8 Warnung

Als Nafai und Issib nach Hause kamen, war Truzhnischa noch dort. Sie hatte den ganzen Tag über gekocht und für Nachschub bei den Tiefkühlgerichten gesorgt. Aber es stand keine heiße, frische Mahlzeit auf dem Tisch. Vater duldete nicht, daß seine Haushälterin sein Söhne verwöhnte.

Truzhnischa sah natürlich sofort, wie enttäuscht Nafai war. »Woher sollte ich denn wissen, daß ihr heute zum Abendessen nach Hause kommt?«

»Manchmal kommen wir zum Essen.«

»Also nehme ich das Geld eures Vaters und kaufe Lebensmittel und bereite sie so zu, daß ich sie heiß und frisch auf den Tisch bringen kann, und dann kommt niemand nach Hause. Das kommt ziemlich oft vor, und dann kann ich die Mahlzeit wegschmeißen, weil ich die Tiefkühlkost anders zubreiten muß.«

»Ja, du kochst alles viel zu lange«, sagte Issib.

»Damit es schön weich für deine schwachen Kiefer ist«, sagte sie.

Issib knurrte sie an – tief in seiner Kehle, wie ein Hund. So spielten sie miteinander. Nur Truzhja konnte ihn aufziehen, indem sie seine Schwäche übertrieb; nur bei Truzhja gab Issib je ein Knurren oder Grunzen von sich, in Verspottung einer Manneskraft, die für ihn unerreichbar bleiben würde.

»Dein tiefgefrorenes Zeug ist ganz in Ordnung«, sagte Nafai.

»Danke«, sagte sie. Ihr übertriebener Tonfall verriet ihm, daß er sie mit seiner Bemerkung beleidigt hatte. Doch er hatte sie ehrlich gemeint, als Kompliment. Warum dachten alle ständig, er wäre sarkastisch oder beleidigend, wenn er doch nur versuchte, nett zu sein? Irgendwann mußte er wirklich einmal lernen, welche Signale andere Leute immer in seinen Ansprachen sahen, so daß sie immer überzeugt waren, er wolle sie beleidigen.

»Dein Vater ist draußen in den Ställen, aber er will mit euch beiden sprechen.«

»Gleichzeitig?« fragte Issib.

»Woher soll ich das denn wissen? Soll ich euch vor seiner Tür in einer Schlange aufstellen?«

»Ja, das solltest du«, sagte Issib und schnappte mit den Kiefern nach ihr, wie ein zubeißender Hund. »Wenn du nicht so eine unwürdige alte Ziege wärest.«

»Ich zeige dir gleich, wer hier unwürdig ist«, sagte sie lachend.

Nafai sah erstaunt, fast ehrfürchtig zu. Issib konnte wirklich beleidigende Dinge sagen, und sie faßte es als Spiel auf. Nafai lobte ihre Kochkünste, und sie sah eine Beleidigung darin. Ich sollte in die Wüste hinausgehen und zu einem Wilden werden, dachte Nafai. Abgesehen davon natürlich, daß nur Frauen Wilde werden können und dann sowohl vom Gesetz als auch von den Gebräuchen her vor Schaden geschützt werden. In der Tat wurde eine Wilde in der Wüste besser behandelt als in der Stadt – das Wüstenvolk wagte es nicht, Hand an die heiligen Frauen zu legen, und brachte ihnen sogar Wasser und Nahrung, wenn es sie bemerkte. Doch ein Mann, der allein in der Wüste lebte, würde wahrscheinlich innerhalb eines Tages ausgeraubt und ermordet werden. Außerdem, dachte Nafai, habe ich nicht die geringste Ahnung, wie man in der Wüste überleben kann. Vater und Elemak wissen es, aber auch sie wagen es nur, wenn sie viele Vorräte mitnehmen. Ohne Vorräte würden sie in der Wüste genauso schnell sterben wie ich. Der Unterschied ist nur, daß sie überrascht wären, daß es mit ihnen zu Ende geht, denn sie glauben zu wissen, wie man dort überleben kann.

»Bist du wach, Nafai?« fragte Issib.

»Was? Ja, natürlich.«

»Dann willst du das Essen, das vor dir steht, also als Haustier behalten?«

Nafai sah hinab und stellte fest, daß Truzhja einen vollen Teller vor ihn gestellt hatte. »Danke«, sagte er.

»Wenn ich dir Essen koche, könnte ich es genauso gut auf die Gräber deiner Vorfahren stellen«, sagte Truzhya.

»Sie bedanken sich nicht«, sagte Nafai.

»Oh, er bedankt sich«, knurrte sie.

»Was soll ich denn sonst sagen?« fragte Nafai.

»Iß einfach«, sagte Issib.

»Ich will wissen, wieso sie sich darüber aufregt, daß ich mich bedankt habe!«

»Sie hat einen Scherz gemacht«, sagte Issib. »Ein Spielchen. Du hast keinen Sinn für Humor, Njef.«

Nafai nahm einen Bissen und kaute wütend. Also hatte sie einen Scherz gemacht. Woher sollte er das denn wissen?

Das Tor schwang auf. Das Schlurfen von Sandalen, und dann wurde eine Tür geöffnet und sofort wieder geschlossen. Also war es Vater, da er der einzige in der Familie war, der auf sein Zimmer gehen konnte, ohne in Sichtweite der Küchentür zu kommen. Nafai wollte aufstehen und zu ihm gehen.

»Iß erst auf«, sagte Issib. »Er hat nicht gesagt, daß es sich um einen Notfall handelt.«

»Er hat aber auch nicht gesagt, daß es sich um keinen handelt«, erwiderte Nafai und verließ die Küche.

»Sag ihm, ich komme gleich!« rief Issib ihm hinterher.

Nafai trat auf den Hof, überquerte ihn vor dem Tor und öffnete die Tür zu Vaters öffentlichem Zimmer. Er war nicht dort. Statt dessen war er in der Bibliothek und hatte auf dem Computer ein Buch aufgerufen, das Nafai augenblicklich als das Testament der Überseele erkannte, vielleicht die älteste der heiligen Schriften, die aus einer so alten Zeit stammte, daß die Männer und Frauen den Geschichten zufolge damals dieselbe Religion gehabt hatten.

»Sie kommt aus den Schatten des Schlafs zu dir«, las Nafai laut die erste Zeile auf dem Bildschirm vor.

»Sie flüstert dir in die Furcht deines Herzens«, antwortete Vater.

»Im strahlenden Bewußtsein deiner Augen und der dunklen Starre deiner Unwissenheit findet sich ihre Weisheit«, fuhr Nafai fort.

»Nur in ihrem Schweigen bist du allein. Nur in ihrem Schweigen gehst du irre. Nur in ihrem Schweigen solltest du verzweifeln.« Vater seufzte. »Es steht alles hier, nicht wahr, Nafai?«

»Die Überseele ist weder Mann noch Frau«, sagte Nafai.

