9 Lügen und Verkleidungen

Nachdem der Mond aufgegangen war, war es für Luet viel einfacher, den Weg in die Stadt zurück zu finden, als es ihr zuvor gefallen war, zu Wetschiks Haus zu kommen. Außerdem kannte sie nun ihr Ziel; es ist immer einfacher, nach Hause zurückzukehren, als einen fremden Ort zu finden.

Seltsamerweise verspürte sie erst ein Gefühl von Gefahr, als sie wieder in der Stadt selbst angelangt war. Der Wächter am Rauchfang-Tor hatte seinen Posten verlassen – vielleicht hatte man ihn schlafend ertappt, oder vielleicht hatte die Überseele ihm eingegeben, einen plötzlichen Gang erledigen zu müssen. Luet mußte über den Gedanken lächeln, daß die Überseele sich die Mühe machte, einem Menschen das dringende Bedürfnis einzugeben, die Blase zu entleeren, nur damit Luet sicheres Geleit hatte.

Innerhalb der Stadt war der Mond jedoch keine so große Hilfe mehr. Da er noch nicht sehr hoch aufgegangen war, warf er tiefe Schatten, und die von Norden nach Süden verlaufenden Straßen lagen noch in völliger Dunkelheit. Die Überseele allein mochte wissen, wer zu dieser Stunde unterwegs war. Von den Tolschocks wußte man, daß sie sich viel früher in der Nacht herumtrieben, wenn noch zahlreiche Frauen auf den Straßen waren. Nun jedoch, in den einsamsten Stunden vor dem Morgengrauen, mochten viel schlimmere Gestalten als die Tolschocks unterwegs sein.

»Ist sie nicht hübsch?«

Die Stimme erschreckte sie. Aber sie gehörte einer Frau, einer heiseren Frau. Luet brauchte einen Augenblick, um sie in den Schatten zu finden. »Ich bin nicht hübsch«, sagte sie. »In der Dunkelheit trügen dich deine Augen.«

Es mußte eine heilige Frau sein, wenn sie zu dieser Stunde auf der Straße war. Als sie aus der dunklen Ecke trat, in der sie Zuflucht vor dem Nachtwind gesucht hatte, zeichnete sich ihre schmutzige Haut etwas heller als die sie umgebenden Schatten ab. Sie war von Kopf bis Fuß nackt. Als Luet die Frau sah, spürte sie die Kälte der Herbstnacht. Solange Luet in Bewegung geblieben war, hatte die Anstrengung sie warm gehalten. Nun jedoch fragte sie sich, wie diese Frau so leben konnte, ohne eine schützende Hülle zwischen ihrer Haut und der Nachtluft.

Mutter war auch eine Wilde, dachte Luet. Ich wurde von einer solchen Frau geboren. Sie schlief in der Wüste, als ich in ihrem Leib war, und sie trug mich, so nackt wie sie war, in die Stadt, um mich bei Tante Rasa abzugeben. Aber sie ist es nicht. Meine Mutter, wo immer sie nun sein mag, ist keine heilige Frau mehr. Nur ein Jahr, nachdem ich geboren wurde, verließ sie die Überseele, um mit einem Mann zu gehen, einem Bauern, der sich auf dem steinigen Boden des Tals Chalvasankhra einen kargen Lebensunterhalt zusammenkratzen wollte. Zumindest hatte Tante Rasa das gesagt.

»Schön sind die Augen des heiligen Kindes«, intonierte die Frau, »das in der Dunkelheit sieht und in der gefrorenen Nacht mit hellem Feuer brennt.«

Luet gestattete der Frau, ihr Gesicht zu berühren, doch als die kalten Hände an ihrer Kleidung zu zerren begannen, bedeckt Luet sie mit den ihren. »Bitte«, sagte sie. »Ich bin nicht heilig, und die Überseele schützt mich nicht vor der Kälte.«

»Oder vor neugierigen Blicken«, sagte die heilige Frau. »Die Überseele schaut tief in dich hinein, und du bist heilig, ja, du bist es wirklich.«

Vor wessen neugierigen Blicken? Den Blicken der Überseele? Vor denen von Männern, die Frauen wie Pferde taxierten? Vor denen der Klatschbasen? Oder dieser Frau? Und was die Heiligkeit betraf – da wußte Luet es besser. Die Überseele hatte sie ausgewählt, aber nicht, weil sie besonders tugendhaft gewesen wäre. Wenn überhaupt war es eine Bestrafung, immer von Menschen umgeben zu sein, die sie als Orakel statt als Mädchen betrachteten. Huschidh, ihre eigene Schwester, hatte einmal zu ihr gesagt: »Ich wünschte, ich hätte deine Begabung; alles ist dir so klar.« Nichts ist mir klar, hatte Luet sagen wollen. Die Überseele vertraut sich mir nicht an, sie benutzt mich nur, Botschaften weiterzugeben, die ich selbst nicht verstehe. Genau, wie ich nicht verstehe, was diese heilige Frau von mir will, oder warum -falls die Überseele sie geschickt hat – sie mir geschickt wurde.

»Schrecke nicht davor zurück, ihn zum Wasser zu führen«, sagte die heilige Frau.

»Wen?« fragte Luet.

»Die Überseele will, daß du ihn lebend errettest, ganz gleich, welche Gefahren dich erwarten. Es liegt kein Sakrileg darin, der Überseele zu gehorchen.«

»Wen?« fragte Luet erneut. Diese Verwirrung, dieses Entsetzen, daß sie das Rätsel dieser Worte lösen oder aber einen schrecklichen Verlust erleiden mußte – fühlten sich so die anderen, wenn sie ihnen von ihren Visionen erzählte?

»Du glaubst, alle Visionen müßten sich bei dir einstellen«, sagte die heilige Frau. »Aber manche Dinge sind zu klar, als daß du sie erkennen könntest. Oder?«

Ich weiß nicht, was ich von dieser freundlichen, heiligen Frau halten soll. Ich habe nie um Visionen gebeten und wünsche mir oft, andere Leute hätten sie. Aber wenn du darauf bestehst, mir eine Nachricht zu übermitteln, dann habe bitte den Anstand, sie so verständlich wie möglich auszudrücken. Das versuche ich auch immer.

Luet versuchte, keine Abneigung in ihre Stimme treten zu lassen, doch sie konnte dem Drang nicht widerstehen, auf einer klärenden Antwort zu beharren. »Wer ist dieser er, von dem du ständig sprichst?«

Die Frau versetzte ihr eine heftige Ohrfeige. Sie trieb Tränen in Luets Augen – Tränen der Scham genauso wie des Schmerzes. »Was habe ich getan?«

»Ich habe dich nun für die Entweihung bestraft, die du begehen wirst«, sagte die heilige Frau. »Die Bestrafung wurde vollzogen, und niemand kann verlangen, daß du erneut dafür büßt.«

Luet wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen; die Antworten gefielen ihr nicht. Statt dessen betrachtete sie die Frau, versuchte herauszufinden, ob Verständnis in ihren Augen lag. War sie vielleicht doch schlichtweg verrückt? Mußte sie die wahre Stimme der Überseele sein? Um soviel leichter wäre es, wenn sie wahnsinnig wäre.

Die alte Frau streckte die Hand wieder nach Luets Wange aus. Luet zuckte kurz zurück, doch diesmal war die Berührung der Frau sanft, und sie wischte eine Träne von Luets Wange. »Habe keine Angst vor dem Blut an diesen Händen. Wie das Wasser der Vision wird die Überseele es als Gebet empfangen.«

Dann wurde das Gesicht der alten Frau schlaff und müde, und das Licht in ihren Augen erlosch. »Es ist kalt«, sagte sie.

»Ja.«

»Ich bin zu alt«, sagte sie.

Ihr Haar war nicht einmal grau, aber ja, dachte Luet, du bist sehr, sehr alt.

»Nichts ist hold«, sagte die heilige Frau. »Silber und Gold. Gefunden oder gewollt.«

Sie war eine Reimerin. Luet wußte, daß viele Leute glaubten, wenn eine heilige Frau zu reimen anfing, spräche die Überseele aus ihr. Aber dem war nicht so – die Reime waren eine Art Musik, die Stimme der Trance, die einige der heiligen Frauen von ihrem öden und schrecklichen Leben losmachte. Wenn sie zu reimen aufhörten, bestand eine Chance, daß sie sinnvolle Bemerkungen von sich gaben.

