »Oder bist du der Ansicht, daß du schon alles über alles weißt, so daß du deine Ausbildung als abgeschlossen betrachten kannst?«

»Es gibt einige Themen, die du hier nicht lehrst, Mutter.« Erneut die Wahrheit – und doch nicht die Wahrheit.

»Ah«, sagte sie. »Dhelembuvex hatte ganz recht, was dich betrifft.«

O ja, wunderbar. Es ist an der Zeit, deinem kleinen Jungen ein Tantchen zu besorgen.

»Ich hätte es kommen sehen müssen. Dein Körper wächst so schnell – zu schnell, fürchte ich. In jeder anderen Hinsicht bist du noch nicht so reif.«

Das war zuviel für ihn. Er hatte vorgehabt, sich ruhig anzuhören, was sie zu sagen hatte, sie ihre Schlußfolgerungen ziehen zu lassen und dann in die Klasse zurückzugehen, womit die ganze Sache erledigt gewesen wäre. Doch wenn sie glaubte, seine Drüsen würden sein Leben beherrschen, wo doch, wenn überhaupt, sein Geist viel reifer war als sein Körper …

»Bist du wirklich immer so klug, Mutter?«

Sie runzelte die Stirn.

Er wußte, daß er seine Grenzen bereits überschritten hatte, doch nun hatte er einmal angefangen, und die Worte befanden sich in seinem Kopf; also sprach er sie aus. »Du siehst etwas, das du dir nicht erklären kannst, und wenn ein Junge es tut, bist du überzeugt, daß es mit seinem sexuellen Begehren zu tun hat.«

Sie lächelte fast. »Ich kenne mich mit Männern einigermaßen aus, Nafai, und die Vermutung, daß das Verhalten eines Vierzehnjährigen in einem Zusammenhang mit sexuellem Begehren steht, beruht auf zahlreichen Beweisen.«

»Aber ich bin dein Sohn, und du kannst mich noch immer nicht von einer Ziegelmauer unterscheiden.«

»Dann warst du also nicht in der Puppenstadt?«

»Nicht aus den Gründen, die du dir vorstellst.«

»Ah«, sagte sie. »Ich kann mir viele Gründe vorstellen. Aber keiner der möglichen Gründe, aus denen du in die Puppenstadt gegangen bist, deutet darauf hin, daß du eine sehr gute Entscheidung getroffen hast.«

»Ach ja, du bist ja Expertin, was gute Entscheidungen betrifft.«

Sein Sarkasmus kam nicht gut an. »Ich glaube, du vergißt, daß ich deine Mutter und deine Schulherrin bin.«

»Du, Mutter, hast gestern diese beiden Mädchen zu dem Familientreffen eingeladen, und nicht ich.«

»Und das war eine schlechte Entscheidung von mir?«

»Eine äußerst schlechte. Ich traf lange vor Anbruch der Dunkelheit beim Offenen Theater ein, und die Nachricht von Vaters Vision hatte sich dort schon herumgesprochen.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Mutter. »Vater ist direkt zum Klans-Rat gegangen. Danach war es wohl kaum noch ein Geheimnis.«

»Nicht nur seine Vision, Mutter. Sie probten dort bereits eine Satire – und kein Geringerer als Drotik hatte sie geschrieben –, die eine faszinierende kleine Szene in einem Säulengang beinhaltete. Und da die beiden einzigen Anwesenden, die nicht zur Familie gehörten, diese beiden Hexenmädchen waren …«

»Hüte deine Zunge!«

Er verstummte augenblicklich, verspürte aber ein unbestreitbares Gefühl des Triumphes. Ja, Mutter war wütend – doch indem er sie so wütend gemacht hatte, mußte er auch einen wunden Punkt bei ihr getroffen haben.

»Es ist eine ungeheure Beleidigung, daß du sie mit einem so erniedrigenden Mannwort bezeichnest«, sagte Mutter. Ihre Stimme klang jetzt ganz ruhig – also war sie wirklich wütend. »Luet ist eine Seherin, und Huschidh ist eine Entwirrerin. Überdies waren beide völlig diskret und haben kein Wort darüber verlauten lassen.«

»Also hast du sie nicht aus den Augen gelassen, nachdem …«

»Hüte deine Zunge, habe ich gesagt.« Ihre Stimme war kalt wie Eis. »Zu deiner Information, mein kluger, weiser, reifer kleiner Junge, diese Säulengang-Szene in Drotiks Satire … die ich übrigens gesehen habe, und sie war sehr schlecht, so daß ich mir darüber kaum Sorgen machen muß … jedenfalls gab es diese Säulengang-Szene, weil ich, während dein Vater beim Klans-Rat war, zum Stadtrat ging, und als ich dort die Geschichte erzählt habe, berichtete ich auch, was sich im Säulengang zugetragen hat. Warum, fragt mein brillanter Sohn mit einem köstlich dummen Ausdruck auf dem Gesicht? Weil der Rat deines Vaters Vision nur ernst genommen hat, weil Luet ihm geglaubt und festgestellt hat, daß sich seine Vision mit der ihren deckt.«

Mutter hatte es verraten. Mutter hatte Spott und Ruin über die Familie gebracht. Unglaublich. »Ah«, sagte Nafai.

»Ich habe gedacht, du hättest die Dinge etwas anders gesehen.«

»Wie ich sehe, war es kein Fehler, Luet und Huschidh zu dem Familientreffen einzuladen«, sagte Nafai. »Dich hätte man ausschließen müssen.«

Ihre Hand holte aus und traf sein Gesicht. Falls sie auf seine Wange gezielt hatte, hatte sie sie jedenfalls verfehlt, vielleicht, weil er instinktiv das Gesicht zurückgezogen hatte. Statt dessen erwischten ihre Fingernägel ihn am Kinn und rissen die Haut auf. Es tat weh und blutete.

»Du vergißt dich, junger Herr«, sagte sie.

»Nicht so sehr, wie du dich vergessen hast, Herrin«, antwortete er. Oder besser gesagt, wollte er antworten. Er setzte sogar dazu an, doch mitten im Satz wurde ihm die Bedeutung ihrer Tat klar, und die Erkenntnis, daß seine Mutter ihn geschlagen und erniedrigt hatte, ließ ihn in Tränen ausbrechen. »Es tut mir leid«, sagte er. Dabei hatte er eigentlich sagen wollen: Wir kannst du es wagen, ich bin zu alt dafür, ich hasse dich. Doch es war unmöglich, so barsche Worte auszusprechen, wenn man wie ein kleines Kind weinte. Nafai haßte es, daß er immer so schnell in Tränen ausbrach und sich daran auch nichts änderte, als er älter wurde.

»Vielleicht erinnerst du dich beim nächsten Mal daran, mit dem gebührenden Respekt zu mir zu sprechen«, sagte sie. Doch auch sie konnte den scharfen Tonfall nicht aufrecht halten, denn noch während sie sprach, spürte er ihren Arm um seine Schulter, als sie sich neben ihn setzte und ihn tröstete.

Sie begriff natürlich nicht, daß die Weise, wie sie seinen Kopf an ihre Schulter drückte, nur zu der Erniedrigung beitrug und ihn in seinem Entschluß bestärkte, sie als Feind zu betrachten. Wenn sie die Macht hatte, ihn wegen seiner Liebe für sie zum Weinen zu bringen, gab es nur eine mögliche Lösung für ihn: aufhören, sie zu lieben. Das war das letzte Mal, daß sie jemals imstande gewesen war, ihm dies anzutun.

»Du blutest«, sagte sie.

»Es ist nichts«, sagte er.