»Klar, du weißt bestimmt, was die Überseele ist.«

Vaters Stimme klang so müde, daß Nafai zum Schluß kam, es lohne sich nicht, heute abend mit ihm über Theologie zu streiten. »Du wolltest mich sehen.«

»Dich und Issib.«

»Er wird jeden Augenblick kommen.«

Wie auf ein Stichwort trieb Issib zur Tür hinein, während er noch an einem Käsebrot kaute.

»Danke, daß du Krümel in meine Bibliothek trägst«, sagte Vater.

»Entschuldige«, sagte Issib. Er drehte um und trieb wieder zur Tür hinaus.

»Komm zurück«, sagte Vater. »Die Krümel sind mir egal.«

Issib kam zurück.

»Ganz Basilika spricht über euch beide.«

Nafai warf Issib einen Blick zu. »Wir haben nur etwas in der Bibliothek geforscht.«

»Die Frauen behaupten, daß die Überseele zu keinem mehr spricht, nur noch zu euch.«

»Wir bekommen nicht gerade deutliche Nachrichten von ihr«, sagte Nafai.

»Wir haben sie hauptsächlich mit Beschlag belegt, indem wir ihre Abneigungsreflexe stimulieren«, sagte Issib.

»Ach ja«, entgegnete Vater.

»Aber wir haben damit aufgehört«, sagte Issib. »Deshalb sind wir nach Hause gekommen.«

»Wir wollen uns nicht einmischen«, sagte Nafai.

»Aber Nafai hat auf dem Nachhauseweg gebetet«, sagte Issib. »Das war ziemlich beeindruckend.«

Vater seufzte. »Ach, Nafai, wenn du je etwas von mir gelernt haben solltest, dann doch, daß es nichts mit einem Gebet an die Überseele zu tun hat, wenn man auf sich einsticht und alles mit Blut versaut.«

»Genau«, sagte Nafai. »Das habe ich von einem Mann gelernt, der plötzlich mit einer Vision von Feuer auf einem Felsen nach Hause kommt. Ich dachte, er hätte seine Meinung geändert.«

»Ich bekam meine Vision, ohne zu bluten«, sagte Vater. »Aber deshalb wollte ich euch nicht sprechen. Ich habe gehofft, ihr beide hättet irgend etwas von der Überseele empfangen, das mir helfen könnte.«

Nafai schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte Issib. »Hauptsächlich haben wir von der Überseele diese Gedankenstarre bekommen. Sie wollte damit verhindern, daß wir verbotene Gedanken denken.«

»Nun, damit hätte sich das erledigt«, sagte Vater. »Ich bin auf mich selbst angewiesen.«

»Wobei?« fragte Issib.

»Gaballufix hat mir heute über Elemak eine Nachricht zukommen lassen. Anscheinend ist Gaballufix genauso unzufrieden wie ich darüber, wie es heutzutage um Basilika steht. Hätte er gewußt, daß die Sache mit den Kriegswagen zu so einer großen Kontroverse führen wird, hätte er niemals damit angefangen. Er hat mich gebeten, ein Treffen zwischen ihm und Roptat zu arrangieren. Gaballufix sucht jetzt nur noch eine Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen, ohne das Gesicht zu verlieren – und dazu, sagt er, müßte Roptat ebenfalls einen Rückzieher machen, so daß wir uns mit gar keiner anderen Macht verbünden.«

»Also hast du ein Treffen mit Roptat arrangiert?«

»Ja«, sagte Vater. »Im Morgengrauen, am Kühlhaus östlich vom Markttor.«

»Es klingt ganz danach«, sagte Nafai, »als habe sich Gaballufix der Meinung der Stadt-Partei angeschlossen.«

»So klingt es«, sagte Vater.

»Aber du glaubst ihm nicht«, sagte Issib.

»Ich weiß es nicht«, sagte Vater. »Sein Sinneswandel zeugt von Intelligenz und Vernunft. Doch wann war Gaballufix jemals intelligent oder vernünftig? In all den Jahren, die ich ihn kenne, selbst, als er noch ein junger Mann war, noch bevor er die Führung über den Klan an sich gerissen hatte, hat er nie etwas getan, das ihm nicht einen Vorteil über andere Leute verschaffte. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, das zu vollbringen – indem man sich selbst aufbaut und seine Rivalen stürzt. In all diesen Jahren hat Gaballufix immer eine Vorliebe für das letztere gehabt.«

»Du glaubst also, er benutzt dich«, sagte Nafai, »um an Roptat heranzukommen.«

»Irgendwie will er Roptat betrügen und vernichten«, sagte Vater. »Und schließlich werde ich Rückschau halten und begreifen, wie er mich zu diesem Zweck benutzt hat. Ich habe das schon einmal erlebt.«

»Warum hilfst du ihm also?« fragte Issib.

»Weil es eine Chance gibt, nicht wahr? Eine Chance, daß er es ehrlich meint. Wenn ich mich weigere, zwischen ihnen zu vermitteln, ist es meine Schuld, wenn die Zustände in Basilika noch schlimmer werden, als sie es schon sind. Also muß ich sein Wort doch für bare Münze nehmen, oder?«

»Du kannst nur dein Bestes geben«, sagte Nafai, womit er einen Satz zitierte, den Vater schon in vielen vorhergehenden Gesprächen benutzt hatte.

»Halte die Augen auf«, sagte Issib und benutzte damit ein weiteres Epigramm Vaters.

»Ja«, sagte Vater. »Das werde ich.«

Issib nickte weise.

»Vater«, sagte Nafai, »darf ich dich morgen früh begleiten?«

Vater schüttelte den Kopf.

»Ich will es aber. Und vielleicht bemerke ich etwas, das du übersiehst. Wenn du zum Beispiel mit den Leuten sprichst, kann ich sie im Auge behalten und ihre Reaktionen beobachten. Ich könnte dir wirklich helfen.«

»Nein«, sagte Vater. »Wenn ich nicht allein komme, bin ich kein glaubwürdiger Vermittler.«

Aber Nafai wußte, daß dies nicht stimmte. »Ich glaube, du befürchtest, daß etwas Häßliches geschehen wirst, und willst mich nicht dabei haben.«

Vater zuckte mit den Achseln. »Ich habe meine Befürchtungen. Schließlich bin ich dein Vater.«

»Aber ich habe keine Angst, Vater.«

»Dann bist du anscheinend dummer, als ich es befürchtet habe«, sagte Vater. »Und jetzt geht zu Bett, alle beide.«

»Dafür ist es noch viel zu früh«, sagte Issib.

»Dann geht eben nicht zu Bett.«

Vater wandte sich von ihnen ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computer.

Das war ein klares Zeichen, daß sie entlassen waren, doch Nafai mußte unbedingt noch eine Frage stellen. »Wie willst du hoffen, Vater, in den uralten, toten Worten der Überseele einen Hinweis zu finden, wenn sie nicht einmal direkt mit dir spricht?«

Vater seufzte und sagte nichts.

