Issja hatte noch nie versucht, mit seinen Flossen so hoch zu steigen. Er wußte, daß sie auf seine Muskelanspannungen reagierten, daß die Schwebeflosse, die er am stärksten drückte, ihre Position in der Luft beibehielt. Doch er hatte immer angenommen, dies sei irgendwie auf den Erdboden direkt unter der Schwebeflosse bezogen. Er lag damit nicht völlig falsch – je höher er stieg, desto mehr neigten die Flossen dazu, nach unten zu ›rutschen‹ –, doch im großen und ganzen stellte er fest, daß er die Luft wie eine Leiter erklimmen konnte, bis er sich auf Dachhöhe befand.
Natürlich sahen alle zu ihm hinauf – aber das hatte er gewollt. Alle beobachten mich und sprechen über den jungen Krüppel, der zum Dach hinauf ›flog‹. Gaballufix’ Soldaten würden es nicht wagen, bei so vielen Zeugen auf ihn zu schießen, zumindest nicht vor der Haustür ihres Anführers.
Er sah sofort, daß sich niemand auf den Dächern befand, und so benutzte er sie als eine Art Straße und schwebte tief zwischen Abzugsöffnungen und Kaminen, Kuppeldächern und Fahrstuhlschächten, Dachfirsten und den Bäumen von Dachgärten. Einmal überraschte er einen alten Mann, der das Mauerwerk eines Giebels reparierte; das scheppernde Geräusch, mit dem ein Dachziegel zerbrach, beunruhigte Issib kurz, doch als er sich umdrehte, sah er, daß der Mann nicht abgestürzt war, sondern Issib mit offenem Mund anstarrte. Wird man sich heute abend eine Geschichte erzählen, fragte sich Issib, über einen jungen Halbgott, den man sah, wie er durch die Luft über Basilika flog, vielleicht, weil er sich in ein sterbliches Mädchen von betörender Schönheit verliebt hatte und unbedingt zu ihr wollte?
Da in dieser Gegend mehrere Straßen überbaut worden waren, war der Häuserblock außergewöhnlich lang. Es gelang ihm, über die Hälfte der Strecke zum Hinteren Tor zurückzulegen, ohne auf die Straßenebene hinab zu müssen. Es bestand natürlich die Möglichkeit, daß Gaballufix Attentäter an allen Stadttoren postiert hatte; und wenn er an irgendeinem Tor einen Hinterhalt gelegt hatte, dann bestimmt am Hinteren Tor, das sich seinem Haus am nächsten befand. Also konnte Issib es sich nicht erlauben, achtlos zu sein, sobald er sich auf der Straßenebene befand.
Doch bevor er die Dächer verließ, warf er einen sehnsuchtsvollen Blick zur roten Stadtmauer. Da er hoch oben schwebte, konnte er die Sonne noch sehen; sie wurde von der Mauer gespalten. Wenn ich einfach über die Mauer fliegen könnte … Doch er wußte, daß die Mauer mit komplizierten elektronischen Vorrichtungen gespickt war, einschließlich der Verteiler, die das Magnetfeld erzeugten, das seinen Flossen Energie lieferte. Hier kam er nicht herüber – der winzige Computer an seinem Gürtel konnte niemals die verwirrenden, entgegengesetzt verlaufenden Energieströme auf der Mauer neutralisieren.
Er erreichte das Ende eines Dachs und sank in die Menge hinab. Hier befand er sich am oberen Ende der Heiligen Straße, wo Männer erlaubt waren. Viele bemerkten natürlich seine Landung, doch als er die Straßenebene erreicht hatte, nahm er sofort eine sitzende Position ein und schwebte mit Kindesgröße durch den Verkehr. Soll ein Attentäter jetzt mal versuchen, mich zu erschießen, dachte er. Nach ein paar Minuten hatte er das Tor erreicht. Die Wächter erkannten seinen Namen in dem Augenblick, da der Daumenscanner ihn zeigte, und sie schlugen ihm auf den Rücken und wünschten ihm alles Gute.
Hier am Hinteren Tor erwartete ihn natürlich keine Wüste, sondern die Ausläufer des Pfadlosen Waldes. Rechts befand sich der dichte Forst, der die Nordseite Basilikas unpassierbar machte; links zerklüftete, mit Bäumen und Büschen bewachsene Flußtäler, die von den gut bewässerten Hügeln zu den ersten öden Felsen der Wüste hinabführten. Für einen normalen Menschen wäre die Strecke ein wahrer Alptraum, außer, er kannte den Weg – wie es bei Elemak bestimmt der Fall war. Für Issib kam es natürlich nur darauf an, den größten Hindernissen auszuweichen und langsam hinabzuschweben, bis die Stadt völlig außer Sicht war. Er richtete sich nach dem Stand der Sonne, bis er auf dem Wüstenplateau war; dann wandte er sich in südliche Richtung, überquerte die Trockene und die Wüsten-Straße, bis er, genau bei Sonnenuntergang, die Stelle erreichte, wo sie seinen Stuhl versteckt hatten.
Er hatte nun den Rand des Magnetfelds der Stadt erreicht, und unbeholfen manövrierte er sich in den Stuhl. Schließlich war alles, was mit dem Stuhl zu tun hatte, unbeholfen und begrenzt. Doch ein paar Vorteile hatte er. Es handelte sich um einen Allzweck-Stuhl für einen Krüppel, der über ein eingebautes Computer-Display verfügte, das mit dem der öffentlichen Hauptbibliothek der Stadt verbunden war und über mehrere verschiedene Interfaces für Menschen mit verschiedenen Behinderungen verfügte. Er konnte sogar gewisse Schlüsselwörter sagen, die der Stuhl verstand; er konnte sogar einigermaßen vernünftig klingende wichtige Begriffe in mehrere Dutzend fremde Sprachen übersetzen. Gäbe es keine Schwebeflossen, wäre der Stuhl wahrscheinlich sein kostbarster Besitz. Aber es gab Schwebeflossen. Wenn er sie trug, war er fast ein normaler Mensch und hatte darüber hinaus noch einige Vorteile. Wenn er sie nicht benutzen konnte, war er ein Krüppel ohne jegliche Vorteile.