»Laß es mich abtupfen – hier, mit einem sauberen Taschentuch, nicht mit diesem schrecklichen Fetzen, den du in deiner Tasche hast, du dummer, kleiner Junge.«

Genau das werde ich in diesem Haus immer sein, nicht wahr? Ein dummer, kleiner Junge. Er löste sich von ihr, unwillig, sich vom Taschentuch am Kinn berühren zu lassen. Doch sie blieb beharrlich und tupfte die Wunde ab, und der weiße Stoff färbte sich überraschend stark mit Blut – also nahm er es ihr aus der Hand und drückte es gegen die Wunde. »Ist wohl ziemlich tief«, sagte er.

»Wenn du nicht zurückgezuckt wärest, hätte ich dich nicht mit den Nägeln am Kinn getroffen.«

Wenn du mich nicht geschlagen hättest, hätten mich deine Nägel überhaupt nicht getroffen. Doch er hielt die Zunge im Zaum.

»Wie ich sehe, nimmst du dir die Lage unserer Familie sehr zu Herzen, Nafai, aber deine Werte sind etwas verdreht. Was hat der Spott der Satiriker schon zu bedeuten? Jeder weiß, daß jede große Gestalt in der Geschichte Basilikas irgendwann einmal vom Pfeil des Spotts getroffen wurde, und normalerweise genau wegen jener Sache, die sie zu einer bedeutenden Person werden ließ. Das können wir ertragen. Viel wichtiger ist, daß Vaters Vision eine sehr eindeutige Warnung der Überseele war, die unmittelbare Auswirkungen auf das Vorgehen unserer Stadt im Lauf der nächsten Tage, Wochen und Monate haben wird. Die peinliche Situation wird vergehen. Und unter den Frauen, auf die es in dieser Stadt wirklich ankommt, gilt Vater durchaus als bemerkenswerter Mann – ihr Respekt für ihn nimmt zu. Versuche also, deine Betroffenheit darüber beherrschen, daß Vater plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Alle Kinder in deinem Alter reagieren äußerst empfindlich, wenn man sie in solch eine Verlegenheit bringt, doch mit der Zeit wirst du lernen, daß, Kritik und Spott nicht immer schlecht sind. Es kann sehr wohl für einen sprechen, sich die Feindschaft böser Menschen einzuhandeln.«

Er konnte kaum glauben, daß sie so geringschätzig von ihm dachte und der Ansicht war, er habe so eine Predigt nötig. Glaubte sie wirklich, er scheue sich vor dem Spott der anderen? Hätte sie zugehört, statt eine Predigt zu halten, hätte er ihr vielleicht von Elemaks Warnung berichtet, Vater könne in Gefahr schweben, und von seinem geheimen Besuch in Gaballufix’ Haus. Doch es war klar, daß er in ihren Augen noch immer nichts weiter als ein Kind war. Sie würde seine Warnung nicht ernst nehmen. Statt dessen würde sie ihm wahrscheinlich eine weitere Predigt darüber halten, daß man sich nicht von seinen Ängsten und Sorgen beherrschen lassen durfte, sondern einen kühlen Kopf behalten, sich auf den Unterricht konzentrieren und es den Erwachsenen überlassen mußte, die wirklichen Probleme der Welt zu lösen.

In ihrer Vorstellung bin ich noch sechs Jahre alt, werde ich immer ein Sechsjähriger sein. »Es tut mir leid, Mutter. Ich werde nicht mehr so zu dir sprechen.« Ich bezweifle sogar, daß ich überhaupt noch etwas von Belang zu dir sagen werde, solange du lebst.

»Ich akzeptiere deine Entschuldigung, Nafai, und ich hoffe, daß du auch meine annimmst, dich im Zorn geschlagen zu haben.«

»Natürlich, Mutter.« Ich werde deine Entschuldigung annehmen – wenn du sie mit anbietest und ich glaube, daß du es ernst meinst. Doch in Wirklichkeit, werter, geliebter Brotkorb, dem ich entsprang, hast du dich zu keinem Zeitpunkt unseres Gesprächs bei mir entschuldigt. Du hast nur der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß ich eine Entschuldigung annehme, die du mir in Wirklichkeit niemals angeboten hast.

»Ich hoffe, Nafai, daß du deine Studien wieder aufnehmen und diesen Ereignissen in der Stadt nicht erlauben wirst, die normale Routine deines Lebens weiterhin zu stören. Du hast einen sehr scharfen Verstand, und es besteht nicht der geringste Grund für dich, dich von diesen Dingen vom weiteren Schleifen dieses Verstandes ablenken zu lassen.«

Danke für diesen hingeworfenen Brocken Lob, Mutter. Du hast mir gesagt, daß ich kindisch bin, ein Sklave der Lust, und daß man mich zum Schweigen bringen und mir nicht zuhören muß, wenn ich meine Ansichten äußere. Jedem Wort, das aus dem Mund dieses Hexenmädchen kommt, wirst du ernsthafte Beachtung schenken, doch du gehst von der Voraussetzung aus, daß alles, was ich sage, wertlos ist.

»Ja, Mutter«, sagte Nafai. »Aber ich würde im Augenblick lieber nicht in den Klassenraum zurückgehen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich verstehe dich vollkommen.«

Liebe Überseele, verhindere, daß ich lache.

»Ich kann aber nicht zulassen, daß du wieder auf den Straßen herumspazierst, Nafai. Das verstehst du doch sicher? Vaters Vision hat soviel Aufmerksamkeit erregt, daß irgend jemand etwas sagen wird, daß dich wütend machen wird, und ich will nicht, daß du dich prügelst.«

Also machst du dir Sorgen darum, daß ich mich prügele, Mutter? Erinnere dich doch bitte einmal daran, wer hier auf dem Säulengang wen geschlagen hat.

»Warum verbringst du den Tag nicht mit Issib in der Bibliothek? Ich glaube, er wird einen guten Einfluß auf dich haben – er ist immer so ruhig.«

Issib, immer ruhig? Arme Mutter – sie weiß überhaupt nichts über ihre Söhne. Die Frauen verstehen die Männer einfach nicht. Natürlich verstehen die Männer die Frauen nicht besser – aber zumindest reden wir uns nicht ein, wir würden sie verstehen.

»Ja, Mutter. Die Bibliothek wäre prima.«

Sie erhob sich. »Dann geh jetzt. Das Taschentuch kannst du natürlich behalten.«

Sie verließ den Säulengang, ohne abzuwarten und sich zu überzeugen, ob er auch gehorchte.

Er stand augenblicklich auf, ging um den Wandschirm, direkt zur Balustrade und sah über das Spaltental hinaus.

Vom See war nichts zu sehen. Eine dichte Wolke hing im unteren Teil des Tals, und da die Talwände noch über dem Nebel steiler zu werden schienen, würde man auch ohne die Bewölkung den See von dieser Stelle nicht ausmachen können.

Von hier aus konnte er lediglich die weiße Wolke und das dunkle, üppige Grün des Waldes ausmachen, der das Tal umsäumte. Hier und da hoben sich Rauchsäulen aus Kaminen, denn auf den Talhängen wohnten einige Frauen. Vaters Haushälterin, Truznischa, gehörte zu ihnen. Sie hatte ein Haus in dem Bezirk namens Westliche Klippe, einem der zwölf Viertel Basilikas, in denen nur Frauen wohnten, ja, die nur Frauen betreten durften. Die Frauenbezirke waren viel dünner besiedelt als irgendeiner der vierundzwanzig anderen, in denen Männer wohnen (aber natürlich keinen Besitz erwerben) durften, und doch übten sie im Stadtrat eine gewaltige Macht aus, da ihre Abgeordneten immer blockweise abstimmten. Konservative, Religiöse – zweifellos waren das die Ratsfrauen, die am stärksten von der Tatsache beeindruckt waren, daß Luet Vaters Vision bestätigt hatte. Falls sie Vaters Meinung über das Thema Kriegswagen zustimmten, waren nur noch sechs weitere Ratsfrauen nötig, um ein Patt zu erwirken, und sieben, um Gaballufix’ Pläne endgültig zum Scheitern zu bringen.

