10 Zelte

Wetschik hatte seine Zelte fern von jeder Straße aufgeschlagen, in einem schmalen Flußlauf in der Nähe des Ufers des Rumensees. Sie hatten das Tal beim Sonnenuntergang erreicht, gerade, als eine Pavianherde ihren Futterplatz in der Nähe der Flußmündung verließ und zu ihren Schlafnischen in den steilsten, zerklüftetsten Klippen der Talmauer zurückkehrte. Das Rufen und Schreien der Paviane hatte sie auf der letzten Etappe ihrer Reise begleitet, und Elemak war darauf bedacht, sie ein Stück flußaufwärts zu führen, fort von den Tieren. »Damit wir sie nicht stören?« fragte Issib.

»Damit sie unser Wasser nicht verschmutzen und unser Essen nicht stehlen«, sagte Elemak.

Bevor Vater ihnen erlaubte, die Kamele von ihren Lasten zu befreien und zu tränken, bevor sie selbst etwas aßen oder tranken, richtete er sich auf seinem Reittier auf und deutete zum Fluß. »Seht – wir haben das Ende der Trockenzeit, und es befindet sich noch Wasser in ihm. Von jetzt an wird dieser Ort Elemak heißen. Ich nenne ihn nach dir, meinem ältesten Sohn. Sei wie der Fluß, damit der Sinn deines Lebens darin liegt, immer zum großen Meer der Überseele zu fließen.«

Nafai warf Elemak einen Blick zu und stellte fest, daß er den salbungsvollen Vortrag mit Würde hinnahm. Es war ein ehrwürdiger Augenblick, einem Ort einen Namen zu geben, und selbst wenn Vater auch zu salbungsvoll sprechen mochte, wußte Elemak, daß es eine Ehre war, eine Anerkennung.

»Und was dieses grüne Tal betrifft«, sagte Vater, »nenne ich es Mebbekew, nach meinem zweiten Sohn. Sei wie dieses Tal, Mebbekew, ein fester Kanal, durch den die Wasser des Lebens fließen können und in dem Leben Wurzeln schlagen und gedeihen kann.«

Mebbekew nickte ernst.

Es war nichts mehr übrig, das er nach Issib und Nafai nennen konnte. Nach kurzer Stille erklang Vaters Stöhnen, als das Kamel niederkniete, damit er absteigen konnte. Erst nach Anbruch der Dunkelheit hatten sie die Zelte endlich aufgeschlagen, die Skorpione hinausgefegt und die Abstoßer aufgestellt. Drei Zelte – Vaters natürlich, das größte, obwohl er allein darin schlief. Das zweitgrößte für Elja und Meb. Und das kleinste für Issib und Nafai, obwohl Issibs Stuhl beträchtlichen Platz in Anspruch nahm.

Nafai konnte nicht umhin, über diese Ungerechtigkeiten zu grübeln, und als Issib ihn schließlich in der Dunkelheit des Zeltes fragte, worüber er nachdachte, verlieh er seinem Abscheu Ausdruck. »Er benennt den Fluß und das Tal nach ihnen, obwohl Elemak doch mit Gaballufix zusammengearbeitet hat und Mebbekew all diese schrecklichen Dinge zu ihm gesagt und das Haus verlassen und noch einiges mehr getan hat.«

»Und?« fragte Issib, verständnisvoll wie immer.

»Und jetzt hocken wir hier im kleinsten Zelt. Wir haben zwei Ersatzzelte dabei, noch nicht ausgepackt, die beide größer sind als dieses hier.« Nachdem sich Nafai ausgezogen hatte, half er nun seinem Bruder dabei -ohne die Schwebeflossen schaffte er es nicht allein.

»Vater hat damit eine Erklärung abgegeben«, sagte Issib.

»Ja, und ich habe sie gehört, und sie gefällt mir nicht. Er hat gesagt: Issib und Nafai, ihr seid nichts

»Was sollte er denn machen, eine Wolke nach uns benennen?« Issib verstummte kurz, während Nafai ihm das Hemd über den Kopf zog. »Oder sollte er einen Busch nach dir nennen?«

»Mir ist es egal, was er nach wem nennt, ich lege nur auf Gerechtigkeit wert.«

»Denke doch einmal vernünftig darüber nach, Nafai. Vater bewertet seine Söhne nicht von Stunde zu Stunde danach, wer ihm den größten Gehorsam leistet oder am besten hilft oder am höflichsten ist. Für die Vergabe der Zelte war eine klare Rangordnung ausschlaggebend.« Nafai legte seinen Bruder auf dessen Matte am hinteren Ende des Zelts. »Die Tatsache, daß Elja kein eigenes Zelt bekommen hat, sondern eins mit Meb teilen muß«, sagte Issib, »rückt ihn zurecht und erinnert ihn daran, daß nicht er der Wetschik ist, sondern nur dessen Sohn. Doch indem er uns in ein so winziges Zelt gesteckt hat, verrät er Elja und Meb, daß er sie schätzt und als seine ältesten Söhne ehrt. Damit tadelt und ermutigt er sie zugleich. Ich glaube, er ist ziemlich klug vorgegangen.«

Nafai legte sich auf seine Matte in der Nähe der Tür, der traditionellen Position des Dieners. »Was ist mit uns?«

»Was soll denn mit uns sein? Willst du dich gegen die Überseele auflehnen, weil dein Papa dir ein kleines Zelt gegeben hat?«

»Nein.«

»Vater vertraut auf unsere Loyalität, während er Elja und Meb zusetzt. Vaters Vertrauen ist die größte Ehre überhaupt. Ich bin stolz darauf, in diesem Zelt zu sein.«

»Wenn du es so ausdrückst«, sagte Nafai, »bin ich es auch.«

»Schlaf jetzt.«

»Wecke mich, wenn du etwas brauchst.«

»Was kann ich denn schon brauchen«, sagte Issib, »wenn ich meinen Stuhl neben mir habe?«

In Wirklichkeit befand sich der Stuhl zu seinen Füßen, und wenn Issib nicht darin saß, war er völlig nutzlos für ihn. Nafai war einen Augenblick lang verwirrt, bis er begriff, daß Issib ihm einen kleinen Tadel erteilt hatte: Was beschwerst du dich denn, Nafai, wenn ich meine Schwebeflossen nicht mehr habe, da ich das Magnetfeld der Stadt verlassen mußte, und nun wie ein kleines Kind versorgt werden muß? Es mußte für Issib erniedrigend gewesen sein, daß ich ihn auszog, dachte Nafai. Und doch erträgt er es um Vaters willen, ohne sich zu beklagen.

Mitten in der Nacht erwachte Nafai und war sofort wach. Er blieb liegen und lauschte. Hatte Issib ihn gerufen? Nein – sein Bruder atmete mit den schweren, rhythmischen Zügen eines Schlafenden. War er vielleicht wach geworden, weil er unbequem lag? Nein, denn aufgrund des Sandes unter seiner Matte lag er hier bequemer als in seinem Zimmer zu Hause. Und es war auch nicht Kälte gewesen oder das ferne Heulen eines Wildhunds, und es konnten auch nicht die Paviane gewesen sein, denn sie verhielten sich des Nachts über immer völlig still.

Als Nafai zum letzten Mal so aufgewacht war, hatte er Luet draußen im Zimmer der Reisenden gefunden, und die Überseele hatte in dieser Nacht zu Vater gesprochen.

Habe ich vielleicht geträumt? Hat die Überseele mich in meinem Schlaf belehrt? Doch Nafai konnte sich an keine Träume erinnern, nur an das plötzliche Bewußtsein, wach zu sein.

Er erhob sich von seiner Matte – leise, um Issja nicht zu stören – und glitt unter dem Netz hindurch, das über die Tür gespannt war. Draußen war es natürlich kälter als im Zelt, doch sie waren so weit in südliche Richtung gereist, daß der Herbst diesen Ort noch nicht erreicht hatte, und das Wasser des Sees Rumen war viel wärmer und ruhiger als der Ozean, der östlich von Basilika an die Küste spülte.

