Es war ein elender Tag in der Wüste, obwohl die Schlucht im Schatten lag und ständig eine Brise hindurchwehte. Kein Ort ist behaglich, dachte Nafai, wenn man darauf wartet, daß ein anderer eine Aufgabe erledigt, die man eigentlich selbst erledigen müßte. Schlimmer als die Hitze, als der Schweiß, der in seine Augen tropfte, als der Sand, der zwischen seinen Zähnen knirschte, war das hilflose Entsetzen, das Nafai jedesmal verspürte, wenn er daran dachte, daß man ausgerechnet Elemak anvertraut hatte, die Aufgabe der Überseele zu erledigen.
Nafai wußte natürlich, daß Elemak die Würfel manipuliert hatte. Er war nicht so dumm, um auf den Gedanken zu kommen, Elemak habe die Entscheidung dem Zufall überlassen. Obwohl er die Geschicklichkeit bewunderte, mit der Elja vorgegangen war, war er wütend auf ihn. Würde er überhaupt ernsthaft versuchen, den Index zu bekommen? Oder ging er in die Stadt und traf sich mit Gaballufix, um einen weiteren Verrat an Vater und damit an der Vormundschaft der Überseele über die Menschheit zu begehen?
Würde er überhaupt zurückkehren?
Dann endlich, am Spätnachmittag, erklang das Klappern und Scheppern von fallenden Steinen, und Elemak kletterte lautstark zu ihrem Versteck hinab. Seine Hände waren leer, doch seine Augen strahlten. Wir sind verraten worden, dachte Nafai.
»Er hat natürlich abgelehnt«, sagte Elemak. »Der Index ist wichtiger, als Vater uns gesagt hat. Gaballufix will ihn nicht hergeben – zumindest nicht umsonst.«
»Was will er dafür haben?« fragte Issib.
»Das hat er nicht gesagt. Aber er hat einen Preis. Er hat klargemacht, daß er ein Angebot hören will. Das Problem ist nur – wir müssen zu Vater zurück und uns von ihm Zugang zu seinen Geldmitteln geben lassen.«
Nafai gefiel das alles nicht. Woher sollten sie wissen, was Elemak und Gaballufix einander versprochen hatten?
»Den ganzen Weg wieder zurück, und auch noch mit leeren Händen«, sagte Mebbekew. »Weißt du was, Elja? Du kehrst zurück, und wir werden hier warten, bis du mit dem Kennwort zu Vaters Finanzen zurückkommst.«
»Genau«, sagte Issib. »Ich werde die Nacht nicht hier draußen in der Wüste verbringen, wenn ich in die Stadt gehen und meine Flossen benutzen kann.«
»Wie dumm seid ihr eigentlich wirklich?« sagte Elemak. »Begreift ihr nicht, daß die Dinge sich verändert haben?
Gabjas Truppen sind überall in der Stadt. Und Gaballufix ist nicht Vaters Freund. Und deshalb ist er auch nicht unser Freund.«
»Er ist dein Bruder«, sagte Mebbekew.
»Er ist niemandes Bruder«, sagte Elemak. »Ich kenne ihn besser als ihr alle, und ich kann euch versprechen, daß er uns in dem Augenblick umbringen läßt, da er uns zu Gesicht bekommt.«
Nafai war erstaunt, Elemak so reden zu hören. »Ich dachte, du hast gewollt, daß er Basilika führt.«
»Ich war der Ansicht, daß sein Plan in den bevorstehenden Kriegen die beste Hoffnung Basilikas war«, sagte Elemak. »Doch ich habe niemals angenommen, daß Gaballufix auf etwas anderes als seinen eigenen Vorteil aus war. Seine Soldaten sind in der ganzen Stadt – sie tragen irgendwelche Hologramm-Kostüme, die ihre gesamten Körper bedecken, so daß alle absolut identisch aussehen.«
»Ganzkörper-Masken!« rief Mebbekew. »Was für eine tolle Idee!«
»Das bedeutet«, sagte Elemak, »selbst wenn jemand sieht, wie einer von Gaballufix’ Soldaten ein Verbrechen begeht, kann niemand den Täter identifizieren.«
»Oh«, sagte Mebbekew.