Die Kamele warteten jedoch außerhalb des veränderbaren Einflusses des Magnetfelds der Stadt, und so mußte er den Stuhl benutzen. Er stieg hinein, schaltete die Flossen aus und schwebte mit dem Stuhl dann langsam durch schmale Schluchten, bis er die Kamele schließlich roch und dann auch hörte.
Es war noch keiner hier; er war der erste. Er fuhr die Räder des Stuhls aus, landete und saß dann da, wobei er abwechselnd auf Geräusche einer Ankunft lauschte und die Nachrichten der Bibliothek über ungeklärte Todesfälle oder andere Gewalttaten abfragte. Noch nichts. Doch es dauerte vielleicht eine Weile, bis die Zeitungsschreiber davon erfuhren. Seine Brüder mochten in diesem Augenblick im Sterben liegen oder schon tot sein, oder man hatte sie gefangengenommen und hielt sie fest, um irgendein Lösegeld zu erpressen. Was würde er dann tun? Wie konnte er darauf hoffen, nach Hause zu kommen? Es war unwahrscheinlich, daß der Stuhl ihn den ganzen Weg tragen würde – er war nicht für Fernreisen geschaffen. Er wußte aus Erfahrung, daß der Stuhl nur etwa eine Stunde lang betriebsbereit blieb; dann mußten sich seine Sonnenzellen mehrere Stunden lang neu aufladen.
Mutter wird mir helfen, dachte Issib. Wenn sie heute abend nicht zurückkommen, wird Mutter mit helfen. Falls ich zu ihr vordringen kann.
Mebbekew drängte sich durch die Menge. Er hatte mehrere Männer gesehen, die versuchten, an ihn heranzukommen, doch seine Erfahrung als Schauspieler hatte ihm ein gutes Gespür für Menschenmengen gegeben. Er nutzte das Gedränge geschickt gegen die Verfolger aus, wandte sich immer dorthin, wo die Menge am dichtesten war, und zwängte sich durch Lücken, die die Neuankömmlinge jeden Augenblick schließen würden. Bald waren die Attentäter hoffnungslos weit zurückgefallen. Dann begann Mebbekew, sich zu bewegen, ein gelassenes Traben, das nicht den Eindruck großer Eile erweckte, ihn jedoch schnell voranbrachte. Es sah aus, als liefe er aus reiner Freunde an der Sache, und das war ja auch irgendwie der Fall – doch seine Wachsamkeit ließ keinen Augenblick lang nach. Wann immer er Soldaten sah, hielt er direkt auf sie zu, der Theorie vertrauend, daß Gaballufix es nicht wagen würde, Männer, die eindeutig als die seinen zu identifizieren waren, am hellichten Tag und in aller Öffentlichkeit einen Mord durchführen zu lassen.
Nach einer halben Stunde hatte er die Puppenstadt erreicht, den Bezirk, den er am besten kannte. Hier gab es weniger Soldaten, und wenngleich sich in diesem Bezirk zahlreiche Kriminelle versteckten, gehörten sie doch zu der Sorte, die meistens nicht lange in Freiheit blieben. Meb kannte auch Leute, die diesen Teil der Stadt besser kannten als der Stadtcomputer selbst.
Vertraue keinem Mann, hatte Elemak gesagt. Na ja, das war kein Problem. Meb kannte zahlreiche Männer, doch befreundet war er nur mit Frauen. Seit er alt genug gewesen war, die praktischen Anwendungen des Unterschieds zwischen Männern und Frauen zu kennen, war das nie eine Frage für ihn gewesen. Er hatte fast gelacht, als er sechzehn wurde und Vater ihm ein Tantchen besorgte – es hatte ihm Spaß gemacht, so zu tun, als habe er von der Liebe keine Ahnung, als er zu ihr ging, doch nach ein paar Tagen schickte sie ihn weg und sagte dabei lachend, wenn er weiterhin zu ihr käme, würde er ihr Dinge beibringen, die sie eigentlich nicht unbedingt lernen wollte. Meb konnte es gut mit Frauen. Sie liebten ihn und wollten ihn nicht aufgeben, nicht, weil er es verstand, ihnen Vergnügen zu bereiten, sondern, weil er sich darauf verstand, Frauen so zuzuhören, daß sie wußten, daß er zuhörte; er wußte, was man mit ihnen besprechen mußte, damit sie sich zugleich unentbehrlich und behütet vorkamen. Natürlich mochten ihn nicht alle Frauen, doch die, die ihn mochten, mochten ihn sehr und auf Dauer.
Und so dauerte es in der Puppenstadt nur ein paar Minuten, bis Mebbekew auf der Musikstraße im Zimmer einer Zitherspielerin war, und noch ein paar Minuten, bis er in ihren Armen war, und noch ein paar Minuten, bis er in ihr war; danach unterhielten sie sich eine Stunde lang, und dann ging sie und vergewisserte sich der Hilfe einer Schauspielerin, die sie beide kannten und die Mebbekew ebenfalls mehr als nur ein wenig mochte. Kurz nach Anbruch der Dunkelheit ging Mebbekew, mit einer Perücke und Make-up und in einem Kleid, mit der Stimme und dem Gang einer Frau mit einer Gruppe lachender, singender Frauen durch das Musiktor. Erst, als er den Daumen auf den Scanner legte, wurde seine Verkleidung enttarnt, doch der Wächter, der seinen Namen las, blinzelte ihm nur zu und wünschte ihm eine gute Nacht.
Mebbekew behielt das Kostüm an, bis er den Treffpunkt erreicht hatte, und bedauerte dort nur, daß es Issib war, der ihn anstarrte und nicht erkannte, bis er etwas sagte, und nicht Elemak. Er hätte lieber seinem älteren Bruder einen Streich gespielt. Doch angesichts der Tatsache, daß man ihnen gerade ihr gesamtes Vermögen und auch Vaters Titel gestohlen hatte, wäre Elemak wahrscheinlich sowieso nicht zu Scherzen aufgelegt gewesen.
