15 Mord

Wenn wir überhaupt die geringste Hoffnung auf Erfolg haben wollen, dachte Nafai, müssen wir damit aufhören, uns selbst Pläne auszudenken. Gaballufix überlistet uns jedesmal.

Und nun bestand noch weniger Hoffnung, da sich Elemak und Mebbekew absichtlich unkooperativ zeigten. Warum hatte die Überseele auch unbedingt sagen müssen, daß Nafai sie anführen sollte? Wie konnte er nur den Befehl über seine beiden älteren Brüder übernehmen, die ihn viel lieber scheitern sehen würden, als ihm zu helfen? Bei Issib war es natürlich kein Problem, aber man konnte sich nur schwer vorstellen, daß er eine große Hilfe sein würde, auch wenn er seine Schwebeflossen trug. Er war zu auffällig und zu langsam.

Als sie sich den Weg durch die Wüste bahnten – Nafai ging voran, nicht, weil er es wollte, sondern weil Elemak sich weigerte, sie zu führen –, kam er allmählich zu einer unausweichlichen Schlußfolgerung: Allein hatte er eine viel bessere Chance als gemeinsam mit seinen Brüdern.

Nicht, daß er seine Chancen für großartig hielt, wenn er auf sich allein gestellt war. Aber die Überseele würde ihm helfen. Und die Überseele hatte ihm bereits geholfen, aus Basilika zu fliehen.

Doch als die Überseele ihn aus Basilika hinausgebracht hatte, hatte Luet seine Hand gehalten. Wo war seine Luet jetzt? Sie war die Seherin, die die Überseele so gut kannte wie Nafai seine eigene Mutter. Luet fühlte, daß die Überseele sie Schritt für Schritt führte; Nafai spürte die Führung der Überseele nur gelegentlich, so selten und auf verwirrende Weise. Was hatte seine Vision von einem Soldaten zu bedeuten, der mit blutbefleckten Händen durch Basilika ging? War das ein Feind, gegen den er kämpfen mußte? War es sein Tod? Oder sein Führer? Er war so verwirrt – wie sollte er sich da einen Plan ausdenken?

Er blieb stehen.

Die anderen hinter ihm hielten ebenfalls an.

»Was jetzt?« fragte Mebbekew. »Erhelle uns, o großer, von der Überseele ernannter Führer.«

Nafai antwortete nicht. Statt dessen versuchte er, seinen Geist zu leeren. Die Überseele sprach nicht so zu ihm, wie sie zu Luet sprach, weil Luet gar nicht erst erwartete, ihr würde ein Plan einfallen. Luet hörte zu. Hörte zuerst zu, verstand zuerst. Wenn Nafai der Überseele wirklich helfen, wenn er versuchen wollte, hier auf der Oberfläche dieser Welt ihre Hände und Füße zu sein, mußte er damit aufhören, törichte Pläne zu machen und der Überseele die Gelegenheit geben, zu ihm zu sprechen.


Sie waren in der Nähe der Hundestadt, die sich an den Straßen erstreckte, die durch das Tor, das als Rauchfang bekannt war, aus der Stadt führten. Bis jetzt hatte er angenommen, daß er die Hundestadt umkreisen, sich durch irgendeine Schlucht den Weg zur Waldstraße suchen und Basilika durch das Hintere Tor betreten solle. Doch nun wartete er und überprüfte die Möglichkeiten. Er dachte daran, einfach weiterzumachen und der Hundestadt auszuweichen, und seine Gedanken trieben ziellos umher. Dann dachte er an den Rauchfang, und augenblicklich verspürte er Zuversicht. Ja, dachte er. Die Überseele versucht, mich zu führen, wenn ich nur die Klappe halte und zuhöre. Wie ich hätte die Klappe halten und zuhören sollen, als Elemak am vergangenen Nachmittag mit Gaballufix feilschte.

»Ausgezeichnet«, sagte Mebbekew. »Gehen wir zu dem Tor, das am zweitstrengsten bewacht wird. Gehen wir durch das häßlichste Viertel, wo Gaballufix alles gehört, was zum Verkauf steht, und jeder Mensch obendrein.«

»Sei still«, sagte Issib.