»Und was wollen wir tun«, fragte Nafai, »wenn Vater uns Zugang zu seinem Geld gäbe? Wieso glaubst du, daß Gaballufix den Index verkaufen würde?«
»Denke einmal nach, Nafai. Selbst ein Vierzehnjähriger sollte zumindest etwas von Männerangelegenheiten verstehen. Gaballufix bezahlt zahlreiche Soldaten, Hunderte und aber Hunderte. Sein Vermögen ist groß, aber nicht so groß, daß er auf ewig damit weitermachen könnte, nicht ohne die Kontrolle über die Steuereinnahmen Basilikas. Vaters Geld würde da schon einen beträchtlichen Unterschied ausmachen. Im Augenblick braucht Gaballufix wahrscheinlich dringender Geld als das Prestige, den Index zu besitzen, von dem sowieso kaum jemand jemals gehört hat.«
Nafai schluckte Elemaks herablassenden Tadel herunter, als er erkannte, daß dessen Deutung der Dinge richtig war. »Dann steht der Index also tatsächlich zum Verkauf an.«
»Vielleicht«, sagte Elemak! »Also kehren wir zu Vater zurück und finden heraus, ob wir für den Index bezahlen sollten, und falls ja, wieviel. Dann gibt er uns Zugang zu seinen Finanzen, und wir kehren zurück und feilschen …«
»Und ich sage, du gehst zurück und läßt es mich auf eigene Faust in der Stadt versuchen«, sagte Mebbekew.
»Ich will heute abend nicht in meinem Stuhl sitzen«, sagte Issib.
»Ihr könnt nach unserer Rückkehr in die Stadt«, sagte Elemak.
»Wie dieses Mal? Du läßt uns genau wie jetzt hier warten, und wir kommen nie nach Basilika«, sagte Issib.
»Na schön«, sagte Elemak. »Ich kehre allein zurück und sage Vater, daß ihr ihn und seine Sache im Stich gelassen habt, weil ihr unbedingt in die Stadt wolltet, um herumzuschweben und zu vögeln.«
»Ich will nicht in die Stadt, um zu vögeln!« protestierte Issib.
»Und ich will nicht schweben«, sagte Mebbekew grinsend.
»Wartet mal«, sagte Nafai. »Es wird fast eine Woche dauern, um zu Vater zurückzukehren und uns die Erlaubnis zu holen. Wer weiß, was sich bis dahin alles verändert hat? Dann könnte in Basilika schon ein Bürgerkrieg ausgebrochen sein. Oder Gaballufix hat eine andere Geldquelle aufgetrieben und benötigt unsere Mittel nicht mehr. Wir müssen ihm jetzt ein Angebot machen.«
Elemak sah ihn überrascht an. »Ja, natürlich, das stimmt. Aber wir haben keinen Zugang zu Vaters Geld.«
Als Antwort sah Nafai Issib an.
Issib verdrehte die Augen. »Ich habe es Vater versprochen«, sagte er.
»Du meinst, du kennst Vaters Kennwort?« sagte Mebbekew.
»Er war der Ansicht, einer müßte es kennen, für einen Notfall. Wieso weißt du davon, Nafai?«
»Hör schon auf«, sagte Nafai. »Ich bin kein Narr. Bei deinen Forschungen hattest du Zugang zu Dateien der Stadtbibliothek, an die man ein Kind wie dich ohne die Genehmigung eines Erwachsenen niemals heranlassen würde. Daß Vater ihn dir gegeben hat, wußte ich allerdings nicht.«
»Na ja«, sagte Issib, »er hat mir nur den Eintrittskode gegeben. Den Rest habe ich dann gewissermaßen selbst herausgefunden.«
Mebbekew wurde wütend. »Die ganze Zeit habe ich wie ein Bettler in der Stadt gelebt, und du hattest Zugang zu Vaters gesamtem Vermögen?«
»Denk doch mal darüber nach, Meb«, sagte Elemak. »Wem sonst konnte Vater sein Kennwort anvertrauen? Nafai ist ein Kind, du bist ein Verschwender, und ich hatte mit ihm ständig Meinungsverschiedenheiten darüber, wie wir unser Geld investieren sollten. Issib hingegen – was soll er schon mit dem Geld anfangen?«
»Weil er also kein Geld braucht, bekommt er alles, was er will?«
»Hätte ich jemals sein Kennwort benutzt, um mir Geld zu verschaffen, hätte er es geändert, und deshalb habe ich es niemals benutzt«, sagte Issib. »Vielleicht hat er für sein Konto ja ein ganz anderes Kennwort – ich habe es niemals ausprobiert. Und ich werde es auch jetzt nicht ausprobieren; das könnt ihr also vergessen. Vater hat uns nicht befugt, das Familienvermögen anzuzapfen.«
»Er hat uns gesagt, die Überseele wolle, daß wir ihm den Index bringen«, sagte Nafai. »Versteht ihr denn nicht? Der Index ist so wichtig, daß Vater uns zurückschicken mußte, damit wir seinem Feind gegenübertreten, einem Mann, der ihn töten wollte …«
»Jetzt hör schon auf, Njef, das war Vaters Traum und nicht die Wirklichkeit«, sagte Mebbekew. »Gaballufix hatte nicht vor, Vater zu töten.«
»Doch, das hatte er«, sagte Elemak. »Er wollte Roptat und Vater umbringen und mir dann die Schuld in die Schuhe schieben.«
Mebbekews Mund klaffte auf.
