3 Feuer

Nachdem er das Haus betreten hatte, ging er zum Brunnenzimmer, in dem sich seine Klasse den ganzen Herbst über versammelte. Aus der Küche zogen die Düfte des Mittagessens herüber, und mit einem plötzlichem Schmerz fiel ihm ein, daß er wegen seines Streits mit Elemak völlig vergessen hatte, etwas zu essen. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht den geringsten Hunger verspürt; doch nun, da er daran erinnert wurde, empfand er vor Hunger Bauchschmerzen. Ihm war sogar etwas schummrig im Kopf. Er sollte sich setzten. Das Brunnenzimmer befand sich nur ein paar Schritte entfernt; sicher würden sie verstehen, weshalb er zu spät kam, wenn er sich so schlecht fühlte. Niemand konnte dann wütend auf ihn sein. Wenn er krank war, konnte niemand ihn für einen faulen Drückeberger halten. Sie mußten ja nicht wissen, daß er krank vor Hunger war.

Er schlurfte elendig hinein, spielte seine Schwäche bis zum Äußersten aus und lehnte sich einen Augenblick lang gegen die Wand. Er fühlte ihre Blicke auf sich, sah aber nicht hin; er hatte die verschwommene Vorstellung, daß wirklich kranke Menschen die Blicke anderer Leute nicht so einfach erwiderten. Er rechnete damit, daß die Lehrerin des heutigen Tages etwas zu ihm sagte. Was ist los, Nafai? Fühlst du dich nicht wohl?

Statt dessen dehnte sich ein Schweigen aus, bis er die Wand hinabgerutscht war und auf dem Holzboden eine sitzende Position eingenommen hatte.

»Wir schicken sofort nach den Totengräbern, Nafai, für den Fall, daß du plötzlich sterben solltest.«

O nein! Es war gar keine Lehrerin, keine der leicht zu täuschenden jungen Frauen, die so beeindruckt davon waren, daß Nafai Rasas Sohn war. Heute unterrichtete Mutter hier. Er sah auf und begegnete ihrem Blick. Sie lächelte ihn böse an, hatte sich von seiner Schauspielerei kein bißchen täuschen lassen.

»Ich habe auf dich gewartet. Issib ist schon in meinem Säulengang. Er hat mit keiner Silbe erwähnt, daß du im Sterben liegst, aber ich bin sicher, es war nur ein Versehen.«

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sache mit Humor zu nehmen. Nafai seufzte und stand auf. »Weißt du, Mutter, deine Unwilligkeit, deine Skepsis zu unterdrücken, wirft meine Laufbahn als Schauspieler um Jahre zurück.«

»Mach dir darüber keine Gedanken, lieber Nafai. Deine Laufbahn als Schauspieler würde das basilikanische Theater um Jahrhunderte zurückwerfen.«

Die anderen Schüler lachten. Nafai grinste – aber er musterte auch die Klasse, um zu sehen, wer den größten Spaß daran hatte. Eiadh saß neben dem Brunnen, und ein paar winzige Wassertropfen hatten sich in ihrem Haar verfangen und reflektierten das Licht nun wie Juwelen. Sie lachte ihn nicht aus. Statt dessen lächelte sie wunderschön und blinzelte ihm zu. Er grinste zurück – wie ein Narr, da war er sich sicher – und wäre fast über die Stufe gestolpert, die zur Schwelle des hinteren Gangs hinaufführte. Natürlich lachten die anderen erneut, und Nafai drehte sich um und verbeugte sich tief. Dann schritt er würdevoll davon und prallte absichtlich gegen den Türrahmen, um die Klasse noch einmal zum Wiehern zu bringen, bevor er den Raum schließlich verließ.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er Mutter und sputete sich, um sie einzuholen.

»Familienangelegenheiten«, sagte sie.

Dann gingen sie durch die Tür, die zu Mutters Privatsäulengang führte. Sie blieben wie immer in dem abgeschirmten Teil neben der Tür. Hinter dem Wandschirm, an der Balustrade, bot der Säulengang einen wunderbaren Blick auf das Spaltental, und daher war es Männern streng verboten, ihn überhaupt zu betreten. In Privathäusern wurden diese Vorschriften oft ignoriert – Nafai kannte mehrere Jungen, die über das Spaltental sprachen und ihm versichert hatten, es böte gar keinen besonderen Anblick, sondern wäre nur ein steiler, zerklüfteter Hang, bedeckt mit Bäumen und Büschen, und stets würden Nebel oder Wolken oder Dunst verhindern, daß man die Mitte des Tals sehen könne, wo sich angeblich der heilige See befand. Doch in Mutters Haus erwies man den Bräuchen stets den gebührenden Respekt, und Nafai war sicher, daß nicht einmal Vater je hinter den Wandschirm getreten war.

Nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, weil er in das helle Sonnenlicht hinausgetreten war, konnte Nafai sehen, wer sich auf dem Säulengang befand. Issib natürlich; doch zu Nafais Überraschung war auch Vater dort, der von seiner Reise zurückgekehrt war. Warum hatte er zuerst Rasas Haus in der Stadt aufgesucht, statt nach Hause zu kommen?

Vater erhob sich und begrüßte ihn mit einer Umarmung.

»Elemak ist zu Hause, Vater.«

»Das hat Issja mir schon gesagt.«

Vater schien sehr ernst, sehr gedankenverloren zu sein. Ihn beschäftigte etwas. Es konnte nichts Gutes sein.

»Nun, da Nafai endlich hier ist«, sagte Mutter, »können wir vielleicht etwas Sinn in die ganze Sache bringen.«

Erst jetzt, als er sich auf den schattigsten Stuhl setzte, der noch frei war, bemerkte Nafai, daß zwei Mädchen bei ihnen waren. Auf den ersten Blick hatte er im grellen Sonnenlicht angenommen, es handele sich um seine Schwestern, um Rasas Töchter Sevet und Kokor – er hatte sich schon gefragt, was Vater dann bei dieser Familienzusammenkunft zu suchen hatte, da er nur Issibs und Nafais Vater war, nicht aber der Vater der Mädchen. Doch es waren zwei Schülerinnen – Huschidh, eine von Mutters Nichten, die im selben Alter wie Eiadh war; und diese Hexe Luet. Er sah sie konsterniert an – wie war sie nur so schnell hierher gekommen? Andererseits hatte er sich ja nicht besonders beeilt. Mutter mußte nach ihr geschickt haben, noch bevor sie wußte, daß Nafai endlich hier war.