Elemak sah keinen einzigen Attentäter und hatte keine Schwierigkeiten, Hosnis Haus am Hinteren Tor zu erreichen. Da er befürchtete, daß ihm die Attentäter am Tor selbst auflauerten, schlich er sich verstohlen zu seiner Mutter. Sie servierte ihm eine wunderbare Mahlzeit – sie engagierte stets die besten Köche in Basilika –, hörte seiner Geschichte mitfühlend zu, stimmte mit ihm überein, daß die Welt wohl besser dran wäre, wenn sie mit Gaballufix eine Fehlgeburt erlitten hätte, und schickte ihn mehrere Stunden nach Anbruch der Dunkelheit mit etwas Gold in der Tasche, einem starken Messer am Gürtel und einem Kuß wieder los. Er wußte, daß Gaballufix sie an diesem Abend noch besuchen würde, um zu prahlen, wie er Volemaks Söhnen das Vermögen des Wetschik abgeluchst hatte. Mutter würde lachen und ihn loben. Sie war schnell zu begeistern und konnte sich über jede Kleinigkeit amüsieren. Eine fröhliche, aber völlig leere Frau. Elemak war überzeugt, daß Gaballufix von ihr die Moral, aber bestimmt nicht die Intelligenz mitbekommen hatte. Obwohl, um der Wahrheit Genüge zu tun, Rasa ihm einmal gesagt hatte, daß seine Mutter in Wirklichkeit sehr intelligent war – viel zu intelligent, um andere wissen zu lassen, wie intelligent sie war. »Es ist so, als befände man sich unter gefährlichen Fremden«, hatte Rasa gesagt. »Es ist viel besser, daß sie glauben, du verstündest ihre Sprache nicht, damit sie frei vor dir sprechen. So ist die liebe Hosni, wenn sie sich unter denen befindet, die sich für sehr intelligent und gebildet halten. Wenn sie wieder fort sind, verspottet sie sie gnadenlos.«
Wird sie mich vor Gaballufix verspotten, wie sie Gaballufix vor mir verspottet hat? Oder uns beide vor ihren Freundinnen lächerlich machen, wenn wir fort sind?
Am Tor erkannten die Wächter ihn sofort, salutierten erneut und boten ihm jede erdenkliche Hilfe an. Er dankte ihnen und ging dann in die Nacht hinaus. Selbst im Sternenlicht fand er problemlos die verschlungenen Wege, die vom Pfadlosen Wald zur Wüste führten. Während des dunklen Marsches konnte er an nichts anderes als seinen Zorn auf Gaballufix denken und das Geschick, mit dem er sie überlistet hatte, indem er Rasch auf seine Seite gezogen hatte. Er hörte in seinem Geist das Gelächter ihrer Mutter, als gelte es lediglich ihm. Er fühlte sich so hilflos, so völlig erniedrigt.
Und dann fiel ihm der schrecklichste Augenblick überhaupt ein, als sich Nafai so dumm in ihre Verhandlung eingemischt und Vaters gesamtes Vermögen weggegeben hatte. Wenn er das nicht getan hätte, wäre Raschgallivak wahrscheinlich nicht zum Schluß gekommen, daß sie des Wetschiks Vermögen unwürdig waren. Dann hätte er nicht gegen sie gehandelt, und sie hätten das Haus mit dem Vermögen und Vaters Titel verlassen können. Eigentlich hatte Nafai alles verspielt. Wäre Elemak allein gewesen, hätte er es vielleicht geschafft. Gaballufix hätte den Index herausgerückt und sich mit einem Viertel von Vaters Vermögen zufrieden gegeben – das war mehr Geld, als sich auch ein Gaballufix anderweitig beschaffen konnte. Nafai, der blöde, junge Trottel, der niemals das Maul halten konnte, der behauptete, selbst Visionen zu haben, damit Vater ihm seine Gunst schenkte, derjenige, der allein durch seine Geburt Gaballufix zu Vaters unerbittlichem Feind gemacht hatte.
Wäre er jetzt hier, würde ich ihn töten, dachte Elemak. Er hat mich mein Vermögen und meine Ehre und demzufolge meine gesamte Zukunft gekostet. Ihm fiel es nicht schwer, das Wetschik-Vermögen fortzugeben – es hätte ihm sowieso nie gehört. Es hätte mir gehört. Ich wurde dafür geboren. Ich wurde dafür ausgebildet. Ich hätte es verdoppelt und vervierfacht, immer und immer wieder, weil ich ein viel besserer Geschäftsmann bin, als Vater es je war oder sein könnte. Doch nun bin ich ein Exilant und Ausgestoßener, angeklagt des Diebstahls und bettelarm und ohne den Respekt des Mannes, der meine rechte Hand sein sollte, Raschgallivak.
Alles wegen Nafai. Alles ist seine Schuld.
Nafai lief in blinder Panik, ohne ein Ziel im Sinn. Erst, als er sich von der Menge gelöst hatte und auf einem freien Platz wiederfand, beruhigte er sich soweit, daß er darüber nachdenken konnte, wo er war und was er nun tun sollte. Er war im Alten Tanz, früher einmal eine so große Tanzfläche wie das Orchester in der Puppenstadt, das es vor vielen Jahrhunderten ersetzt hatte. Nun jedoch war die Fläche auf allen Seiten von Gebäuden umschlossen. Sie war nicht mehr kreisrund, und sogar der Halbkreis des Amphitheaters hatte sich zwischen den Häusern und Geschäften verloren. Doch eine freie Fläche war geblieben, und dort stand Nafai nun und betrachtete den Himmel, der im Westen rosa gepunktet und im Osten grau bis schwarz war. Es war fast völlig dunkel, und er hatte keine Ahnung, ob die Attentäter ihm noch folgten. Eins war jedoch sicher – in der Dunkelheit dieses Stadtteils konnte man viel leichter unbeobachtet einen Mord begehen. Seine ganze Flucht hatte ihn weiter denn je von einem sicheren Unterschlupf entfernt, und er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte.