Es waren eben diese Abgeordneten aus den Frauenvierteln, die sich seit Jahrtausenden weigerten, die dicht besiedelten Offenen Viertel zu unterteilen, irgendeinem Bezirk außerhalb der Stadtmauern ein Stimmrecht im Rat zuzugestehen, den Männern zu erlauben, innerhalb der Mauer Besitz zu erwerben oder irgend etwas zuzulassen, das die absolute Herrschaft der Frauen in Basilika schwächen könnte. Als Nafai nun voller Wut auf seine Mutter über das geheime Tal sah, blieb ihm größtenteils verborgen, wie wunderschön dieser Ort war, voller Geheimnisse und Leben; er stellte nur fest, wie unglaublich wenige Häuser dort standen.

Wie konnte man dieses Tal nur in zwölf Bezirke aufteilen? In einigen mußten sich die drei Frauen, die dort wohnten, als Abgeordnete abwechseln.

Und außerhalb der Stadt, in den winzigen, aber teuren Wohnungen, in denen unverheiratete Männer ohne Haushalt leben mußten, gab es keine gesetzlichen Grundlagen, die eine fairere Behandlung garantierten, nicht einmal Gesetze, die Junggesellen vor ihren Hausherren schützten, oder vor Frauen, deren Versprechungen plötzlich vergessen waren, wenn sie das Interesse an einem Mann verloren, oder auch nur vor gegenseitigen Gewalttätigkeiten. Als Nafai dort stand und über das ungezähmte Grün des Tals blickte, begriff er einen Augenblick lang, wieso ein Mann wie Gaballufix mit Leichtigkeit Männer um sich scharen konnte, die versuchten, etwas Macht in dieser Stadt zu gewinnen, in der Männer jeden Tag und jede Stunde ihres Lebens von Frauen entmutigt wurden.

Als dann ein Windstoß über das Tal fuhr, bewegte sich die Wolke, und er konnte den Schimmer eines reflektierten Lichts ausmachen. Die Oberfläche eines Sees, nicht in der Mitte, der tiefsten Stelle des Tals, sondern höher, weiter weg. Instinktiv wandte Nafai den Blick ab. Es war eine Sache, zur Balustrade zu gehen, um seiner Mutter zu trotzen, aber eine ganz andere, den heiligen See zu betrachten, den die Frauen aufsuchten, um dort zu beten. Wenn bei dieser Sache eins klar geworden war, dann, daß es die Überseele vielleicht tatsächlich gab. Es war sinnlos, sich wegen einer so dummen Sache – über den Rand von Mutters Säulengang einen See zu betrachten – ihren Zorn zuzuziehen.

Nafai drehte sich um und eilte hinter den Wandschirm zurück; dabei kam er sich überaus töricht vor. Was, wenn man mich erwischt hätte? Andererseits … und wenn schon? Nein, nur um Mutter zu trotzen, war es das Risiko nicht wert. Er hatte etwas Wichtigeres zu tun. Wenn Mutter sich seine Ängste, Vater könne in Gefahr sein, nicht anhören wollte, mußte er eben selbst etwas unternehmen. Aber zuerst mußte er mehr wissen – über Gaballufix, über die Überseele, über alles.

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Luet aufzusuchen und ihr Fragen zu stellen. Sie wußte doch, was es mit der Überseele auf sich hatte, oder nicht? Sie hatte die ganze Zeit über“ Visionen, nicht nur einmal wie Vater. Sicher würde sie ihm einiges erklären können.

Aber sie war eine Frau, und plötzlich wußte Nafai, daß er von keiner Frau irgendeine Hilfe bekommen würde. Im Gegenteil – die Frauen Basilikas lernten von Kindheit an, die Männer zu unterdrücken und ihnen einzureden, sie wären wertlos. Luet würde über ihn lachen und direkt zu Mutter gehen und ihr von seinen Fragen berichten.

Wenn er irgend jemandem vertrauen konnte, dann nur anderen Männern – und auch da gab es nur wenige, da die Gefahr, die Vater drohte, ja von Gaballufix’ Partei kam. Vielleicht konnte er sich der Hilfe dieses Roptats versichern, von dem Elja gesprochen hatte. Oder erst einmal herausfinden, was die Überseele überhaupt so alles tat.


Issib freute sich nicht gerade, ihn zu sehen. »Ich habe zu tun und kann keine Störungen gebrauchen.«

»Das ist die Bibliothek dieses Haushalts«, sagte Nafai. »Hierher kommen wir immer, wenn wir Forschungen betreiben müssen.«

»Siehst du? Du störst mich schon.«

»He, ich habe doch gar nichts gesagt. Ich kam hier herein und war kaum durch die Tür, als du schon auf mir herumgehackt hast.«

»Ich habe gehofft, du würdest rückwärts hinausgehen.«

»Kann ich nicht. Mutter hat mich hierher geschickt.« Nafai trat hinter Issib, der vor seinem Computerterminal bequem in der Luft schwebte. Die Darstellung war etwa dreißig Seiten stark, doch auf jeder Seite standen nur ein paar Wörter, so daß er fast alles auf einen Blick sehen konnte. Wie bei einer Partie Solitaire, bei der Issib einfach Teile von einem Ort zum anderen schob.

Bei diesen Teilen handelte es sich um Wörter in seltsamen Sprachen. Diejenigen, die Nafai erkannte, waren sehr alt.

»Was für eine Sprache ist das?« fragte Nafai und deutete auf ein Wort.

Issib seufzte. »Ich bin ja so froh, daß du mich nicht unterbrichst.«

»Was ist es, eine alte Form des Vijati?«

»Sehr gut. Es ist Slucaja, das dem Obilazati entstammt, der ursprünglichen Form des Vijati. Eine tote Sprache.«

»Weißt du, ich kann Vijati lesen.«

»Ich nicht.«

»Ach, du spezialisierst dich auf uralte, obskure Sprachen, die niemand mehr spricht, einschließlich dir?«

»Ich lerne diese Sprache, ich spüre verlorenen Wörtern nach.«

»Wenn die ganze Sprache tot ist, sind alle Wörter verloren.«

»Wörter, die einmal eine Bedeutung hatten, aber ausgestorben sind oder nur in Redewendungen überlebt haben. Wie ›Tanzbär‹ zum Beispiel. Weißt du, was ein Bär ist?«

»Keine Ahnung. Ich dachte immer, das wäre irgendein anmutiger Vogel.«

»Falsch. Es ist ein uraltes Säugetier. Nur auf der Erde bekannt, glaube ich. Man hat es niemals hierher gebracht. Oder es ist ziemlich bald ausgestorben. Es war größer als ein Mensch, sehr stark. Ein Raubtier.«

»Und es hat getanzt?«

»Mit diesem Ausdruck hat man etwas absurd Unbeholfenes bezeichnet. Wie einen Hund zum Beispiel, der auf den Hinterbeinen geht.«

»Und jetzt bedeutet er das Gegenteil. Seltsam. Wie kann er sich nur so verändert haben?«

»Weil es keine Bären mehr gibt. Die Bedeutung war einmal ganz offensichtlich, weil jeder wußte, was ein Bär ist und wie unbeholfen er aussieht, wenn er tanzt. Aber als die Bären verschwunden waren, konnte sich die Bedeutung beliebig ändern. Heute bezeichnen wir damit eine Person, die äußerst geschickt darin ist, sich aus einer peinlichen gesellschaftlichen Lage zu befreien. Das ist die einzige Gelegenheit, bei der wir das Wort Bär noch benutzen. Und eine Menge Leute schreiben es auch falsch.«