Die heilige Frau ging davon, als habe sie Luet völlig vergessen. Da sie ebenfalls vergessen zu haben schien, wo sich ihre geschützte Ecke befand, nahm Luet sie an der Hand und führte sie dorthin zurück, ermutigte sie, sich zu setzen und vor der Wand zusammenzurollen, die den Wind abwehrte. »Aus dem Wind«, flüsterte die heilige Frau. »Was sind sie blind.«

Luet ließ sie dort zurück und ging weiter in die Nacht. Der Mond stand jetzt höher, doch das hellere Licht trug kaum dazu bei, sie etwas aufzuheitern. Obwohl die heilige Frau an sich harmlos war, hatte sie Luet daran erinnert, wie viele Leute sich auf den Straßen aufhalten und in den Schatten verbergen mochten. Und wie verletzbar sie war. Es gab Geschichten von Männern, die Bürgerinnen genauso behandelt hatten, wie sie von Gesetzes wegen mit den heiligen Frauen umgehen durften. Doch selbst das war nicht ihre schlimmste Furcht.

Es liegt Mord in der Stadt, dachte Luet. Mord schwebt über diesem Ort, nicht Heiligkeit, und Gaballufix hat als erster daran gedacht. Ohne die Vision und Warnung, die ich im Auftrag der Überseele weitergegeben habe, wären gute Männer gestorben. Sie erschauderte erneut, als sie an den Mann mit der durchgeschnittenen Kehle in ihrer Vision dachte.

Endlich erreichte sie die Stelle, wo die Heilige Straße breiter wurde und sich ins Tal senkte; dort war sie eigentlich keine Straße mehr, sondern eine Schlucht, mit uralten Stufen, die man in den Fels gemeißelt hatte und die direkt zum See führten, der mit einem Hauch von Schwefel dort unten heiß dampfte. Den Frauen, die dort beteten, haftete dieser Geruch immer tagelang an. Er mochte heilig sein, doch Luet empfand ihn als äußerst unangenehm, und sie betete niemals dort. Sie zog die Stelle vor, wo sich das heiße und das kalte Wasser vermischte und sich der dichteste Nebel hob, wo die Strömungen mit ihren unterschiedlichen Temperaturen um sie herumwirbelten, wenn sie auf dem Wasser trieb. Dort tanzte ihr Körper ohne eigenes Zutun auf dem Wasser, und sie konnte sich ganz der Überseele hingeben.

Von wem hatte die heilige Frau gesprochen? Der ›er‹ mit Blut an den Händen, der ›er‹, den sie zum Wasser führen konnte – wahrscheinlich zum Wasser des Sees.

Nein, es hatte keine Bedeutung. Diese Heilige war eine der Verrückten gewesen, und ihre Worte ergaben keinen Sinn.

Der einzige Mann mit Blut an den Händen, der ihr einfiel, war Gaballufix. Wie konnte die Überseele wollen, daß sich so ein Mann dem heiligen See näherte? Würde die Zeit kommen, da sie Gaballufix’ Leben retten mußte? Wie konnte dies nur in die Pläne der Überseele passen?

Sie wandte sich nach links, auf die Turmstraße, und dann wieder nach rechts auf die Regenstraße, deren Kurven sie folgte, bis sie vor Rasas Haus stand. Natürlich. Die Überseele hatte sie beschützt. Die Nachricht, die sie überbracht hatte, war nicht die einzige Aufgabe, die die Überseele für sie im Sinn hatte; Luet würde noch weitere erfüllen müssen. Sie nahm diese Erkenntnis mit großer Erleichterung auf. Denn hatte ihre eigene Mutter Tante Rasa nicht erzählt, an dem Abend, an dem sie Luet als Kleinkind in Rasas Arme legte: »Diese wird nur solange leben, wie sie der Mutter der Mütter dient.« Die Mutter der Mütter hatte sie für eine andere Nacht bewahrt.

Luet hatte gehofft, in Rasas Haus zurückkehren zu können, ohne jemanden zu wecken, doch sie hatte nicht berücksichtigt, wie das neue Klima der Angst in der Stadt sogar den Haushalt des führenden Internats Basilikas verändert hatte. Die Eingangstür war von innen abgeschlossen. Noch immer in der Hoffnung, unbemerkt eindringen zu können, hielt sie nach einem Fenster Ausschau, durch das sie einsteigen konnte. Erst jetzt begriff sie, daß alle Fenster auf der Straßenseite einzig und allein den Zweck hatten, Licht und Luft hineinzulassen – viele vertikale Schlitze in der Mauer, mit komplizierten gemeißelten oder geschnitzten Entwürfen, doch keiner davon war breit genug, daß auch nur ein Kind mit Kopf und Schultern hindurchgepaßt hätte.

In Basilika herrscht nicht zum erstenmal Furcht, dachte sie. Dieses Haus war so gebaut, daß sich niemand des Nachts verstohlen Zugang verschaffen kann. Natürlich sollten diese Fenster auch vor Einbrechern schützen; doch vielleicht waren sie in erster Linie dazu gedacht, zurückgewiesene Freier und Gefährten, deren Eheverträge erloschen waren, daran zu hindern, sich mit Gewalt Zutritt zu einem Haus zu verschaffen, das sie mittlerweile vielleicht für das ihre hielten.

Die Vorkehrungen, die einem Mann den Zugang verwehrten, hinderten auch Luet daran, mochte sie noch so klein und schmächtig sein. Sie wußte natürlich, daß keine Möglichkeit bestand, um die Seiten des Hauses zu gelangen, da die benachbarten Gebäude direkt an die massiven Steinmauern von Rasas Haus gebaut waren.

Warum war ihr nicht der Gedanke gekommen, daß es viel schwerer sein würde, in das Haus zurückzukehren, als es zu verlassen? Sie war natürlich nach Anbruch der Dunkelheit aufgebrochen, doch noch lange vor der Zeit, da sich das Haus auf die Nacht vorbereitete; Huschidh wußte von ihrem Gang und würde verhindern, daß jemand ihre Abwesenheit entdeckte. Es war einfach keiner von beiden in den Sinn gekommen, dafür zu sorgen, daß Luet wieder ins Haus hineinkam. Tante Rasa hatte noch nie zuvor die Eingangstür abgeschlossen. Und später, nachdem die Überseele auf ihrem Weg aus der Stadt dafür gesorgt hatte, daß der Wächter schlief, und ihn bei ihrer Rückkehr ganz vom Tor ferngehalten hatte, war Luet einfach davon ausgegangen, daß die Überseele ihr den Weg ebnen würde.

Luet überlegte, ob sie die Nacht auf dem Portal verbringen sollte. Doch es war jetzt ziemlich kalt. Solange sie sich in Bewegung befunden hatte, hatte das keine Rolle gespielt; das Laufen hatte sie warmgehalten. Doch es war gefährlich, hier draußen zu schlafen. Stadtfrauen, zumindest die guter Herkunft, besaßen nicht die richtige Kleidung, um im Freien zu schlafen. Was die heiligen Frauen gewöhnt waren, würde sie krank machen.

Doch vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. War Tante Rasas Säulengang auf der Talseite des Hauses nicht völlig offen? Vielleicht würde sie es ja schaffen, vom Tal hinaufzuklettern. Natürlich war der Streifen genau östlich von Rasas Säulengang der verwildertste, leerste Teil der Klippe – er gehörte nicht einmal zu einem Bezirk. Obwohl die Sauerstraße dort in die Schlucht führte, führte kein Weg hinauf oder hinab; die Frauen gingen niemals dorther, um zum See zu gelangen.

Und doch wußte sie, daß sie diesen Weg einschlagen mußte, wollte sie in Tante Rasas Haus zurück.

Erneut die Überseele, die sie führte. Sie führte, aber ihr nichts verriet.

Warum nicht? fragte Luet zum tausendsten Mal. Warum kannst du mir nicht sagen, was du im Sinn hast? Wenn du mir gesagt hättest, daß ich zu Wetschiks Haus gehe, wäre ich nicht so ängstlich gewesen. Wie haben meine Furcht und Unwissenheit je deinen Zwecken gedient? Und nun schickst du mich zu dem wilden Land östlich von Tante Rasas Haus – zu welchem Zweck? Findest du Vergnügen daran, mit mir zu spielen? Oder bin ich zu dumm, deine Absicht zu begreifen? Ich bin wie die Brieftaube, die immer nach Hause zurückkehrt, imstande, deine Mitteilungen zu überbringen, aber niemals, zu sie erklären.

Und doch trat sie trotz ihres Grolls ein paar Minuten später von den letzten Kopfsteinen der Sauerstraße auf das Gras und tauchte dann in die weglosen Wälder der Klippe ein.