Was hatte Luet und Huschidh bei einem Gespräch über Familienangelegenheiten zu suchen?

»Mein lieber Gefährte Wetschik hat uns etwas zu sagen. Wir hoffen, daß ihr … nun ja, zumindest, daß Luet oder Huschidh vielleicht …«

»Warum fange ich nicht einfach an?« sagte Vater.

Mutter lächelte und hob mit einem grazilen, eleganten Achselzucken die Hände.

»Ich habe heute morgen etwas Beunruhigendes gesehen«, begann Vater. »Eigentlich noch vor dem Morgen. Ich war auf der Wüstenstraße unterwegs nach Hause – ich war gestern in der Wüste, um nachzudenken und mit mir und der Überseele ins reine zu kommen –, als mich plötzlich ein starker Drang überkam, den Weg zu verlassen, obwohl dies in der Dunkelheit zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang eigentlich sehr töricht ist. Ich mußte nicht weit gehen. Ich trat lediglich um einen großen Felsen, und mir wurde ziemlich klar, wieso ich zu dieser Stelle geführt worden war. Denn vor mir sah ich Basilika. Aber nicht das Basilika, das ich erwartet hatte, gesprenkelt mit den Lichtern der Feier in der Puppenstadt oder auf dem Inneren Markt. Ich sah ein Basilika in Flammen.«

»Es brannte?« fragte Issib.

»Es war natürlich nur eine Vision. Bedenkt, dies wußte ich zuerst nicht – ich sprang vor, ich wollte zur Stadt laufen, hierher stürmen und mich überzeugen, daß dir nichts passiert ist, meine Liebe …«

»Wie ich es auch von dir erwartet hätte«, sagte Mutter.

»Dann verschwand die Stadt so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Nur das Feuer blieb und bildete auf dem Felsen vor mir eine Säule. Sie schien ewig dort zu stehen, eine Flammensäule. Und sie war heiß – so heiß, als wäre sie wirklich vorhanden gewesen. Ich spürte, wie sie mich versengte, doch auf meiner Kleidung ist natürlich kein einziger Fleck. Und dann erhob sich die Flammensäule in den Himmel, zuerst ganz langsam, dann immer schneller, bis sie zu einem Stern wurde, der über den Himmel zog und dann völlig verschwand.«

»Du warst müde, Vater«, sagte Issib.

»Ich bin schon oft müde gewesen«, sagte Vater, »doch ich habe nie zuvor Flammensäulen gesehen. Oder brennende Städte.«

Mutter ergriff wieder das Wort. »Dein Vater ist in der Hoffnung zu mir gekommen, Issja, ich könne ihm helfen, die Bedeutung dieses Vorfalls zu verstehen. Ob er ein Zeichen der Überseele war oder nur ein verrückter Wachtraum.«

»Ich plädiere für den Traum«, sagte Issib.

»Selbst Wahnsinn kann von der Überseele kommen«, sagte Huschidh.

Alle sahen sie an. Sie war ein ziemlich unscheinbares Mädchen, das sich im Unterricht immer still verhielt. Nun, da Nafai sie und Luet nebeneinander sah, fiel ihm auf, daß die beiden sich stark ähnelten. Waren sie Schwestern? Aber viel mehr interessierte ihn, was Huschidh hier zu suchen hatte und mit welchem Recht sie über Familienangelegenheiten sprach.

»Es kann von der Überseele gekommen sein«, sagte Vater. »Aber ist es das auch? Und falls ja, was hat es zu bedeuten?«

Nafai begriff, daß Vater diese Fragen nicht an Rasa, nicht einmal an Huschidh, sondern an Luet richtete! Er konnte doch nicht glauben, was die Frauen über sie sagten, oder? Hatte eine einzige Vision einen vernünftig denkenden Geschäftsmann in einen abergläubischen Jünger verwandelt, der versuchte, in allem, was er sah, eine Bedeutung zu finden?

»Ich kann dir sagen, was dein Traum bedeutet«, sagte Luet.

»Oh«, sagte Vater. »Eigentlich habe ich gar nicht angenommen, daß …«

»Falls die Überseele den Traum geschickt hat und falls sie wollte, daß du ihn verstehst, hat sie auch die Deutung geschickt.«

»Da war keine Deutung.«

»Ach nein?« fragte Luet. »Das war das erste Mal, daß du solch einen Traum gehabt hast, nicht wahr?«

»Ganz bestimmt. Wenn ich des Nachts reise, habe ich für gewöhnlich keine Visionen.«

»Also bist du es nicht gewöhnt, die Bedeutung zu erkennen, die solche Visionen haben.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Und doch hast du eine Botschaft erhalten.«

»Wirklich?«

»Du hast gewußt, daß du die Straße verlassen mußtest, bevor du die Flamme gesehen hast.«

»Na ja, das.«

»Was glaubst du denn, wie die Stimme der Überseele klingt? Glaubst du etwa, sie spricht Basjat oder stellt Schilder auf?«

Luet klang verächtlich. Es war einfach unerhört, in einem solchen Ton mit einem Mann von Wetschiks Rang zu sprechen. Und doch schien er nicht beleidigt zu sein und nahm ihren Tadel hin, als habe sie das Recht, ihn zu züchtigen.

»Die Überseele bringt das Wissen in unseren Verstand, bevor es sich mit irgendeiner menschlichen Sprache verbindet«, sagte sie. »Wir bekommen immer mehr davon, als wir je verstehen können, und wir können viel mehr verstehen, als wir in Worte kleiden können.«

Luets Stimme zeugte von einer ganz einfachen Kraft. Sie intonierte nicht übertrieben, wie die Hexen und Propheten auf dem inneren Markt es taten, wenn sie Kunden anlocken wollten. Sie sprach, als wisse sie genau, was sie sagte, als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel.