»Laß ihn reden«, sagte Nafai. »Damit lockt er nur Gaballufix’ Leute an, und wir sterben sofort, was genau das ist, was Mebbekew will, damit er, wenn wir alle sterben, sagen kann: ›Seht ihr, Njef hat uns umgebracht!‹ Dann kann er wenigstens glücklich sterben.«

Mebbekew ging auf Nafai zu, doch Elemak hielt ihn zurück. »Wir werden schweigen«, sagte Elemak.

Nafai führte sie weiter, bis sie zur Hohen Straße gelangten, die von der Tor Stadt zur Hundestadt führte. Sie war auf weiter Strecke von Häusern umsäumt, aber zu dieser nächtlichen Stunde war es hier nicht besonders sicher, und es würden nur wenige Leute unterwegs sein. Nafai führte sie zu der breitesten Lücke zwischen den Häusern auf beiden Seiten der Straße, sah nach links und rechts, bückte sich dann und huschte hinüber. Dann wartete er in einem trockenen Graben auf der anderen Straßenseite auf die anderen.

Sie kamen nicht.

Sie kamen nicht.

Sie haben sich entschlossen, mich jetzt im Stich zu lassen, dachte Nafai. Nun gut.

Dann kamen sie. Nicht schnell und gebückt, wie Nafai hinübergelaufen war, sondern aufrecht und langsam. Alle drei. Natürlich, dachte Nafai. Es hatte gedauert, bis sie Issib aus dem Stuhl geholt hatten. Ich hätte daran denken müssen. Als sie über die Straße gingen, sah Nafai, daß Issib nicht schwebte, sondern von den beiden anderen getragen wurde. Er hatte die Arme über ihre Schultern gelegt, und die Füße baumelten schlaff hinab. Jeder, der die Wahrheit nicht kannte, würde Issib für einen Betrunkenen halten, dem seine Freunde nach Hause halfen.

Und sie gingen auch nicht geradeaus über die Straße. Statt dessen folgten sie ihr ein Stück, als würden sie sie entlang gehen, aber in der Dunkelheit die Orientierung verlieren oder von dem Betrunkenen, dem sie halfen, vom Weg abgebracht werden. Schließlich waren sie hinüber und schlugen sich in die Büsche.

Nafai stieß zu ihnen, als sie Issib gerade halfen, die Flossen wieder anzulegen. »Das war toll«, flüsterte er. »Tausend Leute hätten euch sehen können, und keiner hätte einen zweiten Gedanken an euch verschwendet.«

»Das ist Elemak eingefallen«, sagte Issib.

»Du solltest uns führen«, sagte Nafai.

»Der Überseele zufolge nicht«, sagte Elemak.

»Issibs Stuhl, meinst du«, sagte Mebbekew.

»Es war trotzdem gut, daß du zuerst allein hinübergegangen bist, Njef«, sagte Elemak. »Die Wächter suchen nach vier Männern, von denen einer schwebt. Statt dessen haben sie drei gesehen, von denen einer betrunken war.«

»Wohin nun?« fragte Issib.

Nafai zuckte mit den Achseln. »Da entlang, vermute ich.« Er ging in Richtung Rauchfangstraße voraus.

Er wurde abgelenkt. Er wußte nicht, was er nun tun sollte. Ihm fiel nichts ein.

»Halt«, sagte er. Er dachte daran, sie mitzunehmen, und es fühlte sich falsch an. Er dachte daran, allein zu gehen, und es fühlte sich richtig an. »Wartet hier«, sagte er. »Ich gehe allein in die Stadt.«

»Einfach brillant«, sagte Mebbekew. »Wir hätten bei den Kamelen warten können.«

»Nein«, sagte Nafai. »Bitte. Ich brauche euch hier. Ich mußte sicher sein, daß ich aus dem Tor kommen kann und euch hier finde.«

»Wie lange wird es dauern?« fragte Issib.

»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai.

»Na ja, was hast du denn überhaupt vor?«

Er konnte ihnen schlecht sagen, daß er nicht die geringste Ahnung hatte. »Elemak hat uns auch nicht gesagt, was er vorhatte«, antwortete er.