Die Kamele schliefen friedlich in ihrem kleinen Behelfspferch. Die Abwehrer an den Ecken hielten selbst die kleinsten Tiere fern, die nicht gegen die Tonfrequenzen und Pheromone gewöhnt waren, die die Abwehrer abgaben. Der Fluß plätscherte synkopisch über die Felsen. Die Blätter der Bäume raschelten hin und wieder in der Nachtbrise. Wenn es auf ganz Harmonie irgendeinen Ort gibt, wo man friedlich schlafen kann, dachte Nafai, dann hier. Und doch konnte ich nicht schlafen.

Nafai ging flußaufwärts und setzte sich auf einen Stein am Wasser. Der Wind war so kühl, daß er etwas fröstelte; einen Augenblick lang wünschte er sich, er hätte sich angezogen, bevor er das Zelt verlassen hatte. Doch er hatte nicht vorgehabt, jetzt schon aufzustehen, und würde bald wieder ins Zelt zurückkehren.

Er sah sich um und schaute dann zu den nicht weit entfernten, niedrigen Hügeln. Wenn nicht gerade jemand auf diesen Hügeln stand, konnte man nicht einmal vermuten, daß es hier ein Tal mit Wasser gab. Dennoch war es ein Wunder, daß niemand hier lebte, einmal abgesehen von der Paviansippe flußabwärts von ihnen, ja, daß es nicht einmal Spuren einer menschlichen Besiedlung gab. Vielleicht lag es daran, daß sich dieses Tal so weit von jeder Handelsroute entfernt befand. Würde man das Land hier bebauen, könnte es trotzdem kaum mehr als ein paar Dutzend Leute ernähren. Es war wohl zu einsam oder nicht einträglich genug, um sich hier niederzulassen. Räuber würden es vielleicht als Zufluchtsort benutzen, doch es lag zu weit von den Karawanenwegen entfernt. Es war genau das, was Vaters Familie während ihres Exils von Basilika gesucht hatte. Als wäre es eigens für sie geschaffen worden.

Einen Augenblick lang fragte sich Nafai, ob dieses Tal überhaupt existiert hatte, bevor sie es brauchten. Hatte die Überseele sogar die Macht, eine Landschaft umzugestalten?

Unmöglich. In Mythen und Legenden mochte man ihr eine solche Macht zusprechen, doch in der wirklichen Welt schienen die Kräfte der Überseele ausschließlich auf die Kommunikation beschränkt zu sein – auf die Verbreitung von Kunstwerken auf der ganzen Welt und den geistigen Einfluß auf jene, denen sie Visionen gab, oder die Erstarrung der Gedanken, mit denen die Überseele die Menschen von verbotenen Ideen ab wandte.

Deshalb war dieses Tal leer, bis wir kamen, dachte Nafai. Es würde der Überseele nicht schwerfallen, Wüstenreisende dumm zu machen, wann immer sie mit dem Gedanken spielten, hier zum See Rumen abzubiegen. Die Überseele hat das Tal für uns vorbereitet, aber nicht, indem sie es aus den Felsen schuf oder ein unterirdisches Wasserreservoir an die Oberfläche sprudeln ließ und in eine Quelle oder einen Fluß für uns verwandelte, sondern, indem sie andere Menschen von hier fernhielt, so daß das Tal leer und für uns bereit war, als wir kamen.

Die Überseele verfolgt hier einen großen Zweck, Pläne innerhalb von Plänen. Wir lauschen ihrer Stimme, wir beachten die Visionen, die sie uns eingibt, aber wir sind trotzdem lediglich Puppen, die nicht wissen, warum man an unseren Fäden zieht oder wozu unser Tanz letztendlich führen wird. Es ist nicht richtig, dachte Nafai. Es ist nicht einmal gut, denn die Gefolgschaft der Überseele wird blind gehalten. Wenn sie die Pläne der Überseele nicht selbst abschätzen kann, kann sie auch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, sondern sich lediglich den Absichten der Überseele unterwerfen. Wie kann den Plänen der Überseele gedient sein, wenn all ihre Gefolgsleute willensschwache Menschen sich, die sich ihr einfach unterwerfen, ohne sie zu verstehen?

Ich werde dir dienen, Überseele, mit meinem ganzen Herzen werde ich dir dienen, falls ich verstehe, was du versuchst, was für eine Bedeutung es hat. Und ob deine Absicht gut ist.

Wer bin ich, daß ich darüber richten kann, was gut ist und was nicht?

Der Gedanke kam Nafai in den Sinn, und er lachte stumm über seine Arroganz. Wer bin ich, daß ich mich zum Richter über die Überseele erhebe?

Dann erschauderte er. Wieso ist mir dieser Gedanke gekommen? Könnte er nicht von der Überseele stammen, die versucht, mich zu bändigen? Aber ich werde mich nicht bändigen lassen, nur überzeugen. Ich lasse mich nicht zwingen oder blindlings führen oder hereinlegen oder nötigen – ich bin lediglich bereit, mich überzeugen zu lassen. Wenn du deinen eigenen guten Absichten nicht einmal soweit vertraust, um mir zu sagen, was du vorhast, Überseele, gestehst du damit deine moralische Schwäche ein, und ich werde dir niemals dienen.

Das Mondlicht, das auf der sich ständig verändernden Wasseroberfläche des Flusses funkelte, wurde plötzlich zu Sonnenlicht, das von metallenen Satelliten reflektiert wurde, die auf ewig den Planeten Harmonie umkreisten. Vor seinem geistigen Auge sah Nafai, wie einer dieser Satelliten nach dem anderen in seinem Orbit strauchelte, fiel und zu Staub verbrannte, als er in die Atmosphäre eintrat. Die ersten menschlichen Siedler dieser Welt hatten Werkzeuge gebaut, die zehn oder zwanzig Millionen Jahre heilten würden. Ihnen war das wie eine Ewigkeit vorgekommen – ein viel längerer Zeitraum, als die menschliche Spezies schon existierte. Doch mittlerweile waren vierzig Millionen Jahre daraus geworden, und die Überseele mußte ihr Arbeitspensum mit einem Viertel der Satelliten bewältigen, die ihr am Anfang zur Verfügung gestanden hatten, kaum halb so viel, wie sie in den ersten dreißig Millionen Jahren gehabt hatte. Kein Wunder, daß die Überseele schwächer geworden war.

Doch ihre Pläne waren nicht weniger bedeutend. Sie mußte noch immer ihren Zweck erfüllen. Issib und Nafai hatten recht – die Überseele war von den ersten menschlichen Siedlern auf dieser Welt geschaffen worden, und nur zu einem Zweck: um Harmonie zu einer Welt zu machen, auf der die Menschheit niemals imstande sein würde, sich selbst zu vernichten.

Wäre es nicht besser gewesen, dachte Nafai, die Menschheit zu verändern, damit sie nicht mehr den Drang verspürte, sich zu vernichten?

Die Antwort kam ihm mit solch einer Klarheit in den Sinn, daß er wußte, es handelte sich um die Antwort der Überseele. Nein, es wäre nicht besser gewesen.

Aber warum nicht? verlangte Nafai zu wissen.

Eine Antwort, viele Antworten strömten gleichzeitig in seinen Verstand, so plötzlich, daß er ihnen keinen Sinn entnehmen konnte. Doch in den Augenblicken danach, den Augenblicken zunehmender Klarheit, fanden einige Vorstellungen sprachliche Entsprechungen, wurden zu so klaren Sätzen, als hätte eine andere Stimme sie gesprochen. Aber es war keine andere Stimme – es war Nafais Stimme, die den schwachen Versuch unternahm, einige verstreute Reste dessen, was die Überseele zu ihm gesagt hatte, in Worte zu fassen.

Die Stimme der Überseele hatte in Nafais Geist gesagt: Wenn ich der Menschheit die Neigung zur Gewalt genommen hätte, wäre sie nicht mehr die Menschheit. Nicht, daß Menschen gewalttätig sein müssen, um Menschen zu sein, doch wenn man jemals den Willen verliert, etwas zu beherrschen oder zu zerstören, dann, weil man ihn verlieren wollte. Meine Rolle war es nicht, euch zu zwingen, sanft und freundlich zu sein; ich mußte euch am Leben halten, während ihr selbst entscheidet, was für Menschen ihr sein wollt.