Der Boden war zerklüftet, und alle Risse und Brüche im Unterholz schienen abwärts zu führen, fort von Rasas Säulengang und hin zu den Klippen, die sich über der Schlucht der Heiligen Straße aufbäumten. Kein Wunder, daß nicht einmal die Klippen-Frauen hier Häuser bauten. Doch Luet ließ sich nicht von den leichten Wegen in die Irre führen -sie wußte, daß sie in dem Augenblick verschwinden würden, da sie begann, ihnen zu folgen. Statt dessen erzwang sie sich den Weg durchs Unterholz. Die Zaroseldornen hakten sich in ihrer Haut fest, und sie wußte, daß sie winzige Striemen hinterlassen würden, die noch tagelang schmerzen würden, selbst unter einer Schicht von Tante Rasas Salbe. Schlimmer war noch, daß sie fror und hundemüde und erschöpft war, so daß sie sich manchmal beim Aufwachen ertappte, obwohl sie gar nicht geschlafen hatte. Dennoch – sie hatte diesen Weg eingeschlagen und würde ihn auch bis zum Ende gehen.

Sie kam auf eine kleine Lichtung, auf die durch Lücken im Baldachin der Bäume über ihr helles Mondlicht fiel. In einem Monat würden all diese Blätter verschwunden und diese Dickichte nicht halb so beschwerlich sein. Doch nun kam ihr der Lichtfleck wie ein Wunder vor, und sie blinzelte.

Mit diesem Blinzeln veränderte sich die Lichtung. Plötzlich stand eine Frau dort.

»Tante Rasa«, flüsterte Luet. Wieso hat sie gewußt, daß sie hier nach mir suchen muß? Hat die Überseele wieder zu jemandem gesprochen?

Aber dann sah sie, daß es gar nicht Tante Rasa war. Es war Huschidh. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?

Nein. Keine Täuschung. Denn nun hatte Huschidh sich erneut verändert. Nun war sie Eiadh, dieses wunderschöne Mädchen aus Huschidhs Klasse, diejenige, in die der arme Nafai so sinnlos verliebt war. Und erneut verwandelte sich die Frau, diesmal in die Schauspielerin Pup, die als junges Mädchen so berühmt gewesen war; sie war eine von Tante Rasas Nichten und war vor einigen Jahren in deren Haus zurückgekehrt, um zu unterrichten. Es hieß sogar, daß die Puppenstadt nach ihr benannt war (obwohl sie diesen Namen schon seit mindestens zehntausend Jahren trug) und daß sie wunderschön gewesen war und viele Herzen gebrochen hatte; doch nun hatte sie die Zwanzig schon längst überschritten, und die Gesichtszüge, die früher in den Frauen den Drang ausgelöst hatten, sie zu bemuttern, und in den Männern, sie zu begehren, waren bei einer Frau nicht mehr so erstaunlich. Dennoch hätte Luet ihr halbes Leben gegeben, wenn sie während der anderen Hälfte so zart und schön wie Pup gewesen wäre.

Warum zeigt die Überseele mir diese Frauen?

Von Pup wandelte sich die Erscheinung zu Schedemei, einer weiteren von Rasas Nichten. Wenn überhaupt, war Shedja jedoch das genaue Gegenteil von Pup und Eiadh. Mit sechsundzwanzig Jahren lebte sie noch immer in Tante Rasas Haus und unterrichtete die älteren Schüler in wissenschaftlichen Fächern, während ihre eigene Reputation als Genetikerin ständig wuchs. Die meisten Nächte über schlief sie tatsächlich in ihrem Labor, viele Straßen entfernt, und nicht in ihrem Zimmer in Rasas Haus, in dem ihre starke, gelassene Gegenwart jedoch spürbar blieb. Schedemei war nicht schön; sie war nicht so häßlich, daß sie einen Betrachter abgestoßen hätte, aber völlig unscheinbar, so daß ihr Gesicht um so unattraktiver wurde, je länger man es betrachtete. Doch ihr Verstand wurde wie ein Magnet von der Wahrheit angezogen: Sobald die Wahrheit einigermaßen deutlich zu fassen war, sprang sie sie an und ließ sie nicht mehr los. Von allen Nichten Rasas war sie diejenige, die Luet am meisten bewunderte; doch Luet wußte, daß sie genausowenig den Verstand hatte, es Schedemei gleichzutun, wie die Schönheit, in Pups Fußstapfen zu treten. Die Überseele hatte sich dazu entschlossen, jemandem ihre Visionen zu schicken, für die die Welt sonst keine Verwendung hatte.

Die Frau war fort. Luet stand allein auf der Lichtung und hatte wieder den Eindruck, gerade wach geworden zu sein.

War dies nur ein Traum, einer jener Art, die sich einstellt, wenn man nicht einmal weiß, daß man schläft?

Hinter der Stelle, wo die Erscheinungen gestanden hatte, machte sie ein Licht aus, das in der Dunkelheit des frühesten Morgens leuchtete. Es mußte Tante Rasas Säulengang sein – in dieser Richtung gab es keine andere Lichtquelle. Vielleicht war die Vision soweit richtig gewesen. Tante Rasa war wach und wartete auf sie.

Sie drängte in das Unterholz vor. Niedrige Zweige schlugen nach ihr, Dornen zerrissen ihr Kleid und ihre Haut, und der unregelmäßige Boden trog sie und ließ sie ausrutschen und stolpern. Doch dieses Licht blieb stets ihr Leuchtfeuer und zog sie an, bis es schließlich verschwand, als sie unter den Rand von Rasas Säulengang trat.

Vor ihr erhob sich eine Mauer aus verwettertem Stein, vom Fuß bis zur Balustrade steil und glatt, ohne den geringsten Halt zu bieten. Und es waren mindestens vier Meter vom Boden bis zum oberen Ende. Selbst, wenn Tante Rasa dort auf sie wartete, gab es keine Möglichkeit hinaufzuklettern, nicht, ohne die Bediensteten um Hilfe zu rufen. Und wenn sie die Ruhe des Hauses sowieso stören mußte, hätte sie gleich die Glockenschnur am Vordereingang ziehen können!

Doch der unebene Waldboden hatte Luet gezwungen, sich Rasas Haus fast genau aus südlicher Richtung zu nähern. Der größte Teil der Vorderseite des Säulengangs war ihr dabei verborgen geblieben. Vielleicht bot das Haus jedoch irgendeinen Zugang vom Säulengang zum Wald. Sicher hatten die Bauherren mehr geplant als nur einen bloßen Blick auf das Spaltental. Und selbst, wenn es keinen direkten Weg gab, mußte es dort irgendeine Stelle geben, die sie vielleicht hinaufklettern konnte.

Als sie sich den Weg um den gekrümmten Felsen bahnte, fand Luet endlich, worauf sie gehofft hatte – eine Stelle, wo der zerklüftete Boden auf den Säulengang hin höher stieg. Nun war die Balustrade nur noch eine Armeslänge außerhalb ihrer Reichweite. Und als sie hinaufgriff, um irgendeinen Halt in den Rissen der Balustrade zu finden, sah sie Tante Rasas Gesicht, das ihr so willkommen war wie der Sonnenaufgang, und ihre Arme, die nach ihr hinabgriffen.

Wäre Luet größer gewesen, hätte Tante Rasa ihr Gewicht wahrscheinlich nicht hinaufziehen können; andererseits jedoch wäre sie dann wohl auch in der Lage gewesen, ohne Hilfe hinaufzuklettern.