»Er hatte vor, daß man meinen Pulsator – denjenigen, den ich dir geliehen habe, Mebbekew – neben Vaters Leiche findet. Wie überaus klug von dir, meinen Pulsator zu verlieren, Meb.«
»Woher weißt du das alles?« fragte Issib.
»Gaballufix hat es mir gesagt«, erwiderte Elemak. »Während er mich mit meiner Hilflosigkeit verspotten wollte.«
»Wenden wir uns an den Rat«, sagte Issib. »Wenn Gaballufix gestanden hat …«
»Er hat es mir gestanden, als wir allein in einem Zimmer waren. Mein Wort gegen seins. Es ist sinnlos, es jemandem zu sagen. Es würde nichts bringen.«
»Das ist die Gelegenheit«, sagte Nafai. »Heute abend, jetzt sofort. Wir gehen ins Haus, verschaffen uns Zugang zu Vaters Dateien in seiner Bibliothek und machen alle Vermögenswerte flüssig. Wir gehen zum Goldmarkt und kaufen Metallbarren und Obligationen und Schmuck und was weiß ich nicht alles, und dann gehen wir zu Gaballufix und …«
»Und er nimmt uns alles ab und läßt uns umbringen und wirft die zerhackten Stücke unserer Leichen in irgendeinen Abflußgraben außerhalb der Stadt, damit die Schakale sich daran gütlich halten«, sagte Elemak.
»Nein«, sagte Nafai. »Wir nehmen einen Zeugen mit -jemand, den er nicht anzurühren wagt.«
»Wen?« fragte Issib.
»Raschgallivak«, sagte Nafai. »Er ist nicht nur der Verwalter des Hauses Wetschik, er ist Palwaschantu, und er hat ein hohes Ansehen und einen guten Ruf. Wir nehmen ihn mit, er beobachtet alles, er bezeugt den Tausch von Vaters Vermögen gegen den Index, und wir gehen lebend wieder raus. Gaballufix mag vielleicht imstande sein, uns umzubringen, weil wir uns versteckt haben und Vater im Exil lebt, doch er wird es nicht wagen, Rasch anzurühren.«
»Du meinst, wir vier gehen zu Gaballufix? Gemeinsam?«
»In die Stadt?« fragte Mebbekew.
»Es ist kein schlechter Plan«, sagte Elemak. »Riskant, aber du hast Recht damit, daß wir jetzt sofort handeln müssen.«
»Dann gehen wir doch zum Haus«, sagte Nafai. »Wir können die Tiere die Nacht über hierlassen, oder? Issib und ich können in Vaters Bibliothek gehen und die Vermögenswerte transferieren, während du und Meb Rasch sucht und dorthin bringt, damit wir gemeinsam zu Gaballufix gehen können.«
»Wird Rasch mitmachen?« fragte Issib. »Ich meine, was ist, falls sich Gaballufix entscheidet, uns alle trotzdem zu töten?«
»Ja«, sagte Elemak. »Er ist ein Mann von einwandfreier Loyalität. Er wird seinen Verpflichtungen dem Haus Wetschik gegenüber niemals ausweichen.«
Es dauerte nur etwa eine Stunde. Am Spätnachmittag betraten sie alle den Goldmarkt und führten die letzten Transaktionen durch. Alle Vermögenswerte, die nicht in Grundbesitz gebunden waren, hatten sich auf Issibs Bankdatei gefunden – eigentlich der Bankdatei aller Brüder, eine Unterdatei von Vaters allumfassendem Konto. Falls jemand bezweifeln sollte, daß Issib befugt war, so hohe Summen auszugeben, war da immer noch Raschgallivak, der alles stumm beobachtete. Jeder wußte, daß es sich um einen legitimen Vorgang handeln mußte, wenn Rasch dabei war.