»Komm, Nafai«, sagte Issib, »laß Vater in Ruhe nachdenken.«

Nafai folgte Issib aus der Bibliothek. »Warum will einfach niemand meine Fragen beantworten?«

»Weil du nie aufhörst, sie zu stellen«, sagte Issib, »und besonders, weil du sie selbst dann noch stellst, wenn längst klar ist, daß niemand die Antworten kennt.«

»Aber woher soll ich wissen, daß sie die Antworten nicht kennen, wenn ich nicht frage?«

»Geh auf dein Zimmer und gib dich schmutzigen Gedanken hin«, sagte Issib. »Warum kannst du dich einfach nicht wie ein normaler Vierzehnjähriger benehmen?«

»Genau«, sagte Nafai. »Als wäre ich der einzige Normale in der Familie.«

»Jemand muß es doch sein.«

»Was glaubst du, weshalb war Meb wohl im Tempel?«

»Um dafür zu beten, daß du jedesmal, wenn du eine Frage stellst, eine Hämorrhoide bekommst.«

»Nein, deshalb warst du im Tempel. Kannst du dir vorstellen, daß Meb betet?«

»Und seinen wunderschönen Körper verletzt?« Issib lachte.

Sie waren auf dem Hof, vor Issibs Zimmer. Sie hörten einen Schritt, drehten sich um und sahen Mebbekew, der in der Küchentür stand. Die Küche war dunkel gewesen; sie hatten angenommen, daß Truzhnischa nach Hause gegangen und niemand mehr dort war. Meb mußte ihr gesamtes Gespräch mitbekommen haben.

Nafai fiel nichts ein, was er sagen konnte. Natürlich hieß das nicht, daß er seine Zunge im Zaum hielt. »Du bist anscheinend nicht lange im Tempel geblieben, Meb?«

»Nein«, sagte Meb. »Aber ich habe gebetet, falls dich das überhaupt etwas angeht.«

Nafai schämte sich. »Es tut mir leid.«

Issib schämte sich nicht. »Ach, hör doch auf«, sagte er. »Zeig mir mal eine Narbe.«

»Zuerst muß ich dich etwas fragen, Issja«, sagte Meb.

»Klar«, sagte Issib.

»Hast du einen Schweber an deinem Pimmel kleben, damit er ihn hochhält, wenn du pinkelst? Oder läßt du es einfach wie ein Mädchen hinabtropfen?«

Es war zu dunkel, als daß Nafai sehen konnte, ob Issib errötete oder nicht. Er konnte nur mit Sicherheit sagen, daß Issib schweigend vom Hof zu seinem Zimmer glitt.

»Das war mutig«, sagte Nafai. »Einen Krüppel zu verspotten.«

»Er hat mich einen Lügner genannt«, sagte Meb. »Soll ich ihn dafür küssen?«

»Er hat einen Scher^ gemacht.«

»Es war nicht lustig.«

Nafai ging auf sein Zimmer, doch er hatte noch keine Lust, zu Bett zu gehen. Er war verschwitzt, obwohl die Nacht ziemlich kühl war. Seine Haut juckte. Das mußten die Überreste des Bluts und der Desinfektionsmittel aus dem Tempelbrunnen sein. Nafai konnte der Vorstellung nichts abgewinnen, seine Verletzungen mit Seife in Berührung zu bringen, doch das schleimige Jucken wurde immer unerträglicher. Also zog er sich aus und ging zur Dusche. Diesmal spülte er sich erst ab; das Wasser war entsetzlich kalt, obwohl die Sonne es den ganzen Tag über erwärmt hatte. Und es brannte fürchterlich, als er sich einseifte – vielleicht war der Schmerz schlimmer als in dem Augenblick, da er sich die Wunden beigebracht hatte, obwohl er wußte, daß dies wahrscheinlich eine subjektive Wahrnehmung war. Der Schmerz des Augenblicks ist immer der schlimmste, hatte Vater oft gesagt.

Als er sich in elendiger, dunkler Stille einseifte, sah er, daß Elemak hereinkam. Er ging direkt zu Vaters Zimmern und kehrte kurz darauf wieder zurück, um das Tor abzuschließen. Und nicht nur das äußere Tor, auch das innere. Das war ziemlich ungewöhnlich; Nafai konnte sich nicht daran erinnern, wann er das Innentor zum letzten Mal abgeschlossen vorgefunden hatte. Vielleicht einmal bei einem Sturm. Oder, als sie einen Hund dressierten und ihn des Nachts zwischen den Toren schlafen ließen. Aber jetzt gab es weder einen Sturm, noch hatten sie einen neuen Hund.

Elemak ging auf sein Zimmer. Nafai zog die Schnur und lieferte sich wieder dem eiskalten Wasser aus, rieb über seine Wunden, um die Seife herunterzubekommen, bevor der Fluß des Wassers versiegte. Verflucht sei Vater wegen seiner absurden Sturheit, seine Söhne unbedingt abhärten und Männer aus ihnen machen zu wollen! Nur die Armen mußten mit so kaltem Wasser duschen!

Diesmal waren zwei Duschgänge nötig, und er wartete lange in dem kalten Wind, bis sich der Duschtank wieder gefüllt hatte. Als Nafai schließlich zurück auf seinem Zimmer war, schnatterte und zitterte er vor Kälte, und selbst, als er sich noch einmal abgerieben und angezogen hatte, wurde ihm nicht warm. Fast hätte er die Zimmertür geschlossen, woraufhin die Heizung angesprungen wäre – aber er und seine Brüder machten immer einen Wettstreit daraus, wer im Winter als letzter die Zimmertür schloß, und er hatte nicht vor, diese Schlacht heute zu verlieren und damit einzugestehen, daß ein kleines Gebet ihn so sehr geschwächt hatte. Statt dessen zog er all seine Kleider stücke aus der Truhe, legte sie auf die Matte und kroch darunter.

Natürlich gab es für ihn keine bequeme Schlafposition, doch wenn er sich auf die Seite legte, hatte er die geringsten Schmerzen. Zorn und Schmerzen und Sorgen verhinderten, daß er sofort einschlafen konnte; er hatte den Eindruck, überhaupt keinen Schlaf zu bekommen, während er den leisen Geräuschen der anderen lauschte, die zu Bett gingen, und dann der endlosen Stille des nächtlichen Hofs. Dann und wann vernahm er den Schrei eines Vogels, das Bellen eines verwilderten Hundes in den Hügeln oder ein leises, ruheloses Geräusch der Pferde im Stall oder der Packtiere in den Scheunen.

Und dann mußte er doch eingeschlafen sein; wie sonst hätte er so plötzlich und verwirrt aufwachen können? Hatte ihn ein Geräusch geweckt? Oder ein Traum? Was hatte er überhaupt geträumt? Er zitterte, aber nicht vor Kälte – er schwitzte sogar stark unter seinem Kleider Stapel.