Nafai hatte Angst, eine weitere Frage zu stellen, aus Furcht, er könne in der geistigen Flut ertrinken, die folgen würde. Und doch konnte er die Frage nicht ungestellt lassen. Erkläre es mir langsam. Erkläre es mir sanft. Doch sage mir: Wozu haben wir uns entschlossen?

Zu seiner Erleichterung kam die Antwort diesmal nicht als Ansturm reiner, unaussprechlicher Ideen. Diesmal hatte er den Eindruck, in seinem Geist habe sich ein Fenster geöffnet, durch das er sehen konnte. All die Szenen, all die Gesichter, die er sah, waren Erinnerungen, Dinge, die er in Basilika gesehen oder gehört hatte, Dinge, die er bereits wußte, die die Überseele an die Oberfläche seines Verstands bringen konnte. Doch nun sah er sie mit einem so klaren Verständnis, daß sie stärker als alles, was er jemals erlebt hatte, Kraft und Bedeutung annahmen. Er sah Erinnerungen an geschäftliche Verhandlungen, die er gesehen hatte. Er sah Stücke und Satiren, die er gesehen hatte. Gespräche auf der Straße. Eine heilige Frau, die von einer Bande betrunkener Gläubiger vergewaltigt worden war. Die Intrigen von Männern, die versuchten, einen Ehevertrag mit einer berühmten Frau zu bekommen. Die beiläufige Grausamkeit, mit der Frauen ihre jeweiligen Verehrer gegeneinander ausspielten.

Sogar, wie Elemak und Mebbekew ihn, Nafai, behandelt hatten – und wie er sie behandelt hatte. Das alles sprach von der Bereitschaft der Menschen, einander zu verletzen, der brennenden Leidenschaft zu beherrschen, was andere Menschen dachten und taten. So viele Leute versuchten insgeheim und verstohlen, andere zu vernichten – und nicht nur ihre Feinde, sondern auch ihre Freunde. Sie wollten sie vernichten, weil ihnen das Wissen Vergnügen bereitete, daß sie die Macht hatten, Schmerz zu verursachen. Und es gab so wenige, die ihr Leben der Aufgabe verschrieben hatten, die Kraft und Zuversicht anderer Menschen aufzubauen. So wenige, die wahre Lehrer, echte Gefährten waren.

Wie es bei Vater und Mutter der Fall war, dachte Nafai. Sie blieben zusammen, nicht, weil sie einen Vorteil davon hatten, sondern, weil sie sich gegenseitig etwas gaben. Vater bleibt nicht bei Mutter, weil sie gut für ihn ist, sondern vielmehr, weil sie gemeinsam Gutes für uns tun können und für viele andere. Vater hat sich in den letzten paar Wochen nicht in die Politik Basilikas eingemischt, weil er sich Vorteile davon versprach, wie es bei Gaballufix der Fall ist, sondern weil er sich wirklich mehr Sorgen um die Zukunft der Stadt macht als um sein Vermögen und sein Leben. Er könnte dieses Vermögen auf der Stelle ohne einen zweiten Blick aufgeben. Und bei Mutter ist ihr Leben, was sie in den Köpfen ihrer Schüler erschafft. Durch ihre Mädchen, ihre Jungen, versucht sie, die Zukunft Basilikas zu schaffen. Jedes Wort, das sie in der Schule spricht, soll die Stadt vor dem Verfall bewahren.

Und doch verlieren sie. Es entgleitet ihnen. Die Überseele würde ihnen helfen, wenn sie könnte, hat jedoch weder die Macht noch den Einfluß, die sie einmal hatte; und außerdem steht es ihr sowieso nicht zu, die Menschen gut zu machen, sondern nur, ihre Bosheit in recht schmalen Grenzen zu halten. Bosheit und Groll, das war heutzutage Basilikas Lebensblut; Gaballufix ist zufällig nur derjenige, der das giftige Herz der Stadt am besten symbolisiert. Selbst die, die ihn hassen und gegen ihn kämpfen, werden von allgemeinen Gründen dazu bewogen, nicht, weil sie gut sind und er böse ist, sondern weil sie die Tatsache verabscheuen, daß er die Herrschaft anstrebt, auf die sie selbst gehofft hatten.

Ich würde helfen, sagte die stumme Stimme der Überseele in Nafais Geist. Ich würde den guten Menschen Basilikas helfen. Doch es gibt nicht genug davon. Der Wille der Stadt gilt der Zerstörung. Wie kann ich sie also davor bewahren, zerstört zu werden? Falls Gaballufix mit seinen Plänen scheitert, wird die Stadt einen anderen hervorbringen, der dazu beiträgt, daß sie sich selbst zerstört. Das Feuer wird kommen, weil die Stadt es ersehnt. Zu wenige lieben die Stadt, zu viele wünschen, sich an ihrem Kadaver zu nähren.

Tränen strömten aus Nafais Augen. Ich habe es nicht gewußt. Ich habe die Stadt nie so gesehen.

Das liegt daran, weil du der Sohn deiner Mutter bist, der Erbe deines Vaters. Wie alle menschlichen Wesen gehst du davon aus, daß andere Menschen hinter den Masken ihrer Gesichter im Prinzip so sind wie du. Aber dem ist nicht immer so. Einige Menschen können das Glück anderer nicht sehen, ohne es zerstören zu wollen, können die Bande der Liebe zwischen Freunden oder Eheleuten nicht sehen, ohne sie zerbrechen zu wollen. Und viele andere, die an sich nicht boshaft sind, werden in der Hoffnung auf kurzfristige Vorteile zu deren Werkzeugen. Die Menschen haben ihre Vision verloren. Und ich habe nicht die Macht, sie wiederherzustellen. Mir bleibt nur noch meine Erinnerung an die Erde, Nafai.

»Erzähle mir von der Erde«, flüsterte Nafai.

Erneut öffnete sich ein Fenster in seinem Verstand, doch diesmal handelte es sich nicht um eigene Erinnerungen. Statt dessen sah er Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Es überwältigte ihn; er konnte den Dingen, die er sah, kaum Sinn entnehmen. Helle Kästen aus Glas und Metall, die über breite, graue Straßen rasten. Massive Metallhäuser, die sich hoch in die Luft erhoben, auf schlanken, zerbrechlichen Keilen aus lackiertem Stahl durch den Himmel flogen. Große, vielflächige Gebäude mit verspiegelten Fassaden, die einander reflektierten oder im gelben Sonnenlicht schimmerten. Und mitten unter ihnen Hütten aus Pappe oder ausrangiertem Metall, in denen Familien zusehen mußten, wie ihre Kinder mit aufgeblähten Bäuchen starben. Menschen, die Feuerbälle aufeinander warfen, oder große Feuerlohen, die aus Schläuchen kamen. Und völlig unerklärliche Dinge: Eines dieser fliegenden Häuser befand sich über einer Stadt und ließ etwas fallen, bei dem es sich um einen unbedeutenden Kothaufen zu handeln schien, bis plötzlich ein Flammenball aus ihm hervorbrach, der so hell wie die Sonne war, und die gesamte Stadt darunter lag in Trümmern, und die Trümmer brannten. Eine Familie, die an einem großen Tisch saß, der über und über mit Nahrungsmitteln bedeckt war, und gierig aß, bis sie sich dann hinüberbeugte und sich auf Bettler übergab, die sich verzweifelt an den Stuhlbeinen festklammerten. Sicher war diese Vision nicht buchstäblich, sondern sinnbildlich zu nehmen! Sicher würde niemand so moralisch verderbt sein, mehr zu essen, als er brauchte, während andere vor seinen Augen Hungers starben! Sicher würde jeder, der eine Möglichkeit gefunden hatte, den Himmel in so heiße Flammen ausbrechen zu lassen, daß sie eine ganze Stadt auf einmal zerstören konnten, sicher würde solch ein Mensch doch Selbstmord begehen, bevor er irgend jemandem das schreckliche Geheimnis dieser Waffe verraten konnte.