Der Betrag, um den es sich handelte, stellte die höchste bewegliche Einzelsumme in der jüngeren Geschichte des Goldmarkts dar. Kein Makler hatte genug Barren oder Juwelen oder Obligationen, um auch nur einen größeren Teil des Auftrags übernehmen zu können. Über eine Stunde lang, bis die Sonne hinter der roten Mauer stand und der Goldmarkt in den Schatten lag, kratzen die Makler untereinander die letzten Mittel zusammen, bis schließlich die gesamte Summe auf einem Tisch lag. Die Werte wurden transferiert; eine unglaubliche Summe wurde auf allen Computerdisplays von einem Feld ins andere bewegt – denn mittlerweile verfolgten erstaunt alle Makler den Vorgang. Die Barren wurden in drei Stofftücher geschlagen und zusammengebunden, die Juwelen wurden in Stoff gerollt und verstaut, die Obligationen wurden in Ledermappen gelegt. Dann wurden alle Pakete auf die vier Söhne des Wetschik verteilt.
Einer der Makler hatte bereits ein halbes Dutzend Stadtwachen herbeigerufen, die sie begleiten sollten, doch Elemak schickte sie fort. »Wenn die Wachen bei uns sind, wird jeder Dieb in Basilika auf uns blicken und uns erkennen, wohin wir uns auch wenden. Damit hätten wir unser Leben verwirkt«, sagte Elemak. »Wir gehen schnell und ohne Wachen, damit uns keiner bemerkt.«
Erneut sahen die Brüder Raschgallivak an, der billigend nickte.
Eine halbe Stunde durch die Stadt, dann standen sie endlich vor den Toren von Gaballufix’ Haus. Nafai bekam augenblicklich mit, daß sowohl Elemak als auch Mebbekew hier bekannt waren. Das galt auch für Raschgallivak – doch Rasch war im Palwaschantu-Klan gut bekannt, so daß es eine Überraschung gewesen wäre, wenn man ihn nicht erkannt hätte. Nur Nafai und Issib mußten vorgestellt werden, als sie vor Gaballufix im großen Salon dessen – nein, nicht seines, sondern des Hauses seiner Frau standen.
Gaballufix betrachtete Issib. »Also bist du derjenige, der fliegt«, sagte er.
»Ich schwebe«, sagte Issib.
»Das sehe ich«, sagte Gaballufix. »Rasas Söhne, alle beide.« Er sah Nafai in die Augen. »Sehr groß für einen so jungen Knaben.«
Nafai sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, Gaballufix’ Gesicht zu studieren. Eigentlich ein ganz gewöhnliches Gesicht. Nicht mehr ganz jung, obwohl jünger als Vater, der schließlich auch mit Gaballufix’ Mutter geschlafen hatte – oft genug, um Elemak zu zeugen. Zwischen Elja und Gaballufix war eine leichte Ähnlichkeit zu verzeichnen, aber keine sehr große, nur bei der dunklen Färbung ihres Haars und bei den Augen, die unter den dichten Brauen vielleicht etwas zu nah beieinander standen.
In den Augen waren sie sich am ähnlichsten, doch in den Augen unterschieden sie sich auch am meisten, denn ein Blick in Gaballufix’ Augen stellte genau das Gegenteil von Eljas scharfem Blick dar. Elemak war ein Mann der Tat und Kraft, ein Mann der Wüste, der Fremden und unbekannten Orten mit Mut und Zuversicht und Nachdruck entgegentrat. Gaballufix hingegen war ein Mann, der nirgendwo hinging und nichts tat; er ließ es sich lieber in seinem Wohnzimmer gutgehen und andere die Arbeit für ihn erledigen. Elemak ging in die Welt hinaus und veränderte sie, wo er wollte; Gaballufix blieb an Ort und Stelle und sog die Welt aus, leerte sie, um sich zu füllen.
»Also ist der Knabe sprachlos«, sagte Gaballufix.
»Zum ersten Mal in seinem Leben«, sagte Meb, und sie lachten nervös.