»Nafai«, sagte die Stimme eines Mädchens.
Er drehte sich um. Es war Luet.
»Hallo«, begrüßte er sie. Aber er hatte keine Zeit zum Plaudern. Er mußte nachdenken.
»Schnell«, sagte sie.
»Schnell was?«
»Komm mit.«
»Kann ich nicht«, sagte er. »Ich habe etwas vor.«
»Ja«, sagte sie. »Du mußt mitkommen.«
»Ich muß aus der Stadt heraus.«
Sie packte ihn am Hemd und richtete sich auf die Zehenspitzen auf, zweifellos, um ihm in die Augen sehen zu können, doch sie bewirkte nur damit, daß sie wie eine Puppe von ihm hinabhing. Er lachte, doch sie fiel nicht in sein Lachen mit ein. »Hör zu, o du der Geschäftigste aller Männer«, sagte sie, »hast du vergessen, daß ich eine Seherin der Überseele bin?«
Er hatte es vergessen. Er hatte sogar vergessen, daß sie Vater vor Gaballufix’ Hinterhalt gerettet hatte, indem sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war. Er begriff, daß sie einige Zusammenhänge noch nicht kannte. »Elemak und Mebbekew waren in die Verschwörung verwickelt«, sagte er. »Aber ich glaube, Gaballufix hat sie über seine Ziele und Absichten belogen.«
Sie hatte keine Geduld für sein zusammenhangloses Geschwätz. »Glaubst du, darauf kommt es jetzt noch an? Sie suchen nach dir, Nafai. Ich habe es in einem Traum gesehen – ein Soldat mit blutigen Händen läuft durch die Straßen. Ich wußte, daß ich dich finden muß. Um dich zu retten.«
»Wie kannst du mich retten?«
»Komm mit mir«, sagte sie. »Ich kenne den Weg.«
Er hatte keinen besseren Plan. Wenn er versuchte, sich irgendeine Alternative einfallen zu lassen, wurde sein Geist ganz leer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Schließlich dämmerte ihm, daß es sich um eine Nachricht der Überseele handeln mußte. Sie wollte, daß er Luet begleitete. Sie hatte sie ihm geschickt, also mußte er ihr folgen, wohin auch immer sie ihn führte.
Sie nahm seine Hand, zog ihn vom Alten Tanz und über die Straße mit demselben Namen, bis sie die Stelle erreichten, wo sie schmaler wurde. Dort nahmen sie die Abzweigung nach links. »Wir haben unser Vermögen verloren«, sagte Nafai. »Das war auch meine Schuld. Abgesehen davon, daß Raschgallivak uns betrogen hat.«
»Halt die Klappe«, sagte sie. »Das ist keine gute Gegend.«
Sie hatte Recht. Es war dunkel, und die Straße führte zwischen alten, verfallenen und schmutzigen Häusern her. Es waren nur wenig Menschen unterwegs, und keiner schien bereit, ihnen ins Gesicht zu sehen.
Die Straße vollzog ein paar scharfe Biegungen, und dann fanden sie sich plötzlich auf der Frühlingsstraße wieder, dort, wo sie in den heiligen Wald führte. In diesem Moment sah Nafai vor ihm einen Trupp Soldaten, die Wache hielten, als wüßten sie, daß er dort auftauchen würde. Augenblicklich wirbelte er herum und sah dann auf der Straße, die sie gerade entlanggekommen waren, ein paar Männer, deren elektrische Klingen in der Dunkelheit leicht leuchteten.
»Gut gemacht, Njef«, sagte Luet verächtlich. »Sie hätten uns wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Aber jetzt haben wir uns verdächtig gemacht.«
»Die wissen genau, wer wir sind«, sagte er und deutete auf die Männer, die auf der dunklen Straße näher kamen.
»Na schön«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, den leichten Weg nehmen zu können, aber jetzt muß der andere hinhalten.«
Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn halb über die Frühlingsstraße, aber von der Stadt fort und hin zum heiligen Wald. Nafai wußte, daß dies das Dümmste war, was sie überhaupt tun konnte. In den Ausläufern des Waldes würde es überhaupt keine Zeugen geben. Die Attentäter konnten frei schalten und walten. Falls sie davon ausgehen sollte, daß Nafai ein besonderes Kampfgeschick hatte und die Meuchelmörder irgendwie entwaffnen oder töten konnte, würde sie schnell die traurige Wahrheit erfahren, daß er sich nie besonders für das Kämpfen interessiert und auch keine besondere Unterweisung darin erhalten hatte. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, jemandem bei einem Wutanfall geschlagen zu haben, nicht einmal seine älteren Brüder, da es schlußendlich die Angelegenheit nur verschlimmerte, sich auf eine Prügelei mit Meb oder Elemak einzulassen. Nafai mochte groß für sein Alter sein, der größte der Söhne des Wetschik, doch das half ihm bei einer Schlägerei auch nicht weiter.
Als sie in die Dunkelheit am Ende der Frühlingsstraße eindrangen, wurden die Attentäter kühner.
»Genau«, rief einer von ihnen – leise, aber so laut, daß Nafai und Luet ihn hören konnten. »In die Schatten. Dort werden wir uns unterhalten.«
»Wir haben nichts, was ihr stehlen könntet.« Luets Stimme klang, als wäre sie in Panik geraten, als würde sie zittern – doch aufgrund des ruhigen Griffes ihrer Hand wußte Nafai, daß sie keineswegs zitterte.
»In die Schatten«, wiederholte der Mann.
Also gehorchten sie ihm. Drangen in die Dunkelheit unter den Bäumen ein. Doch zu Nafais Überraschung blieben sie nicht stehen, wandten sich auch nicht in südliche Richtung, um den Wald zu umgehen und auf der nächsten Straße wieder in die Stadt zurückzukehren. Luet führte ihn genau in östliche Richtung. Tiefer in das verbotene Land hinein.
»Dorthin kann ich nicht gehen«, sagte er.