»Genau«, sagte Mebbekew. »Spiele ruhig den großen Mann.«

»Wir werden warten«, sagte Elemak. »Aber wenn die Sonne aufgeht, wird uns jeder erkennen, und wir werden bestimmt festgenommen werden. Das ist dir doch klar.«

»Wenn ich beim ersten Morgengrauen noch nicht zurück bin, holt ihr Issibs Stuhl und geht zu den Kamelen.«

»So wird es geschehen«, sagte Elemak.

»Wenn wir uns danach fühlen«, sagte Mebbekew.

»Wir werden uns danach fühlen«, sagte Elemak. »Meb wird hier sein, genau wie die beiden anderen.«

Nafai wußte, daß Elemak ihn noch immer haßte, noch immer Verachtung für ihn empfand – aber er wußte auch, daß Elemak sein Wort halten würde. Elemak rechnete zwar damit, daß er scheiterte, würde ihm jedoch auch eine faire Chance geben, den Index zu beschaffen. »Danke«, sagte Nafai.

»Beschaffe den Index«, sagte Elemak. »Du bist der Junge der Überseele, also hole den Index.«

Nafai verließ sie und ging zum Rauchfang. Als er näher kam, sah er, daß die Wächter sich unterhielten. Es waren zu viele – sechs oder sieben, nicht die üblichen zwei. Warum? Er ging zur Mauer und schlich sich dann näher, bis er einigermaßen verstehen konnte, was sie sagten.

»Und ich bin der Ansicht, es ist Gaballufix selbst« sagte ein Wächter. »Wahrscheinlich hat er zuerst den Jungen des Wetschik getötet, damit er die Stadt nicht verlassen konnte, und dann Roptat, damit er die Schuld jemandem in die Schuhe schieben kann, der sich nicht mehr rechtfertigen kann.«

»Das klingt ganz nach Gaballufix«, sagte ein anderer. »Er und seine Männer sind doch der reinste Dreck.«

Roptat war tot. Nafai spürte, wie Furcht ihn durchströmte. Nach all den gescheiterten Versuchen war es schließlich doch passiert – Gaballufix hatte einen Mord begangen. Und die Schuld einem der Söhne des Wetschik in die Schuhe geschoben.

Mir, begriff Nafai. Ich bin der einzige, der die Stadt nicht durch ein bewachtes Tor verlassen hat. Für die Computer bin ich noch in der Stadt. Natürlich weiß Gaballufix das. Also hat er die Gelegenheit beim Schopf gepackt, ließ Roptat umbringen und verbreiten, der jüngste Sohn des Wetschik hätte es getan. Aber die Frauen wissen es. Die Frauen wissen, daß er lügt. Er ahnt es noch nicht, aber morgen früh wird jede Frau in Basilika die Wahrheit kennen – daß ich mit Luet auf dem See war, als Roptat ermordet wurde. Ich muß mich diese Nacht nicht einmal in die Stadt wagen. Gaballufix wird sich durch seine eigene Dummheit vernichten, und wir können außerhalb der Stadtmauern warten und uns ins Fäustchen lachen!

Doch er konnte den Gedanken nicht bewahren, außerhalb der Stadtmauern zu warten. Die Überseele wollte es nicht. Der Überseele war es egal, ob sich Gaballufix in seinem eigenen Lügengespinst fing. Die Überseele wollte den Index haben, und Gaballufix wollte den Index nicht herausgeben.

Wie komme ich an den Wächtern vorbei? fragte Nafai.

Als Antwort verspürte er nur seine Furcht. Daß sie nicht von der Überseele kam, wußte er.

Also wartete er. Nach einer Weile verebbte die Unterhaltung der Wächter. »Machen wir jetzt unsere Runde durch die Hundestadt«, sagte einer. Fünf von ihnen gingen zum Tor hinaus, in die Dunkelheit der Straße der Hundestadt. Wenn sie sich zum Tor umgedreht hätten, hätten sie Nafai gesehen, der keine zwei Meter vom Tor entfernt an der Mauer stand. Aber sie drehten sich nicht um.

Er wußte, jetzt war es soweit; seine Furcht hatte zwar nicht nachgelassen, aber nun verspürte er auch den Drang, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen. Die Überseele? Er wußte es nicht genau, aber irgend etwas mußte er jetzt tun. Also hielt er den Atem an und trat in das Licht, das durch das Tor fiel.