»Aus welchem Grund beehren die Söhne und der Verwalter des Wetschik mich mit diesem Besuch?«
»Vater wollte, daß wir Geschenke mit dir tauschen«, sagte Elemak. »Wir leben an einem Ort, an dem wir keine große Verwendung für Geld haben, doch Vater hat sich in den Kopf gesetzt – nein, die Überseele hat es ihm befohlen –, den Index mitzubringen. Wohingegen du, Gaballufix, keine große Verwendung für den Index hast – und vielleicht besser dazu geeignet wärest, einen Teil des Wetschik-Besitzes zu vermehren, als Vater es könnte, der fern der Stadt weilt.«
Es war eine eloquente, der Wahrheit entsprechende und gleichzeitig völlig trügerische Rede, und Nafai bewunderte sie. Niemand bezweifelte hier, daß es um einen Verkauf ging, und doch wurde er geschickt als Austausch von Geschenken getarnt, so daß niemand offen Gaballufix anklagen konnte, den Index verkauft, oder Vater, ihn gekauft zu haben.
»Mein Verwandter Wetschik ist viel zu großzügig zu mir«, sagte Gaballufix. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich ihm von großem Nutzen bin, wenn ich einen unbeträchtlichen Teil seines großen Vermögens verwalte.«
Als Antwort trat Elemak vor und rollte ein schweres Paket Platinbarren auf. Gaballufix nahm einen Barren und wog ihn in der Hand. »Ein sehr schöner Gegenstand«, sagte er. »Und doch weiß ich, daß es sich dabei um einen so winzigen Bruchteil des Wetschik-Vermögens handelt, daß ich es nicht ertragen könnte, meinem Verwandten einen so kleinen Gefallen zu tun, während ich ihm die schwere Last aufbürde, den Palwaschantu-Index zu hüten.«
»Das ist nur ein Beispiel«, sagte Elemak.
»Sollte man mir dann nicht zeigen, wieviel ich insgesamt behüten soll?«
Elemak entfernte den Rest des Schatzes, den er am Leib trug, und legte ihn auf den Tisch. »Vater würde es bestimmt nicht wagen, dir eine größere Last aufzubürden.«
»So eine kleine Last«, sagte Gaballufix. »Ich würde mich schämen, wäre das die gesamte Hilfe, die ich meinem Verwandten geben kann.« Doch Nafai sah, daß Gaballufix’ Augen angesichts von soviel Reichtum auf einem Haufen leuchteten.
»Ich glaube, das ist genug.«
»Dann könnte ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, meinem Verwandten die Last des Indexes aufzubürden«, sagte Gaballufix.
»Nun gut«, entgegnete Elemak. Er griff nach den Barren und begann, sie wieder einzurollen.
Ist das alles? dachte Nafai. Geben wir so leicht auf? Sehe ich als einziger, daß Gaballufix nach dem Geld giert? Daß er verkaufen wird, wenn wir ihm nur etwas mehr anbieten?
»Warte«, sagte Nafai. »Wir können hinzufügen, was ich bei mir habe.«
Nafai war sich bewußt, daß Elemak ihn anfunkelte, doch es war undenkbar, dem Ziel so nahe zu kommen und dann aufzugeben. Begriff Elemak nicht, daß der Index wichtig war? Viel wichtiger als Geld, das stand fest. »Und wenn das nicht reicht, hat Issib noch mehr«, sagte Nafai. »Zeige es ihm, Issib. Laß mich es ihm zeigen.«
In einem Augenblick hatte er das Angebot verdreifacht.
»Ich fürchte«, sagte Elemak mit eisiger Stimme, »daß mein jüngerer Bruder dir unüberlegt eine viel größere Last auferlegt hat, als ich sie dir jemals aufbürden würde.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Gaballufix. »Dein jüngerer Bruder hat viel genauer eingeschätzt, welche Last zu tragen ich bereit bin. Ich glaube sogar, läge auch noch das letzte Viertel dessen, was ihr in mein Haus getragen habt, auf diesem Tisch, könnte ich meinem lieben Verwandten die schwere Verantwortung aufbürden, den Palwaschantu-Index zu hüten.«
»Ich sage, es ist zu viel«, erwiderte Elemak.
»Dann verletzt du meine Gefühle«, sagte Gaballufix, »und ich sehe keinen Grund, dieses Gespräch fortzusetzen.«
»Wir sind wegen des Index hier«, sagte Nafai. »Wir sind hier, weil die Überseele es verlangt.«
»Dein Vater ist berühmt für seine Heiligkeit und seine Visionen«, sagte Gaballufix.