»Sei leise«, sagte sie. »Sie auch nicht, außer, wenn sie uns hören und dem Geräusch folgen.«
Er hielt seine Zunge im Zaum und folgte ihr. Nach einer Weile fiel der Boden ab, war jetzt kein sanft geneigter Hang mehr, sondern eine steile Klippe. Es war nicht einfach, Halt zu finden. Der Himmel war jetzt völlig dunkel, und obwohl schon viele Blätter abgefallen waren, warfen die Bäume noch tiefe Schatten. »Ich kann nichts sehen«, flüsterte er.
»Ich auch nicht«, erwiderte sie.
»Warte«, sagte er. »Lausche. Vielleicht folgen sie uns nicht mehr.«
»Sie sind stehen geblieben«, sagte sie. »Aber wir können nicht anhalten.«
»Warum nicht?«
»Ich muß dich aus der Stadt bringen.«
»Wenn man mich hier erwischt, wird man mich schrecklich bestrafen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Genau wie mich, weil ich dich hergebracht habe.«
»Dann bringe mich zurück.«
»Nein«, sagte sie. »Die Überseele will, daß wir diesen Weg nehmen.«
Doch es war ihnen unmöglich, sich weiterhin an den Händen zu halten – sie brauchten beide Hände, um die zerklüftete Klippe hinabsteigen zu können. Am Tag wäre der Abstieg nicht so gefährlich gewesen, doch in der Dunkelheit konnte jeder Fehltritt tödliche Folgen haben, und so mußten sie sehr vorsichtig sein. Wenigstens wuchsen die Bäume hier spärlicher, so daß sie im Sternenlicht etwas mehr ausmachen konnten. Zumindest, bis sie schließlich den Nebel erreichten.
»Jetzt müssen wir umkehren«, sagte er.
»Steige weiter hinab.«
»Im Nebel? Wir werden uns verirren, abstürzen und sterben.«
»Es ist ein gutes Zeichen«, sagte Luet. »Das bedeutet, daß wir mindestens auf halber Höhe zum See sind.«
»Du willst mich doch nicht zum See bringen!«
»Leise.«
»Warum stürze ich mich dann nicht einfach hinab und spare ihnen die Mühe, mich umzubringen?«
»Sei still, du dummer Mann. Die Überseele wird uns schützen.«
»Die Überseele ist ein Computer mit Satelliten, die Harmonie umkreisen. Sie verfügt über keine magischen Maschinen, die uns auffangen könnten, wenn wir stürzen.«
»Sie weist uns den Weg«, sagte Luet. »Zumindest hilft sie mir, ihn zu finden. Wenn du nur den Mund halten würdest, damit ich sie verstehe.«
Sie kletterten stundenlang durch den Nebel hinab – zumindest hatte Nafai diesen Eindruck –, erreichten schließlich jedoch den Grund des Tals. Gras auf einer Ebene, das dann Schlamm wich.
Warmem Schlamm. Nein, heißem Schlamm.
»Da wären wir«, sagte sie. »Wir können hier nicht ins Wasser – es steigt aus einer tiefen Spalte in der Erdhülle hinauf und ist so heiß, daß es kocht und Dampf abgibt. Wenn wir länger im Wasser blieben, selbst an der Küste, würde es uns das Fleisch von den Knochen kochen.«
»Wie könnt ihr Frauen dann überhaupt …«
»Wir beten am anderen Ende, wo der See von eiskalten Gebirgsbächen gespeist wird. Einige gehen in das kälteste Wasser. Aber bei den meisten stellen sich die Visionen ein, wenn sie dort schwimmen, wo sich das kalte und das heiße Wasser trifft. Eine turbulente Stelle, das Wasser schaukelt und wirbelt unablässig, verbrennt uns und läßt uns wieder frieren. Die Stelle, wo das Herz der Welt und ihre kälteste Oberfläche aufeinander stoßen. Die Stelle, wo die beiden Herzen einer jeden Frau zusammenwachsen.«
»Ich gehöre nicht hierher«, sagte Nafai.
»Ich weiß«, sagte Luet. »Aber die Überseele hat uns hierher geführt, also werden wir hier bleiben.«
Und dann geschah, was Nafai am meisten befürchtet hatte. Eine Frauenstimme, in nächster Nähe. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich eine Männerstimme gehört habe. Sie kam von dort.«
Laternen kamen näher, und viele Frauen. Ihre Füße erzeugten mit jedem Schritt sonderbare Geräusche im heißen Schlamm. Wie tief bin ich in den Schlamm eingesunken? fragte sich Nafai. Werden sie Schwierigkeiten haben, mich hinauszuziehen? Oder werden sie mich hier einfach lebendig begraben und den Schlamm entscheiden lassen, ob er mich kochen oder ersticken wird?
»Ich habe ihn hergebracht«, sagte Luet.
»Es ist Luet«, sagte eine alte Frau. Der Name wurde flüsternd durch die immer größer werdende Schar der Frauen weitergetragen.
»Die Überseele hat mich hierher geführt. Dieser Mann ist nicht wie andere Männer. Die Überseele hat ihn ausgewählt.«
»Gesetz ist Gesetz«, sagte die alte Frau. »Du mußt die Verantwortung selbst tragen, aber damit geht die Bestrafung nur von ihm auf dich über.«
Nafai sah, wie verkrampft Luet wirkte. Er begriff: Sie versteht die Überseele nicht besser als ich. Nach allem, was sie weiß, ist es der Überseele gleichgültig, ob sie lebt oder stirbt, ist sie vielleicht völlig zufrieden damit, meine sichere Flucht aus der Stadt mit Luetsieben erkauft zu haben.
»Nun gut«, sagte Luet. »Aber ihr müßt ihn zum Privattor bringen und ihn durch den Wald führen.«
»Du kannst uns nicht sagen, was wir tun müssen, Gesetzesbrecherin!« rief eine Frau. Aber andere brachten sie zum Schweigen. Nafai begriff, daß man Luet große Ehrfurcht entgegenbrachte, obwohl sie ein ungeheuerliches Verbrechen begangen hatte.