»Toll. Arbeitest du an einem Linguistik-Projekt?«

»Nein.«

»Für wen machst du das denn?«

»Für mich.«

»Du sammelst einfach alte Redewendungen.«

»Verlorene Wörter.«

»Wie Bär? Das Wort ist erhalten geblieben, Issja. Die Bären sind verschwunden.«

»Sehr gut, Njef. Der Kandidat hat hundert Punkte. Und jetzt verschwinde.«

»Du forscht gar nicht über verlorene Wörter. Du forscht über Wörter, die ihre Bedeutung verloren haben, weil es die Sache nicht mehr gibt, auf die sie sich beziehen.«

Issib drehte langsam den Kopf und sah Nafai an. »Solltest du tatsächlich ein Gehirn entwickelt haben?«

Nafai deutete auf den Bildschirm. »Kolesnischa. Das ist ein Wort aus der kunischen Sprache. Du hast die Bedeutung richtig erfaßt – Kriegswagen. Kunisch wird seit zehn Millionen Jahren nicht mehr gesprochen. Heute ist sie nur noch eine Schriftsprache. Und doch hatten sie ein Wort für Kriegswagen. Der erst vor kurzem erfunden worden ist. Das bedeutet, daß es schon vor langer Zeit Kriegswagen gegeben hat.«

Issib lachte. Ein leises Kichern, doch es hielt lange an.

»Was ist los, liege ich da falsch?«

»Ich fasse es nur nicht, das ist alles. Wie offensichtlich es doch ist. Selbst du gehst einfach zu einem Computer-Terminal und begreifst die ganze Sache auf Anhieb. Warum also ist noch niemand darauf gekommen? Warum hat noch niemand bemerkt, daß wir das Wort Wagen schon hatten und wir alle wissen, was es bedeutet, obwohl es doch nach allem, was wir wissen, noch nie irgendeinen Wagen auf der ganzen Welt gegeben hat?«

»Das ist wirklich komisch, oder?«

»Das ist nicht komisch, es ist unheimlich. Sieh dir doch an, was die Naßköpfe mit ihren Kriegswagen machen – ihren Kolesnischety. Sie verschaffen ihnen im Krieg einen entscheidenden Vorteil. Sie errichten ein richtiges Reich, nicht nur ein System aus Allianzen, sondern die wirkliche Herrschaft über Nationen, die sechs Tagesreisen von ihrer Stadt entfernt liegen. Wenn man mit Kriegswagen also so etwas schaffen kann und die Menschen sie schon vor Millionen Jahren hatten … wie konnten wir da jemals vergessen, was ein Kriegswagen ist?«

Nafai dachte kurz darüber nach. »Dazu müßte man wirklich dumm sein«, sagte er. »Ich meine, so etwas vergessen die Leute doch nicht. Selbst, wenn tausend Jahre lang Frieden geherrscht hätte, gäbe es in den Bibliotheken doch immer noch Bilder von ihnen.«

»Keine Bilder von Kriegswagen«, sagte Issib.

»Ich meine, das ist doch dumm«, sagte Nafai.

»Und dieses Wort hier«, sagte Issib.

»Zrakoplov«, sagte Nafai. »Das ist eindeutig ein Wort aus dem Obilazati.«

»Genau.«

»Was bedeutet es? Luft-Sowieso.«

»Ja, frei übersetzt und aufgeschlüsselt bedeutet es ›Luft-Schwimmer‹.«

Nafai dachte auch darüber eine Weile nach. Er beschwor in seinem Kopf ein Bild herauf – ein Fisch, der durch die Luft flog. »Ein fliegender Fisch?«

»Es ist eine Maschine«, sagte Issib.

»Ein wirklich schnelles Schiff?«

»Hör dich doch an, Nafai. Es müßte doch völlig offensichtlich sein. Und doch willst du die einfachste Bedeutung nicht akzeptieren.«

»Ein Unterwasser-Boot?«

»Wieso wäre das denn ein Luft-Schwimmer, Njef?«

»Keine Ahnung.« Nafai kam sich dumm vor. »Ich habe nicht an den Teil mit der Luft gedacht.«

»Du hast es vergessen – und doch hast du den ›Teil mit der Luft‹ sofort erkannt, ganz allein. Du weißt, daß Zraky die Obilazati-Wurzel für Luft ist, und doch hast du den ›Teil mit der Luft‹ vergessen.«

»Also bin ich wirklich dumm

»Aber du bist gar nicht dumm, Njef. Du bist eigentlich sogar ziemlich klug, und doch stehst du noch da und starrst das Wort an, und ich erkläre dir alles, und du kommst noch immer nicht darauf, was das Wort bedeutet.«

»Na ja, was ist das denn für ein Wort«, sagte Nafai und zeigte auf Puscani prah. »Ich erkenne nicht einmal die Sprache.«

Issib schüttelte den Kopf. »Würde ich nicht sehen, daß es gerade mit dir passiert, würde ich es nicht glauben.«

»Was?«

»Bist du gar nicht neugierig? Willst du nicht wissen, was ein Zrakoplov ist?«

»Du hast es mir doch gesagt. Ein Luft-Schwimmer.«

»Eine Maschine, die die Bezeichnung Luft-Schwimmer trägt.«

»Ja. Genau. Und was ist nun ein Puscani prah

Issib drehte sich langsam um und sah Nafai an. »Setz dich, mein lieber, geschätzter, brillanter, dummer Bruder, du wahrer Diener der Überseele. Ich muß dir etwas über Maschinen erzählen, die durch die Luft schwimmen.«

»Ich störe dich wohl«, sagte Nafai.

»Ich will mit dir sprechen«, sagte Issib. »Du störst mich nicht. Ich will dir erklären, was fliegende …«

»Ich gehe wohl besser.«

»Warum? Warum willst du jetzt unbedingt gehen?«

»Keine Ahnung.« Nafai trat zur Tür. »Ich brauche frische Luft. Ich ersticke hier.« Er verließ den Raum. Augenblicklich fühlte er sich besser. Ihm war nicht mehr schwindlig. Und überhaupt, was sollte dieser Unsinn? Die Bibliothek war zu eng, und es waren zu viele Menschen darin.

»Warum bist du gegangen?« fragte Issib.

Nafai fuhr herum. Issib war leise aus der Bibliothek geschwebt und ihm gefolgt. Nafai verspürte augenblicklich dieselbe Art von Klaustrophobie, die ihn auf den Gang getrieben hatte. »Hier drin ist es zu voll«, sagte Nafai. »Ich muß allein sein.«

»Ich war der einzige Mensch in der Bibliothek«, sagte Issib.

»Wirklich?« Nafai versuchte, sich zu erinnern. »Ich will hier raus. Laß mich doch einfach gehen.«

»Denke nach«, sagte Issib. »Erinnerst du dich an das Gespräch zwischen Luet und Vater gestern?«

Augenblicklich entspannte sich Nafai. Er verspürte nicht mehr die geringste Klaustrophobie. »Klar.«

»Und Luet hat Vater auf die Probe gestellt – was seine Erinnerungen betrifft. Als sich die Erinnerung an die Vision, die er gesehen hatte, als falsch erwies, kam er sich ziemlich dumm vor, nicht wahr?«

»Hat er gesagt.«

»Dumm. Zusammenhanglos. Er hat nur in die Luft gestarrt.«

»Ich glaub schon.«

»Genau wie du«, sagte Issib. »Als ich dich wegen der Bedeutung von Zrakoplov bedrängte.«

Plötzlich hatte Nafai den Eindruck, es wäre keine Luft mehr in seinen Lungen. »Ich muß hier raus!«

»Du reagierst aber wirklich empfindlich darauf«, sagte Issib. »Noch schlimmer als Vater und Mutter, als ich versuchte, es ihnen zu erklären.«

»Hör auf, mir zu folgen!« rief Nafai. Doch Issib schwebte hinter ihm her, den Gang entlang zur Treppe und auf die Straße hinaus. Dort, unter freiem Himmel, zog Issib mühelos an Nafai vorbei und schwebte von der einen zur anderen Seite, als wolle er Nafai zum Haus zurücktreiben.