Er stand auf und warf die Kleidung in die Truhe zurück. Er versuchte, möglichst leise zu sein, als er sie öffnete und wieder schloß – er wollte niemanden aufwecken. Jede Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Er begriff, daß er Fieber haben mußte – seine Muskeln waren ganz steif, und er war unter der Kleidung ganz heiß. Und doch schienen seine Gedanken – und auch seine Sinne – bemerkenswert klar zu sein. Wenn dies ein Fieber war, war es ein sehr seltsames, denn er hatte sich noch nie so wach und lebendig gefühlt. Trotz der Schmerzen hatte er den Eindruck, es hören zu können, wenn im Stall eine Maus über einen Balken lief.

Er ging auf den Hof und blieb dort stumm stehen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch die klare Nacht wurde von vielen hellen Sternen erhellt. Das Tor war noch immer abgeschlossen. Doch warum hatte er sich Gedanken darüber gemacht? Wovor hatte er Angst? Was hatte er in seinem Traum gesehen?

Die Türen von Mebs und Eljas Zimmern waren geschlossen. Das ist doch ein Witz – ich liege verletzt und wund da und lasse meine Tür offen, während die beiden ihre Türen wie kleine Kinder schließen.

Oder vielleicht machen sich nur kleine Kinder Gedanken um einen so bedeutungslosen Wettstreit der Männlichkeit.

Draußen war es kälter denn je, und nun hatte sich die fieberhafte Hitze abgekühlt, die ihn aus dem Bett getrieben hatte. Doch er kehrte noch nicht auf sein Zimmer zurück, obwohl er es eigentlich wollte. Statt dessen dämmerte ihm endlich, daß er sich schon mehrere Male entschlossen hatte, auf sein Zimmer zurückzukehren, und jedesmal waren seine Gedanken abgeschweift, und er hatte keinen einzigen Schritt getan.

Die Überseele, dachte er. Die Überseele will, daß ich wach bleibe. Vielleicht will sie, daß ich etwas tue. Aber was?

Zu diesem Zeitpunkt des Monats bedeutete die Tatsache, daß der Mond noch nicht aufgegangen war, daß noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang vergehen würden. Also zwei Stunden, bevor Vater aufstehen und sich zu seinem Treffen am Kühlhaus einfinden mußte, wo die Pflanzen aus dem eisigen Norden gepflegt und gezogen wurden.

Warum fand das Treffen dort statt?

Nafai verspürte den unerklärlichen Drang, hinauszugehen und in nordöstliche Richtung über das Tsivet-Tal zu den hohen Hügeln auf der anderen Seite zu schauen, wo das Musiktor die südöstliche Begrenzung Basilikas darstellte. Es war lächerlich, und das Geräusch, das entstand, wenn er die Tore öffnete, würde vielleicht jemanden wecken. Doch mittlerweile wußte Nafai, daß die Überseele sich diese Nacht mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, daß sie versuchte, ihn davon abzuhalten, wieder zu Bett zu gehen; konnte dieser Drang, hinaus zu gehen, nicht auch von der Überseele kommen? Hatte Nafai heute nicht gebetet – konnte das nicht eine Antwort sein? War es nicht möglich, daß dieser Drang, nach draußen zu gehen, mit dem Drang vergleichbar war, den Vater verspürt, der ihn von der Wüstenstraße zu der Stelle gelockt hatte, von der aus er die Feuervision sehen konnte?

War es möglich, daß auch Nafai eine Vision der Überseele erhalten würde?

Er ging geschmeidig und leise zum Tor und hob den schweren Riegel. Keine Geräusche; seine Sinne und Reflexe waren so wach und lebendig, daß er sich mit perfekter Stille bewegen konnte. Das Tor quietschte leise, als er es öffnete – aber er mußte es nur so weit öffnen, daß er hindurchschlüpfen konnte.

Das äußere Tor wurde öfter geöffnet und geschlossen, und so ließ es sich leichter und leiser bewegen. Nafai trat in dem Augenblick hinaus, in dem sich der Mond als Bogen über den Gipfeln der Seggidugu-Berge im Osten zeigte. Er wollte um das Haus herumgehen, bis er das Kühlhaus sehen konnte, doch bevor er auch nur ein paar Schritte getan hatte, hörte er ein Geräusch aus dem Zimmer der Reisenden.

Wie es in allen Haushalten in diesem Teil der Welt Brauch war, verfügte jedes Haus über ein Zimmer, dessen Tür sich nach draußen öffnete und niemals abgeschlossen war – ein anständiges Zimmer, in dem ein Reisender Zuflucht vor einem Sturm oder der Kälte oder Erschöpfung suchen konnte. Vater nahm die Verpflichtung, Fremden Gastfreundschaft zu erweisen, ernster als die meisten, und bot ihnen nicht nur ein Zimmer, sondern auch ein Bett und sauberes Leinen und einen Schrank mit Reiseproviant. Nafai wußte nicht genau, welcher Bedienstete die Verantwortung für diesen Raum hatte, er hatte jedoch mitbekommen, daß das Zimmer oft benutzt wurde und die Vorräte oft ergänzt werden mußten. Also hätte ihn die Vorstellung, es könne sich jemand darin aufhalten, nicht überraschen dürfen.

Und doch wußte er, daß er an der Tür stehenbleiben und hineinspähen mußte.

Durch den Türspalt fiel schwaches Licht in das Zimmer der Reisenden. Nafai öffnete die Tür etwas weiter, das Licht fiel auf das Bett, und er sah in die weit aufgerissenen Augen … Luets.

»Du«, flüsterte er.

»Du«, erwiderte sie. Sie klang erleichtert.

»Was hast du hier zu suchen?« fragte er. »Wer ist bei dir?«

»Ich bin allein«, sagte sie. »Ich wußte nicht genau, zu wem ich kam. Zu wessen Haus. Ich war nie zuvor außerhalb der Stadtmauern.«

»Wann bis du hier angekommen?«

»Vor ein paar Momenten. Die Überseele hat mich geführt.«

Natürlich. »Weshalb?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Damit ich von meinem Traum erzähle, glaube ich. Ich bin wegen eines Traums wach geworden.«

Nafai dachte an seinen eigenen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte.

»Ich war so … froh«, sagte sie. »Daß sich die Überseele wieder gemeldet hat. Aber der Traum war schrecklich.«

»Was war das für ein Traum?«

»Bist du es, dem ich ihn erzählen soll?« fragte sie.

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte er. »Aber ich bin hier.«

»Hat die Überseele dich hierher geführt?«

Nachdem sie ihm die Frage so direkt gestellt hatte, konnte er ihr nicht ausweichen. »Ja«, sagte er. »Ich glaube schon.«

Sie nickte. »Dann erzähle ich ihn dir. Es ergibt schon Sinn, daß es sich um deine Familie handelt. Denn es gibt so viele Menschen, die deinen Vater wegen seiner Vision hassen und wegen seines Muts, sie zu verkünden.«

»Ja«, sagte er, und dann, als Stichwort: »Der Traum.«

»Ich sah einen Mann, der allein und zu Fuß unterwegs war und schnurstracks geradeaus ging. Er ging durch Schnee. Doch ich wußte, daß es diese Nacht war, obwohl keine einzige Schneeflocke auf dem Boden liegt. Verstehst du, wie ich etwas wissen kann, obwohl es sich von dem unterscheidet, was mir der Traum eigentlich zeigt?«

Nafai erinnerte sich an das Gespräch im Säulengang vor einer Woche und nickte.