»Ich möchte dich etwas fragen, Herr. Wieso hast du gewußt, daß es Basilika war, als du die Stadt in Flammen gesehen hast?«

»Ich habe sie tausendmal gesehen, genau aus diesem Blickwinkel, als ich aus der Wüste kam.«

»Aber hast du die Kontur der Stadt gesehen und sie deshalb erkannt, oder hast du zuerst gewußt, daß es sich um das brennende Basilika handelte, und dann in deinem Geist das Bild der Stadt hervorgerufen, wie es sich in deinem Gedächtnis eingeprägt hat?«

»Ich weiß nicht … woher soll ich das wissen?«

»Denke zurück. War das Wissen vor der Vision da, oder kam die Vision zuerst?«

Anstatt dem Mädchen zu sagen, es solle verschwinden, schloß Vater die Augen und versuchte, sich zu erinnern.

»Wenn du es so ausdrückst, glaube ich … daß ich es gewußt habe, bevor ich in diese Richtung sah. Ich glaube, ich habe die Stadt eigentlich erst gesehen, als ich auf sie zulief. Ich sah die Flamme, aber nicht die brennende Stadt darin. Und nun, da du fragst, fällt mir auch ein, daß ich genau wußte, daß Rasa und meine Kinder in schrecklicher Gefahr waren. Das alles wußte ich zuerst, als ich den Felsen umrundete – es gehörte zu diesem dringlichen Gefühl. Ich wußte, wenn ich den Weg verließ und zu genau dieser Stelle lief, würde ich sie vor der Gefahr retten können. Erst dann kam mir in den Sinn, woraus diese Gefahr bestand, und ganz zum Schluß sah ich die Flamme und die Stadt darin.«

»Das ist eine wahre Vision«, sagte Luet.

Nur deshalb? Sie wußte es wegen der Reihenfolge, in der sich die Dinge ereignet hatten? Wahrscheinlich hätte sie das auf jeden Fall gesagt, ganz gleich, woran Vater sich erinnerte. Und vielleicht erinnerte sich Vater nur auf diese Weise daran, weil Luet es so angedeutet hatte. Es machte Nafai wütend, daß Vater einsichtsvoll nickte, während dieses zwölfjährige Mädchen ihn herablassend behandelte wie einen Lehrling in einem Beruf, in dem sie eine respektierte Meisterin war.

»Aber es war doch gar nicht wahr«, sagte Vater. »Als ich hier ankam, bestand gar keine Gefahr.«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Luet. »Was wolltest du tun, als du gespürt hast, daß deine Gefährtin und Kinder in Gefahr sind?«

»Ich wollte sie natürlich retten.«

»Aber wie?«

Erneut schloß er die Augen. »Nein, aus dem brennenden Gebäude wollte ich sie nicht holen. Das kam mir erst später in den Sinn, als ich den Rest des Weges in die Stadt zurücklegte. In diesem Augenblick wollte ich rufen, daß die Stadt brennt, daß wir …«

»Was?«

»Daß wir die Stadt verlassen müssen, wollte ich sagen. Aber das hatte ich eigentlich zuerst nicht sagen wollen. Als es anfing, hatte ich das Gefühl, zur Stadt laufen und allen sagen zu müssen, daß ein Feuer kommen wird.«

»Und daß sie die Stadt verlassen müssen?«

»Ich glaube schon«, sagte Vater. »Natürlich, was sonst?«

Luet sagte nichts, doch ihr Blick wich keinen Augenblick lang von seinem Gesicht.

»Nein«, sagte Vater. »Nein, das war es nicht.« Vater klang überrascht. »Ich wollte sie nicht auffordern, die Stadt zu verlassen.«

Luet beugte sich vor, betrachtete ihn irgendwie noch eindringlicher, nicht mehr so … analytisch. »Herr, gerade noch hast du gesagt, du hättest sie auffordern wollen, die Stadt zu verlassen …«

»Aber da$ wollte ich ja gar nicht.«

»Aber als du einen Moment lang dachtest … als du angenommen hast, du wolltest sie auffordern, die Stadt zu verlassen … was für ein Gefühl hattest du da? Warum hast du gewußt, daß es falsch war, als du es uns erzählt hast?«

»Keine Ahnung. Es kam mir einfach … falsch vor.«

»Das ist sehr wichtig«, sagte Luet. »Wie fühlt es sich an, wenn einem etwas falsch vorkommt?«

Erneut schloß er die Augen. »Ich denke normalerweise nicht darüber nach, wie ich denke. Und nun versuche ich mich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, als ich glaubte, mich an etwas zu erinnern, woran ich mich gar nicht erinnert habe …«

»Sprich nicht«, sagte Luet.

Er verstummte.

Nafai wollte irgend jemanden anschreien. Was sollte das, auf dieses häßliche, dumme, kleine Mädchen zu hören und zuzulassen, daß sie Vater sagte, er solle den Mund halten?

Doch alle anderen lauschten so gespannt, daß Nafai selbst den Mund hielt. Issib würde stolz auf ihn sein, daß er einmal etwas nicht gesagt hatte, was ihm in den Sinn gekommen war.

»Ich habe«, sagte Vater, »gar nichts gefühlt.« Er nickte langsam. »Als du mir die Frage gestellt hast und ich sie beantwortet habe … Natürlich, was sonst … da hast du mich angesehen, und ich hatte gar nichts im Kopf.«

»Dumm«, sagte sie.

Er runzelte die Stirn. Zu Nafais Erleichterung fiel ihm endlich auf, wie respektlos Luet mit ihm sprach.

»Du bist dir dumm vorgekommen«, sagte sie. »Und daher hast du gewußt, daß das, was du gerade gesagt hast, falsch war.«

Er nickte. »Ja, so war es wohl.«

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Issib. »Analysiert ihr eure Analyse der Analysen einer völlig subjektiven Halluzination?«

Gut gemacht, Issja, dachte Nafai bei sich. Du hast mir die Worte aus dem Mund genommen.