Als sie schließlich auf der Bank saß und die Tante sie wie ein kleines Kind in den Arm nahm, stellte Rasa ihr die erwartete Frage: »Was im Namen der Überseele machst du da draußen, anstatt zur Vordertür hineinzukommen wie jede andere Schülerin auch, die sich verspätet hat? Hattest du solche Angst vor einem Tadel, daß du lieber des Nachts im Wald deinen Hals riskiert hast?«

Luet schüttelte den Kopf. »Im Wald sah ich eine Vision«, sagte sie. »Aber ich hätte sie wahrscheinlich sowieso gesehen, so daß es wahrscheinlich meine eigene Torheit war, diesen Weg zu wählen.«

Damit blieb Luet nichts anderes mehr übrig, als Tante Rasa alles zu erzählen, was sie erlebt hatte – die Vision, die sie schon Nafai erzählt hatte und die vor dem Hinterhalt zur Ermordung Wetschiks warnte; die Worte der heiligen Frau in der dunklen Straße; und schließlich die Vision von Rasa und einigen ihrer Nichten.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Vision zu bedeuten hat«, sagte Rasa. »Wie soll ich es denn vermuten, wenn die Überseele es nicht einmal dir verraten hat?«

»Ich will sowieso nichts vermuten«, sagte Luet. »Ich will nichts mehr von Visionen wissen oder über Visionen sprechen. Ich weiß nur, daß mir der ganze Körper weh tut und ich ins Bett will.«

»Natürlich willst du das«, sagte Tante Rasa. »Du kannst schlafen und es Wetschik und mir überlassen, darüber nachzudenken, welche Schritte wir nun unternehmen müssen. Es sei denn, er war so dumm, um zum Schluß zu kommen, daß die Ehre es von ihm verlangt, dieses verräterische Treffen beim Kühlhaus einzuhalten.«

Ein schrecklicher Gedanke kam Luet in den Sinn. »Aber was, wenn Nafai ihm nichts erzählt hat?«

Tante Rasa warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du glaubst, Nafai würde seinen Vater nicht vor einer Verschwörung gegen sein Leben warnen? Du sprichst von meinem Sohn.«

Was konnte dies schon für Luet bedeuten, die ihre Mutter nie gekannt hatte und deren Vater jeder Mann in der Stadt sein konnte, wobei die brutalsten die aussichtsreichsten Kandidaten waren? Mutter und Sohn – diese Verbindung hatte für sie kein besonderes Gewicht. In einer Welt der treulosen Versprechungen war alles möglich.

Nein, ihre Vorsicht gebot ihr, einfach niemandem zu vertrauen. Sie bezweifelte nicht nur Nafais Treue, sondern auch Tante Rasas Urteil. Offensichtlich funktionierte ihr Verstand nicht klar. Sie erlaubte Tante Rasa, sie die Treppe zu Rasas eigenem Zimmer hinaufzuführen und ’Luet auf das große, weiche Bett der Hausherrin zu legen, wo sie einschlief, bevor sie noch begriff, wo sie überhaupt war.


»Die ganze Nacht fort«, sagte Huschidh.

Luet machte ein Auge auf. Das Licht, das durch das Fenster fiel, war sehr hell, doch in der Luft lag Frost. Es war schon heller Tag, und Luet war erst jetzt aufgewacht.

»Und nicht einmal genug Verstand, um zur Vordertür hineinzukommen.«

»Ich verlasse mich nicht immer auf meinen Verstand«, sagte Luet ruhig.

»Das weiß ich auch schon«, sagte Huschidh. »Du hättest mich mitnehmen sollen.«

»Zwei Personen sind immer unauffälliger als eine.«

»Zu Wetschiks Haus! Ist dir nicht in den Sinn gekommen, daß ich den Hin- und Rückweg kenne?«

»Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte.«

»Allein des Nachts. Alles mögliche hätte passieren können. Und du bindest mich mit diesem törichten Eid, niemandem etwas zu erzählen. Tante Rasa hätte mich fast lebendig gehäutet und mich zum Trocknen auf der Veranda aufgehängt, als ihr in den Sinn kam, daß ich gewußt haben muß, daß du fort warst, und ihr nichts gesagt habe.«

»Sei nicht böse auf mich, Huschidh.«

»Weißt du, daß die ganze Stadt in Aufruhr ist?«

Eine plötzliche Furcht durchbohrte sie. »Nein, Huschidh – sag mir nicht, daß es doch einen Mord gegeben hat!«

»Einen Mord? Wohl kaum. Aber Wetschik ist verschwunden, er und all seine Söhne, und Gaballufix behauptet, Wetschik sei geflohen, weil er, Gaballufix, herausgefunden habe, daß Wetschik ihn und Roptat bei einem geheimen Treffen ermorden wollte, das Wetschik bei seinem Kühlhaus am Musik-Tor arrangiert hatte.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Luet.

»Nun, das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Huschidh. »Ich habe dir nur erzählt, was Gaballufix’ Leute behaupten. Seine Soldaten haben sich auf den Straßen breitgemacht.«

»Ich bin so müde, Huschidh, und ich kann nichts gegen diese Sache unternehmen.«

»Tante Rasa glaubt, daß du doch etwas dagegen tun kannst«, sagte Huschidh. »Deshalb hat sie mich geschickt, dich zu wecken.«

»Ach ja?«

»Na ja, du kennst sie doch. Sie hat mich zweimal hinaufgeschickt, damit ich mich ›überzeuge, daß die arme Luet noch etwas von der Ruhe bekommt, die sie so dringend braucht‹.«

»Wie aufmerksam von dir, zwischen den Zeilen zu lesen, du allerliebstes Juwel einer großen Schwester.«

»Du kannst später weiterschlafen, meine allerliebste Yagda-Beere einer kleinen Schwester.«

Luet brauchte nur einen Moment, um sich zu waschen und anzuziehen, denn sie war noch so jung, daß Tante Rasa nicht darauf bestand,“ daß sie sich das Haar und die Kleidung richtete und würdevoll aussah, bevor sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. Als Luet nach unten kam, war Tante Rasa mit einem Mann im Salon, einem Fremden, doch Rasa stellte ihn sofort vor.

»Das ist Raschgallivak, liebe Luet. Er ist vielleicht der loyalste und vertrauenswürdigste Mann überhaupt; das hat mein geliebter Gefährte zumindest immer gesagt.«

»Ich habe dem Wetschik mein ganzes Leben lang gedient«, sagte Raschgallivak, »und werde ihm weiterhin dienen, bis ich sterbe. Ich gehöre vielleicht keinem der großen Häuser an, doch ich bin ein echter Palwaschantu.«

Tante Rasa nickte. Luet fragte sich, ob sie diesem Mann mit Vertrauen oder Ironie begegnen sollte; doch Rasa schien ihm zu vertrauen, und so tat Luet es ihr zögernd gleich.

»Wie ich gehört habe, hast du die Warnung überbracht«, sagte Raschgallivak.

Luet sah Tante Rasa überrascht an. »Er wird es niemandem verraten«, sagte Tante Rasa. »Ich habe seinen Eid. Wir wollen nicht, daß du in diese Politik der Morde verwickelt wirst, meine Liebe. Doch Rasch mußte es wissen, damit er nicht glaubt, mein Wetschik habe den Verstand verloren. Verstehst du, Wetschik hat ihm genaue Anweisungen zurückgelassen, etwas ziemlich Verrücktes zu tun.«

»Das Gut zu schließen«, sagte Raschgallivak. »Alle bis auf die nötigsten Angestellten zu entlassen, alle Packtiere zu verkaufen und die Herden zu veräußern. Ich soll nur das Land behalten, die Gebäude und das Vermögen, das ich auf Sperrkonten legen soll. Sehr verdächtig, falls mein Herr unschuldig ist. Würden zumindest einige behaupten. Oder besser, behaupten sie schon.«

»Wetschiks Abwesenheit war erst eine halbe Stunde bekannt, als Gaballufix in Wetschiks Haus erschien und als Kopf des Klans Palwaschantu verlangte, man möge ihm den gesamten Besitz der Familie Wetschik überstellen. Er hatte die Dreistigkeit, meinen Gefährten mit seinem Geburtsnamen zu bezeichnen, als habe er das Recht auf den Familientitel verwirkt.«

»Falls mein Herr wirklich Basilika für immer verlassen hat«, sagte Raschgallivak, »sind Gaballufix’ Forderungen rechtmäßig. Der Besitz kann nur an einen Palwaschantu verkauft oder verschenkt werden.«

»Und ich versuche, Raschgallivak zu überzeugen, daß deine Warnung vor einer unmittelbar drohenden Gefahr Wetschik zur Flucht veranlaßt hat und nicht irgendein Plan, die Stadt zu verlassen und das Familienvermögen mitzunehmen.«

Luet begriff nun, wo in diesem Gespräch ihre Pflicht lag. »Ich habe mit Nafai gesprochen«, sagte sie zu Raschgallivak. »Ich habe ihn davor gewarnt, daß Gaballufix beabsichtigt, Wetschik und Roptat zu ermorden – zumindest hat mein Traum eindeutig darauf hingewiesen.«

Raschgallivak nickte langsam. »Das reicht natürlich nicht aus, um Anklage gegen Gaballufix zu erheben. In Basilika werden nicht einmal Männer für Taten verurteilt, die sie geplant, aber nicht durchgeführt haben. Aber es genügt, mich zu überzeugen, daß ich Gaballufix’ Versuchen widerstehen muß, sich den Besitz anzueignen.«

»Du weißt, daß ich einmal seine Gefährtin war«, sagte Rasa. »Ich kenne Gabja sehr gut. Ich schlage vor, daß du außergewöhnliche Maßnahmen ergreifst, das Vermögen zu schützen.«

»Niemand wird es bekommen, nur der Kopf des Hauses Wetschik«, sagte Raschgallivak. »Herrin, ich danke dir. Und auch dir, kleine Weise.«

Er sagte kein Wort mehr, sondern ging augenblicklich. Ganz im Gegensatz zu den eleganteren Männern – Künstler, Wissenschaftlern, Männer der Regierung und der Finanzen –, die Luet in Tante Rasas Salon kennengelernt hatte. Diese Männer verweilten immer, bis Tante Rasa ihren Aufbruch erzwingen mußte, in dem sie Müdigkeit vortäuschte oder vorgab, dringende Pflichten in der Schule wahrnehmen zu müssen – als wäre ihr Lehrstab nicht kompetent genug, die Dinge ohne ihre direkte Aufsicht zu handhaben. Andererseits jedoch entstammte Raschgallivak einer gesellschaftlichen Klasse, die sich keine Hoffnungen darauf machen konnte, mit einer Frau wie Tante Rasa oder einer ihrer Nichten einen Vertrag einzugehen.