»Wenn du bereit bist, alles zu akzeptieren, was wir haben«, sagte Nafai, »legen wir dir es gern auf den Tisch, um den Willen der Überseele zu erfüllen.«
»Im Tempel wird man sich lange an diesen Gehorsam erinnern«, sagte Gaballufix. Er sah Mebbekew. »Oder wird Nafais Heiligkeit nicht von der seines Bruders Mebbekew erreicht?«
Unentschlossen sah Mebbekew zwischen Elemak und Gaballufix hin und her.
Doch es war Elemak, der schließlich handelte. Er griff zum Tisch und rollte die Barren wieder ein.
»Nein!« rief Nafai. »Wir werden jetzt keinen Rückzieher machen!« Er hielt Mebbekew die Hand hin. »Du weißt, was Vater von dir verlangen würde.«
»Wie ich sehe, hat nur der jüngste Bruder das wahre Verständnis«, sagte Gaballufix.
Mebbekew trat vor und legte Pakete auf den Tisch. Während er dies tat, spürte Nafai Elemaks Griff auf seiner Schulter; die Finger gruben sich tief in sein Fleisch, und Elemak flüsterte ihm ins Ohr: »Ich habe dir gesagt, du sollst die Verhandlung mir überlassen. Du hast ihm viermal soviel gegeben, wie wir hätten zahlen müssen, du kleiner Narr. Wegen dir haben wir jetzt nichts mehr.«
Nur den Index, dachte Nafai. Doch verschwommen sah er ein, daß Elemak vielleicht wirklich besser wußte, wie man diesen Handel abwickeln mußte, und er vielleicht besser den Mund gehalten und Elja die Sache überlassen hätte. Doch als er gesprochen hatte, war er felsenfest überzeugt gewesen, daß er etwas unternehmen mußte oder sie den Index niemals bekommen hätten.
Das gesamte Wetschik-Vermögen bis auf das Land und die Gebäude lag auf Gaballufix’ Tisch.
»Reicht das?« fragte Elemak trocken.
»Gerade eben«, sagte Gaballufix. »Gerade eben, um zu beweisen, daß Volemak der Wetschik die Palwaschantu endgültig verraten hat. Er hat dieses große Vermögen Kindern in die Hände gegeben, die sich mit kindischer Dummheit entschlossen haben, es mit dem Erwerb des einen Gegenstandes zu verschwenden, von dem jeder echte Palwaschantu weiß, daß er niemals verkauft werden kann. Der Index, der heilige Schatz der Palwaschantu – hat Volemak geglaubt, er könne ihn kaufen? Nein, unmöglich, das kann er nicht! Ich kann daraus nur schließen, daß er entweder den Verstand verloren hat oder ihr ihn getötet und seine Leiche irgendwo verscharrt habt.«
»Nein!« rief Nafai.
»Deine Lügen sind obszön«, sagte Elemak, »und wir werden sie nicht hinnehmen.« Er trat vor und schickte sich ein drittes Mal an, den Schatz wieder an sich zu nehmen.
»Dieb!« schrie Gaballufix.
Plötzlich wurden die Türen geöffnet, und ein Dutzend Soldaten betraten den Raum.
»Glaubst du, du kannst so etwas in der Anwesenheit Raschgallivaks tun?« fragte Elemak.