»Ich meine, ihr könnt diese Spielchen den ganzen Morgen über treiben, aber ihr legt dabei nur Bedeutungen über ein bedeutungsloses Erlebnis. Träume sind lediglich zufällige Freisetzungen von Erinnerungen, die das Gehirn dann interpretiert, indem es zufällige Verbindungen zieht, womit man aus nichts eine Geschichte fabriziert.«

Vater sah Issib lange an und schüttelte dann den Kopf. »Du hast natürlich recht«, sagte er. »Obwohl ich hellwach war und nie zuvor eine Halluzination gehabt habe, handelte es sich lediglich um eine zufällige Zündung von Synapsen in meinem Gehirn.«

Nafai wußte genau wie Issib und Mutter, daß Vater es ironisch meinte und Issib damit sagte, daß es sich bei seiner Vision von dem Feuer auf dem Felsen um mehr als nur einen bedeutungslosen Nachttraum gehandelt hatte. Doch Luet kannte Vater nicht, und daher glaubte sie, er würde sich vom Mystizismus abwenden und in die Wirklichkeit zurückkehren.

»Du irrst dich«, sagte sie. »Es war eine echte Vision, denn sie kam auf dem richtigen Weg zu dir. Das Verständnis kam vor der Vision – deshalb habe ich diese Fragen gestellt. Die Bedeutung ist vorhanden, und dann liefert dein Gehirn das Bild, das dich sie verstehen läßt. So spricht die Überseele zu uns.«

»Zu Verrückten, meinst du«, sagte Nafai.

Er bedauerte es augenblicklich, doch es war schon zu spät.

»Verrückte, wie ich einer bin?« fragte Vater.

»Und ich versichere dir, daß Luet mindestens so normal ist wie du«, fügte Mutter hinzu.

Issib konnte die Gelegenheit nicht auslassen, eine Spitzfindigkeit hinzuzufügen. »So normal wie Njef? Dann steckt sie wirklich in Schwierigkeiten.«

Vater unterbrach Issibs Stichelei augenblicklich. »Gerade hast du dasselbe über mich gesagt.«

»Ich habe niemanden verrückt genannt«, entgegnete Issib.

»Nein, dir mangelt es an Nafais – wie sollen wir es nennen? – scharfer Beredsamkeit.«

Nafai wußte, daß er sich nun retten konnte, indem er die Klappe hielt und Issib die Suppe auslöffeln ließ. Doch er hatte sich dem Skeptizismus verschrieben, und Selbstbeherrschung war nicht gerade seine Stärke. »Dieses Mädchen«, sagte Nafai. »Siehst du nicht, daß sie dir die Worte in den Mund legt, Vater? Sie stellt dir eine Frage, aber sie sagt dir nicht im voraus, was die Antwort bedeuten wird. Ganz gleich, was du antwortest, sie kann immer sagen, ja, das ist eine wahre Vision, da hat eindeutig die Überseele gesprochen.«

Vater antwortete nicht sofort darauf. Nafai warf Luet einen triumphierenden Blick zu; er wollte sehen, wie sie sich wand. Doch sie wand sich nicht. Sie betrachtete ihn ganz ruhig. Die Eindringlichkeit war aus ihrem Blick gewichen, und nun war sie einfach – ruhig. Die Stetigkeit ihres Blicks störte ihn. »Wen starrst du an?« fragte er.

»Einen Narren«, erwiderte sie.

Nafai sprang auf. »Ich muß mir nicht bieten lassen, daß du mich einen …«

»Setz dich!« brüllte Vater.

Nafai setzte sich, vor Zorn kochend.

»Du hast sie gerade eine Schwindlerin genannt«, sagte Vater. »Ich weiß zu schätzen, daß meine beiden Söhne hier genau das tun, weshalb ich sie hinzugezogen habe – sie sollen meiner Geschichte mit der gebührenden Skepsis begegnen. Ihr habt das Geschehen sehr klug analysiert, und nun erklärt eure Version der Dinge alles genauso lückenlos, wie es bei Luets Version der Fall ist.«

Nafai wollte ihm helfen, den richtigen Schluß zu ziehen. »Dann verlangt die Regel, immer auf die einfachste Erklärung zurückzugreifen, daß du …«

»Die Regel, deinem Vater zu gehorchen, verlangt vor dir, deine Zunge im Zaum zu halten, Nafai. Ihr beide vergeßt, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen mir und euch gibt.«

Vater beugte sich zu Nafai vor.

»Ich habe das Feuer gesehen.«

Er lehnte sich wieder zurück.

»Luet hat mir nicht gesagt, was ich damals denken oder fühlen sollte. Und ihre Fragen halfen mir, mich daran zu erinnern, was wirklich geschehen ist. Ich habe das Erlebnis bereits verändert, um es meiner vorgefaßten Meinung anzupassen. Sie hat gewußt, daß es seltsam sein würde – genau auf die Art und Weise, in der es auch seltsam war. Euch kann ich natürlich nicht überzeugen.«

»Nein«, sagte Nafai, »du kannst nur dich überzeugen.«

»Zum Schluß, Nafai, ist man selbst die einzige Person, die irgend jemand überzeugen kann.«

Wenn Vater schon auf Aphorismen zurückgriff, war die Schlacht verloren. Nafai setzte sich zurück und wartete ab, wie es enden würde. Er tröstete sich mit der Tatsache, daß alles schließlich nur ein Traum gewesen war. Es bestand ja keine Gefahr, daß sich sein Leben oder sonst etwas verändern würde.

Vater war noch nicht fertig. »Weißt du, was ich in Wirklichkeit tun wollte, als ich diesen Drang verspürte, zur Stadt zu kommen? Ich wollte die Menschen warnen – daß sie die alten Gebräuche befolgen, zu den Gesetzen der Überseele zurückkehren müssen, oder dieser Ort wird brennen.«

»Was für ein Ort?« fragte Luet, die ihre Eindringlichkeit zurückgewonnen hatte.

»Dieser Ort. Basilika. Die Stadt. Sie habe ich doch brennen sehen.«

Erneut verstummte Vater und sah in ihre brennenden Augen.