»Ist das die Erde?« flüsterte er der Überseele zu. »So wunderschön und ungeheuerlich? Sind wir einmal so gewesen?«

Ja, kam die Antwort. So seid ihr einst gewesen, und so werdet ihr wieder sein, wenn ich keine Möglichkeit finde, die Welt wieder auf meine Stimme aufmerksam zu machen. In Basilika gibt es viele, die die Nahrung essen, die sie brauchen, und dann noch mehr essen, obwohl sie wissen, daß es viele gibt, die nicht genug haben. Nur dreihundert Kilometer nördlich herrscht eine Hungersnot.

»Wir könnten Wagen benutzen, um Nahrungsmittel dorthin zu schaffen«, sagte Nafai.

Die Gorajni haben solche Wagen. Sie befördern damit auch Nahrungsmittel – aber für die Soldaten, die angerückt sind, um dieses von einer Hungersnot heimgesuchte Land zu erobern. Erst, als sie das Volk unterworfen und die Regierung vernichtet hatten, haben sie Nahrung verteilt – das Schmutzwasser, das ein Schweinehirt seiner Herde bringt. Man füttert sie jetzt, um sie später brutzeln zu hören.

Die Visionen setzten sich fort – stundenlang, wie Nafai glaubte, obwohl er später erkannte, daß es sich nur um ein paar Minuten gehandelt hatte. Immer mehr Erinnerungen an die Erde, mit immer störenderem Verhalten der Menschen und immer seltsameren Maschinen. Bis zum großen Feuer und den Raumschiffen, die sich aus dem Rauch und Eis und der Asche erhoben, die sie zurückließen.

»Sie sind geflohen, weil sie ihre Welt zerstört haben.«

Nein, sagte die Überseele. Sie sind geflohen, weil sie sich danach sehnten, neu anzufangen. Zumindest die, die nach Harmonie kamen. Sie kamen nicht hierher, weil die Erde nicht mehr geeignet für sie war, sondern weil sie glaubten, nicht mehr für die Erde geeignet zu sein. Milliarden sind gestorben, doch es gab noch immer genug Energie und Leben auf der Erde, daß vielleicht ein paar hunderttausend Menschen überleben konnten. Aber sie konnten es nicht ertragen, auf der Welt zu leben, die sie zugrunde gerichtet hatten. Wir gehen fort, sagten sie zueinander, während die Welt sich heilt. Während unseres Exils werden wir ebenfalls lernen, uns zu heilen, und wenn wir zurückkehren, werden wir tauglich sein, das Land unserer Geburt zu erben und es zu behüten.

Also schufen sie die Überseele, nahmen sie nach Harmonie mit und gaben ihr Hunderte von Satelliten, die ihre Augen und ihre Stimme sein sollten; sie veränderten ihre Gene, um sich die Fähigkeit zu geben, die Stimme der Überseele in ihren Köpfen zu vernehmen; und sie füllten die Überseele mit Erinnerungen an die Erde und überließen es ihr, ihre Kinder die nächsten zwanzig Millionen Jahre lang zu behüten.

Bis dahin, sagten sie sich, werden unsere Kinder bestimmt gelernt haben, in Harmonie zu leben. Der Name dieses Planeten wird sich in ihrem Leben verwirklichen. Und am Ende dieser Zeit wird die Überseele wissen, wie sie sie nach Hause bringen kann, wo der Hüter der Erde auf sie wartet.

»Aber wir sind noch nicht bereit«, sagte Nafai. »Nach dem doppelten Zeitraum sind wir so schlecht wie eh und je, abgesehen davon, daß du uns die Macht genommen hast, das gesamte Leben dieses Planeten in Asche und Eis zu verwandeln.«

Die Überseele gab Nafai den Gedanken ein: Mittlerweile wird der Hüter seine Aufgabe bestimmt erfüllt haben. Die Erde ist bereit für unsere Rückkehr. Doch die Menschen von Harmonie sind noch nicht zur Rückkehr bereit. Ich habe all diese Jahre das Wissen der Erde bewahrt, ich habe darauf gewartet, euch sagen zu können, wie man die fliegenden Häuser baut, die Sternenschiffe, die euch zur Welt eurer Geburt zurückbringen werden; aber ich wage es nicht, euch dieses Wissen zu lehren, weil ihr es benutzen würdet, um einander zu unterdrücken und schließlich sogar auszulöschen.

»Was hast du dann vor?« fragte Nafai. »Wie sehen deine Pläne aus? Warum hast du uns hierher geführt?«

Ich kann es dir noch nicht sagen, erwiderte die Überseele. Ich bin mir deiner noch nicht sicher. Aber ich habe dir gesagt, was du wissen wolltest. Ich habe dir meine Absicht erläutert. Ich habe dir gesagt, was ich bereits bewerkstelligt habe und was noch zu bewerkstelligen ist. Ich habe mich nicht verändert – ich bin heute noch dieselbe, die ich war, als deine Vorfahren mich erschufen, um über euch zu wachen. Meine Pläne sind einzig und allein darauf ausgerichtet, die Menschheit darauf vorzubereiten, zum Hüter der Erde zurückzukehren, der auf euch wartet. Ich lebe nur dafür, die Menschheit auf die Rückkehr vorzubereiten. Ich bin das Gedächtnis der Erde, alles, was davon noch übrig ist, und wenn du mir hilfst, Nafai, wirst du dazu beitragen, diesen Plan zu verwirklichen, falls er sich überhaupt verwirklichen läßt.

Falls er sich überhaupt verwirklichen läßt.

Das überwältigende Gefühl der Anwesenheit der Überseele in seinem Geist war plötzlich verschwunden; es war, als wäre plötzlich ein großes Feuer in ihm erloschen, ein großer, strömender Fluß des Lebens in ihm abrupt ausgetrocknet. Nafai saß da auf dem Felsen neben dem Fluß, kam sich verbraucht, erschöpft, leer vor, während der letzte, verzweifelte Gedanke noch in seinem Herzen verweilte: Falls er sich überhaupt verwirklichen läßt.

Sein Mund war trocken. Er kniete neben dem Wasser nieder, tauchte die Hände hinein, machte sie hohl und schöpfte Wasser zu seinem Mund. Es genügte ihm nicht. Er sprang in den Fluß, nicht ehrfurchtsvoll, um zu beten, sondern mit verzweifeltem Durst; er begrub den Kopf unter dem Wasser und trank mit tiefen Zügen, während er die Wange gegen den kalten Stein des Flußbetts drückte und das Wasser über seinen Rücken, seine Schenkel floß. Er trank und trank, hob den Kopf und die Schultern über das Wasser, rang nach Atem und brach wieder in das Wasser zusammen, um so gierig wie zuvor zu trinken.

Es war doch eine Art Gebet, begriff er, als er wieder an die Oberfläche kam und vor Kälte erzitterte, als das Wasser auf seiner Haut in der Brise des dunklen Morgens verdunstete.

Ich bin bei dir, sagte er zur Überseele. Ich werde tun, was immer du verlangst, denn ich ersehne, daß du deinen Zweck hier erfüllst. Ich werde alles tun, was in meiner Kraft steht, um uns alle auf die Rückkehr zur Erde vorzubereiten.

Als er zu seinem Zelt zurückkehrte, fror er bis auf die Knochen. Er war zwar nicht mehr naß, aber auch nicht trocken, und er lag lange zitternd auf seine Matte, ließ sich von der Luft im Zelt und der Hitze von Issibs Körper wärmen, bis er endlich wieder einschlafen konnte.