Dann rückte die Menge etwas auseinander, um eine Frau durchzulassen, die wie ein Geist aus dem Nebel auftauchte. Sie war nackt, und da sie sauber war, begriff Nafai einen Augenblick lang nicht, daß sie eine Wilde sein mußte. Erst, als sie dicht vor ihnen stand und an Luets Ärmel zerrte, erkannte Nafai, wie verwettert und trocken ihre Haut war, wie faltig und hager ihr Gesicht.
»Du«, flüsterte Luet.
»Du«, flüsterte die Wilde.
Dann wandte sich die heilige Frau aus der Wüste an die alte Frau, bei der es sich um die Anführerin dieser Richterinnen zu handeln schien. »Ich habe sie bereits bestraft«, sagte sie.
»Was meinst du damit?« sagte die alte Frau.
»Ich bin die Überseele, und ich sage, sie hat meine Strafe bereits erhalten.«
Die alte Frau sah Luet unsicher an. »Stimmt das, Luet?«
Nafai war erstaunt. War ihr Vertrauen in Luet so ungebrochen, daß sie sie aufforderten, eine Aussage zu bestätigen oder zu verneinen, die ihr das Leben kosten oder sie retten konnte, je nachdem, wie ihre Antwort ausfallen würde?
Ihr Vertrauen war gerechtfertigt, denn Luets Antwort brachte ihr keine besonderen Vorteile ein. »Diese heilige Frau hat mir nur eine Ohrfeige gegeben. Wie könnte das eine ausreichende Bestrafung für diesen Verstoß sein?«
»Ich habe sie hierher gebracht«, sagte die Wilde. »Ich ließ sie diesen Jungen herbringen. Ich habe ihm große Visionen gegeben, und ich werde ihm noch mehr geben. Ich werde Ehre in seinen Samen legen, und eine große Nation wird entstehen. Niemand möge ihn auf seinem Weg durch das Wasser und den Wald behindern, und was sie betrifft, so hat sie den Abdruck meiner Hand auf dem Gesicht gehabt. Wer kann sie berühren, nachdem ich sie geschlagen habe?«
»Das ist wahrhaftig die Stimme der Mutter«, sagte die alte Frau.
»Die Mutter«, flüsterten einige.
»Die Überseele«, flüsterten andere.
Die heilige Frau drehte sich wieder zu Luet um, hob die Hand und berührte die Lippen des Mädchens mit einem Finger. Luet küßte diesen Finger sanft, und einen Augenblick lang sehnte sich Nafai nach der Süße dieser Berührung. Dann veränderte sich der Gesichtsausdruck der Wilden. Eine hellere, strahlendere Seele schien in ihrem Gesicht gewesen zu sein und sie nun verlassen zu haben; sie schaute benommen und etwas verwirrt drein. Sie sah sich um, erkannte nichts und wanderte dann in den Nebel davon.
»War das deine Mutter?« flüsterte Nafai.
»Nein«, sagte Luet. »Die Mutter meines Körpers ist nicht mehr heilig. Doch in meinem Herzen sind alle diese Frauen meine Mutter.«
»Gut gesprochen«, sagte die alte Frau. »Wie wohlberedt dieses Kind doch ist.«
Luet neigte den Kopf. Als sie das Gesicht wieder hob, sah Nafai Tränen auf ihren Wangen. Er hatte keine Ahnung, was hier geschah, oder was es für Luet bedeutete; er wußte nur, daß sein und ihr Leben eine Zeitlang in Gefahr gewesen war und daß diese Gefahr nun vorüber war. Das reichte ihm.
Die Wilde hatte gesagt, niemand solle ihn auf seinem Weg durch das Wasser und den Wald behindern. Nach einer kurzen Diskussion kamen die Frauen zum Schluß, dies müsse bedeuten, daß er den See von dieser Stelle zum anderen Ufer überqueren sollte, vom heißen Ende zum kalten. Nafai hatte keine Ahnung, wieso sie dies den wenigen Worten der heiligen Frau entnehmen konnten, doch andererseits hatte er sich auch oft darüber gewundert, welchen Sinn die Priester den heiligen Schriften der Männerreligion entnehmen konnten. Sie warteten ein paar Minuten ab, bis mehrere Frauen sie vom Ufer aus riefen. Erst dann führte Luet ihn so nahe heran, daß er den See sehen konnte. Nun war klar, woher der Nebel kam – er hob sich als Dampfschichten aus dem Wasser; diesen Eindruck hatte er zumindest. Zwei Frauen in einem langen, niedrigen Boot brachten ihn zum Ufer; die eine ruderte, die andere saß an der Ruderpinne. Der Bug des Bootes war eckig und tief, doch da auf dem See kein Wellengang herrschte und sie gleichmäßig ruderten, schien keine Gefahr zu bestehen, daß das Boot dort Wasser aufnahm. Sie näherten sich dem Ufer, bis sie schließlich auf Grund liefen. Noch immer befanden sich mehrere Meter Wasser zwischen dem Boot und der Schlammfläche, auf der Nafai und Luet standen. Der Schlamm war mittlerweile schmerzhaft heiß, so daß Nafai oft von einem Fuß auf den anderen wechseln mußte, um sich nicht zu verbrennen. Wie würde es sein, durch das Wasser zu gehen?
»Gehe gleichmäßig«, sagte Luet. »Je weniger du spritzt, desto besser. Du darfst also nicht laufen. Du wirst sehen, wenn du einfach gleichmäßig weitergehst, wirst du bald im Boot sein, und der Schmerz wird schnell vergehen.«
Also hatte sie dies schon einmal gemacht. Nun gut, wenn Luet es ertragen konnte, konnte auch er es ertragen. Er machte einen Schritt auf das Wasser zu. Die Frauen stöhnten auf.
»Nein«, sagte sie schnell. »An diesem Ort bist du ein Kind und ein Fremder, und du mußt geführt werden.«
Ich, ein Kind? Im Vergleich zu dir? Aber dann begriff er, daß sie natürlich Recht hatte. Wie alt sie auch sein mochten, dies war ihr Ort, nicht der seine; hier war sie die Erwachsene und er das Kind.