»Es tut mir leid, daß du nicht mehr Schlaf bekommen hast«, sagte Tante Rasa, »aber ich bin froh, daß du zu so einer günstigen Zeit aufgewacht bist.«

Luet nickte. »Da ich letzte Nacht sehr oft glaubte, ich wandelte im Schlaf, habe ich heute morgen vielleicht nur halb soviel davon gebraucht.«

»Ich würde dich am liebsten sofort wieder zu Bett schicken«, sagte Tante Rasa, »aber ich muß dir zuerst eine Frage stellen.«

»Wenn es nicht um etwas geht, was wir kürzlich im Unterricht durchgenommen haben, werde ich die Antwort nicht kennen, Herrin.«

»Tu nicht so, als wüßtest du nicht, wovon ich spreche.«

»Glaube doch nicht, daß ich irgend etwas vom Wirken der Überseele verstehe.«

Luet wußte sofort, daß die Antwort zu schnoddrig gewesen war. Tante Rasa runzelte die Stirn – doch sie hielt ihren Zorn im Zaum und sprach ohne Schärfe. »Manchmal, meine Liebe, vergißt du dich. Du gibst vor, keine besondere Ehre darüber zu empfinden, daß die Überseele dich zu einer Seherin gemacht hat, und sprichst doch mit einer Impertinenz zu mir, die sich keine andere Frau in dieser Stadt, ob nun jung oder alt, erlauben würde. Wem soll ich denn nun glauben, deinen bescheidenen Worten oder deinen stolzen Manieren?«

Luet senkte den Kopf. »Meinen Worten, Herrin. Meine Manieren entsprechen der natürlichen Unhöflichkeit eines Kindes.«

»Diesen Worten kann man am schwersten glauben«, erwiderte Tante Rasa lachend. »Ich will dir meine Fragen ersparen. Geh wieder zu Bett – aber diesmal in dein eigenes Bett –, und ich verspreche dir, niemand wird dich dort stören.«

Luet hatte gerade die Tür des Salons erreicht, als sie geöffnet wurde und eine junge Frau hereinplatzte und sie zurück in den Raum zwang.

»Mutter, das ist abscheulich!« rief die Besucherin.

»Sevet, ich freue mich sehr, dich nach all diesen Monaten zu sehen – und ohne jede Nachricht, daß du kommst, oder auch nur die Höflichkeit zu warten, bis ich dich in meinen Salon bitte.«

Sevet – Tante Rasas älteste Tochter. Luet hatte sie erst einmal gesehen. Wie es dem Brauch entsprach, unterrichtete Rasa ihre eigenen Töchter nicht, sondern hatte sie in die Obhut ihrer lieben Freundin Dhelembuvex gegeben. Diese Tochter hier, ihre älteste, war einen Ehevertrag mit einem jungen Gelehrten – Vas? – von einigem Rang eingegangen, was allerdings ihrer Karriere als Sängerin mit einer wachsenden Reputation für Pichalny-Lieder, jene leisen, melancholischen Weisen von Tod und Verlust, die in Basilika eine uralte Tradition hatten, nicht geschadet hatte. Jetzt jedoch war sie aufgebracht und wütend. Luet entschloß sich, das Zimmer augenblicklich zu verlassen, bevor sie auch nur ein weiteres Wort mitbekam.

Doch Tante Rasa wollte es nicht erlauben. »Bleib, Luet. Ich glaube, du kannst viel davon lernen, wenn du dich überzeugst, wie wenig meine kleine Tochter nach ihrer Mutter oder ihrer Tante Dhel geschlagen ist.«

Sevet sah Luet scharf an. »Wer ist das – nimmst du jetzt Bedürftige auf?«

»Ihre Mutter war eine heilige Frau, Sevya. Vielleicht hast sogar du schon einmal den Namen Luet gehört.«

Sevet errötete augenblicklich. »Bitte verzeiht mir«, sagte sie.

Luet hatte nicht die geringste Ahnung, was sie erwidern sollte, da sie ja tatsächlich bedürftig war und sich daher nicht anmerken lassen durfte, daß Sevets Verunglimpfung sie beleidigt hatte.

Tante Rasa ersparte es ihr, sich eine angemessene Antwort einfallen zu lassen. »Ich gehe einmal davon aus, daß deine Entschuldigung allgemein akzeptiert worden ist. Vielleicht können wir unser Gespräch nun in einem etwas zivilisierteren Tonfall beginnen.«

»Natürlich«, sagte Sevet. »Du mußt wissen, daß ich direkt von Vater hierher komme.«

»Deinem unhöflichen und beleidigenden Benehmen zufolge hast du mindestens eine Stunde mit ihm verbracht.«

»Der arme Mann ist außer sich. Und wie könnte es auch anders der Fall sein, wenn seine eigene Gefährtin schreckliche Lügen über ihn verbreitet.«

»Dann ist er wirklich ein armer Mann«, sagte Tante Rasa. »Es überrascht mich, daß seine kleine, verwahrloste Gefährtin den Mut aufbringt, gegen ihn zu sprechen – oder andernfalls die nötige Intelligenz für eine Lüge. Was hat sie denn über ihn gesagt?«

»Ich meine natürlich dich, Mutter, nicht seine derzeitige Gefährtin, die interessiert niemanden.«

»Aber da ich den Vertrag des lieben Gabja vor fünfzehn Jahren verfallen ließ, kann er von mir doch wohl kaum erwarten, die Wahrheit über ihn zu verschweigen.«

»Mutter, du bist unmöglich.«

»Ich bin niemals unmöglich. Ich erlaube mir höchstens, gelegentlich etwas Unerwartetes zu tun.«

»Du bist die Mutter von Vaters beiden Töchtern, und alle beide sind mehr als nur etwas berühmt, die berühmtesten deiner Nachkommen, und zwar für sehr ehrbare Dinge, obwohl die Karriere der kleinen Koja natürlich noch ganz am Anfang steht, da sie noch keinen eigenen Mjachik geschaffen hat …«

»Erspare mir bitte die Rivalität mit deiner Schwester.«

»Diese Rivalität geht nur von ihr aus, Mutter – ich schenke der Tatsache keine Beachtung, daß ihre Gesangskarriere bestenfalls etwas schleppend vorankommt. Es fällt einer lyrischen Sopranistin immer etwas schwerer, auf sich aufmerksam zu machen – es gibt so viele davon, man kann sie kaum auseinanderhalten, außer natürlich, bei einer davon handelt es sich um die eigene treue, liebevolle Schwester.«

»Ja, ich werde dich all meinen Mädchen als Beispiel für herausragende Loyalität vorstellen.«

Einen Augenblick lang erhellte sich Sevets Gesicht; dann begriff sie, daß ihre Mutter sie aufzog, und sie runzelte die Stirn. »Du bist wirklich nicht nett zu mir.«

»Wenn dein Vater dich geschickt hat, um mich zu überreden, meine Bemerkungen über die Ereignisse des heutigen Morgens zurückzunehmen, kannst du ihm sagen, daß ich seine wahren Pläne von einer über jeden Zweifel erhabenen Quelle kenne. Wenn er nicht aufhört, den Leuten zu sagen, Wetschik habe einen Mord geplant, werde ich meine Beweise vor den Rat bringen und dafür sorgen, daß er verbannt wird.«

»Das … das kann ich Vater nicht sagen!« sagte Sevet.