»Hör auf!« rief Nafai. Aber er konnte nicht entkommen. Er hatte noch nie eine solche Panik verspürt. Er fuhr herum, stolperte und fiel auf die Knie.

»Es ist schon gut«, sagte Issib sanft. »Entspanne dich. Es ist nichts. Entspanne dich.«

Nafai konnte nun wieder leichter atmen. Issibs Stimme vermittelte eine gewisse Sicherheit. Die Panik ließ nach. Nafai hob den Kopf und sah sich um. »Was machen wir hier auf der Straße? Mutter wird mich umbringen.«

»Du bist hinausgelaufen, Nafai.«

»Wirklich?«

»Es ist die Überseele, Nafai.«

»Was ist die Überseele?«

»Die Macht, die dich hinausgeschickt und verhindert hat, daß du mir zuhörst – daß du etwas über Dinge erfährst, von denen die Überseele nicht will, daß die Menschen davon Kenntnis haben.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Nafai. »Die Überseele verbirgt keine Informationen, sondern verbreitet sie. Wir stellen ihr unsere Schriften, unsere Musik, einfach alles zu, und die Überseele sendet sie von Stadt zu Stadt, von einer Bibliothek zur anderen auf der ganzen Welt.«

»Deine Reaktion war viel stärker als die Vaters«, sagte Issib. »Natürlich habe ich dich auch härter bedrängt.«

»Was meinst du damit?«

»Die Überseele ist in deinem Kopf, Nafai. In unseren allen Köpfen. Aber einige haben sie mehr als andere. Sie ist da und beobachtet, was wir denken. Ich weiß, daß man es sich nur schwer vorstellen kann.«

Doch Nafai fiel ein, daß Luet gewußt hatte, was in seinem Geist vorgegangen war. »Nein, Issja, ich habe es schon gewußt.«

»Wirklich?« sagte Issib. »Nun gut. Sobald die Überseele merkte, daß du dich einem verbotenen Thema genähert hast, fing sie an, dich dumm zu machen.«

»Was für ein verbotenes Thema?«

»Wenn ich dir das sagte, würde es dich wieder außer Gefecht setzen«, erwiderte Issib.

»Wann bin ich dumm geworden?«

»Vertraue mir. Du bist sehr dumm geworden. Du hast versucht, das Thema zu wechseln, ohne es überhaupt zu bemerken. Normalerweise bist du äußerst verständnisvoll, Nafai. Sehr klug. Du begreifst die Dinge. Doch diesmal standest du in der Bibliothek einfach da wie ein Idiot. Die Wahrheit starrte dir ins Gesicht, und du hast sie nicht gesehen. Als ich dich daran erinnerte, als ich dich bedrängte, bekamst du einen klaustrophobischen Anfall, nicht wahr? Du konntest kaum atmen, mußtest unbedingt aus dem Gebäude hinaus. Ich bin dir gefolgt, habe dich erneut bedrängt, und hier sind wir nun.«

Nafai versuchte sich daran zu erinnern, was passiert war. Issib hatte recht, was die Abfolge der Ereignisse betraf. Doch Nafai hatte den Drang, das Haus unbedingt zu verlassen, nicht damit in Verbindung gebracht, was Issib ihm erklärt hatte. Und wäre es um sein Leben gegangen, er konnte sich ja noch nicht einmal daran erinnern, worüber Issib gesprochen hatte. »Du hast mich bedrängt?«

»Ich weiß, wie es ist«, sagte Issib. »Ich habe es auch gespürt, als ich dieser Sache vor ein paar Jahren auf die Spur kam. Ich beschäftigte mich mit verlorenen Wörtern, genau wie mit diesem Tanzbär. Erstellte Listen. Ich hatte eine ziemlich lange Liste mit solchen Begriffen und den dazugehörigen Definitionen und Erklärungen … und Vermutungen, was ein jedes dieser verlorenen Wörter wohl bedeuten könnte. Und eines Tages sah ich mir dann diese Liste an, die ich für komplett hielt, und begriff plötzlich, daß ein paar Dutzend dieser Wörter überhaupt keine Bedeutung hatten. Das ist dumm, dachte ich. Das ruiniert meine Liste. Also habe ich diese Wörter gelöscht.«

»Sie gelöscht?« Nafai war wie vor den Kopf gestoßen. »Anstatt ihrer Bedeutung nachzugehen?«

»Begreifst du jetzt, wie dumm die Überseele einen machen kann?« sagte Issib. »Und in dem Augenblick, in dem ich sie gelöscht hatte, fiel mir wie Schuppen von den Augen, was ich gerade getan hatte. Also wollte ich den Löschbefehl rückgängig machen, doch anstatt auf den betreffenden Knopf zu drücken, gab ich instinktiv den Abbruchbefehl, mit dem ich den Löschpuffer ausschaltete, und dann habe ich die neue Datei über der alten gespeichert.«

»Das ist zu kompliziert, um es mit Ungeschicklichkeit erklären zu können.«

»Genau. Ich habe gewußt, daß es ein Fehler war, sie zu löschen, und doch habe ich diesen Fehler nicht rückgängig gemacht und die Wörter zurückgebracht, sondern sie endgültig gelöscht, aus dem System entfernt.«

»Und du glaubst, die Überseele hat dir das befohlen?«

»Nafai, hast du dich jemals gefragt, was die Überseele ist? Was sie tut?«

»Klar.«

»Ich auch. Und nun weiß ich es.«

»Wegen dieser Wörter?«

»Ich habe sie nicht alle zurückbekommen, aber ich bin meine Nachforschungen so genau durchgegangen, wie es mir möglich war, und habe eine Liste von acht Wörtern erstellen können. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das war, denn nun war ich irgendwie … gegen sie eingestellt. Vorher muß ich sie einfach übersehen haben, wurde ich dumm, wenn ich sie sah – wie Vater dumm wurde, als er falsche Vorstellungen über die Vision der Überseele entwickelte. So kamen sie auf meine erste Liste, doch ohne die Definitionen – ich wurde einfach dumm, wann immer ich an sie dachte. Doch wenn ich sie nun sah, bekam ich diese klaustrophobischen Gefühle. Ich brauchte Luft. Ich mußte aus der Bibliothek hinaus. Aber ich zwang mich, immer wieder hineinzugehen. So schwer fiel mir noch nie etwas. Ich zwang mich, zu bleiben und das Undenkbare zu denken. Vorstellungen in meinem Verstand zu entwickeln, von denen die Überseele nicht will, daß wir uns an sie erinnern. Vorstellungen, die einmal so allgemein verbreitet waren, daß jede Sprache auf der Welt Begriffe für sie hat. Uralte Wörter. Verlorene Wörter.«

»Die Überseele verbirgt etwas vor uns?«

»Ja.«

»Was zum Beispiel?«

»Wenn ich es dir sagte, Nafai, würdest du einen Rückfall bekommen.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Doch«, sagte Issib. »Glaubst du, ich wüßte es nicht? Glaubst du, ich hätte im vergangenen Jahr nicht selbst dagegen ankämpfen müssen? Du kannst dir also vorstellen, wie überrascht ich gestern abend war, als Elemak in der Küche saß und uns einen der verbotenen Gegenstände erklärte. Kriegswagen.«

»Verboten? Wie können Kriegswagen verboten sein, sie sind doch nicht mal alt?«

»Siehst du? Du hast es schon vergessen. Das Wort Kolesnischa

»Ach ja. Richtig. Jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Aber erst, als ich es gesagt habe.«

Das stimmt, dachte Nafai. Eine Erinnerungslücke.