»Nicht die Stadt«, sagte er schließlich. »Die Stadt war nur das Bild, das mein Verstand geliefert hat, oder? Nicht die Stadt. Die ganze Welt. Ganz Harmonie hat gebrannt.«

Rasa stöhnte auf. »Die Erde«, flüsterte sie.

»Also bitte«, sagte Nafai. Jetzt brachte Mutter Vaters Vision mit dieser alten Geschichte über den Heimatplaneten in Verbindung, der von der Überseele verbrannt worden war, um die Menschheit für all jene Gemeinheiten zu bestrafen, gegen die die modernen Geschichtenerzähler gerade predigen wollten. Der Mythos, mit dem man alles erzwingen konnte: Wenn ihr nicht tut, was ich sage – was die Überseele sagt, meine ich –, wird die ganze Welt brennen.

»Ich habe nicht das Feuer gesehen«, sagte Luet und ignorierte Nafai weiterhin. »Vielleicht habe ich nicht einmal dasselbe gesehen.«

»Was hast du gesehen?« fragte Vater. Nafai zuckte innerlich darüber zusammen, wie respektvoll er dieses Mädchen behandelte.

»Ich habe den Tiefen See von Basilika gesehen, der mit Blut und Asche verkrustet war.«

Nafai wollte, daß sie zum Ende kam. Doch sie saß einfach da.

»Das war’s? Das ist alles?« Nafai stand auf und schickte sich an, den Säulengang zu verlassen. »Ist ja toll, euch beiden zuzuhören, wie ihr Visionen vergleicht. Ich habe die in Flammen stehende Stadt gesehen. Nun ja, ich habe einen schaumbedeckten See gesehen.«

Luet stand auf und sah ihn an. Nein, sah zu ihm hinab -was lächerlich war, da er fast einen halben Meter größer als sie war.

»Du streitest nur mit mir«, sagte sie hitzig, »weil du nicht glauben willst, was ich dir über Eiadh erzählt habe.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Nafai.

»Du hattest eine Vision von Eiadh?« fragte Rasa.

»Was hat Eiadh mit Njef zu tun?« fragte Issib.

Nafai haßte sie dafür, daß sie die Sache schon wieder erwähnt hatte, diesmal vor seiner Familie. »Du kannst dir über andere Menschen ausdenken, was du willst, aber laß mich lieber aus dem Spiel.«

»Das reicht«, sagte Vater. »Wir sind fertig.«

Rasa sah ihn überrascht an. »Entläßt du mich in meinem eigenen Haus?«

»Ich entlasse meine Söhne.«

»Du hast natürlich die Befehlsgewalt über deine Söhne.« Mutter lächelte, doch da sie so leise sprach, wußte Nafai, daß sie zutiefst verärgert war. »Doch ich sehe in meinem Haus lediglich meine Schüler.«

Vater nickte, nahm die Zurechtweisung hin und erhob sich, um zu gehen. »Dann entlasse ich mich selbst – das darf ich ja hoffentlich.«

»Du darfst immer gehen, mein verehrter Gefährte, solange du versprichst, zu mir zurückzukehren.«

Seine Antwort bestand in einem Kuß auf ihre Wange.

»Was willst du jetzt tun?« fragte sie.

»Was die Überseele mir aufgetragen hat.«

»Und was ist das?«

»Die Menschen warnen, zu den Gesetzen der Überseele zurückzukehren, oder die Welt wird brennen.«

Issib war entsetzt. »Das ist verrückt, Vater!«

»Ich bin es allmählich leid, dieses Wort aus den Mündern meiner Söhne zu hören.«

»Aber … die Propheten der Überseele sagen so etwas nicht. Sie sind wie Dichter, einmal davon abgesehen, daß all ihre Metaphern eine moralische Lektion beinhalten oder die Überseele preisen oder …«

»Issja«, sagte Wetschik, »mein ganzes Leben lang habe ich mir diese sogenannten Prophezeiungen angehört – und die Psalme und die Geschichten und die Tempelpriester – und immer gedacht, warum sollte ich überhaupt darauf hören, wenn das alles ist, was die Überseele zu sagen hat? Warum macht sich die Überseele überhaupt die Mühe, etwas zu sagen, wenn das alles ist, was sie sich einfallen lassen kann?«

»Warum hast du uns dann gelehrt, zur Überseele zu sprechen?« fragte Issib.

»Weil ich an die uralten Gesetze geglaubt habe. Und weil ich selbst mit der Überseele gesprochen habe, wenn auch eher, um meine eigenen Gedanken zu ordnen, als in der Hoffnung, sie würde zuhören. Gestern abend – heute morgen – hatte ich dann ein Erlebnis, das ich mir niemals hätte träumen lassen. Das ich mir nicht gewünscht habe. Bis jetzt, bis ich mit Luet gesprochen habe, wußte ich nicht einmal, was es war. Jetzt weiß ich es – wie es sich anfühlt, die Stimme der Überseele in sich zu hören. Das hat nichts mit diesen Dichtern und Träumern und Täuschern zu tun, die aufschreiben, was immer ihnen in den Sinn kommt, und es dann als Prophezeiung verkaufen. Was in mir war, war nicht Teil von mir, und Luet hat mir gezeigt, daß sie dieselbe Stimme in sich vernommen hat. Das bedeutet, daß es die Überseele wirklich gibt und sie lebt.«

»Vielleicht war es also wahr«, sagte Issib. »Das verrät uns aber nicht, was es ist.«

»Es ist der Hüter der Welt«, sagte Wetschik. »Er hat mich um meine Hilfe gebeten. Mir aufgetragen, ihm zu helfen. Und das werde ich tun.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Issib. »Du weißt doch gar nichts darüber. Du züchtest exotische Pflanzen.«

Vater tat Issibs Einwand mit einer Handbewegung ab. »Die Überseele wird mir alles verraten, was ich wissen muß.« Dann ging er zur Tür, die ins Haus führte.

Nafai folgte ihm, doch nur ein paar Schritte. »Vater«, sagte er.

Vater wartete.