Ein Wächter saß auf einem Stuhl, mit dem Rücken zur Mauer. Er schlief oder döste zumindest. Der andere erleichterte sich gerade an der gegenüberliegenden Mauer, dem Tor den Rücken zugewandt. Nafai ging leise hindurch. Keiner der beiden verließ seine Position, bis Nafai sich wieder aus dem Licht des Tors entfernt hatte. Dann hörte er ihre Stimmen hinter sich; sie sprachen, aber nicht über ihn, und sie schlugen auch keinen Alarm. So muß es auch Luet in der Nacht ergangen sein, da sie zu uns kam, um uns zu warnen, dachte er. Die Überseele hat die Wächter so dumm gemacht, daß sie sie passieren ließen, als wäre sie unsichtbar. So, wie ich jetzt das Tor passiert habe.

Der Mond ging auf. Die Nacht war schon halb vorüber. Die Stadt schlief, einmal abgesehen von der Puppenstadt und dem inneren Markt, und auch dort würde in diesen Tagen der Anspannung und des Aufruhrs, in denen Soldaten über die Straßen patrouillierten, nur eine gedämpfte Stimmung herrschen. In diesem Bezirk jedoch, einem ziemlich sicheren, der nicht über das geringste Nachtleben verfügte, war niemand mehr unterwegs. Nafai wußte nicht, ob die leeren Straßen einen Vor- oder Nachteil für ihn darstellten. Ein Vorteil, weil weniger Leute ihn sehen würden; ein Nachteil, weil er bestimmt erkannt werden würde, falls man ihn sah.

Doch in dieser Nacht half die Überseele ihm, nicht gesehen zu werden. Er blieb in den Schatten, forderte das Schicksal nicht heraus, und als einmal ein Trupp Soldaten vorbeimarschierte, drückte er sich gegen eine Tür, und sie gingen vorbei, ohne ihn zu bemerken.

Das muß die Grenze der Macht der Überseele darstellen, dachte Nafai. Mit Luet, Vater und mir kann die Überseele kommunizieren und Ideen austauschen. Und durch eine Maschine – Issibs Stuhl –, doch wer weiß schon, was das der Überseele abverlangt. Wenn sie direkt in den Geist anderer Menschen eingreift, kann sie nicht viel mehr bewirken, als sie auf ähnliche Weise abzulenken, wie sie die Menschen von verbotenen Ideen fortlenkt. Sie kann die Soldaten nicht von der Straße holen, aber sie kann sie davon abhalten, den Burschen zu bemerken, der in dem dunklen Hauseingang steht, sie kann sie daran hindern, ihn zu überprüfen oder nachzuforschen, was er tat. Sie kann die Wächter am Tor nicht davon abhalten, ihre Pflicht zu tun, aber sie kann dem dösenden Posten einen Traum geben, so daß die Geräusche von Nafais Schritten Teil des Traums sind und er nicht aufsieht.

Und selbst, um dies zu bewirken, muß die Überseele ihre gesamte Aufmerksamkeit in dieser Nacht auf diese Straße richten, dachte Nafai. Auf diesen Ort. Auf mich.

Wohin gehe ich?

Gleichgültig. Ich muß meine Gedanken abschalten und umherwandern. Soll die Überseele mich an der Hand nehmen, wie Luet es tat.

Es war jedoch schwer, den Geist freizuhalten, nicht jede Straße zu erkennen, über die er ging, nicht an all die Menschen oder Geschäfte zu denken, die er auf dieser Straße kannte, und daran, wie sie ihm vielleicht helfen könnten, den Index zu bekommen. Er beschäftigte sich viel zu sehr damit.

Und warum auch nicht, dachte er? Was soll ich denn machen, aufhören, ein bewußt denkendes Lebewesen zu sein? Unendlich dumm werden, damit die Überseele mich beherrschen kann? Ist es mein höchstes Streben im Leben, eine Puppe zu werden?

Nein, kam die Antwort. Sie war so klar wie in der Nacht am Fluß, in der Wüste. Du bist keine Puppe. Du bist hier, weil du dich dazu entschieden hast. Aber wenn du nun meine Stimme hören willst, mußt du deinen Geist leeren. Nicht, weil ich will, daß du dumm bist, sondern damit du mich hören kannst. Schon bald wirst du wieder deinen ganzen Geist, deine ganze Intelligenz brauchen. Dummköpfe kann ich nicht gebrauchen.