»Gestern abend hast du dich mit Elemak über Kriegswagen unterhalten, obwohl ich Monate brauchte, bevor es mir möglich war, der Bedeutung des Wortes Kolesnischa nachzugehen, ohne die ganze Zeit um Atem zu ringen.«

»Aber wir haben das Wort ›Kolesnischa‹ nicht benutzt.«

»Damit will ich dir sagen, Nafai, daß die Überseele zusammenbricht.«

»Das ist eine uralte Theorie.«

»Aber eine zutreffende«, sagte Issib. »Die Überseele schützt gewisse Vorstellungen, von denen sie nicht will, daß die Menschen darüber nachdenken. Erst in den letzten paar Jahren waren die Naßköpfe plötzlich imstande, sich mit einer davon zu befassen. Und auch die Potoku. Und auch wir. Und als ich gestern abend hörte, daß Elemak davon sprach, verspürte ich nicht den geringsten Anflug von Panik.«

»Aber trotzdem habe ich das Wort vergessen. Kolesnischa

»Eine sich hinziehende Nebenwirkung. Diesmal hast du dich doch daran erinnert, oder? Nafai, die Überseele hat es aufgegeben, uns vom Konzept des Kriegswagens fernzuhalten. Nach Millionen von Jahren versucht sie es nicht mehr.«

»Was noch?« fragte Nafai. »Wie lauten die anderen Begriffe?«

»Die hat sie noch nicht aufgegeben. Und du scheinst wirklich sehr empfindlich zu sein, was die Überseele betrifft, Njef. Ich weiß nicht, ob ich sie dir nennen kann, oder ob du dich, selbst wenn ich es täte, fünf Minuten später noch daran erinnern würdest.«

»Du meinst, ich kann wissen, daß die Überseele verhindert, daß wir gewisse Dinge erfahren, aber nicht, um welche Dinge es sich dabei handelt, weil die Überseele noch immer zu verhindern versucht, daß ich sie in Erfahrung bringe?«

»Genau.«

»Warum hindert die Überseele die Leute dann nicht daran, zum Beispiel an einen Mord zu denken? Warum verhindert die Überseele nicht, daß die Leute an Krieg, Vergewaltigung und Diebstahl denken? Wenn sie das mit mir machen kann, könnte sie doch auch etwas Nützliches mit dieser Fähigkeit anfangen.«

Issib schüttelte den Kopf. »Es kommt einem nicht richtig vor. Aber ich habe darüber nachgedacht – vergiß nicht, ich weiß schon seit einem Jahr davon –, und das ist die beste Antwort, die mir in den Sinn gekommen ist. Die Überseele will nicht verhindern, daß wir Menschen bleiben. Einschließlich aller verderbter Dinge, die wir uns gegenseitig antun. Sie versucht nur, das Ausmaß unserer Verderbtheit niedrig zu halten. All diese Dinge, die verboten sind … wie kann ich dir das nur sagen, ohne wieder einen Anfall bei dir auszulösen? … nun ja, wenn wir noch die Maschinen hätten, auf die sich die verbotenen Wörter beziehen, würden wir damit viel mehr bewerkstelligen können, jede Waffe könnte viel mehr Schaden anrichten, und alles würde viel schneller geschehen.«

»Die Zeit würde sich beschleunigen?«

»Nein«, sagte Issib. Ganz offensichtlich wählte er seine Worte mit viel Bedacht. »Was wäre, wenn … wenn die Gorajni ein Heer von fünftausend Mann in einem Tag von Jabrev nach Basilika bringen könnten?«

»Daß ich nicht lache!«

»Aber was, wenn sie es könnten?«

»Wir wären natürlich hilflos.«

»Warum?«

»Na ja, wir hätten keine Zeit, ein Heer zusammenzustellen.«

»Wenn wir also wüßten, daß andere Nationen dazu imstande wären, müßten wir also ein stehendes Heer unterhalten, nicht wahr, nur für den Fall, daß jemand plötzlich angreift?«

»Ich glaube schon.«

»Na schön. Jetzt einmal angenommen, die Gorajni fänden eine Möglichkeit, nicht fünf-, sondern fünfzigtausend Soldaten herzuschaffen, und nicht in einem Tag, sondern in sechs Stunden.«

»Unmöglich.«

»Was, wenn ich dir sagen würde, daß so etwas schon einmal geschehen ist?«

»Wer auch immer dazu imstande wäre, er würde die ganze Welt beherrschen.«

»Genau, Njef, außer, alle anderen wären ebenfalls dazu imstande. Aber was für eine Welt würde das dann sein? Die Welt wäre praktisch ganz klein geworden, und jeder befände sich praktisch direkt vor den Haustüren aller anderen. Eine grausame, brutale, dominante Nation wie die Gorajni könnte mit ihren Heeren alle anderen beherrschen. Also müßten sich alle anderen verbünden, um sie aufzuhalten. Und in diesem Krieg würden nicht nur ein paar tausend Menschen sterben, sondern eine Million, zehn Millionen.«

»Deshalb verhindert die Überseele also, daß wir an … schnelle Möglichkeiten denken … viele Soldaten von einem Ort zum anderen zu schaffen.«

»Es fiel dir nicht leicht, das zu sagen, oder?«

»Ich konnte … diesen Gedanken … einfach nicht fassen.«

»Es fällt dir schwer, allein diese Vorstellung zu begreifen, und dabei hast du noch nicht einmal an irgendeine spezifische Vorrichtung gedacht.«

»Ich hasse das«, sagte Nafai. »Du kannst mir nicht einmal erklären, wie jemand so etwas bewerkstelligen könnte. Ich kann mich nicht einmal auf diese bloße Vorstellung konzentrieren. Ich hasse das.«

»Ich glaube, die Überseele ist es nicht gewohnt, daß es irgendwem auffällt. Ich glaube, allein die Tatsache, daß du imstande bist, an eine undenkbare Vorstellung zu denken, bedeutet, daß die Überseele die Kontrolle verliert.«

»Issja, ich bin mir in meinem ganzen Leben noch nie so hilflos und dumm vorgekommen.«

»Und es geht nicht nur um Kriege und Heere«, sagte Issib. »Erinnerst du dich an die Geschichten über Klati?«

»Den Schlächter?«

»Der des Nachts durch Fenster in die Gemächer von Frauen einstieg und sie wie Vieh in einem Schlachthof zerstückelte.«

»Warum hat die Überseele ihn nicht dumm gemacht, als er diesen Gedanken faßte?«

»Weil es nicht die Aufgabe der Überseele ist, uns perfekt zu machen«, sagte Issib. »Aber stell dir einmal vor, Klati hätte ein … wäre imstande gewesen, sehr schnell zu reisen und in sechs Stunden eine andere Stadt zu erreichen.«

»Sie hätten dort gewußt, daß er ein Fremder ist, und ihn so genau beobachtet, daß er nichts hätte tun können.«

»Aber du verstehst nicht … wenn das jeden Tag Tausende, ja sogar Millionen von Menschen täten …«

»Frauen abschlachten?«

»Von einem Ort zum andern fliegen.«

»Das ist zu verrückt, um auch nur daran zu denken!« rief Nafai. Er sprang auf und ging zum Haus.