Das Problem war nur, daß Nafai nicht wußte, was er sagen würde. Nur, daß er es sagen mußte. Daß es eine sehr wichtige Frage gab, auf die er eine Antwort hören mußte, bevor Vater ging. Er wußte nur nicht, wie diese Frage lautete.

»Vater«, sagte er erneut.

»Ja?«

Und da Nafai die richtige Frage nicht einfiel, die tiefe, die wichtige, stellte er die einzige, die ihm in den Sinn kam. »Was soll ich tun?«

»Befolge die alten Gesetze der Überseele.«

»Was bedeutet das?«

»Oder die Welt wird brennen.« Und Vater war fort.

Nafai sah eine Weile zur leeren Tür. Nichts geschah, und so drehte er sich wieder zu den anderen um. Sie sahen ihn alle an, als erwarteten sie, daß er etwas tat.

»Was?« fragte er.

»Nichts«, sagte Mutter. Sie erhob sich von ihrem Platz im Schatten des Kapljabaums. »Wir werden jetzt zu unseren Pflichten zurückkehren.«

»Das war alles?« sagte Issib. »Unser Vater – dein Gefährte – hat uns gerade gesagt, daß die Überseele zu ihm spricht, und wir sollen wieder zu unserem Unterricht zurückkehren?«

»Ihr versteht es wirklich nicht, oder?« sagte Mutter. »Ihr habt all diese Jahre als meine Söhne, meine Schüler gelebt, und ihr seid noch immer nicht besser als die gewöhnlichen Jungen, die durch die Straßen Basilikas wandern und hoffen, eine willige Frau und ein Bett für die Nacht zu finden.«

»Was verstehen wir hier nicht?« fragte Nafai. »Nur weil ihr Frauen dieses Hexenmädchen so ernst nehmt, müssen wir doch nicht …«

»Ich war selbst unten im Wasser«, sagte Mutter, und ihre Stimme klang metallen. »Ihr Männer könnte euch ja einreden, daß die Überseele abgelenkt ist oder schläft oder daß sie nur eine Maschine ist, die unsere Sendungen empfängt und sie an Bibliotheken in fernen Städten weiterleitet. An welche Theorien auch immer ihr zufällig glaubt, der Wahrheit macht es nichts aus. Denn ich weiß, wie die meisten Frauen in dieser Stadt, daß die Überseele sehr wohl lebt. Zumindest lebt sie als Bewahrerin der Erinnerungen dieser Welt. Wir alle empfangen diese Erinnerungen, wenn wir ins Wasser gehen. Manchmal scheinen sie zufällig zu sein, manchmal bekommen wir genau die Erinnerung, die wir brauchen. Die Überseele bewahrt die Geschichte der Welt, wie sie durch die Augen anderer Menschen gesehen wurde. Nur einige wenige von uns – wie Luet und Huschidh – haben ohne das Wasser diese Weisheit, und noch weniger empfangen Visionen wirklicher Dinge, die noch nicht geschehen sind. Seit die große Izumina starb, ist Luet die einzige Seherin in Basilika, die ich kenne – und also nehmen wir sie sehr, sehr ernst.«

Frauen gehen ins Wasser hinab und haben dort Visionen? Es war das erste Mal, daß Nafai je gehört hatte, daß eine Frau irgendeine Äußerung über die religiösen Bräuche am See fallen ließ. Er hatte immer angenommen, daß die Frauen einen ähnlichen Kult betrieben wie die Männer – körperliche Betätigung, Askese, Schmerz, eine leidenschaftslose Möglichkeit, sich von Gefühlen zu befreien. Statt dessen waren sie Mystikerinnen. Was Männer für Legenden oder Wahnsinn hielten, war für die Frauen der Mittelpunkt des Lebens. Nafai kam sich vor, als habe er gerade entdeckt, daß Frauen doch eine ganz andere Spezies waren. Die Frage lautete nur, wer von ihnen, Männer oder Frauen, waren die Menschen? Die rationalen, aber brutalen Männer? Oder die irrationalen, aber sanften Frauen?

»Nur eins ist seltener als ein Mädchen wie Luet«,sagte Mutter, »und zwar ein Mann, der die Stimme der Überseele hört. Wir wissen nun, daß euer Vater sie wirklich hört – Luet hat es mir bestätigt. Ich weiß nicht, was die Überseele will, oder warum sie zu euerm Vater gesprochen hat, doch ich bin klug genug, um zu wissen, daß es wichtig ist.«

Als sie an Nafai vorbeiging, nahm sie sein Ohr fest, aber nicht schmerzhaft, zwischen ihre Finger. »Und was die mythische Verbrennung der Erde betrifft, mein lieber Junge, so habe ich sie selbst gesehen. Sie ist wirklich geschehen. Ich kann nur raten, wie lange es her ist – wir schätzen, daß es mindestens dreißig Millionen Jahre menschlicher Geschichte auf dieser Welt gibt, die wir Harmonie nennen. Aber ich sah die Raketen fliegen, die Bomben explodieren und die Welt in Flammen aufgehen. Der Rauch erfüllte den Himmel und verdeckte die Sonne, und unter diesem Tuch aus Dunkelheit gefroren die Ozeane, und die Welt wurde von Eis überzogen, und nur wenige Menschen überlebten, um sich aus der Schwärze zu erheben, als die Welt starb, und ihre Hoffnungen und ihr Bedauern und ihre Gene zu anderen Planeten zu tragen, und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Sie haben es geschafft. Wir sind hier. Und nun hat die Überseele deinen Vater gewarnt, daß unser neuer Anfang zu demselben Ende wie zuvor führen kann.«

Nafai hatte Mutters öffentliches Gesicht gesehen, verspielt, brillant, analytisch, gnädig, und er hatte ihr Familiengesicht gesehen – frei heraus, doch immer freundlich, schnell erzürnt, doch genauso schnell verzeihend. Stets hatte er angenommen, daß sich in der Familie ihr wahres Ich zeigte, daß sie dort nichts verbarg. Doch hinter den Gesichtern, die er zu kennen glaubte, hatte sie die ganze Zeit über dieses Geheimnis verborgen, ihre bittere Version vom Ende der Erde. »Du hast uns nie etwas davon gesagt«, flüsterte Nafai.