Nafai fand sich keuchend an eine Wand gelehnt wieder, als die Stimme verblich. Es war kein Spaß, wenn die Überseele seine Gedanken derart anstieß. Was haben unsere Vorfahren ihren Kindern angetan, als sie uns so veränderten, daß ein Computer uns solche Dinge eingeben kann? Haben in jenen frühen Tagen alle Kinder die Stimme der Überseele so vernommen, wie ich sie jetzt höre? Oder konnten schon immer nur wenige ihre Stimme vernehmen?

Geh weiter. Es fühlte sich wie ein Drang an. Und er ging weiter. Ging weiter, wie er es in den letzten paar Wochen zweimal getan hatte – von Straße zu Straße, fast in einer Trance, ohne zu wissen, wo er war, oder sich darum zu kümmern. Wie er es erst heute nachmittag getan hatte, als er vor den Attentätern geflohen war.

Ich habe nicht einmal eine Waffe.

Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Riß ihn aus seiner Trance. Er wußte nicht genau, wo er war. Doch dort, halb im Schatten, lag ein Mann auf der Straße. Vielleicht ein Betrunkener. Oder ein Opfer der Tolschocks, Soldaten oder Attentäter. Ein Opfer Gaballufix’.

Nein. Keineswegs ein Opfer. Dort lag einer von Gaballufix’ identischen Soldaten, und nach dem Gestank von Alkohol zu urteilen, lag er nicht dort, weil er verletzt war.

Nafai wäre fast weitergegangen, bis ihm in den Sinn kam, daß dies die beste Verkleidung war, auf die er hoffen konnte. Er würde viel leichter an Gaballufix herankommen, wenn er eins dieser holographischen Soldaten-Kostüme trug – und hier lag solch ein Kostüm, ein Geschenk, das für ihn bestimmt war.

Er kniete neben dem Mann nieder und rollte ihn auf den Rücken. Es war unmöglich, den Kasten zu sehen, der das Hologramm erzeugte, doch er fand ihn, indem er seine Hände über den Mann gleiten ließ und den Kasten an einem Gürtel an der Hüfte ertastete. Er löste den Gürtel, konnte ihn jedoch nur ein paar Zentimeter hochziehen.

Ja, dachte Nafai. Elemak hat gesagt, es sei eine Art Mantel, und der Kasten sei nur ein Teil davon.

Als er das Kästchen den Körper des Mannes hinaufschob, folgte es willig dem Druck seiner Bewegung. Indem er den Mann auf diese und auf jene Seite rollte, konnte er ihm schließlich das Hologramm-Kostüm über die Arme, die Schultern und dann den Kopf des Mannes ziehen.

Erst jetzt begriff Nafai, daß die Überseele ihm mehr gegeben hatte als nur ein Kostüm. Der Mann war kein angeheuerter Schläger mit einer Soldatenverkleidung. Es war Gaballufix selbst.

Sinnlos betrunken, aber ohne jeden Zweifel war es Gaballufix.

Doch was konnte Nafai mit diesem Betrunkenen anfangen? Er hatte den Index bestimmt nicht dabei. Und Nafai gab sich nicht der Täuschung hin, daß ihm Gaballufix’ unsterbliche Dankbarkeit sicher sein würde, wenn er ihn nach Hause schleppte.

Der Narr mußte Roptats Tod gefeiert haben. Hier vor ihm auf der Straße lag ein Mörder, nur, daß er niemals für seine Tat bestraft werden würde. Vielmehr versucht er, sie mir in die Schuhe zu schieben. Zorn brandete in Nafai auf. Er stellte sich vor, den Fuß auf Gaballufix’ Kopf zu setzen und seinen Kopf auf die Straße zu drücken. Es würde ihm so guttun, so …

Töte ihn.

Der Gedanke kam so klar, als habe ihn jemand hinter ihm ausgesprochen.

Nein, dachte Nafai. Das kann ich nicht. Ich kann keinen Menschen töten.

Was glaubst du denn, weshalb ich dich hierher geführt habe? Er ist ein Mörder. Das Gesetz schreibt seinen Tod vor.