»Komm zurück!« rief Issib. »Du denkst das nicht wirklich, man bringt dich dazu, es zu denken!«

Nafai lehnte sich gegen eine Säule des Vorhofs. Issib hatte Recht. Es war ihm gutgegangen, und dann hatte Issib gesagt … ja, was hatte er überhaupt gesagt? … und plötzlich hatte Nafai gehen müssen, und nun war er hier, lehnte sich keuchend an eine Säule, und sein Herz hämmerte so laut, daß man es wahrscheinlich noch einen Meter entfernt hören konnte. Bewirkte wirklich die Überseele, daß er so ängstlich und dumm war? Falls ja, war die Überseele sein Feind. Und Nafai wollte sich ihr nicht unterwerfen. Er konnte an die Dinge denken, über die Issib gesprochen hatte, und zwar, ohne davonlaufen zu müssen.

Im Geiste vollzog Nafai die letzten Augenblicke seines Gesprächs mit Issib nach. Über Klati. Der in ein paar Stunden von einer Stadt zur anderen gelangen konnte. In anderen Städten würde er natürlich auffallen – aber was, wie Issib gesagt hatte, wenn Tausende von Menschen … fliegen … konnten?

Das Bild, das Nafai sich ausmalte, war lächerlich. Sich Menschen vorzustellen, die wie Vögel durch die Luft segelten und herabstießen. Er hätte darüber lachen müssen – doch als er daran dachte, zog sich statt dessen seine Kehle zusammen. Sein Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Ein scharfer, stechender Schmerz dehnte sich von seinem Nacken aus und drang bis in seinen Hinterkopf. Doch er konnte daran denken. Fliegende Menschen. Nun konnte er Issibs Gedanken auch zu Ende führen. Tausende Menschen, die von einer Stadt zur anderen flogen, so daß die Behörden in den einzelnen Städten keine Möglichkeit mehr hatten, jeden einzelnen zu überwachen.

»Klati hätte in jeder Stadt eine Frau töten können, und niemand wäre ihm je auf die Spur gekommen«, sagte Nafai.

Issib stand wieder neben ihm, und sein Arm lag ganz leicht auf Nafais Schulter, während er sich gegen die Säule lehnte. »Ja«, sagte Issib.

»Aber was würde es dann bedeuten, Bürger einer Stadt zu sein?« fragte Nafai. »Wenn tausend Menschen … heute … nach Basilika … fliegen …«

»Schon gut«, sagte Issib. »Du mußt es nicht aussprechen.«

»O doch«, sagte Nafai. »Ich kann alles denken. Sie kann mich nicht aufhalten.«

»Ich habe gerade versucht, dir zu erklären … daß die Überseele das Böse auf der Welt nicht aufhält … sie verhindert nur, daß es außer Kontrolle gerät. Sie hält den Schaden örtlich begrenzt. Aber die guten Dinge – denke einmal darüber nach, Nafai – wir geben der Überseele unsere Kunst und Musik und Geschichten, und sie bietet sie allen anderen Nationen an. Sie verbreitet die guten Dinge tatsächlich. Also macht sie die Welt zu einem besseren Ort.«

»Nein«, sagte Nafai. »In mancher Hinsicht ja, aber es könnte auch eine gute Welt sein, in der die Menschen … in der wir … fliegen könnten.«

Er erstickte fast an den Worten, doch er sprach sie aus, und obwohl er es kaum ertragen konnte, hier zu verweilen, wo die Luft so schwül und einfach nicht zu atmen war, blieb er trotzdem.

»Du bist gut«, sagte Issib. »Ich bin beeindruckt.«

Doch Nafai fühlte sich nicht beeindruckt. Er fühlte sich elend und wütend und betrogen. »Wieso hat die Überseele das Recht dazu«, sagte er, »uns all das vorzuenthalten?«

»Heere, die ohne Warnung vor unseren Toren stehen? Ich bin froh, daß es das nicht gibt.«

Nafai schüttelte den Kopf. »Sie entscheidet, was ich denken kann.«

»Njef, ich kenne das Gefühl, ich habe das alles schon vor Monaten durchgemacht, und ich weiß“, es macht einen wütend und jagt einem Angst ein. Aber ich weiß auch, daß man es überwinden kann. Und gestern, als Mutter von ihrer Vision sprach. Von einem brennenden Planeten. Es gibt ein Wort dafür – na ja, du könntest es jetzt nicht ertragen, es zu hören, das weiß ich … aber die Überseele hat uns auch davor bewahrt. Dreißig oder vierzig Millionen Jahre lang – begreifst du nicht, wie lang diese Zeitspanne ist? Mehr Geschichte, als wir es uns vorstellen können. Sie ist irgendwo verstaut, doch wir können höchstens eine skeletthafte Vorstellung von dem erfassen, in unsere Köpfe kriegen, was in den letzten zehn Millionen Jahren oder so auf der Welt passiert ist – und es sind Jahre des Studiums erforderlich, um auch nur das zu verstehen. Es gibt Königreiche und Sprachen, von denen wir seit Millionen Jahren nichts mehr gehört haben, und trotzdem ist nichts davon wirklich verloren. Als ich in der Bibliothek nachgeforscht habe, fand ich Hinweise auf Werke in anderen Bibliotheken und konnte die Spur zurückverfolgen, bis ich auf die unbeholfene Übersetzung eines Buches stieß, daß vor zweiunddreißig Millionen Jahren geschrieben wurde, und weißt du, was darin stand? Schon damals hat der Verfasser behauptet, die Geschichte sei zu lang, zu voll, als daß der menschliche Geist sie erfassen könnte. Würde man die gesamte menschliche Geschichte in einem Buch von tausend Seiten zusammenfassen, würde die Geschichte der Menschheit auf der Erde nur eine Seite davon beanspruchen. Und das war vor zweiunddreißig Millionen Jahren.«

»Also gibt es uns schon seit langer Zeit.«

»Wenn man die Arithmetik dieses Schriftstellers wörtlich nimmt, heißt das, daß die Geschichte der Menschheit auf der Erde nur achttausend Jahre gewährt hat, bevor der Planet … verbrannte.«

Nafai begriff. Die Überseele hatte verhindert, daß die Menschen das Ausmaß ihrer Vernichtungskraft erhöhten, und so hatte die Menschheit auf dem Planeten Harmonie fünftausend Mal langer existiert als damals auf der Erde.

»Warum hat die Überseele denn nicht verhindert, daß die Erde zerstört wurde?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Issib. »Ich habe nur eine Vermutung.«

»Und die wäre?«

»Ich weiß nicht, ob sie dir erlaubt, darüber nachzudenken.«

»Versuchen wir es.«

»Die Überseele wurde erst geschaffen, als die Menschheit nach Harmonie gelangte. Verstehst du, sie hat in jeder Sprache dieselbe Bedeutung – den Namen des Planeten. Sklad.

Endrakt. Soglassje. Als sie hier ankamen, von der zerstörten Erde, haben sie vielleicht den Entschluß gefaßt, so etwas nie wieder geschehen zu lassen. Vielleicht wurde dann die Überseele installiert – damit wir nie wieder eine so schreckliche Macht bekommen.«

»Dann wäre die Überseele … künstlichen Ursprungs.«

»Ja«, sagte Issib. »Fällt es dir nicht schwer, diesen Gedanken zu haben?«

»Nein«, sagte Nafai. »Ganz leicht. So ungewöhnlich ist dieser Gedanke nicht. Schon viele Menschen haben sich gefragt, ob die Überseele eine Maschine sein könnte.«

»Mir fiel es schwer«, sagte Issib. »Vielleicht lag es auch daran, daß ich auf Umwegen zu dieser Vorstellung gelangte. Über ein paar undenkbare Wege. Die genetische Veränderung des menschlichen Gehirns, damit es Gedanken von Kommunikationssatelliten empfangen kann, die im Orbit um den Planeten kreisen, und gleichzeitig auch an diese Satelliten senden kann.«

Nafai hörte die Wörter, doch sie hatten keine Bedeutung für ihn.