»Ich bestehe darauf, es in seiner Anwesenheit zu tun«, sagte Gaballufix. »Was glaubst du denn, wer zuerst mit der Nachricht zu mir kam, daß Volemak das Vertrauen des Wetschik verrät? Daß Volemaks Söhne das Wetschik-Vermögen aus einer Laune heraus verschwenden?«
»Ich diene dem Haus des Wetschik«, sagte Raschgallivak. Er sah nacheinander alle vier Brüder an, und sein Gesicht war eine Maske der Trauer. »Es kann nicht im Interesse dieses großen Hauses liegen, daß das Vermögen von einem Verrückten verschwendet wird, der glaubt, Visionen zu sehen. Gaballufix konnte kaum glauben, was ich ihm erzählte, doch er stimmte mit mir überein, daß das Vermögen des Wetschik in die Obhut eines anderen Zweigs der Familie überstellt werden muß.«
»Als Chef des Palwaschantu-Klans«, sagte Gaballufix feierlich, »erkläre ich hiermit, daß Volemak und seine Söhne sich als ungeeignete und unzuverlässige Hüter des größten Hauses des Klans erwiesen haben und damit für alle Zeit als Erben und Besitzer des Hauses Wetschik abgesetzt werden. Und in Anerkennung der Jahre treuer Dienste, die er selbst als auch seine Vorfahren jahrhundertelang geleistet haben, gewähre ich hiermit Raschgallivak die befristete Obhut über das Wetschik-Vermögen und den Gebrauch des Namens Wetschik. Er möge sich um alle Angelegenheiten des Hauses Wetschik kümmern, bis der Klans-Rat eine endgültige Entscheidung verfügt. Was Volemak und seine Söhne betrifft, so werden sie, falls sie versuchen, gegen diese Entscheidung zu protestieren oder sie anzufechten, als Blutfeinde der Palwaschantu betrachtet und nach Gesetzen abgeurteilt, die älter sind als die der Stadt Basilika.« Gaballufix beugte sich über den Tisch vor und bedachte Elemak mit einem Lächeln. »Hast du das alles verstanden, Elja?«
Elemak sah Raschgallivak an. »Ich habe verstanden, daß der loyalste Mann Basilikas jetzt der schlimmste Verräter ist.«
»Ihr seid die Verräter«, sagte Rasch. »Dieser plötzliche Wahnsinn der Visionen, eine völlig unprofitable Reise in die Wüste, der Verkauf aller Tiere, die Entlassung aller Arbeiter, und nun das – als Verwalter des Hauses Wetschik hatte ich keine andere Wahl, als den Klans-Rat einzuschalten.«
»Gaballufix ist nicht der Klans-Rat«, sagte Elemak. »Er ist ein gemeiner Dieb, und du hast ihm unser Vermögen in die Hände gespielt.«
»Ihr habt ihm das Vermögen in die Hände gelegt«, sagte Raschgallivak. »Begreift ihr denn nicht, daß ich dies für euch getan habe? Für euch alle? Der Rat wird mich ein paar Jahre lang als Hüter einsetzen, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und wenn sich dann einer von euch als nüchterner und völlig zuverlässiger Mann erwiesen hat, der der Verantwortung würdig ist, wird euch der Name und das Vermögen zurückgegeben.«
»Es wird kein Vermögen mehr übrig sein«, sagte Elemak. »Gabja wird es noch im Verlauf dieses Jahres für seine Soldaten ausgeben.«
»Keineswegs«, sagte Gaballufix. »Ich übertrage es Rasch, der weiterhin als Verwalter fungieren wird.«
Elemak lachte verbittert. »Als Verwalter, der es so einsetzen muß, wie der Rat es verfügt. Und was wird der Rat verfügen? Du wirst es erleben, Rasch, und zwar sehr schnell – denn der Rat hat bei all den Soldaten, die er bezahlt, schon jetzt ein paar gewaltige Ausgaben.«
Raschgallivak schaute ziemlich unbehaglich drein. »Gaballufix hat erwähnt, daß ein kleiner Teil des Vermögens vielleicht für aktuelle Ausgaben verwendet werden muß, doch dein Vater hätte es sowieso dem Klan zur Verfügung gestellt, wäre er noch bei Sinnen.«
»Er hat dich zum Narren gehalten«, sagte Elemak, »und mich auch. Uns alle.«
Rasch sah eindeutig besorgt Gaballufix an. »Vielleicht sollten wir den Rat zusammenrufen«, sagte er.
»Der Rat hat bereits getagt«, sagte Gaballufix.
»Wie hoch sind die Klanausgaben?« fragte Raschgallivak.
»Bescheiden«, sagte Gaballufix. »Mach dir darüber keine Sorgen. Oder willst du dich als genauso unzuverlässig wie Volemak und seine Söhne erweisen?«
»Siehst du?« sagte Elemak. »Es fängt schon an. Tue, was Gabja will, oder du wirst nicht mehr Verwalter des Wetschik-Vermögens sein.«
»Gesetz ist Gesetz«, sagte Gaballufix. »Und nun ist es an der Zeit, daß diese nichtswürdigen jungen Verschwender mein Haus verlassen, bevor ich sie des Mordes an ihrem Vater beschuldige.«
»Bevor wir noch etwas sagen, das Rasch helfen wird, die Wahrheit zu erkennen, meinst du«, sagte Elemak.