Am Morgen gab es viel zu tun; so müde, wie er war, konnte Nafai doch nicht länger schlafen, sondern bemühte sich, seine Aufgaben zu erfüllen, war dabei allerdings so langsam und unbeholfen, daß Elemak und sogar Vater ihn wütend anfuhren. Paß doch auf! Benutze deinen Verstand! Erst in der Hitze des Nachtmittags, als sie das Schläfchen hielten, von dem die Wüstenbewohner wußten, daß es genauso lebenswichtig wie Wasser war, bekam Nafai die Gelegenheit, sich von seiner nächtlichen Vision zu erholen. Doch dann konnte er einfach nicht schlafen. Er lag auf seiner Matte und erzählte Issib alles, was er gesehen und von der Überseele erfahren hatte. Als er fertig war, flössen Tränen Issibs Gesicht hinab, und langsam und mit großer Anstrengung streckte er eine Hand aus und ergriff die Nafais. »Ich habe gewußt, daß irgendein Sinn dahinterstecken mußte«, flüsterte Issib. »Jetzt ergibt alles Sinn für mich. Alles paßt zusammen. Wie glücklich du warst, die Stimme der Überseele zu hören. Und ich glaube, du hast sie noch deutlicher als Vater gehört. So deutlich wie Luet, glaube ich. Du bist wie Luet.«

Das war Nafai etwas unangenehm, zumindest einen Augenblick lang. Er hatte sich in Gedanken – und manchmal auch mit Worten – über Luet geärgert oder sie verspottet. Das verächtliche Wort Hexe war so leicht über seine Lippen gekommen. War es das, was sie spürte, wenn die Überseele ihr eine Vision schickte? Wie konnte ich sie deshalb nur verspotten?

Er schlief und wachte auf, und sie beendeten ihre Arbeit: ein fester Pferch für die Kamele, aus aufeinandergestapelten Steinen erbaut, die von einem Gravitationsfeld an Ort und Stelle gehalten wurden, das seine Energie aus Solarkollektoren bezog; Kühlschuppen für die getrockneten Vorräte, die sie mitgenommen hatten und die mindestens ein Jahr lang reichen würden; Abwehrer und Sensoren, die sie kreisförmig um das Tal aufstellten, so daß niemand in Sichtweite kommen konnte, ohne daß sie ihn schon vorher bemerkt hatten. Ein Lagerfeuer errichteten sie natürlich nicht – in der Wüste war Holz zu kostbar, um es zu verbrennen. Doch sie gingen sogar noch weiter; sie würden auch nicht kochen, da man sonst eine unerklärliche Wärmequelle feststellen könnte. Ihre eigene Körperwärme war die einzige Infrarotstrahlung, die sie abzugeben wagten, und die elektromagnetischen Störungen, die von den Abwehrern und Sensoren erzeugt wurden, vom Gravitationsfeld, den Kühlaggregaten, Sonnenzellen und Issibs Stuhl, waren nicht stark genug, als daß man sie außerhalb des Tals hätte wahrnehmen können, außer mit viel empfindlicheren Instrumenten, als umherziehende Plünderer oder die Karawanen sie wohl mit sich führen würden.

Beim Abendessen stellte Nafai fest, wie überflüssig das alles war. »Wir sind im Auftrag der Überseele hier«, sagte er. »Die Überseele hat all die Jahre lang Menschen von diesem Tal ferngehalten und es für uns vorbereitet – sie hätte sowieso alle Leute ferngehalten.«

Elemak lachte, und Mebbekew grölte hysterisch. »Nun, Theologe Nafai«, sagte Meb, »wenn die Überseele in der Lage ist, unsere Sicherheit zu garantieren, verstehe ich nicht, wieso sie uns hierher in diese höllische Landschaft schickt, anstatt uns sicher zu Hause zu lassen.«

»Wieso bist du überhaupt so ein Experte für die Überseele, Nafai?« fragte Elemak. »Deine Mutter hat dich offensichtlich zu viel Zeit mit Hexen verbringen lassen.«

Diesmal gelang es Nafai, seine wütenden Antworten im Zaum zu halten. Er begriff, daß es sinnlos war, mit ihnen zu streiten. Doch das hatte er auch schon unzählige Male zuvor begriffen und war trotzdem nicht imstande gewesen, auf eine Antwort zu verzichten. Der Unterschied, erkannte Nafai, lag darin, daß er jetzt nicht mehr nur Nafai war, der jüngste der Söhne des Wetschik. Jetzt war er der Freund und Verbündete der Überseele. Er hatte Wichtigeres zu tun, als mit Elja und Meb zu streiten.

»Nafai«, sagte Vater, »deine Argumentation ist fehlerhaft.

Warum sollten wir der Überseele zumuten, auf uns aufzupassen, wenn wir doch sehr wohl allein dazu imstande sind?«

»Natürlich, Vater«, sagte Nafai. Seine Bemerkung war töricht gewesen. Sie durften die Überseele nicht zusätzlich belasten, sondern mußten versuchen, sie zu entlasten. »Es tut mir leid.«

Elemak lächelte kurz, und Mebbekew verdrehte die Augen und lachte erneut. »Hört sie euch an«, sagte er. »Angeblich vernünftige Männer sprechen darüber, ob sich die Überseele nun um unsere Kamele kümmern sollte oder nicht.«

»Die Überseele hat uns hierher geführt«, sagte Vater ziemlich kalt.

»Du wolltest, daß wir gehen«, sagte Mebbekew, »und Elemak hat uns geführt.«

»Die Überseele hat mir zum Aufbruch geraten«, sagte Vater, »und die Überseele hat uns zu diesem gut bewässerten Tal gebracht.«

»Natürlich, wie dumm von mir«, sagte Meb. »Ich dachte, ein Geier würde am Himmel kreisen, doch statt dessen war es die Überseele, die uns geführt hat.«

»Nur ein Tor scherzt über etwas, das er nicht versteht«, sagte Vater.

»Und nur ein alter Narr nennt vernünftige Männer Toren«, sagte Mebbekew. »Du bist derjenige, der Hinterhalte und Verschwörungen in den Schatten sieht, Vater.«

»Halte den Mund«, sagte Elemak.

»Von dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten.«

»Halte den Mund«, sagte Elemak erneut. Er drehte sich langsam um und begegnete Mebbekews wütendem Blick. Obwohl Eljas Augen fast geschlossen waren, als wäre er kaum wach, sah Nafai, daß sie wütend funkelten, als er Meb mit Blicken niederzwang.

»Na schön«, sagte Mebbekew und widmete sich wieder seinem Abendessen, »dann bin ich wohl der einzige, der keinen Spaß an diesem Zeltausflug hat.«

»Das ist kein Zeltausflug«, sagte Vater. »Es ist ein Exil.«

»Ich verstehe nur nicht«, sagte Mebbekew, »wieso ich ins Exil muß.«

»Du bist mein Sohn«, sagte Vater. »Keiner von uns war dort mehr sicher.«

»Komm schon«, sagte Meb, »uns drohte keine Gefahr.«

»Hör auf damit«, sagte Elemak. Erneut begegnete er Mebbekews Blick.

Nun begriff Nafai, worauf es hinauslief. Elemak paßte es nicht, daß Mebbekew darüber sprach, ob es wirklich eine Verschwörung gegen Vater oder einen Grund dafür gegeben hatte, daß die ganze Familie in die Wüste fliehen mußte. Es war ein empfindliches Thema, und Nafai vermutete, daß beide mehr darüber wußten, als sie zugeben wollten. Sollten sie wirklich ein dunkles Geheimnis haben, würde Elemak es wohl verbergen wollen, indem er versuchte, jedes Gespräch davon abzulenken, während es Mebbekew viel ähnlicher sah, sich hinter beiläufigen Verneinungen und spöttischen Lügen zu verschanzen.

»Ihr beide wißt, daß Vaters Leben in Basilika in Gefahr war«, sagte Nafai.

Die Weise, wie sie ihn ansahen, verriet ihm, daß er mit seiner Vermutung richtig lag. Wären sie unschuldig, hätten sie seiner Bemerkung nur entnehmen können, er erwarte, daß sie an Vaters Vision glaubten. Statt dessen faßten sie sie viel härter auf.

»Wieso glaubst du zu wissen, was andere Leute wissen?« fragte Elemak.

»Wenn du so sicher bist, daß Vaters Leben in Gefahr war«, sagte Meb, »bedeutet das vielleicht, daß du an der Verschwörung mitgewirkt hast.«

Erneut waren ihre Reaktionen typisch: Elemak verteidigte sich gegen Nafais Anschuldigung, indem er im Prinzip sagte: Du kannst nichts beweisen, während Mebbekew sich verteidigte, indem er den Spieß umdrehte und Nafai beschuldigte.