»Dann laß es«, sagte Tante Rasa. »Dann wird er es herausfinden, wenn es soweit ist.«

»Ihn verbannen? Vater verbannen?«

»Wenn du mehr Geschichte studiert hättest, wüßtest du, daß ein Mann um so schneller aus Basilika verbannt wird, je reicher und mächtiger er ist. Es ist schon oft geschehen und wird wieder geschehen. Schließlich ist es Gabja, nicht Wetschik oder Roptat, dessen Soldaten die Straßen unsicher machen und behaupten, uns vor Schlägern zu schützen, die Gobya wahrscheinlich selbst angeheuert hat. Die Leute werden froh sein, daß er gehen muß – und das heißt, sie werden jeden Beweis, den ich vorbringe, gern glauben.«

Sevets Gesicht wurde ernst. »Vater mag gelegentlich die Beherrschung verlieren und bei seinen Geschäften ein wenig gerissen vorgehen, Mutter, doch er ist kein Mörder.«

»Natürlich ist er kein Mörder. Wetschik verließ Basilika, und Gabja würde es niemals wagen, Roptat zu töten, wenn er nicht Wetschik die Schuld in die Schuhe schieben kann. Obwohl ich glaube, hätte Gabja zu diesem Zeitpunkt gewußt, daß Wetschik geflohen war, hätte er Roptat in dem Augenblick umgebracht, in dem er gekommen wäre, und dann Wetschiks überstürzte Flucht als Beweis angeführt, daß mein lieber Gefährte der Mörder war.«

»Du stellst Vater als richtiges Ungeheuer hin. Warum hast du ihn dann zum Gefährten genommen?«

»Weil ich eine Tochter mit einer außergewöhnlichen Gesangsstimme und ohne jedes moralische Urteilsvermögen haben wollte. Es hat so gut geklappt, daß ich den Vertrag mit ihm für ein zweites Jahr verlängert habe und eine weitere bekam. Und dann war ich fertig.«

Sevet lachte. »Du bist so ein albernes Ding, Mutter. Ich habe ein moralisches Urteilsvermögen. Und auch eins in jeder anderen Hinsicht. Schließlich habe ich Vasja geheiratet und nicht irgendeinen zweitklassigen Schauspieler.«

»Hör auf, die Nase über den Mann zu rümpfen, den deine Schwester zum Gefährten genommen hat«, sagte Tante Rasa. »Kokors Obring ist ein lieber Kerl, auch wenn er nicht das geringste Talent und den Hauch einer Chance hat, daß Koja ihm ein Kind gebären wird, ganz zu schweigen davon, daß sie den Vertrag verlängern wird.«

»Ein lieber Kerl«, sagte Sevet. »Ich darf nicht vergessen, was dieses Wort wirklich bedeutet, nun, da du es mir erklärt hast.«

Sevet erhob sich. Luet öffnete ihr die Tür. Doch Tante Rasa hielt sie zurück.

»Sevja, Liebes«, sagte sie. »Vielleicht kommt der Augenblick, da du zwischen mir und Vater entscheiden mußt.«

»Seit ich ein kleines Kind war, habt ihr beide mich zumindest einmal pro Monat dazu gezwungen. Mir ist es bislang gelungen, euch beiden auszuweichen, und ich habe vor, damit weiterzumachen.«

Rasa schlug die Hände zusammen – ein lautes, scharfes Klatschen, als habe sie einen Stein gegen einen anderen geschlagen. »Hör mir zu, Kind. Ich weiß, welchen Tanz du aufgeführt hast, und ich habe dich sowohl dafür bewundert, daß er dir so gut gelungen ist, als auch dafür bedauert, daß er überhaupt notwendig war. Ich will dir nur sagen, daß es bald vielleicht nicht mehr möglich ist, diesen Tanz aufzuführen. Also ist es jetzt an der Zeit für dich, dir deine beiden Eltern anzusehen und zu überlegen, wer von ihnen deine Loyalität verdient. Ich sage nicht Liebe, weil ich weiß, daß du uns beide liebst. Ich sage Loyalität.«

»Du solltest nicht so mit mir sprechen, Mutter«, sagte Sevet. »Ich bin nicht deine Schülerin. Und selbst, wenn es dir gelingen sollte, Vater in die Verbannung zu schicken, bedeutet das noch nicht, daß ich zwischen euch wählen muß.«

»Und wenn dein Vater Soldaten zu mir schickt, um mich zum Schweigen zu bringen? Oder Tolschocks – was wahrscheinlicher ist. Was, wenn ein Messer, das er bezahlt hat, deiner Mutter die Kehle durchschneidet?«

Sevet betrachtete ihre Mutter stumm. »Dann könnte ich allerdings ein Pichalny-Lied singen, nicht wahr?«

»Ich glaube, daß dein Vater der Feind der Überseele und auch der Feind Basilikas ist. Denke darüber nach, meine Sevet mit der traurigen Stimme, denke gut und lange darüber nach, denn wenn der Tag der Wahl kommt, bleibt dir vielleicht keine Zeit zum Nachdenken mehr.«

»Ich habe dich immer geschätzt, Mutter, weil du nie versucht hast, mich gegen meinen Vater aufzuhetzen, trotz all der üblen Dinge, die er über dich gesagt hat. Es tut mir leid, daß du dich geändert hast.« Mit großer Würde schwebte Sevet hinaus. Luet, die noch wie benommen von der brutalen Natur dieses Gespräches war, folgte ihr langsam zur Tür hinaus.

»Luet«, flüsterte Tante Rasa.

Luet drehte sich zu der großen Frau um und erzitterte innerlich, als sie die Tränen auf deren Wangen sah.

»Luet, du mußt es mir sagen. Was macht die Überseele mit uns? Was hat die Überseele vor?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Luet. »Ich wünschte, ich wüßte es.«

»Würdest du es mir sagen, falls du es wüßtest?«

»Natürlich.«

»Auch, wenn die Überseele es dir verboten hätte?«

An eine solche Möglichkeit hatte Luet nicht gedacht.

Tante Rasa hielt ihr Zögern für eine Antwort. »Nun ja«, sagte sie. »Ich hätte es nicht anders erwartet – die Überseele sucht sich keine schwachen oder untreuen Dienerinnen aus. Aber sag mir eins, wenn du kannst: Ist es möglich, daß es gar keinen Plan gab, Wetschik zu töten? Daß die Überseele diese Warnung nur geschickt hat, um ihn dazu zu bewegen, Basilika zu verlassen? Du mußt doch auf den Gedanken gekommen sein … ich habe mir überlegt … Lurja, was, wenn die Überseele damit nur Issib und Nafai loswerden wollte? Das ergibt doch Sinn, oder? Sie haben die Überseele gestört, sie so beschäftigt gehalten, daß sie zu keinem außer ihnen mehr sprechen konnte. Könnte sie dir diese Vision nicht geschickt haben, um dafür zu sorgen, daß sie die Stadt verlassen, weil die beiden eine Bedrohung für die Überseele dargestellt haben?«

Luets wollte zuerst eine abschlägige Antwort hinausschreien, sie dafür tadeln, daß sie es gewagt hatte, so frevelhaft über die Überseele zu sprechen – als würde die nur ihren eigenen Nutzen im Sinn haben.

Doch als sie dann ruhig darüber nachdachte, erinnerte sie sich, mit welchem Erstaunen Huschidh ihr erzählt hatte, daß Issib und Nafai durchaus der Grund für das Schweigen der Überseele sein könnten. Und wenn die Überseele der Ansicht war, daß ihre Fähigkeit, ihre Töchter zu führen und schützen, durch diese beiden Jungen beeinträchtigt wurde, konnte sie durchaus Schritte eingeleitet haben, die beiden loszuwerden.

»Nein«, sagte Luet, »ich glaube nicht.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin mir niemals sicher, abgesehen von der Vision selbst«, sagte Luet. »Aber ich habe noch nie erlebt, daß die Überseele mich täuscht. All meine Visionen haben sich als wahr erwiesen.«

»Aber auch diese wäre dann noch immer ein wahrer Ausdruck des Willens der Überseele.«

»Nein«, sagte Luet erneut. »Nein, das ist unmöglich. Denn Nafai und Issib haben bereits damit aufgehört. Nafai ist sogar zum Tempel gegangen und hat gebetet …«

»Das habe ich gehört. Aber das trifft auch für Mebbekew zu, Wetschiks Sohn von dieser elenden kleinen Hure Kilvischevex …«

»Und die Überseele hat zu Nafai gesprochen und ihn geweckt und ihn zum Raum der Reisenden geführt, in dem ich gewartet habe. Wenn die Überseele gewollt hätte, daß Nafai schweigen soll, hätte sie es ihm befohlen, und er hätte gehorcht. Nein, Tante Rasa, ich bin überzeugt, daß die Botschaft echt war.«

Tante Rasa nickte. »Ich weiß. Ich habe es gewußt. Es wäre bloß …«

»… einfacher gewesen.«

»Ja.« Sie lächelte. »Es wäre einfacher, wenn Gaballufix so unschuldig ist, wie er behauptet. Aber es entspräche nicht seinem Charakter. Weißt du, weshalb ich den Vertrag mit ihm nicht verlängert habe?«

»Nein«, sagte Luet. Und sie wollte es auch gar nicht wissen – es war schon lange Brauch, daß eine Frau niemals die Gründe verriet, aus denen sie einen Ehevertrag nicht verlängert hatte, und es war ein ernster Verstoß gegen den Anstand, Fragen darüber zu stellen oder auch nur Vermutungen darüber zu betreiben.