Das Gesetz hat meinen Tod verlangt, weil ich den See der Frauen gesehen habe, erwiderte Nafai stumm. Doch mir hat man Gnade erwiesen.

Ich habe dich zum See geführt, Nafai. Wie ich dich hierher geführt habe. Damit du tust, was getan werden muß. Solange er lebt, wirst du den Index niemals bekommen.

Ich kann keinen Menschen töten. Einen hilflosen Mann wie ihn – das wäre Mord.

Es wäre einfach Gerechtigkeit.

Nicht, wenn er durch meine Hand stirbt. Ich hasse ihn zu sehr. Ich will ihn tot sehen. Weil er meine Familie erniedrigt hat. Weil er den Titel meines Vaters gestohlen hat. Weil er unser Vermögen geraubt hat. Weil mein Bruder mich verprügelt hat. Wegen der Soldaten und Tolschocks und weil er meiner Stadt das Licht der Hoffnung genommen hat. Weil er Raschgallivak, diesen guten Mann, in einen schwachen und törichten Narr verwandelt hat. Wegen all dieser Dinge will ich seinen Tod. Doch wenn ich ihn jetzt töte, verhelfe ich nicht der Gerechtigkeit zum Sieg, sondern bin ich ein Feigling und Meuchelmörder.

Er hat versucht, dich zu töten. Er hat seinen Attentätern den Auftrag gegeben.

Das weiß ich. Also wäre es eine private Rache, würde ich ihn jetzt töten.

Denke darüber nach, was du tust, Nafai. Denke.

Ich werde kein Mörder sein.

Genau. Du wirst Menschenleben retten. Es gibt nur eine Hoffnung, diese Welt vor dem Gemetzel zu bewahren, das vor vierzig Millionen Jahren die Erde zerstört hat, und wenn du diesen Mann am Leben läßt, wirst du diese Hoffnung auslöschen. Sollen alle Menschen sterben, die Milliarden Seelen des Planeten Harmonie, damit deine Hände unbefleckt bleiben? Ich sage dir, es ist kein Mord, sondern Gerechtigkeit. Ich habe über ihn Gericht gehalten und ihn für schuldig befunden. Er hat Roptats Tod befohlen und deinen und den deiner Brüder und den deines Vaters. Er plant einen Krieg, der Tausende töten und diese Stadt unterjochen wird. Du verschonst ihn nicht aus Gnade, Nafai, denn nur sein Tod wird eine Gnade für die Stadt und die Menschen sein, die du liebst, eine Gnade für die ganze Welt. Du verschonst ihn aus reiner Eitelkeit. Damit du deine Hände betrachten kannst und sie unbefleckt sind. Doch ich sage dir, wenn du diesen Mann nicht tötest, wird das Blut von Millionen an deinen Händen kleben.

Nein!

Nafais Schrei war um so gequälter, weil er stumm war und auf seinen Geist beschränkt blieb.

Die Stimme in seinem Kopf gab nicht nach: Der Index öffnet die größte Bibliothek auf der Welt, Nafai. Mit ihm ist meinen Dienern alles möglich. Ohne ihn habe ich keine klarere Stimme als die, die du jetzt hörst und die von deinen Ängsten, Hoffnungen und Erwartungen ständig verändert und verzerrt wird. Meine Macht wird weiterhin schwinden, und mein Gesetz wird unter den Menschen abnehmen, bis schließlich die Feuer kommen werden und eine weitere Welt verwüstet werden wird. Der Index, Nafai. Nimm diesem Mann das Leben, wie das Gesetz es verlangt, und dann hole den Index.

Nafai bückte sich und ergriff die elektrische Klinge, die an Gaballufix’ Gürtel befestigt war.

Ich weiß nicht, wie ich damit einen Menschen töten soll. Damit kann man nicht zustechen. Ich kann ihm damit nicht ins Herz stechen.

Der Kopf. Schneide ihm den Kopf ab.

Das kann ich nicht, das kann ich nicht, das kann ich nicht, das kann ich nicht.

Doch Nafai irrte sich. Er konnte es.