Jetzt sollen sie merken, was sie gestanden haben, dachte Nafai. »Welche Verschwörung?« fragte er. »Wovon sprichst du?«

Mebbekew begriff augenblicklich, wieviel er enthüllt hatte. »Ich nahm nur an … du hättest unterstellt, daß wir irgend etwas wissen oder so.«

»Falls ihr von einer Verschwörung gegen Vaters Leben wüßtet«, sagte Nafai, »hättet ihr es Vater doch gesagt, falls ihr noch einen Funken Anstand im Leib habt. Und ihr würdet doch bestimmt nicht hier sitzen und darüber jammern, daß wir die Stadt eigentlich nicht hätten verlassen müssen.«

»Ich jammere nicht, kleiner Junge«, sagte Mebbekew. Sein Ärger hatte jetzt jede Feinsinnigkeit verloren. Er wußte nicht genau, wie er Nafais Worte deuten sollte – und genau deshalb hatte Nafai ja auf diese Art gesprochen. Soll Meb sich doch fragen, ob Nafai etwas weiß oder nicht.

»Halte den Mund, Meb«, sagte Elemak. »Und du auch, Nafai. Ist es nicht schon schlimm genug, daß wir hier im Exil sitzen, ohne daß ihr euch noch gegenseitig an die Kehle geht?«

Elja der Friedensstifter. Nafai wollte lachen. Andererseits jedoch – vielleicht war es wirklich wahr. Vielleicht hatte Elemak wirklich nichts davon gewußt – vielleicht hatte Gaballufix ihn in dieser Hinsicht niemals ins Vertrauen gezogen. Natürlich hatte er das nicht, begriff Nafai. Elja mochte Gaballufix’ Halbbruder sein, aber er war noch immer Wetschiks Sohn und Erbe. Gaballufix würde niemals absolut sicher sein, auf wessen Seite Elemak wirklich stand. Er konnte Elja als Vermittler benutzen, als Boten oder Informanten – aber er konnte ihm niemals wirkliches Wissen anvertrauen.

Das würde auch Elemaks Versuche erklären, Meb zum Schweigen zu bringen; er wollte seine Verbindung zu Gaballufix verbergen, doch keine Mordverschwörung geheimhalten. Wie konnte Nafai nur davon ausgegangen sein? Außerdem … wenn es zum Plan der Überseele gehörte, daß sie sich hier in der Wüste aufhielten, bedeutete dies nicht, daß Elemak und Mebbekew Teil des Plans waren? Hier bringe ich ihnen Argwohn entgegen und gebe genau jenem Groll Nahrung, der Basilika vernichten wird. Wie kann ich behaupten, auf der Seite der Überseele zu stehen, wenn ich mich benehme, als würde ich nicht einmal meinem eigenen Bruder vertrauen?

»Es tut mir leid«, sagte Nafai. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«

Nun sahen ihn alle wirklich überrascht an. Nafai brauchte einen Augenblick lang, bis er begriff, daß er sich zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich für eine häßliche Bemerkung gegenüber seinen Brüdern entschuldigt hatte, ohne zuerst in den Schwitzkasten genommen und zur Unterwerfung gezwungen worden zu sein.

»Schon in Ordnung«, sagte Mebbekew. Seine Stimme klang verwundert – doch seine Augen leuchteten vor triumphierender Verachtung.

Du glaubst, meine Entschuldigung bedeutet, daß ich schwach bin, dachte Nafai bei sich. Aber das stimmt nicht. Sie bedeutet, daß ich allmählich lerne, wie man stark ist.

Dann erzählte Nafai seinem Vater und Elemak und Mebbekew etwas von den Visionen, die die Überseele ihm in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Er kam mit seinem Bericht jedoch nicht weit.

»Ich bin müde«, sagte Elemak. »Ich habe keine Zeit für so etwas.«

Nafai sah ihn erstaunt an. Er hatte keine Zeit, um etwas über den Plan der Überseele zu erfahren? Keine Zeit, um von der Hoffnung der Menschheit zu hören, zur Erde zurückzukehren?

Mebbekew gähnte ebenfalls nachdrücklich.

»Dir meint, es ist euch einfach gleichgültig?« fragte Issib.

Elemak lächelte seinen verkrüppelten Bruder an. »Du bist zu vertrauensvoll, Issja«, sagte er. »Begreifst du nicht, was hier geschieht? Nafai kann es nicht ertragen, nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Er kann sich nicht beweisen, indem er nützlich oder auch nur entfernt fähig ist, und deshalb hat er Visionen. Bevor wir es richtig mitbekommen haben, wird uns Njef die Befehle der Überseele erteilen und herumkommandieren.«

»Das stimmt nicht«, sagte Nafai. »Ich habe diese Visionen gehabt.«

»Genau«, sagte Mebbekew. »Auch ich hatte letzte Nacht Visionen. Visionen von Mädchen, die du nie haben wirst, weil es dir an den Geschlechtsdrüsen dafür fehlt, Nafai. Ich werde an deine Träume von der Überseele glauben, sobald du bereit bist, eins der Mädchen aus meinen Träumen zu heiraten. Ich überlasse dir sogar eins der schönsten.«

Elemak lachte, und sogar Vater lächelte leicht. Aber Mebbekews Sticheleien erfüllten Nafai nur mit Zorn. »Ich sage euch die Wahrheit«, beharrte er. »Ich sage euch, was die Überseele zu bewerkstelligen versucht.«

»Ich denke lieber darüber nach, was die Mädchen in meinen Träumen zu bewerkstelligen versucht haben«, sagte Meb.

»Schluß mit diesen Vulgaritäten!« sagte Vater. Doch er kicherte. Das war der grausamste Schlag – daß Vater offensichtlich Elemak glaubte, Nafai habe sich seine Visionen ausgedacht.

Als Elemak und Mebbekew also aufstanden, um nach den Tieren zu sehen, blieb Nafai bei Vater und Issib sitzen.

»Warum gehst du nicht mit?« sagte Vater. »Issib kann bei solchen Aufgaben nicht helfen, da seine Flossen hier nicht funktionieren. Aber du kannst es.«

»Vater«, sagte Nafai, »ich dachte, du würdest mir glauben.«

»Ich glaube dir«, sagte Vater. »Ich glaube, daß du ehrlich die Pläne der Überseele unterstützen willst. Ich halte dich dafür in Ehren, und vielleicht kommen ja wirklich einige deiner Träume von der Überseele. Aber versuche nicht, deinen älteren Brüdern darüber zu erzählen. Sie werden es dir nicht abkaufen.« Er lächelte verbittert. »Sie kaufen es ja sogar mir kaum ab.«

»Ich glaube Nafai«, sagte Issib. »Und es waren auch keine Träume. Er war wach und saß beim Fluß. Ich sah, daß er naß und frierend zum Zelt zurückkam.«

Nafai war niemals jemandem so dankbar gewesen wie in diesem Augenblick Issib, der seine Geschichte bestätigte. Er hätte es auch nicht tun müssen. Nafai hatte halbwegs damit gerechnet, daß Issib ihm auch nicht mehr glaubte, da Vater ihn nicht ernst nahm.

»Ich glaube dir ja«, sagte Vater. »Aber die Dinge, die du erzählt hast, waren viel genauer als sonst etwas, was die Überseele uns in Visionen mitteilt. Also sage ich, daß wahrscheinlich ein Kern der Wahrheit in dem steckt, was du erzählst. Aber das meiste davon muß von deiner Phantasie gekommen sein, und ich für meinen Teil werde nicht versuchen, es genauer herauszufinden, jedenfalls heute abend nicht.«

»Ich habe dir geglaubt«, sagte Nafai.