»Es hat also geschneit, und doch war es diese Nacht. Der Mond war aufgegangen, ich wußte, daß es bald dämmern würde. Und als der Mann durch den Schnee ging, sprangen zwei Männer, die Masken trugen, vor ihm auf die Straße. Sie hielten Messer in den Händen. Der Mann schien sie trotz der Masken zu erkennen. ›Hier ist meine Kehle‹, sagte er. ›Ich trage keine Waffen. Ihr hättet mich jederzeit töten können, auch, als ich wußte, daß ihr meine Feinde seid. Warum mußtet ihr mir erst einreden, ich könnte euch vertrauen? Hattet ihr Angst, daß der Tod mir nicht genug ausmacht, wenn ich nicht mit dem Gefühl sterbe, verraten worden zu sein?‹«

Nafai hatte bereits den Zusammenhang zwischen Luets Traum und Vaters Treffen erkannt, das in wenigen Stunden bevorstand. »Gaballufix«, sagte er.

Luet nickte. »Jetzt verstehe ich es – aber erst, nachdem ich wußte, daß ich mich im Haus deines Vaters befinde.«

»Nein – Gaballufix hat Vater gebeten, heute morgen ein Treffen zwischen ihm und Roptat zu arrangieren, am Kühlhaus.«

»Der Schnee«, sagte sie.

»Ja«, sagte er, »in den Ecken liegt immer Reif.«

»Und Roptat«, flüsterte sie. »Das erklärt … den nächsten Teil des Traums.«

»Erzähle ihn mir.«

»Ein Kapuzenträger griff nach der Maske seines Gefährten und enthüllte dessen Gesicht. Einen Augenblick lang glaubte ich, ein Grinsen auf seinen Zügen zu sehen, doch dann wurde meine Vision deutlicher, und ich begriff, daß das Grinsen nicht auf seinem Gesicht lag. Es war seine Kehle, die bis zur Wirbelsäule aufgeschlitzt war. Während ich ihn beobachtete, schaukelte sein Kopf hin und her, und die Wunde in seiner Kehle öffnete sich vollständig, als wäre sie ein Mund, der zu schreien versuchte. Und der Mann … derjenige, der ich in dem Traum war …«

»Ich verstehe«, sagte Nafai. »Vater.«

»Ja. Nur wußte ich das noch nicht.«

»Genau«, entgegnete Nafai ungeduldig.

»Dein Vater, falls es dein Vater war, sagte: ›Ich nehme an, es wird heißen, ich hätte ihn umgebracht.‹ Und der Mann mit der Kapuze sagte: ›Und du hast ihn in Wahrheit auch umgebracht, mein lieber Verwandter.‹«

»Das sieht ihm ganz ähnlich«, sagte Nafai. »Also soll auch Roptat sterben.«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Luet. »Oder besser, der Traum war noch nicht zu Ende. Denn der Mann – dein Vater – sagte: ›Und wer soll denn angeblich mich umgebracht haben?‹ Und der Mann mit der Kapuze sagte: ›Ich nicht. Ich würde niemals eine Hand gegen dich heben, denn ich liebe dich sehr. Ich werde nur deine Leiche finden, und die Mörder, die mit blutverschmierten Händen über ihr stehen.‹ Dann lachte er und verschwand wieder in den Schatten.«

»Also tötet er Vater nicht.«

»Nein. Dein Vater drehte sich dann um und sah zwei andere Männer mit Kapuzen hinter ihm stehen. Und obwohl sie nicht sprachen oder die Kapuzen hoben, kannte er sie. Ich spürte eine schreckliche Trauer. ›Du konntest nicht warten‹, sagte er zu dem einen. ›Du konntest mir nicht verzeihen‹, sagte er zu dem anderen. Und dann stachen sie mit ihren Klingen zu und brachten ihn um.«

»Bei der Überseele, nein«, sagte Nafai. »Das würden sie nicht tun.«

»Wer? Kennst du sie?«

»Erzähle niemandem den letzten Teil deines Traums«, sagte Nafai. »Schwöre es mir mit deinem heiligsten Eid.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte sie.

»Meine Brüder sind heute abend zu Hause«, sagte Nafai. »Sie liegen nicht im Hinterhalt, um Vater aufzulauern.«

»Dann sind sie die Maskierten? Deine Brüder?«

»Nein!« sagte er. »Niemals.«

Sie nickte. »Ich werde dir keinen Eid leisten, nur mein Versprechen geben. Wenn ich deinen Vater vor dem Tod gerettet habe, indem ich hierher gekommen bin, werde ich niemandem sonst diesen Teil des Traums erzählen.«

»Nicht einmal Huschidh«, sagte er.

»Aber ich werde dir noch ein Versprechen geben«, sagte sie. »Wenn dein Vater stirbt, weiß ich, daß du ihn nicht gewarnt hast. Und daß du zu den Maskierten im Traum gehörst – denn wenn du den Plan kennst und ihn nicht warnst, könntest du genausogut selbst mit einer Elektroklinge zustechen.«

»Glaubst du, das wüßte ich nicht?« sagte Nafai. Er war einen Augenblick lang darüber wütend, daß sie glaubte, sie müsse ihm die Probleme dieser Situation erklären. Doch dann glitten seine Gedanken weiter, denn Luets Warnung erklärte auch einige andere Vorfälle des gestrigen Tages. »Deshalb ging Meb beten«, sagte Nafai, »und deshalb hat Elja das innere Tor abgeschlossen. Sie haben etwas gewußt oder vermutet und hatten trotzdem Angst, es ihm zu sagen. Darin liegt die Bedeutung des Traums – nicht, daß sie jemals die Hand gegen Vater erheben werden, sondern daß sie es gewußt und ihn trotzdem nicht gewarnt haben.«

Sie nickte. »So ist es oftmals mit Träumen«, sagte sie. »Das könnte eine wahre Bedeutung sein, und mein Kopf wird auch nicht leer, wenn ich diesen Gedanken denke.«

»Vielleicht weiß es die Überseele selbst nicht.«

Sie griff nach seiner Hand und tätschelte sie. Er kam sich vor wie ein Kind, obwohl sie jünger und viel kleiner als er war. Er verabscheute sie dafür.

»Die Überseele weiß es«, sagte sie.

»Nicht alles«, sagte er.

»Alles, was man wissen kann«, sagte sie und ging zur Tür des Zimmers der Reisenden. »Erzähle niemandem, daß ich hier war«, sagte sie.