»Wir werden gehen«, sagte Mebbekew. »Aber dieses Geschwätz über den Palwaschantu-Klans-Rat und Raschgallivak als Wetschik ist Rattenpisse. Du bist ein Dieb, Gabja, ein verlogener Dieb und Mörder, der Roptat und Vater getötet hätte, hätten wir die Stadt nicht so schnell verlassen, wie wir es getan haben, und wir werden unser Familienvermögen nicht in deinen blutigen Händen lassen!«
Mit diesen Worten machte Mebbekew einen Satz und ergriff einen Beutel Juwelen.
Augenblicklich hatten die Soldaten sie alle vier gepackt. Die Juwelen flogen aus Mebs Händen, und ohne besondere Rücksichtnahme wurden alle vier aus dem Salon und zur Eingangstür gezerrt und auf die Straße geworfen.
»Verschwindet von hier!« rief ein Soldat. »Diebe! Mörder!«
Bevor Nafai wußte, wie ihm geschah, war Mebbekew ihm an die Kehle gegangen. »Du mußtest ihm ja unbedingt den ganzen Schatz auf den Tisch legen!«
»Er hätte ihn sich sowieso genommen«, protestierte Nafai.
»Seid ruhig, ihr Narren«, sagte Elemak. »Das ist noch nicht vorbei. Unser Leben ist kein Staubkorn mehr wert – wahrscheinlich warten seine Männer keine fünfzig Meter entfernt, um uns aufzulauern und zu töten. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, uns zu trennen und zu laufen. Bleibt nicht stehen. Und vergeßt nicht – etwas, das Rasa mir heute gesagt hat – vertraut keinem Mann.« Er sagte es erneut und veränderte leicht die Betonung. »Vertraut keinem Mann. Wir treffen uns heute abend an der Stelle, wo die Kamele sind. Jeder, der bei Ende der Morgendämmerung nicht dort ist, muß als tot gelten. Jetzt lauft – aber nicht zu irgendeinem Ort, von dem sie erwarten, daß ihr dort Schutz sucht.«
Damit lief Elemak in nördliche Richtung los. Nach einigen wenigen Schritten drehte er sich um. »Lauft, ihr Narren! Seht doch – sie geben den Attentätern schon Zeichen!«
Nafai hatte ebenfalls gesehen, daß einer der Soldaten auf der Treppe von Gaballufix’ Haus einen Arm gehoben hatte und mit dem anderen auf sie zeigte. »Wie schnell bist du mit diesen Flossen?« fragte er Issib.
»Schneller als du«, antwortete der. »Aber nicht schneller als ein Pulsator.«
»Die Überseele wird uns schützen«, sagte Nafai.
»Na klar«, sagte Issib. »Und jetzt lauf schon, du Narr.«
Nafai zog den Kopf ein und stürzte sich in den dichtesten Teil der Menge. Er war auf der Brunnenstraße hundert Meter in südliche Richtung gelaufen, als er sich umwandte und sah, warum die Leute hinter ihm erstaunt riefen und schrien: Issib hatte sich etwa zwanzig Meter hoch in die Luft erhoben und verschwand gerade über dem Dach des Hauses, das dem Gaballufix’ direkt gegenüber lag. Ich wußte gar nicht, daß er das kann, dachte Nafai.
Als er dann wieder loslief, kam ihm in den Sinn, daß Issib es wahrscheinlich auch nicht gewußt hatte.
»Da ist einer«, sagte eine barsche Stimme. Plötzlich tauchte ein Mann vor ihm auf, eine elektrische Klinge in der Hand. Eine Frau schrie auf; Passanten stoben auseinander. Doch fast ohne zu wissen, daß er es wußte, konnte Nafai die Gegenwart eines Mannes unmittelbar hinter ihm spüren. Wenn er vor der Klinge vor ihm zurückschreckte, würde er dem wirklichen Attentäter hinter ihm direkt in die Arme laufen.
Also sprang Nafai vor. Sein Feind hatte nicht erwartet, von einem unbewaffneten Jungen angegriffen zu werden -der Hieb mit dem Messer ging weit fehl. Nafai rammte dem Mann scharf das Knie zwischen die Beine und stieß ihn zurück. Der Mann schrie. Dann stieß Nafai ihn endgültig aus dem Weg und rannte weiter, ohne zurückzuschauen, sondern nur nach vorn zu sehen, um den Leuten ausweichen zu können und auf den leuchtenden roten Glanz einer weiteren Klinge zu achten – oder den heißen, weißen Strahl eines Pulsators.