»Das hast du nicht verstanden, oder?« fragte Issib.

»Nein«, sagte Nafai.

»Ich hatte es auch nicht erwartet.«

»Issja, was macht die Überseele jetzt mit uns?«

»Daran arbeite ich gerade. Ich versuche, die verbotenen Wörter aufzuspüren, ein Muster zu finden, herauszufinden, wieso sie Vater diese Vision von einer brennenden Welt eingegeben hat. Und Mutter. Und Luet die Träume von Blut und Asche.«

»Das bedeutet, daß wir Puppen sind.«

»Nein, Nafai. Rede dir nicht ein, die Überseele deshalb zu hassen. Das bringt nichts Gutes mit sich – soviel weiß ich jetzt. Wir müssen sie verstehen. Was sie tut. Denn wenn die Kontrollfunktionen der Überseele zusammenbrechen, ist die Welt wirklich in Gefahr. Und sie brechen zusammen. Mit den Kriegswagen hat es angefangen – was wird danach kommen? Wer wird entdecken, was es mit – das Wort, nach dem du gefragt hast – Puscani Prah auf sich hat? Das ist ein Pulver, das explodiert, wenn man es ins Feuer wirft. Es platzt wie ein Ballon, aber mit tausendfacher Stärke. Es ist so stark, daß es eine Mauer zum Einsturz bringen kann. Oder Menschen töten kann.«

»Bitte hör auf«, flüsterte Nafai. Es war mehr, als er ertragen konnte; als er diese Sätze hörte, kämpfte er gegen nackte Panik an.

»Die Überseele ist nicht unser Feind. Ich glaube sogar, sie … sie hat mit Vater Verbindung aufgenommen, weil sie Hilfe braucht.«

»Warum hast du das nicht eher gesagt?«

»Das habe ich. Ich habe mit Vater darüber gesprochen. Mit Mutter. Mit einigen Lehren. Anderen Schülern. Anderen Gelehrten. Ich habe sogar einen Artikel darüber geschrieben, aber da sich niemand daran erinnern kann, wird ihn auch niemand je lesen. Nicht einmal, als ich ihn viermal an dieselbe Person geschickt habe. Dann habe ich es aufgegeben.«

»Aber mir hast du es erzählt.«

»Du bist in die Bibliothek gekommen«, sagte Issib. »Ich habe mir gedacht … warum nicht?«

»Zrakoplov«, sagte Nafai.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte Issib. »Du erinnerst dich wirklich an das Wort.«

»Eine Maschine. Die Menschen … fliegen nicht einfach. Sie benutzen eine Maschine.«

»Übertreibe es nicht«, sagte Issib. »Du machst dich damit nur krank. Du hast jetzt schon Kopfschmerzen, nicht wahr?«

»Aber ich habe Recht, oder?«

»Ich vermute, daß sie hohl war, wie ein Haus, und die Leute gingen hinein, um zu fliegen. Wie ein Schiff, nur durch die Luft. Mit Flügeln, Aber wir hatten sie schon einmal, glaube ich. Kennst du den Bezirk Schwarze Felder?«

»Natürlich, direkt westlich vom Markt.«

»Sein alter Name lautete Himmelshafen. Der Name hatte ungefähr zwanzig Millionen Jahre lang Bestand. Als sie ihn änderten, erinnerte sich niemand daran, was er bedeutet hatte.«

»Ich kann nicht mehr darüber nachdenken«, sagte Nafai.

»Aber du willst dich daran erinnern?« fragte Issib.

»Wie könnte ich es jemals vergessen?«

»Du weißt, daß du es vergessen wirst. Wenn ich dich nicht daran erinnere. Jeden Tag. Willst du das? Du wirst dich jedesmal so fühlen wie jetzt. Dir wird schlecht. Willst du es einfach vergessen, oder soll ich dich immer wieder daran erinnern?«

»Wer hat dich daran erinnert?«

»Ich habe mir Notizen gemacht«, sagte Issib. »In den Bibliothekscomputern. Gedächtnisstützen. Was glaubst du wohl, warum es mich ein Jahr gekostet hat, überhaupt so weit zu kommen?«

»Ich will mich daran erinnern.«

»Du wirst wütend auf mich werden.«

»Erinnere mich daran, nicht wütend zu werden.«

»Du wirst dich ganz elend fühlen.«

»Dann werde ich eben oft ohnmächtig.« Nafai glitt die Säule hinab, setzte sich auf den Boden und sah zur Straße. »Warum ist niemand auf uns aufmerksam geworden? Wir haben nicht gerade geflüstert.«

Issib lachte. »Oh, sie haben uns bemerkt. Mutter kam einmal heraus, und ein paar andere Lehrer. Sie haben uns kurz zugehört, und dann haben sie einfach vergessen, weshalb sie auf die Straße gekommen sind.«

»Das ist toll. Wenn wir in Ruhe gelassen werden wollen, müssen wir uns einfach nur über die Zrakoplov unterhalten.«

»Tja«, sagte Issib, »das funktioniert aber nur bei Menschen, die noch in enger Verbindung zur Überseele stehen.«

»Bei wem ist das denn nicht der Fall?«

»Zum Beispiel bei denjenigen, die auf den Gedanken mit den Kriegs wagen gekommen sind.«

»Du hast gesagt, die Überseele würde bei ihnen nicht mehr funktionieren.«

»Klar, seit ganz kurzer Zeit«, sagte Issib. »Aber schon seit längerem gibt es Leute in Basilika, die Kriegswagen bauen und an die Potoku verkaufen wollen. Seit über einem Jahr. Sie hatten keine Probleme mit der Überseele. Es ist, als wären sie ihr gegenüber taub. Aber bei den meisten trifft das nicht zu – und aus diesem Grund konnten Gaballufix und seine Männer die Sache auch so lange geheim halten. Die meisten Leute, die etwas von Kriegswagen gehört haben, haben einfach vergessen, daß sie es gehört haben. Vielleicht«, fügte Issib hinzu, »hat die Überseele vor kurzem sogar damit aufgehört, diese Vorstellung zu verbieten, weil es eine offene Diskussion über den Kriegswagen geben muß, um zu verhindern, daß er gebaut wird.«

»Um die Leute aufzuhalten, auf die die Überseele keinen Einfluß hat, muß sie also auch aufhören, den Rest von uns zu kontrollieren.«

»Ein ganz ausgeklügelter Schachzug«, sagte Issib. »Um zu gewinnen, muß die Überseele aufgeben. Ich würde sagen, daß die Überseele in gewaltigen Schwierigkeiten steckt.«

Das alles ergab Sinn – abgesehen von einem Punkt. »Aber warum hat sie ausgerechnet mit Vater gesprochen?«

»Das müssen wir unbedingt herausfinden. Das und was sie Vater auftragen wird.«

»He, soll die Überseele ruhig ein paar Überraschungen im Ärmel behalten.« Nafai lachte, obwohl er die Sache ganz und gar nicht komisch fand.

Issib auch nicht. »Selbst, wenn wir an die Sache der Überseele glauben, Nafai, könnten wir irgendwann herausfinden, daß sie mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Und was sollen wir dann tun?«

»He, Issja, vielleicht leistet die Überseele derzeit schlechte Arbeit, aber das heißt nicht, daß wir ohne sie besser dran wären.«

»Wahrscheinlich werden wir es wohl nie erfahren, oder?«

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