»Bis auf Vater«, sagte er.

»Kannst du nicht behaupten, du hättest diesen Traum gehabt?«

»Warum?« fragte Nafai. »Deinem Traum würde er glauben. Meiner würde … ihm nichts bedeuten.«

»Du unterschätzt deinen Vater. Und auch die Überseele, glaube ich. Und dich selbst.« Sie trat auf den vom Mondlicht erhellten Hof vor dem Haus und wollte sich nach rechts wenden, zur Kammstraße.

»Nein«, flüsterte er und ergriff ihren Arm. Sie war wirklich klein und zerbrechlich, ein so junges Mädchen mit so zarten Knochen. »Gehe nicht am Tor vorbei.«

Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick aus ihren weit geöffneten Augen, in denen sich der Mond spiegelte.

»Vielleicht mache ich jemanden wach, wenn ich es öffne«, erklärte er.

Sie nickte. »Ich gehe um das Haus herum.«

»Luet«, sagte er.

»Ja?«

»Wird dir auch nichts passieren, wenn du jetzt nach Hause gehst?«

»Der Mond ist aufgegangen«, sagte sie. »Und der Wachtposten am Rauchfang-Tor wird mir keine Schwierigkeiten machen. Die Überseele hat ihn einschlafen lassen, als ich die Stadt verließ.«

»Luet«, sagte er und rief sie erneut zurück.

Erneut blieb sie stehen und wartete auf seine Worte.

»Danke«, sagte er. Die Worte waren nichts im Vergleich zu dem, was er in seinem Herzen empfand. Sie hatte seinem Vater das Leben gerettet – und es War mutig von einem Mädchen, das noch nie die Stadt verlassen hatte, den ganzen Weg hierher im Sternenlicht zurückzulegen, nur von einem Traum geleitet.

Sie zuckte mit den Schultern. »Die Überseele hat mich geschickt. Danke ihr.« Dann war sie fort.

Nafai kehrte zum Tor zurück, und diesmal machte er absichtlich Lärm, als er es öffnete und wieder schloß. Er wollte nicht, daß seine Rückkehr überraschend kam, falls einer seiner Brüder lauschte oder ihn beobachtete. Soll er mich doch hören und auf sein Zimmer zurückkehren, bevor ich das innere Tor erreicht habe.

Wie er gehofft hatte, war der Hof leer, als er ihn betrat. Er ging direkt zu Vater, durch den öffentlichen Raum und die Bibliothek zu dem Privatzimmer, in dem er allein schlief. Dort lag er auf dem kahlen Boden, ohne irgendeine Matte; sein weißer Bart ergoß sich auf den Stein. Nafai blieb einen Augenblick lang stehen und stellte sich vor, er läge mit aufgeschnittener Kehle dort und der Bart wäre vom Blutstrom rötlich braun gefärbt.

Dann bemerkte er, daß Vaters Augen glänzten. Er war wach.

»Bist du derjenige?« flüsterte Vater.

»Was meinst du?«

Vater setzte sich langsam und müde auf. »Ich habe einen Traum gehabt. Es war nichts – nur meine Furcht.«

»Noch jemand hat diese Nacht einen Traum gehabt«, sagte Nafai. »Ich habe gerade im Raum der Reisenden mit ihr gesprochen. Aber es ist besser, wenn du niemandem erzählst, daß sie hier war.«

»Wer?«

»Luet«, sagte er. »Und ihr Traum soll dich vor dem Treffen heute morgen warnen. Wenn du gehst, wartet ein Mord auf dich.«

Vater sprang auf und schaltete das Licht ein. Nafai blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. »Dann war es doch nicht einfach nur ein Traum.«

»Ich glaube allmählich, daß es überhaupt keine bedeutungslosen Träume gibt«, sagte Nafai. »Ich habe auch geträumt und bin dadurch wach geworden, und die Überseele hat mich hinausgeführt, damit ich mit ihr spreche.«

»Ein Mord wartet auf mich. Den Rest kann ich mir zusammenreimen. Er wird auch Roptat ermorden und es so hinstellen, als hätte einer von uns den anderen umgebracht, und dann noch ein anderer den Mörder, und erst dann wird Gaballufix eintreffen, wahrscheinlich mit mehreren glaubwürdigen Zeugen, die schwören können, daß die Morde geschahen, bevor Gabja an Ort und Stelle war. Sie werden erzählen, wie sehr ihn der blutige Anblick entsetzt hat. Warum habe ich es nicht selbst gesehen? Warum sonst wollte er mich und Roptat zur selben Zeit an denselben Ort locken, ohne Gefolgsleute oder Zeugen?«

»Also wirst du nicht gehen«, sagte Nafai.

»Doch«, sagte Vater. »Doch, ich gehe.«

»Nein!«

»Aber nicht zum Kühlhaus«, sagte Vater. »Denn mein Traum hat mir etwas anderes gezeigt.«

»Was?«

»Zelte«, sagte er. »Meine Zelte, aufgestellt unter der Wüstensonne. Falls wir bleiben, wird Gaballufix es erneut versuchen, auf irgendeine andere Art. Und – es gibt noch andere Gründe, wieso wir gehen müssen. Ich muß meine Söhne aus dieser Stadt bringen, bevor sie sie vernichtet.«

Nun wußte Nafai, daß Vaters Traum wirklich schrecklich gewesen sein mußte. Hatte er ihm gezeigt, daß einer seiner Söhne ihn töten würde? Das würde Vaters erste Worte erklären – bist du derjenige?

»Also gehen wir in die Wüste?«

»Ja«, sagte Vater.

»Wann?«

»Jetzt, natürlich.«

»Jetzt? Heute?«

»Jetzt. Diese Nacht. Vor dem Morgengrauen. Damit wir über dem Kamm sind, bevor seine Männer uns sehen können.«

»Aber kommen wir dann nicht direkt an Gaballufix’ Haushalt vorbei, wo der Gewundene Pfad auf die Wüstenstraße stößt?«

»Es gibt einen anderen Weg«, sagte Vater. »Nicht der beste für Kamele, aber wir müssen es schaffen. Über ihn kommen wir ein gutes Stück hinter Gabjas Haus auf die Wüstenstraße. Jetzt komm, hilf mir, deine Brüder zu wecken.«

»Nein«, sagte Nafai.

Vater drehte sich zu ihm um, und die Verwirrung ließ ihn zögern, seiner Wut über den Ungehorsam Ausdruck zu verleihen.