»Zuerst auch nicht«, sagte Vater. »Und wir schachern hier nicht damit herum, ob wir uns nun glauben oder nicht. Wir glauben und vertrauen jemandem, wenn er es sich verdient hat. Erwarte nicht von mir, daß ich dir schneller glaube, als du mir geglaubt hast.«

Verlegen erhob sich Nafai von der Decke. Vaters Zelt war so groß, daß er nicht den Kopf einziehen mußte, wenn er aufrecht stand. »Als du mir erzählt hast, was du gesehen hast, war ich zuerst blind. Aber wie ich sehe, bist du jetzt taub und kannst die Dinge, die ich gehört habe, daher nicht hören.«

»Hilf deinem Bruder in seinen Stuhl«, sagte Vater. »Und paß auf, wie du mit deinem Vater sprichst.«


In dieser Nacht versuchte Issib in ihrem Zelt, Nafai zu trösten. »Vater ist der Vater, Nafai. Es kann keine gute Nachricht für ihn sein, daß sein jüngster Sohn viel mehr Informationen von der Überseele erhält, als es bei ihm je der Fall gewesen ist.«

»Vielleicht bin ich besser auf sie eingestellt«, sagte Nafai. »Ich kann nichts dafür. Doch was für eine Rolle spielt es schon, zu wem die Überseele spricht? Sollte nicht sogar Gaballufix Vater glauben, obwohl Vater im Palwaschantu-Klan im Rang unter ihm steht?«

»Unter seinem Amt vielleicht«, sagte Issib, »aber nicht unter seinem Rang. Hätte Vater Klansführer werden wollen, hätte man ihn gewählt – er ist von Geburts wegen doch der Wetschik, oder? Deshalb hat Gaballufix ihn immer gehaßt -weil er weiß, würde Vater die Politik nicht verachten, hätte er Gaballufix von Anfang an Macht und Einfluß nehmen können.«

Aber Nafai wollte jetzt nicht über basilikanische Politik sprechen. Er verstummte und sprach schweigend wieder mit der Überseele. Du mußt Vater dazu bringen, mir zu glauben, sagte er. Du mußt Vater zeigen, was wirklich geschieht. Du kannst mir nicht eine Vision zeigen und dann nicht dabei helfen, Vater zu überzeugen.

»Ich glaube dir, Njef«, flüsterte Issib. »Und ich glaube an das, was die Überseele bewerkstelligen will. Vielleicht braucht die Überseele gar nicht mehr – hast du daran schon einmal gedacht? Vielleicht ist es gar nicht nötig, daß Vater dir in diesem Augenblick glaubt. Also nimm es einfach hin. Vertraue der Überseele.«

Nafai sah Issib an, doch in der Dunkelheit der Nacht konnte er nicht ausmachen, ob die Augen seines Bruders geschlossen waren oder nicht. Hatte wirklich Issib gesprochen, oder schlief Issib, und hatte Nafai die Worte der Überseele in Issibs Stimme gehört?

»Eines Tages, Njef, läuft es vielleicht darauf hinaus, was Elemak gesagt hat. Vielleicht mußt du eines Tages deinen Brüdern Befehle geben. Sogar Vater. Glaubst du, daß die Überseele dich dann allein lassen wird?«

Nein, es konnte nicht Issib sein. Er hörte die Überseele in Issibs Stimme, die Dinge sagte, die Issib niemals sagen konnte. Und nun, da er wußte, daß er seine Antwort bekommen hatte, konnte er wieder schlafen. Doch bevor er schlief, bildeten sich Fragen in seinem Verstand:

Was, wenn die Überseele mir mehr sagt als Vater, nicht, weil es zu einem Plan gehört, sondern einfach, weil ich der einzige bin, der sie hören und verstehen kann?

Was, wenn die Überseele darauf zählt, daß ich eine Möglichkeit finde, die anderen zu überzeugen, weil die Überseele nicht mehr die Macht hat, sie selbst zu überzeugen?

Was, wenn ich wirklich allein bin, abgesehen von diesem einen Bruder, der mir glaubt – dem Bruder, der verkrüppelt ist und daher nichts tun kann?

Glaube ist nicht nichts, sagte die Stimme, die in Nafais Geist flüsterte. Issibs Glaube an dich ist der einzige Grund, daß du noch nicht begonnen hast, selbst an dir zu zweifeln.

Sage es Vater, bat Nafai, als er einschlief. Sprich zu Vater, damit er an mich glaubt.


Die Überseele sprach in dieser Nacht zu Vater, aber nicht mit der Vision, auf die Nafai gehofft hatte.

»Ich habe gesehen, daß ihr vier nach Basilika zurückkehrt«, sagte Vater.

»Wird auch langsam Zeit«, sagte Mebbekew.

»Aber nur zu einem bestimmten Zweck«, sagte Vater. »Um den Index zu holen und ihn mir zu bringen.«

»Den Index?« fragte Elemak.

»Er wird von Anfang an vom Palwaschantu-Klan aufbewahrt. Ich glaube, nur aus diesem Grund hat der Klan all diese Jahre lang seine Identität bewahrt. Einst wurden wir Hüter des Index genannt, und mein Vater hat mir erzählt, daß die Wetschiks das Recht haben, ihn zu benutzen.«

»Wozu benutzen?« fragte Mebbekew.

»Das weiß ich nicht genau«, sagte Vater. »Ich habe ihn nur ein paar Mal gesehen. Mein Großvater übergab ihn dem Klans-Rat, als er auf Wanderschaft ging, und mein Vater unternahm nach Großvaters Tod nie einen ernsthaften Versuch, ihn zurückzubekommen. Nun befindet er sich in Gaballufix’ Haus. Doch der Name läßt darauf schließen, daß es sich um den Katalog einer Bibliothek handelt.«

»Wie nützlich«, sagte Elemak. »Und deshalb schickst du uns nach Basilika zurück? Um einen Gegenstand zu holen, dessen Zweck du nicht kennst.«

»Um ihn zu holen und zu mir zurückzubringen. Ganz gleich, was es kostet.«

»Meinst du das ernst?« sagte Elemak. »Ganz gleich, was es kostet?«

»Die Überseele will es so. Ich weiß es … obwohl ich … es ist nicht mein persönliches Gefühl. Ich will, daß ihr sicher hierher zurückkehrt.«

»Klar«, sagte Mebbekew. »So gut wie erledigt. Kein Problem.«

»Sollen wir weitere Vorräte mitbringen?« fragte Nafai.

»Es gibt keine weiteren Vorräte«, sagte Vater. »Ich habe Raschgallivak befohlen, alle Karawanenvorräte zu verkaufen.«

Nafai sah, daß Elemaks Gesicht unter der dunklen Bräune rot wurde. »Und womit, Vater, sollen wir unser Geschäft dann wieder aufbauen, wenn unser Exil vorüber ist?«

Nafai begriff, daß es sich um eine kritische Entscheidung handelte: Elemak sah sich mit der Tatsache konfrontiert, daß Vaters Entscheidungen unabänderlich waren. Würde Elja rebellieren, dann wegen dieser Angelegenheit, die er nur als Verschwendung seines Erbes betrachten konnte. Also sprach Vater ganz ruhig, als er ihm antwortete.

»Ich habe nicht vor, irgend etwas wieder aufzubauen«, sagte Väter. »Tu, was ich sage, Elemak, oder es wird für dich keine Rolle mehr spielen, wie es um das Wetschik-Vermögen steht.«

Damit war alles gesagt. Klarer konnte er sich nicht ausdrücken. Falls Elemak jemals selbst Wetschik sein wollte, tat er besser daran, den Befehlen des jetzigen Wetschik zu gehorchen.

»Ich konnte diese stinkenden Tiere sowieso nie leiden«, gackerte Mebbekew. »Wer braucht sie schon?« Der Sinn seiner Worte war genauso klar: Ich werde gern an deiner statt Wetschik, Elemak – also fahre bitte fort und mache Vater wirklich wütend.

»Ich werde dir den Index bringen, Vater«, sagte Elemak. »Aber warum willst du auch die anderen schicken? Laß mich allein gehen. Oder ich nehme Mebbekew mit, und die Knaben bleiben hier. Sie werden mir sowieso nicht helfen können.«

»Die Überseele hat mir gezeigt, daß alle vier gehen«, sagte Vater. »Also werdet ihr alle vier nach Basilika gehen, und alle vier werden zurückkommen. Hast du mich verstanden?«

»Vollkommen«, sagte Elemak.