»Ich habe euch ganz bestimmt davon erzählt«, sagte Rasa. »Es ist nicht meine Schuld, daß ihr geglaubt habt, ich hätte euch einen Mythos erzählt.« Sie ließ sein Ohr los und kehrte ins Haus zurück.

Issib trieb an ihm vorbei, etwas davon murmelnd, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, daß man sein ganzes Leben in einem Irrenhaus verbracht hatte. Huschidh ging auch an ihm vorbei, begegnete seinem Blick aber nicht; er konnte sich vorstellen, worüber sie den Rest des Tages über in seiner Klasse tuscheln würde.

Nafai war allein mit Luet.

»Ich hätte vorher nicht mit dir sprechen sollen«, sagte sie.

»Und du solltest auch nie wieder mit mir sprechen«, schlug Nafai vor.

»Einige Menschen hören eine Lüge, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Du bist so stolz auf deinen Rang als Sohn Rasas und Wetschiks, doch offensichtlich hast du von deinen Eltern die falschen Gene bekommen.«

»Während du bestimmt die besten bekommen hast, die deine Eltern dir mit auf den Weg geben konnten.«

Sie sah ihn mit offensichtlicher Verachtung an, und dann war sie fort.

»Was für ein wunderschöner Tag wird das«, sagte er laut vor sich hin. »Meine ganze Familie haßt mich.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Ich bin nicht mal sicher, daß ich möchte, daß sie mich mag.«

Einen gefährlichen Augenblick lang spielte er, als er nun allein auf dem Säulengang stand, mit dem Gedanken, an den Wandschirmen vorbeizuschlüpfen, zum Geländer zu gehen und trotz aller Verbote das Tal der Heiligen Frauen zu betrachten, das in der Umgangssprache als Das Spaltental bezeichnet wurde und abfälliger als die Schlucht der alten Weiber. Ich werde es sehen, und ich wette, ich verliere nicht einmal mein Augenlicht.

Doch er tat es nicht, obwohl er lange dort stand und darüber nachdachte. Jedesmal, wenn er einen Schritt zum Geländer tun wollte, schienen seine Gedanken plötzlich abzuschweifen, und er zögerte und vergaß einen Augenblick lang, was er vorhatte. Schließlich verlor er das Interesse und kehrte ins Haus zurück.

Er hätte in den Klassenraum gehen sollen. Doch er brachte es nicht über sich. Statt dessen wanderte er zur Eingangstür und auf den Hof hinaus, auf die Straßen Basilikas. Mutter würde wahrscheinlich wütend auf ihn sein, doch daran ließ sich auch nichts ändern.

Er mußte gesehen haben, wohin er ging, da er mit nichts und niemandem zusammenstieß, doch er konnte sich nicht daran erinnern, was er gesehen hatte oder wo er gewesen war. Schließlich fand er sich im Brunnenviertel wieder, nicht weit entfernt von Rasas Haus; und in seinem Kopf waren immer und immer wieder dieselben Gedanken gekreist.

Eins wußte er: Er konnte das alles nicht als Wahnsinn abtun. Vater war nicht verrückt, wie seltsam er auch erscheinen mochte; und was Mutter betraf, so mußte sie schon vor seiner Geburt wahnsinnig gewesen sein, falls ihre Vision der brennenden Erde Wahnsinn war. Also gab es wirklich etwas, das Ideen und Begehren und Visionen in die Köpfe seiner Eltern eingab – und auch in Luets Kopf, sie durfte er nicht vergessen. Die Menschen nannten dieses Etwas die Überseele, doch das war nur ein Name, eine Bezeichnung. Was war es? Was wollte es? Was konnte es tatsächlich bewirken? Warum sprach sie nicht zu allen Menschen, wenn es ihr doch möglich war, zu einigen zu sprechen?

Nafai blieb vor einer ziemlich breiten Straße vor dem vielleicht größten Haus in Basilika stehen. Er kannte es ziemlich gut, da der Kopf des Klans Palwaschantu Gefährte der Frau war, die dort wohnte. An ihren Namen konnte Nafai sich nicht erinnern: Sie war ein Niemand, alle wußten, daß sie dieses uralte Haus mit dem Geld ihres Gefährten gekauft hatte, und würde sie den Vertrag nicht erneuern, wäre sie selbst mit dem Haus noch immer ein Niemand – doch er war Gaballufix. Es bestand eine Familien Verbindung – seine Mutter war Hosni, die später Wetschiks Tantchen und Elemaks Mutter geworden war. Aufgrund dieser Blutsverbindung und der Tatsache, daß Vater vielleicht der zweitberühmteste Klansmann der Palwaschantu in Basilika war, hatten sie dieses Haus mindestens einmal, normalerweise aber zwei- oder dreimal pro Jahr besucht, solange Nafai zurückdenken konnte.

Als er dort stand und die Fassade dieses Wahrzeichens der Stadt betrachtete, wurde er plötzlich wach, weil er, ohne es zu wollen, jemanden auf der Straße erkannt hatte. Elemak hätte zu Hause eigentlich schlafen müssen – er war doch stets nachts gereist, oder? Und doch war er am hellichten Nachmittag hier. Einen Augenblick lang geriet Nafai in Panik und fragte sich, ob Elja vielleicht ihn suchte – war es möglich, daß Mutter sein Verschwinden aufgefallen war und sie sich Sorgen gemacht hatte und nun die ganze Familie die Stadt nach ihm durchkämmte?

Aber nein. Elemak suchte niemanden. Er bewegte sich zu beiläufig, zu gelassen. Sah sich überhaupt nicht um.

Und dann war er verschwunden.

Nein, er war in die Lücke zwischen Gaballufix’ Haus und dem benachbarten Gebäude gebogen. Also hatte er ein Ziel.

Nafai mußte wissen, was Elemak vorhatte. Er trottete die Straße entlang, bis er die schmale Gasse ungehindert einsehen konnte. Rechtzeitig bekam er mit, wie Elemak durch einen schmalen Seiteneingang Gaballufix’ Haus betrat.