»Luet hat verlangt … daß niemand erfährt, daß sie uns gewarnt hat. Und sie hat recht. Sie sollten auch nichts von mir wissen. Es kann doch dein Traum gewesen sein.«

»Warum?« fragte Vater. »Wenn die Überseele in dieser Nacht drei Menschen berührt hat …«

»Wenn es dein Traum war, werden sie sich fragen, was du gesehen hast, was du weißt. Aber wenn es die Träume anderer waren, werden sie vermuten, daß wir dich täuschen und manipulieren. Sie werden streiten. Sie werden sich sträuben. Und du willst sie doch mitnehmen, Vater.«

Vater nickte. »Du bist sehr klug«, sagte er. »Für einen Jungen von vierzehn Jahren.«

Doch Nafai wußte, daß er nicht klug war. Er hatte einfach den Vorteil, den Rest von Luets Traum zu kennen. Falls Meb und Elja zurückblieben, würden sie vollständig von Gaballufix’ Maschinerie verschluckt werden. Sie würden jeden Anstand verlieren, der ihnen noch geblieben war. Und es mußte noch etwas Gutes in ihnen sein. Vielleicht hatten sie sogar vorgehabt, Vater zu warnen. Vielleicht hatte Elja das Innentor geschlossen, damit er von dem Geräusch geweckt wurde, das Vater beim Aufbruch machte – dann konnte er Vater immer noch warnen, nicht zu gehen!

Oder vielleicht wollte er Vater auch nur folgen, damit er direkt hinter ihm stehen konnte, wenn er im Kühlhaus Roptats gemeuchelten Körper fand.

Nein! rief Nafai innerlich. Nicht Elemak. Es ist gemein von mir, auch nur zu denken, daß er dazu imstande sein könnte. Meine Brüder sind keine Mörder, keiner von ihnen.

»Geh auf dein Zimmer«, sagte Vater. »Oder noch besser auf die Toilette. Und dann komme heraus und leiste stummen Gehorsam. Nicht mir – Elja gegenüber. Er weiß, wie man für so eine Reise packen muß.«

»Ja, Vater«, sagte Nafai.

Augenblicklich verließ er Vaters Zimmer, ging durch die Bibliothek und den öffentlichen Raum auf den Hof. Elemaks und Mebbekews Türen waren noch geschlossen. Nafai lief zur Latrine, die nur von zwei Mauern umsäumt und zum Hof hin offen war. Er hatte sie gerade erreicht, als er hörte, daß Vater an Mebbekews Tür klopfte. »Wach auf, aber sei leise«, sagte Vater. Dann klopfte er gegen Elemaks Tür. »Kommt auf den Hof.«

Er hörte, daß alle herauskamen – auch Issib, obwohl ihn niemand eigens gerufen hatte.

»Wo ist Njef?« fragte Issib.

»Auf der Latrine«, sagte Vater.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Meb.

»Du mußt noch einen Augenblick warten«, sagte Vater.

Nafai verließ den Verschlag, und die Toilette spülte automatisch ab. Zumindest verlangte Vater von ihnen nicht, in völliger Primitivität zu leben.

»Tut mir leid«, sagte Nafai. »Ich wollte dich nicht warten lassen.« Meb funkelte ihn an, aber zu schläfrig, als daß Nafai es als Androhung einer bevorstehenden Prügelei aufgefaßt hätte.

»Wir brechen auf«, sagte Vater. »In die Wüste.«

»Wir alle?« fragte Issib.

»Es tut mir leid, ja«, sagte Vater. »Du mußt deinen Stuhl nehmen. Ich weiß, es ist nicht dasselbe wie die Schweber, aber besser als nichts.«

»Warum?« fragte Elemak.

»Die Überseele hat mich mit einem Traum gewarnt«, sagte Vater.

Meb machte ein verächtliches Geräusch und schickte sich an, auf sein Zimmer zurückzukehren.

»Du bleibst hier und hörst mir zu«, sagte Vater, »denn wenn du nicht mitkommst, wirst du nicht mehr mein Sohn sein.«

Meb blieb stehen und hörte zu, wenngleich er Vater noch den Rücken zuwandte.

»Man hat vor, mich zu töten«, sagte Vater. »Heute morgen. Ich soll zu einem Treffen mit Gaballufix und Roptat kommen, und dort soll ich sterben.«

»Gabja gab mir sein Wort«, sagte Elemak, »daß niemandem etwas geschieht.«

Sieh an, jetzt nannte Elemak Gaballufix schon bei seinem Jungennamen.

»Die Überseele kennt sein Herz besser als sein eigener Mund«, sagte Vater. »Wenn ich gehe, werde ich sterben. Und selbst, wenn ich nicht heute sterbe, wird es nur eine Frage der Zeit sein. Nun, da Gaballufix sich entschlossen hat, mich zu töten, ist mein Leben hier verwirkt. Ich würde in der Stadt bleiben, wenn ich der Ansicht wäre, daß mein Tod irgendeinen Sinn hat – ich fürchte mich nicht davor. Doch die Überseele hat mir aufgetragen, in die Wüste zu gehen.«

»In einem Traum«, sagte Elemak.

»Ich brauche keinen Traum, um zu wissen, daß Gaballufix gefährlich ist, wenn man seine Pläne durchkreuzt«, sagte Vater, »und du auch nicht. Man kann unmöglich sagen, was Gaballufix tun wird, wenn ich heute morgen nicht zum Kühlhaus gehe. Ich muß schon in der Wüste sein, wenn er es herausfindet. Wir nehmen den Rotstein-Pfad.«

»Den schaffen die Kamele nicht«, sagte Elemak.

»Sie werden ihn bewältigen, weil sie ihn bewältigen müssen«, sagte Vater. »Wir nehmen Vorräte für ein Jahr mit.«

»Das ist ungeheuerlich«, sagte Mebbekew. »Da mache ich nicht mit.«

»Und was machen wir nach dem einen Jahr?«

»Bis dahin wird die Überseele mir eine Möglichkeit gezeigt haben«, sagte Vater.

»Vielleicht werden sich die Dinge in Basilika bis dahin soweit beruhigt haben, daß wir zurückkehren können«, meinte Issib.

»Wenn wir jetzt gehen«, sagte Elemak, »wird Gabja glauben, daß du ihn verraten hast, Vater.«

»Wirklich?« sagte Vater. »Und wenn ich bleibe, wird er mich verraten.«

»Hat dir ein Traum gesagt.«

»Hat mir mein Traum gesagt«, sagte Vater. »Ich brauche dich. Bleib hier, wenn du willst, aber nicht als mein Sohn.«

»Ich bin ganz gut zurechtgekommen, ohne dein Sohn zu sein«, sagte Mebbekew.

»Nein«, sagte Elemak. »Du warst ganz gut darin vorzugeben, du wärest nicht sein Sohn. Aber alle haben es gewußt.«

»Ich habe von meinem Talent gelebt.«

»Du hast von der Hoffnung der Theaterleute gelebt, du würdest Vater dazu bringen, in ihre Stücke zu investieren – oder du selbst würdest investieren, irgendwann einmal, aus deiner Erbschaft.«

Mebbekew sah aus, als habe man ihm eine Ohrfeige versetzt. »Du auch, Elja? Läuft es darauf hinaus?«

»Wir unterhalten uns später«, sagte Elemak. »Wenn Vater sagt, daß wir gehen, dann gehen wir – und wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er wandte sich an Vater. »Nicht, weil du gedroht hast, mich zu enterben, alter Mann. Sondern, weil du mein Vater bist, und ich lasse es nicht zu, daß du in die Wüste gehst, und nur diese hier helfen dir, am Leben zu bleiben.«

»Ich habe dir alles beigebracht, was du weißt, Elja«, sagte Vater.