»Ich sollte es dir nicht sagen, aber ich werde es tun – weil du die Wahrheit kennen mußt, um alles zu verstehen.«

Ich bin noch ein Kind, dachte Luet. Du würdest keiner anderen Dreizehnjährigen darüber etwas erzählen. Du würdest es nicht einmal deiner eigenen Tochter erzählen. Aber ich, ich bin eine Seherin, und daher wird mir alles geöffnet, und es ist mir unmöglich, noch eine unschuldige Freude an den Dingen zu empfinden.

»Ich habe den Vertrag nicht erneuert, weil ich erfuhr …«

Luet bereitete sich innerlich auf eine schäbige Enthüllung vor, doch es kam nicht soweit.

»Nein, Kind, nein. Nur, weil die Überseele zu dir spricht, darf ich dich nicht mit meinen Geheimnissen belasten. Geh und schlafe. Vergiß meine Fragen, wenn du kannst. Ich kenne meinen Wetschik. Und ich kenne auch Gaballufix. Ich kenne sie beide, bis in die tiefsten Schatten ihrer Seele. Um meiner Töchter willen habe ich versucht, etwas Unmögliches zu finden, wie zum Beispiel Gabjas Unschuld.« Sie kicherte. »Ich bin wie ein Kind, das sich immer Unmögliches wünscht. Wie deine Vision in den Wäldern, bevor ich dich auf den Säulengang zog. Du hast all meine brillantesten Nichten gesehen, wie ein Namensaufruf meiner Urteilskraft.«

Brillant? Schedemei und Huschidh, ja, aber Pup und Eiadh, diese Frauen der Schminke und des Flitters?

»Es hat mich zu gefreut zu erfahren, daß die Überseele sie kennt und in der Vision, die sie geschickt hat, mit mir und dir verbunden hat. Aber wo waren meine Töchter, Lutja? Ich wünschte, du hättest meine Sevja und meine Koja gesehen. Ich wünsche es mir wirklich – ist das dumm von mir?«

Ja. »Nein.«

»Du solltest dich im Lügen üben«, sagte Tante Rasa, »damit du es besser beherrscht. Nun geh zu Bett, meine liebe Seherin.«

Luet gehorchte, schlief aber kaum.


In den folgenden Tagen nahmen die Unruhen in der Stadt zu, bis es fast unmöglich war, den Unterricht in Tante Rasas Haus fortzusetzen. Nicht nur deshalb, weil sie sich ständig Sorgen machten, sondern hauptsächlich, weil so viele Kinder nicht mehr kamen, hauptsächlich aus den jüngeren Klassen. Nur wenige Kinder wurden zu Hause gehalten, weil ihre Eltern Rasas politischen Standpunkt mißbilligten. Aus jedem unterrichtenden Haushalt, ob nun groß oder klein, wurden Kinder genommen und in die Familien zurückgeholt; viele Familien hatten sogar ihre Häuser zugesperrt und hatten Ferien unbekannter Dauer an unbekannten Orten angetreten, an denen sie wahrscheinlich ausharren wollten, bis der schreckliche Tag, der kommen würde, vorübergezogen war.

Wie sehr beneidete Luet doch Nafai und Issib, die sich in einem fernen Land in Sicherheit befanden und nicht in ständiger Angst in dieser Stadt leben mußten, die die Dichter so lange den ›Berg des Friedens‹ genannt hatten.

Während der Antrag, Gaballufix zu verbannen, im Rat immer mehr Unterstützung gewann, setzte Gaballufix seine Soldaten auf den Straßen immer kühner ein. Zum einen gab es immer mehr Soldaten, und zum anderen griffen sie nicht mehr auf den Vorwand zurück, die Bürgerschaft vor den Tolschocks schützen zu wollen. Die Soldaten sprachen an, wen sie wollten, schickten Frauen und Kinder mit Tränen in den Augen nach Hause und verprügelten Männer, die sich ihnen widersetzten.

»Ist er ein Narr?« fragte Huschidh eines Tages Luet. »Weiß er denn nicht, daß alles, was seine Soldaten tun, seinen Feinden nur noch mehr Gründe gibt, ihn zu verbannen?«

»Er muß es wissen«, sagte Luet, »also muß er es darauf anlegen, verbannt zu werden.«

»Dann soll der Tag schnell kommen«, sagte Huschidh, »und hoffentlich werden wir ihn endgültig los.«

Luet wartete auf eine Vision von der Überseele, auf irgendeine Warnung, die sie dem Rat mitteilen sollte. Statt dessen bestand die einzige Vision, die sie erhielt, aus einem Wort des Trostes für eine alte Frau im Bezirk Olivenhain, der sie versicherte, daß ihr lange vermißter Sohn noch lebte und auf einem Schiff zurückkehrte, das bald im Hafen einlaufen würde. Luet wußte nicht, ob sie Trost an der Tatsache empfinden sollte, daß sich die Überseele noch immer Zeit nahm, aus tiefer Seele kommende Gebete alter Frauen mit gebrochenen Herzen zu beantworten, oder Zorn darüber, daß die Überseele noch immer Zeit mit solchen Dingen verschwendete, anstatt die Stadt zu heilen, bevor sie sich selbst zerstörte.

Dann kam endlich der gefürchtetste Augenblick. Die Türglocke schlug an, starke Fäuste trommelten gegen die Tür, und als die Tür aufgerissen wurde, stand ein Dutzend Soldaten dort. Die Dienerin, die die Tür geöffnet hatte, schrie auf, nicht nur, weil sie sich in gefährlichen Zeiten Bewaffneten gegenüber sah. Luet zählte zu den ersten, die der entsetzten Dienerin zu Hilfe eilten, und sah, was ihr solche Angst eingejagt hatte. Alle Soldaten trugen identische Uniformen mit identischen Panzerungen und Helmen und elektrischen Klingen, wie man es erwarten konnte – doch unter diesen Helmen befanden sich auch identische Gesichter.

Rasas älteste Nichte, Schedemei, die Genetikerin, sprach zu den Soldaten. »Ihr habt hier von Rechts wegen nichts zu suchen«, sagte sie. »Niemand will euch hier. Geht.«

»Ich werde mit der Herrin dieses Haushalts sprechen«, sagte der Soldat, der vor den anderen stand, »oder ich werde niemals gehen.«

»Sie hat nichts mit dir zu besprechen, habe ich gesagt.«

Doch dann stand Tante Rasa dort, und ihre Stimme war laut und klar. »Schließe die Tür vor diesen gedungenen Verbrechern«, sagte sie.

Der vorn stehende Soldat lachte und griff mit der Hand an seine Hüfte. Augenblicklich verwandelte er sich vor ihren Augen von einem jungen Söldner mit todernstem Gesicht in einen Mann mittleren Alters mit einem grauen Bart und stechenden, hellen Augen, stämmig, aber nicht weichbäuchig, nicht mit einer Uniform, sondern mit elegantem Zivil bekleidet. Ein Mann mit Stil und Macht, der die ganze Lage für überaus amüsant hielt.

»Gabja«, sagte Tante Rasa.

»Wie gefallen dir meine neuen Spielzeuge?« fragte Gaballufix und betrat das Haus. Frauen und Mädchen und Jungen wichen zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Eine alte Theaterausrüstung, seit Jahrhunderten außer Mode, aber sie befand sich im Museum in einer Stasisblase, und die Herstellungsmaschinen konnten›sich noch erinnern, wie man sie kopiert. Holokostüme, hießen sie damals. All meine Soldaten haben sie jetzt. Ich gestehe ein, damit kann man sie manchmal nur schwer auseinanderhalten, aber andererseits bin ich im Besitz des Hauptschalters, mit dem ich alle abstellen kann, wenn ich will.«

»Verlasse mein Haus«, sagte Rasa.