Sie legte die Geschwindigkeit vor, zügig, aber nicht übereilt. Das Wasser verbrannte seine Füße, doch es war flach, und er spritzte kaum, wenngleich seine Bewegungen auch nicht so grazil und glatt wie die Luets waren. Nach einem Augenblick hatten sie das Boot erreicht, doch es kam Nafai wie eine Ewigkeit vor, wie tausend quälende Schritte, besonders als sie ins Boot stieg. Schließlich hatte sie es geschafft, und ihre Hand half ihm hinein, und er ging auf Füßen, die unter der Haut so heftig schmerzten, daß er Angst hatte, sie zu betrachten, weil er befürchtete, daß Fleisch wäre von den Knochen abgefallen. Doch dann schaute er hin, und die Haut sah ganz normal aus. Luet wischte ihm mit dem Saum ihres Rocks die Füße ab. Die Frau am Ruder stieß ein Ruderblatt in den Schlamm unter dem Wasser und drückte sie zurück; die Muskeln ihrer stämmigen Arme spannten sich dabei vor Anstrengung. Nafai sah Luet an und hielt ihre Hände fest, als sie durchs Wasser glitten.
Es war die seltsamste Reise in Nafais Leben. Der Nebel ließ alles magisch und unwirklich erscheinen. Große Felsen bäumten sich aus dem Wasser auf und wurden dann wieder verschluckt, als hätten sie einfach zu existieren aufgehört. Das Wasser wurde heißer und kochte an manchen Stellen sogar; diesen Stellen wichen sie aus. Das Boot wurde nicht warm, doch die Luft um sie herum war so heiß und feucht, daß sie schon bald völlig durchnäßt waren und die Kleidung ihnen auf den Körpern klebte. Nafai sah zum ersten Mal, daß Luet in der Tat frauliche Rundungen hatte; keine ausgeprägten, aber immerhin doch soviel, daß er sie nie wieder nur für ein Kind halten würde. Plötzlich schreckte er davor zurück, hier zu sitzen und ihre Hände zu halten, doch er hatte noch mehr Angst davor, sie loszulassen. Er mußte sie berühren, wie ein Kind in der Dunkelheit die Hand seiner Mutter hält.
Sie kamen schnell voran. Die Luft wurde kühler. Sie fuhren durch Untiefen mit steilen Klippen auf beiden Seiten, die, je höher sie emporstiegen, um so näher aneinanderzurücken schienen, bis sie sich schließlich im Nebel verloren. Nafai fragte sich, ob sie sich vielleicht in einer Höhle befanden oder das Sonnenlicht den Grund dieses tiefen Tals jemals erreichte. Dann wichen die Klippenwände wieder zurück, und der Nebel wurde etwas dünner. Gleichzeitig wurde das Wasser unruhiger. Nun gab es Wellen, und Strömungen erfaßten das Boot und schienen es drehen, von einer Seite zur anderen schaukeln zu wollen.
Die eine Frau hob die Ruder, die andere nahm die Hand von der Ruderpinne. Luet beugte sich vor. »Das ist der Ort, wo die Visionen kommen«, flüsterte sie. »Ich habe es dir gesagt – wo sich die Hitze und die Kälte treffen. Hier gleiten wir nackt durch das Wasser.«
Da es ihm unangenehmer war, Luet beim Ausziehen zu beobachten, als sich selbst auszuziehen, starrte er auf seine Hände, die seine Kleidung lösten und zusammenfalteten, wie Luet die ihre zusammengefaltet und ordentlich ins Boot gelegt hatte. Als er versuchte, sie irgendwie zu beobachten, ohne sie dabei zu sehen, begriff er nicht, wie es ihr gelang, so geräuschlos ins Wasser zu gleiten und dann bewegungslos auf dem Rücken zu treiben. Er sah, daß sie keinerlei Schwimmbewegungen machte, und als er sich – viel lauter – ebenfalls ins Wasser fallen ließ, blieb er einfach bewegungslos liegen. Das Wasser verfügte über einen erstaunlichen Auftrieb. Es bestand keine Gefahr unterzugehen. Die Stille war tief und mächtig; nur einmal sprach er, als er sah, daß sie von ihm abgetrieben wurde.
»Das macht nichts«, antwortete sie leise. »Sei still.«
Er war still. Nun war er allein im Nebel. Die Strömungen drehten ihn – oder vielleicht auch nicht, denn im Nebel verlor er jede Orientierung. Es war friedlich hier, ein Ort, an dem seine Augen sehen und doch nicht sehen, seine Ohren hören und doch nicht hören konnten. Die Strömung ließ ihn jedoch nicht schlafen. Er fühlte die heißen und kalten Strömungen unter seinem Körper, manchmal sehr heiß, manchmal sehr kalt, so daß er manchmal dachte: Ich halte das keinen Augenblick länger aus, ich muß schwimmen, oder ich werde sterben – und dann änderte sich die Strömung wieder.
Er sah keine Vision. Die Überseele sagte nichts zu ihm. Er lauschte. Er sprach sogar zu der Überseele, bat sie, ihn wissen zu lassen, wie er irgendwie in den Besitz des Index gelangen könnte, den zu holen Vater ihn geschickt hatte. Falls die Überseele ihn hörte, gab sie ihm kein Zeichen.
Er trieb ewig auf dem See. Oder vielleicht waren es nur ein paar Minuten, bevor er die leise Bewegung der Ruder im Wasser hörte. Eine Hand berührte sein Haar, sein Gesicht, seine Schulter, hielt dann seinen Arm fest. Er kam auf den Gedanken, den Kopf zu drehen, tat es dann auch und sah das Boot mit einer nun wieder bekleideten Luet, die nach ihm griff. Er hatte jede Schüchternheit vergessen, war nur froh, sie zu sehen, und gleichzeitig traurig darüber, das Wasser verlassen zu müssen. Als er ins Boot klettern wollte, stellte er sich nicht besonders geschickt an. Er brachte es arg ins Schwanken, und Wasser spritzte hinein.
»Roll dich hinüber«, flüsterte Luet.