»Gestern abend hast du Nafai verspottet, weil er behauptete, Visionen zu haben«, sagte Vater. »Aber ich sage dir, du könntest viel von Nafai und Issib lernen. Sie versuchen wenigstens zu helfen. Von meinen beiden älteren Söhnen höre ich nur Beschwerden.«

Mebbekew funkelte Nafai wütend an, doch Nafai hatte größere Angst vor Elemak, der Vater ganz ruhig ansah. Gestern abend wolltest du mir nicht glauben, Vater, dachte Nafai bei sich. Und heute sorgst du dafür, daß meine Brüder mich mehr denn je hassen.

»Ihr wißt viel, Elemak, Mebbekew«, sagte Vater, »doch bei allem, was ihr gelernt habt, scheint ihr niemals die Begriffe von Treue und Gehorsam verstanden zu haben. Lernt sie von euren jüngeren Brüdern, und dann werdet ihr des Wohlstands und der Ehren würdig sein, die ihr anstrebt.«

Aus und vorbei, dachte Nafai. Jetzt bin ich tot. Sie werden mich auf dieser Reise behandeln wie einen Wurm in ihrem Brot. Unter diesen Umständen würde ich lieber zu Hause bleiben, Vater, habe allerbesten Dank.

»Vater, ich werde alles tun, was du verlangst«, sagte Elemak. Doch seine Stimme war leise und kalt, und es machte Nafai im Herzen ganz krank, sie zu hören.

Verdrossen traf Elemak die Vorbereitungen für die Reise. Wie Nafai erwartet hatte, ignorierte Elja ihn völlig, als er fragte, ob er helfen könne. Und Mebbekew warf ihm einen Blick zu, daß Nafai kalte Furcht durchlief. Er will mich umbringen, dachte er. Meb will meinen Tod.

Da er nicht helfen durfte und es offensichtlich am klügsten war, sich eine Weile so unauffällig wie möglich zu benehmen, kehrte Nafai zu dem Zelt zurück, das er sich mit Issib teilte, und half seinem Bruder beim Packen, eine Aufgabe, die hauptsächlich darin bestand, die Flossen zusammenzubinden und in einer Tasche zu verstauen. Als Issib gierig die Flossen betrachtete, sah er in den Augen seines Bruders, daß es diesem völlig egal war, was Elemak oder Mebbekew von ihm hielten – er wollte in die Stadt zurückkehren, in der er frei war und nicht wie ein Kind oder Haustier angezogen oder hinausgebracht werden mußte, um sich zu erleichtern. Er ist ein Gefangener, dachte Nafai, eingekerkert in diesem Körper. Und dann war er fertig, und Issib saß in seinem Stuhl, schwebte über dem Boden und sah aus wie ein übelgelaunter Monarch auf seinem Thron. Er konnte es kaum abwarten, nach Basilika zurückzukehren.

Sie alle können es kaum abwarten, dachte Nafai. Aber keiner aus dem richtigen Grund. Keiner ist darauf versessen, nach Basilika zurückzukehren, weil er wünscht, der Überseele helfen zu können.

Nafai fand sich am Wasser wieder, wo er einen Ast von zehn Zentimetern Dicke umklammerte, ihn zwischen den Händen bog, bog wie ein Hufeisen. Er kämpfte gegen ihn an, gab aber auch unter der Stärke seines Griffs nach.

»Zerbreche ihn nicht«, sagte Vater.

Nafai fuhr erschrocken herum. Er ließ den Ast los›und er peitschte nach oben; einige Blätter schlugen ihm ins Gesicht.

»Er hat so lange gebraucht, um zu wachsen«, sagte Vater.

»Ich hätte ihn nicht zerbrochen.«

»Du warst drauf und dran«, sagte Vater. »Ich kenne mich mit Pflanzen aus. Du nicht. Du warst dabei, ihn zu zerbrechen.«

»So stark bin ich nicht.«

»Stärker, als du weißt.« Vater schätzte ihn mit Blicken ab. »Vierzehn.« Er lachte leise. »Die Gene deiner Mutter, nicht die meinen, fürchte ich. Ich sehe dich an und sehe …«

»Mutter?«

»Was aus Issib geworden sein könnte, sowohl, was den Körper, als auch, was den Geist betrifft. Armer Junge.«

Armer Junge. Warum siehst du mich nicht manchmal an, Vater, und siehst mich. Statt eines Kindes, das nur in deiner Phantasie existiert. Statt eines kleinen Jungen, der sich Visionen ausdenkt. Warum siehst du nicht, was ich bin: ein Mann, der die Stimme der Überseele gehört hat, sogar deutlicher als du.

»Ich habe Angst«, sagte Vater.

Nafai sah seinem Vater ins Auge. Will er mich aufziehen?

»Ich schicke euch auf eine viel gefährlichere Reise, als deine Brüder es verstehen. Aber du verstehst es doch, Nafai, oder?«

»Ich glaube schon.«

»Nach dem, was du gesehen hast«, sagte Vater. Aber es war nicht weniger eine Frage als eine Antwort. Was fragt er mich? Ob ich die Wahrheit über Elja und Meb kenne? Das war unmöglich, denn Vater kannte sie selbst nicht. Nein, Vater fragte, ob Nafai wirklich Visionen sah.

Nafais erste Reaktion bestand darin, wütend zu sein – verletzt und beleidigt. Doch dann begriff er, daß es falsch war, diese Gefühle zu empfinden. Denn Vater hatte ein Recht, diese Frage zu stellen, ein Recht, sich Zeit zu lassen, um an Nafais Visionen zu glauben, genau, wie Issib gesagt hatte. Er versuchte, sich mit der Vorstellung anzufreunden, daß Nafai ebenfalls ein Diener der Überseele sein konnte.

»Ja«, sagte Nafai. »Ich habe etwas gesehen. Aber nichts, was den Index betrifft.«

»Gaballufix wird ihn nicht hergeben«, sagte Vater. »In der Vision tat er es, doch die Überseele kann nicht alles sehen. Der Index ist nichts, was man sich einfach ausborgen kann. Er ist sehr mächtig.«

»Warum? Was kann er?«

»Ich weiß nicht, was er auf sich allein gestellt kann. Aber ich weiß, daß er Macht bedeutet. Ich weiß, daß bei den Palwaschantu derjenige, der den Index aufbewahrt, das Vertrauen des Klans hat. Die größte Ehre. Gabja wird ihn nicht einfach aufgeben. Er würde eher töten. Und deshalb schicke ich meine Söhne.«

Der Ausdruck auf Vaters Gesicht war wütend. Nafai begriff: Er ist auf die Überseele wütend, weil sie dies von ihm verlangt.

Doch dann bekam Vater seinen Zorn in den Griff, und sein Gesicht wurde ruhig. »Ich hoffe«, sagte Vater leise, »ich hoffe, daß die Überseele das alles wirklich durchdacht hat.«

»Vater«, sagte Nafai, »ich werde gehen und tun, was immer die Überseele von uns verlangt. Denn ich weiß, daß die Überseele es nicht von uns verlangen würde, hätte sie nicht irgendwie dafür gesorgt, daß die Aufgabe auch zu bewältigen ist.«

Vater betrachtete lange sein Gesicht. Dann lächelte er. Nafai hatte nie zuvor ein solches Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters gesehen. Die Erleichterung darin, das Vertrauen. »Du machst mir nicht nur etwas vor«, sagte Vater. »Du sagst nicht nur das, was ich deiner Ansicht nach hören will.«

»Wann hat irgendeiner deiner Söhne jemals etwas gesagt, von dem er annahm, daß du es hören wolltest?« fragte Nafai.

Nun lachte Vater. »Niemals!« rief er. Und dann, genauso plötzlich, erstarb das Gelächter. Vater nahm Nafais Kopf zwischen die Hände und beugte sich vor und küßte ihn auf den Mund. »Mein Sohn«, flüsterte er. »Mein Sohn.«

Einen Augenblick lang standen sie dort zusammen, neben dem Baum, neben dem Wasser, bis sie Schritte hörten und sich umdrehten. Es war Elemak; sein Gesicht war noch immer verdrossen und wütend. »Wir müssen los«, sagte er. »Zumindest, falls wir heute noch ein gutes Stück schaffen wollen.«

»Dann geht, brecht auf«, sagte Vater. »Ich will euch nicht aufhalten.«

Ein paar Minuten später waren sie wieder auf ihren Kamelen und eilten zur Stadt zurück.

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