»Als du jünger warst«, sagte Elemak. »Und wir hatten immer Diener. Ich nehme an, wir lassen sie alle zurück.«

»Wir entlassen die Diener des Haushalts«, sagte Vater. »Während du die Tiere und Vorräte vorbereitest, Elja, schreibe ich Raschgallivak ein paar Anweisungen auf.«

In der nächsten Stunde arbeitete Nafai schneller, als er es je für möglich gehalten hätte. Alle, sogar Issib, hatten ihre Aufgaben bekommen, und Nafai bewunderte Elemak erneut wegen seines großen Geschicks bei diesen Dingen. Er wußte immer genau, was getan werden mußte, wer es tun sollte und wie lange es dauern würde; er wußte auch, wie er es schaffen konnte, daß sich Nafai wie ein Idiot vorkam, weil er seine Aufgaben nicht schneller bewältigte.

Endlich waren sie fertig – eine echte Wüstenkarawane, ausschließlich mit Kamelen, obwohl sie die temperamentvollsten der Packtiere waren. Issibs Stuhl war auf der einen Seite eines Kamels festgeschnallt, Säcke mit pulverisiertem Wasser auf der anderen. Das Wasser wollten sie für Notfälle aufheben; Vater und Elemak kannten alle Wasserstellen der ersten Wegstrecke, und außerdem gingen gelegentlich Herbstregenfälle auf die Wüste nieder; es würde ausreichend Wasser geben. Doch im nächsten Sommer würde es trockener sein, und dann würde es zu spät sein, um nach Basilika zurückzukehren, um sich das kostbare Pulver zu besorgen. Und was, wenn sie verfolgt und in unbekannten Wüstenregionen gejagt wurden? Dann kamen sie vielleicht nicht umhin, etwas von dem Pulver in eine Pfanne zu geben, es anzuzünden und zu beobachten, wie es zu Wasser verbrannte, wobei es der Luft Sauerstoff entnahm. Nafai hatte es einmal probiert – auf Grund der Chemikalien, die den Wasserstoff in pulverisierter Form banden, schmeckte es faulig, dünn und abscheulich. Aber falls sie es einmal brauchten, würden sie froh sein, es zu haben.

Issibs Stuhl würde am wenigsten Freude bringen. Nafai wußte, daß Issja diese Reise am schwersten fallen würde, da er auf seine Flossen verzichten mußte und an den Stuhl gefesselt sein würde. Die Schwebeflossen vermittelten ihm das Gefühl, sein Körper wäre leicht und stark; im Stuhl fühlte er nur, wie die Schwerkraft ihn niederdrückte, und es erforderte seine ganze Kraft, die Kontrollen zu bedienen. Am Ende eines Tages im Stuhl war Issja immer blaß und erschöpft. Wie würde es sein, wenn er Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat im Stuhl leben mußte? Vielleicht würde er stärker werden. Vielleicht würde er schwächer werden. Vielleicht auch würde er sterben. Möglicherweise würde die Überseele ihm aber Kraft geben.

Vielleicht würden Engel kommen und sie zum Mond tragen.

Als sie aufbrachen, blieb noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang. Sie waren so leise gewesen, daß kein Diener wach geworden war – oder vielleicht waren sie doch wach geworden, aber da niemand ihre Unterstützung verlangt hatte und sie kein Interesse hatten, sich freiwillig für eine verrückte Aufgabe zu melden, drehten sie sich verstohlen auf die andere Seite und schliefen weiter.

Der Rotstein-Pfad war mörderisch gefährlich, doch dank des Mondscheins und Elemaks Anweisungen bewältigten sie ihn. Nafai verspürte erneut Bewunderung für seinen ältesten Bruder. Gab es nichts, was Elja nicht schaffen konnte? Bestand auch nur die geringste Hoffnung, daß Nafai jemals so stark und kompetent werden würde?

Endlich erreichten sie den Gewundenen Pfad, rechts von der Kuppe des höchsten Kamms; unter ihnen dehnte sich die Wüste aus. Im Osten war schon deutlich das erste Licht der Dämmerung auszumachen, doch sie hatten bereits eine gute Strecke zurückgelegt. Nun ging es bergabwärts, ein schwieriges, aber kurzes Stück, und dann hatten sie das große Plateau der westlichen Wüste erreicht. Niemand würde ihnen so einfach hierher folgen – niemand aus der Stadt zumindest. Elemak gab an sie alle Pulsatoren aus und ließ sie mit den Fadenkreuzen auf Felsen zielen, auf die er zeigte. Issib war ziemlich nutzlos – er konnte den Pulsator nicht ruhig genug halten –, doch Nafai war stolz darauf, daß er die Ziele besser traf als Vater.

Doch ob er damit wirklich einen Räuber töten könnte – das war eine ganz andere Frage. Bestimmt würde es nicht dazu kommen. Sie waren doch auf Weisung der Überseele hier in der Wüste, nicht wahr? Die Überseele würde die Räuber von ihnen fernhalten. Genau, wie die Überseele sie Nahrung und Wasser finden lassen würde, wenn ihre Vorräte erschöpft waren.

Dann erinnerte sich Nafai daran, daß diese ganze Sache nur begonnen hatte, weil die Überseele nicht mehr so fähig wie früher war. Woher wollte er wissen, daß die Überseele irgend etwas davon bewerkstelligen konnte? Oder daß sie überhaupt einen Plan hatte? Ja, sie hatte Luet geschickt, damit sie sie warnte, und hatte Nafai geweckt, damit er die Warnung hörte, und die Überseele hatte auch Vater einen Traum geschickt. Aber das bedeutete nicht, daß die Überseele tatsächlich die Absicht hatte, sie zu schützen; vielleicht wollte sie sie nur von der Stadt wegbringen. Wer konnte schon sagen, welche Absichten die Überseele hatte? Vielleicht mußte sie nur den Wetschik und seine Familie loswerden.

Mit diesem grimmigen Gedanken saß Nafai hoch über der Wüste, das Bein um den Sattelknopf verhakt, und suchte in allen Richtungen nach Räubern, nach Verfolgern aus der Stadt, nach irgendwelchen ungewöhnlichen Erscheinungen auf der Straße, nach Zeichen der Überseele. Die einzigen Geräusche bestanden aus Mebbekews Beschwerden, Elemaks Anweisungen und einem gelegentlichen Klatschen, wenn die Kamele ihre Gedärme leerten. Nafais Tier machte sich anscheinend nur Sorgen darum, wohin es seine Füße setzen sollte, und stampfte mit rollendem Gang unablässig in die Hitze des Tages hinein.

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