Er legte sich im Wasser auf die Seite, hob ein Bein und einen Arm übers Schanzkleid und rollte sich hinüber. Es ging ganz leicht und fast geräuschlos vonstatten. Luet gab ihm seine Kleidung, die noch immer naß, mittlerweile aber sehr kalt war. Er zog sie an und erschauderte, als die Frauen das Boot in den furchtbar kalten Nebel ruderten. Luet erschauderte ebenfalls, schien sich aber nicht an der Kälte zu stören.
Endlich machten sie ein Ufer vor ihnen aus, an dem ebenfalls eine Gruppe Frauen wartete. Vielleicht hatten sie ein anderes Boot über den See genommen, ohne das Ritual zu vollziehen, nackt durch das Wasser zu schwimmen, oder vielleicht gab es eine Straße für Läuferinnen mit Nachrichten; die Frauen jedenfalls, die dort auf sie warteten, wußten, um wen es sich handelte. Erklärungen waren überflüssig. Luet ging erneut voraus, diesmal durch so kaltes Wasser, daß es in Nafais Knochen schmerzte. Sie erreichten festes Land und Frauenhände schlangen eine trockene Decke um ihn. Er sah, daß auch Luet gewärmt wurde.
»Der erste Mann, der das Wasser durchquert hat«, sagte eine Frau.
»Der Mann, der das Wasser der Frauen durchquert hat«, sagte eine andere.
Luet erklärte es ihm, wenngleich es ihr etwas peinlich zu sein schein. »Berühmte Prophezeiungen«, sagte sie. »Es gibt so viele davon, daß es nicht schwer ist, dann und wann eine davon zu erfüllen.«
Er lächelte. Er wußte, daß sie die Prophezeiungen viel ernster nahm, als sie nun zugab.
Ihm fiel auf, daß niemand sie fragte, was auf dem Wasser geschehen war; niemand fragte, ob sie eine Vision gehabt habe. Doch sie warteten gespannt, bis sie sagte: »Die Überseele spendete mir Trost, und das genügte.« Daraufhin zogen sich die meisten von ihnen zurück, doch einige wenige blieben und sahen Nafai an, bis er den Kopf schüttelte.
»Den leichten Teil haben wir überstanden«, sagte sie.
Er hielt es für einen Scherz, doch dann führte sie ihn durch das Private Tor, eine legendäre Öffnung in der roten Mauer, von der er bislang eigentlich gar nicht so recht geglaubt hatte, daß es sie gab. Es war ein geschwungener Durchgang zwischen zwei massiven Türmen, und statt Stadtwächtern befanden sich nur Frauen dort, die sie beobachteten. Er wußte, daß sich auf der anderen Seite der Pfadlose Wald befand. Schnell erfuhr er, daß er seinen Namen zu Recht trug. Als sie die Waldstraße erreichten, waren ihre Gesichter und auch ihre Arme und Beine mit Striemen überzogen.
»In dieser Richtung liegt das Hintere Tor«, sagte Luet. »Und durch eine beliebige dieser Schluchten erreichst du die Wüste. Wohin du von dort aus gehen wirst, weiß ich nicht.«
»Das reicht mir«, sagte Nafai. »Ich finde den Weg schon.«
»Ich habe getan, was die Überseele mir aufgetragen hat.«
Nafai wußte nicht, was er sagen sollte. Er kannte nicht einmal den Namen des Gefühls, das sich bei ihm eingestellt hatte. »Ich glaube, ich kenne dich nicht«, sagte er schließlich.
Sie sah ihn leicht verwirrt an.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte Nafai. »Ich glaube, ich habe dich zuvor nicht gekannt, obwohl ich glaubte, dich zu kennen. Und nun, da ich dich endlich kenne, kenne ich dich eigentlich überhaupt nicht.«
Sie lächelte. »Das bewirken diese Strömungen jedesmal«, sagte sie. »Erzähle niemandem, ob nun Mann oder Frau, was du diese Nacht getan hast.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst glaube, daß es mir wirklich zugestoßen ist.«
»Werden wir dich in Tante Rasas Haus wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai. »Ich weiß nur eins: daß ich nicht weiß, wie ich den Index beschaffen kann, ohne dabei getötet zu werden, und daß ich ihn trotzdem beschaffen muß.«
»Warte, bis die Überseele dir sagt, was du tun sollst«, sagte Luet, »und tue es dann.«
Er nickte. »Einverstanden, falls die Überseele mir wirklich etwas sagt.«
»Das wird sie«, sagte Luet. »Wenn etwas zu tun ist, wird sie es dir sagen.«
Dann streckte Luet die Hand aus, ergriff die seine und hielt sie kurz fest. Er erinnerte sich wieder daran, wie es sich angefühlt hatte, sich im See an sie zu klammern. Doch ihm war etwas peinlich zumute, und er zog die Hand zurück. Sie hatte ihn schwach gesehen. Sie hatte ihn nackt gesehen.
»Siehst du?« sagte sie. »Du vergißt bereits, wie es wirklich war.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte er.
Sie wandte sich ab und eilte die Straße zum Hinteren Tor entlang. Er wollte sie rufen und ihr sagen: Du hattest Recht, ich habe tatsächlich vergessen, wie es wirklich war, ich habe mich daran erinnert, als wäre ich noch der Junge, der ich vorher war, doch nun erinnere ich mich daran, daß ich nicht schwach oder nackt war, daß es nichts gibt, dessen ich mich schämen müßte. Es war, als wäre ich wie ein großer Held aus den Prophezeiungen über den magischen See geschritten, während du meine Führerin und Lehrerin warst, und als wir unsere Kleidung ablegten, war es nicht, als wären ein Mann und eine Frau nackt zusammen gewesen, sondern eher zwei Götter aus uralten Geschichten aus fernen Ländern, die ihre sterblichen Verkleidungen abgelegt und ihre glorreiche Unsterblichkeit enthüllt hatten, bereit, über den See des Todes zu schweben und unbeschadet die andere Seite zu erreichen.
Doch als ihm alles eingefallen war, was er sagen wollte, war sie schon um eine Biegung verschwunden.