»Aber ich will nicht gehen«, sagte Gaballufix. »Ich will mit dir sprechen.«

»Ohne sie kannst du jederzeit mit mir sprechen. Das weißt du, Gabja.«

»Das habe ich einmal gewußt«, sagte Gaballufix. »Um die Wahrheit zu sagen, o edelste meiner Gefährtinnen, ich wußte, daß meine Soldaten dich nicht beeindrucken würden – ich wollte dir nur die neueste Mode zeigen. Bald werden die besten Männer sie tragen.«

»Nur in ihren Särgen«, sagte Tante Rasa.

»Willst du dieses Gespräch vor den Kindern führen, oder sollen wir uns auf deinen geheiligten Säulengang zurückziehen?«

»Deine Soldaten warten vor der Tür. Vor der verschlossenen Tür.«

»Was immer du verlangst, o Mutter meines Duetts der süßen Singvögel. Obwohl deine Tür mit all ihren Schlössern kein Hindernis wäre, wenn ich sie im Haus haben wollte.«

»Menschen, die sich ihrer Macht sicher sind, müssen nicht damit prahlen«, sagte Tante Rasa. Sie ging den Korridor voraus, während Schedemei die Tür vor den Gesichtern der Soldaten schloß und verriegelte.

Luet konnte das Gespräch zwischen Tante Rasa und Gaballufix mithören, auch nachdem sie um eine Ecke gegangen und außer Sicht waren.

»Ich muß nicht prahlen«, sagte Gaballufix. »Aber es bereitet mir Freude.«

Doch anstatt zu antworten, rief Tante Rasa laut den Gang zurück: »Luet! Huschidh! Kommt mit. Ich möchte Zeuginnen haben.«

Augenblicklich setzte sich Luet in Bewegung, und Huschidh folgte ihr. Da Tante Rasa sie erzogen hatte, liefen sie nicht, gingen aber so schnell, daß sie um die Ecke gebogen waren und Gaballufix’ letzte geflüsterten Worte mitbekamen, bevor sie zu den Erwachsenen aufschlössen. »… keine Angst vor deinen kleinen Hexen«, sagte er.

Luet ließ sich natürlich nicht anmerken, daß sie es mitbekommen hatte. Sie wußte, daß Huschidhs Gesicht noch ausdrucksloser sein würde.

Auf dem Säulengang unternahm Gaballufix nicht die geringsten Anstalten, die Grenze von Tante Rasas Wandschirmen zu respektieren. Er trat direkt zur Balustrade und betrachtete den Anblick, der für die Augen von Männern verboten war. Tante Rasa folgte ihm nicht, und so blieben auch Luet und Huschidh hinter den Schirmen. Schließlich kehrte Gaballufix zu ihnen zurück.

»Immer ein wunderschöner Anblick«, sagte er.

»Allein deshalb könntest du verbannt werden«, sagte Tante Rasa.

Gaballufix lachte. »Dein geheiligter See. Was glaubst du, wie lange er noch vor den Stiefeln von Männern sicher sein wird, wenn die Naßköpfe kommen? Hast du daran gedacht – haben Roptat und dein geliebter Volemak daran gedacht? Die Naßköpfe haben keine Ehrfurcht vor der Religion der Frauen.«

»Noch weniger als du?«

Gaballufix verdrehte die Augen, um ihr seine Verachtung für ihre Anklage zu zeigen. »Wenn es nach Roptat und Volemak geht, wird den Naßköpfen diese Stadt gehören, und für sie wäre der Blick von diesem Säulengang keiner auf heiliges Land – sondern einer auf städtische Grundstücke, unentwickelte Gelände, mögliches Land für Gebäude und Jagdreviere und auf einen außergewöhnlichen See mit heißem und kaltem Wasser, in dem man bei jedem Wetter baden kann.«

Luet war erstaunt darüber, daß er so gut über die Natur des Sees Bescheid wußte. Welche Frau hatte sich so vergessen, daß sie von dem geheiligten Ort erzählt hatte?

Doch Tante Rasa machte keine Bemerkung über die Unangemessenheit seiner Worte. »Roptat hat vor, die Naßköpfe herzuholen. Wetschik und ich haben lediglich für die uralte Neutralität gesprochen.«

»Neutralität! Nur Narren und Kinder glauben daran. Es gibt keine Neutralität, wenn große Mächte zusammenprallen!«

»In der Macht der Überseele liegt Neutralität und Frieden«, sagte Tante Rasa ganz ruhig angesichts seiner Entrüstung. »Sie hat die Macht, unsere Feinde abzulenken, so daß sie uns gar nicht sehen.«

»Macht? Ja, vielleicht hat sie Macht, diese Überseele – aber ich sehe keine Anzeichen dafür, daß sie arme, unschuldige Städte vor der Zerstörung rettet. Wieso trete ich allein für Basilika ein? Wieso bin ich der einzige, der einsieht, daß Sicherheit nur in einer Allianz mit Potokgavan liegt?«

»Spare dir die patriotischen Reden für den Rat, Gabja. Wenn du mit mir sprichst, kannst du dich nicht hinter ihnen verbergen. Die Wagen verheißen einen leichten Profit. Und was den Krieg betrifft – du weißt so wenig darüber, daß du ihn dir tatsächlich herbeisehnst. Du glaubst, du wirst neben den mächtigen Soldaten Potokgavans stehen und die Naßköpfe vertreiben, und man wird sich ewig an deinen Namen erinnern. Aber ich sage dir, wenn du deinem Feind gegenübertrittst, stehst du allein. Kein Potoku wird neben dir stehen. Und wenn du fällst, wird man deinen Namen so schnell vergessen wie das Wetter der vergangenen Woche.«

»Dieser Sturm, meine liebe ehemalige Gefährtin, hat einen Namen, und man wird sich an ihn erinnern.«

»Nur an den Schaden, den du angerichtet hast, Gabja. Wenn Basilika brennt, wird jede Flammenzunge Gaballufix brandmarken, und der sterbende Fluch einer jeden Bürgerin wird deinen Namen beinhalten.«

»Wer bildet sich denn jetzt ein, eine Prophetin zu sein?« fragte Gaballufix. »Spare dir deine Poesie für diejenigen, die zittern, wenn sie an die Überseele denken. Und was deinen Versuch betrifft, mich verbannen zu lassen – es spielt keine Rolle, ob er gelingt oder scheitert.«

»Du meinst, du willst sowieso nicht gehorchen?«

»Ich? Mich dem Rat widersetzen? Undenkbar. Nachdem ich verbannt worden bin, wird mich niemand mehr in der Stadt sehen, dessen kannst du dir sicher sein.«

Doch bei diesen Worten griff er hinab und schaltete sein Holoküstum ein. Augenblicklich wurde er in eine Illusion gehüllt; sein Gesicht war die unergründliche Maske eines verschwommen bedrohlichen Soldaten, wie einer der vielen hundert, die er angeheuert hatte. Luet begriff, daß er nicht die Absicht hatte, dem Bannspruch zu gehorchen. Er würde einfach diese perfekteste aller Verkleidungen tragen, damit niemand ihn identifizieren konnte. Er würde in der Stadt bleiben, tun, was er wollte, und die Edikte des Rats mit seinem Ungehorsam verspotten. Danach gab es keine politische Hoffnung mehr, die Stadt von seiner Herrschaft zu befreien. Danach gab es nur noch Bürgerkrieg, und die Straßen würden vor Blut schwimmen.

Luet erkannte an Tante Rasas Blicken, daß sie dies begriff. Sie betrachtete ruhig die leeren Augen, die sie aus Gaballufix’ Holokostüm anstarrten. Sie sagte nichts, als er sich umdrehte und ging; sie sagte überhaupt nichts, bis Luet schließlich Huschidh an der Hand nahm und sie zum Rand des Säulengangs traten, um auf das Tal der Frauen zu blicken.

»Zwischen ihnen gibt es nichts mehr«, sagte Huschidh. »Ich sah, wie es zusammenbrach, dieses letzte Band der Liebe. Stürbe er heute abend, wäre sie lediglich zufrieden.«

Für Luet war dies die schrecklichste aller Tragödien. Einst hatte die Liebe diese beiden Menschen verbunden; sie hatten zwei Kinder miteinander, doch nun, nur fünfzehn Jahre später, war die letzte Verbindung zwischen ihnen durchtrennt worden. Alles verloren, alles fort. Nichts währte ewig, nichts. Selbst diese vierzig Millionen Jahre alte Welt, die die Überseele wie in Eis bewahrt hatte, würde vor dem Feuer schmelzen. Dauer war immer eine Illusion, und Liebe war nur die Verkleidung, die Liebende trugen, um den Tod ihrer Vereinigung eine Weile voreinander zu verbergen.

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