Nafai konnte sich nicht vorstellen, was Elja mit Gaballufix zu schaffen hatte – und erst recht kamen ihm keine so dringenden Geschäfte in den Sinn, daß Elemak das Haus ausgerechnet an dem Tag, an dem er von einer langen Reise zurückgekehrt war, aufsuchen mußte. Sicher, rein formal war Gaballufix Eljas Halbbruder, doch sie waren sechzehn Jahre auseinander, und Gaballufix hatte Elja niemals öffentlich als seinen Bruder anerkannt. Das bedeutete jedoch nicht, daß sie sich nicht allmählich wie enge Verwandte benehmen konnten. Dennoch störte es, daß Elemak nie etwas davon erwähnt hatte und es offenbar geheimhalten wollte.

Ob ihn die Frage nun störte oder nicht, Nafai wußte, daß es eine sehr schlechte Idee war, Elemak direkt danach zu fragen. Wenn Elja wollte, daß sie wußten, was er mit Gaballufix zu schaffen hatte, würde er es ihnen sagen. Bis dahin würde er das Geheimnis bewahren.

Ein Geheimnis bewahren.

Luet hatte gewußt, daß Nafai in Eiadh verliebt war. Na ja, so geheim war es nun auch wieder nicht – Luet hatte es vielleicht aufgrund der Blicke bemerkt, die er ihr zuwarf. Doch auf dem Hof vor Mutters Haus hatte Luet gesagt: »Du bist der Bastard«, als habe sie sich revanchieren wollen, weil er sie Bastard genannt hatte. Doch er hatte gar nichts gesagt. Er hatte nur gedacht, daß sie ein Bastard war. Dieser Meinung hatte er nie zuvor Ausdruck verliehen. Er hatte es nur in diesem Augenblick gedacht, weil er sich über Luet geärgert hatte. Und doch hatte sie es gewußt.

War das auch die Überseele gewesen? Sie setzte den Leuten nicht nur Ideen in den Kopf, sondern nahm sie auch wieder heraus und verriet sie anderen Personen? Die Überseele lieferte nicht nur seltsame Träume – sie war auch ein Spitzel.

Nafai machte der Gedanke Angst, daß es die Überseele nicht nur tatsächlich gab, sondern daß sie auch die Macht hatte, seine geheimsten, flüchtigsten Gedanken zu lesen und sie einem anderen Menschen zu verraten. Und ausgerechnet so einer widerwärtigen Person wie diesem kleinen Bastard von Hexenmädchen.

Seine Angst war nicht geringer als damals, als er das erstemal allein ins Meer hinausgegangen war. Vater war mit ihnen in den Ferien an den Strand gefahren. Am ersten Nachmittag dort waren sie alle gemeinsam ins Wasser gegangen, und umgeben von seinem Vater und seinen Brüdern – außer Issib natürlich, der sie aus seinem Stuhl auf dem Strand beobachtet hatte – hatte er gespürt, wie die See mit ihm spielte, die Wellen ihn zum Ufer schoben und dann wieder hinauszuziehen versuchten. Es machte Spaß und war aufregend. Er wagte es sogar, so weit hinauszuschwimmen, daß seine Füße den Boden nicht mehr berührten, und dort mit Meb und Elja und Vater zu spielen. Ein guter Tag, ein schöner Tag, als seine älteren Brüder ihn noch mochten. Doch am nächsten Morgen stand er früh auf, verließ das Zelt und ging allein zum Wasser. Er konnte schwimmen wie ein Fisch; er war nicht in Gefahr. Und dennoch verspürte er ein unerklärliches Unbehagen, als als er ins Wasser hinausging. Das Wasser zerrte und zog an ihm; er war nur ein paar Meter vom Ufer entfernt, und doch war niemand sonst im Wasser, er war ganz allein, er kam sich vor, als gehörte er nicht hierher, als wäre er schon ins Meer hinausgespült worden, als befände er sich im Griff eines so riesigen Wesens, daß es ihn jederzeit verschlingen konnte. Er geriet in Panik. Er lief zum Ufer, kämpfte gegen das Wasser an, überzeugt, daß es ihn niemals loslassen würde, daß es an ihm zerrte, ihn nach unten zog. Und dann war er auf dem Sand, auf dem trockenen Sand oberhalb der Gezeitenlinie, und er fiel auf die Knie und weinte, weil er in Sicherheit war.

Doch in diesen wenigen Augenblicken im Wasser hatte er den Schrecken des Wissens gespürt, wie klein und hilflos er war, welche großen Mächte es auf der Welt gab und wie leicht sie mit ihm machen konnten, was sie wollten.

Das war die Furcht, die er nun verspürte. Nicht so stark, nicht so bestimmt wie an jenem Tag am Strand – aber andererseits war er auch keine fünf Jahre mehr alt, und er konnte besser mit der Furcht umgehen. Die Überseele war keine alte Legende, sie lebte, und sie konnte Visionen in die Köpfe seiner eigenen Eltern zwingen und Geheimnisse in Nafais Kopf finden und sie anderen Menschen verraten, Menschen, die Nafai nicht mochten und die er nicht mochte.

Das Schlimmste daran war die Erkenntnis, daß Luet ihn wahrscheinlich nicht mochte, weil die Überseele ihr seine Gedanken verraten hatte. Seine geheimsten Gedanken wurden diesem unsympathischen kleinen Ungeheuer bloßgelegt. Womit mußte er noch rechnen? Würde sich Vaters nächste Vision um Nafais Phantasien über Eiadh drehen? Oder noch schlimmer, würde Mutter sie sehen?

Am Strand hatte er zum Ufer laufen können. Wohin sollte er vor der Überseele fliehen?

Man konnte nicht vor ihr fliehen. Man konnte sich auch nicht verstecken – wie konnte man seine eigenen Gedanken so verkleiden, daß man nicht einmal selbst wußte, was man dachte?

Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er mußte herauszufinden versuchen, was die Überseele war, was sie wollte, was sie mit seiner Familie und mit ihm vorhatte. Er mußte lernen, die Überseele zu verstehen und sie dazu bringen, ihn in Ruhe zu lassen.

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