Er ergriff Gaballufix am Haar und zog seinen Kopf hoch. Gaballufix bewegte sich – wachte er auf? Nafai hätte sein Haar fast losgelassen, doch Gaballufix wurde sofort wieder ohnmächtig. Nafai schaltete die Klinge ein und drückte sie dann leicht auf die Kehle. Die Klinge summte. Eine Blutlinie erschien. Nafai drückte fester, und die Linie wurde zu einer offenen Wunde, und Blut ergoß sich über die Klinge und zischte laut. Zu spät, um jetzt noch aufzuhören, zu spät. Er drückte fester, fester. Die Klinge grub sich tiefer. Sie stieß auf den Widerstand eines Knochens, doch Nafai drehte den Kopf herum und öffnete damit eine Lücke zwischen den Wirbeln, und nun drang die Klinge mühelos hindurch, und der Kopf löste sich vom Hals.

Nafais Hosen und Hemd waren blutverschmiert, wie sein Gesicht und die Hände. Ich habe einen Menschen getötet, und ich halte seinen Kopf in den Händen. Was bin ich jetzt? Wer bin ich? Wie kann ich besser sein als der Mann, der hier liegt und den ich mit eigenen Händen getötet habe?

Der Index.

Er konnte es nicht ertragen, seine blutbefleckte Kleidung anzubehalten. Fast in Panik riß er sie sich vom Leib und wischte sich dann Gesicht und Hände mit dem unverschmutzten seines Hemds ab. Das war die Kleidung, die Luet mir gab, als ich an jenem wunderschönen, friedlichen Ort wieder ins Boot kletterte, und wie sieht sie jetzt aus?

Als er nun neben der Leiche kniete und seine eigene Kleidung im Blut des Toten lag, bemerkte er, daß wegen der Neigung der Straße Gaballufix’ Kleidung zum großen Teil nicht mit Blut verschmiert war. Nafai konnte nicht nackt herumlaufen. Das Kostüm genügte nicht – darunter würde er frieren, und außerdem mußte er dann barfuß gehen.

Als ihm der Gedanke kam, Gaballufix’ Kleidung anzuziehen, kam er ihm abscheulich vor, ja, doch gleichzeitig wußte er, daß es keine andere Möglichkeit gab. Er zerrte die Leiche ein Stück von der Blutlache fort und zog sie dann aus, wobei er sorgsam darauf achtete, die Kleidung nicht zu beschmutzen. Er hätte sich fast übergeben, als er die kalten, nassen Hosen anzug, doch dann dachte er verächtlich daran, daß ein Mann, der töten konnte, kaum weinerlich sein durfte, wenn er die Pisse eines anderen Menschen an seinen Beinen spürte. Bei dem nach Magensäure stinkenden Hemd und der Körperrüstung, die Gaballufix getragen hatte, erging es ihm ähnlich. Jetzt ist für mich keine Tat mehr zu schrecklich, dachte Nafai. Ich bin bereits verloren.

Doch trotz allem könnte er sich nicht überwinden, die Klinge an seinem Gürtel zu befestigen. Statt dessen wischte er seine Fingerabdrücke vom Griff und warf sie neben den Kopf. Dann lachte er. Da liegt meine Kleidung, in der mich heute unzählige Zeugen gesehen haben. Warum versuche ich, meine Fingerabdrücke zu beseitigen, wenn ich meine Kleidung am Tatort zurücklasse?

Und ich lasse sie zurück, dachte Nafai. Wie meine eigene Leiche. Das Kostüm eines Kindes. Jetzt trage ich Männerkleidung. Und nicht die eines beliebigen Mannes, sondern die des abscheulichsten, monströsesten Mannes, den ich kenne. Sie paßt mir gut.

Er zog den Mantel des Soldatenkostüms über den Kopf. Er fühlte sich nicht anders, nahm aber an, daß er nun aussah wie ein jeder von Gaballufix’ identischen Soldaten. Er trat von der Leiche zurück. Er wußte nicht, wohin er sich nun wenden sollte. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Er drehte sich wieder zu der Leiche um. Er wußte, daß er etwas vergessen hatte. Doch dort lag nur seine alte Kleidung und die Klinge. Also nahm er die Klinge schließlich doch, wischte das Blut mit seinem Hemd ab und steckte sie in den Gürtel.

Jetzt konnte er gehen. Zu Gaballufix’ Haus natürlich. Das wußte er nun sehr genau. Nun konnte er sehr klar denken. Die Hosen gefroren an seinen Beinen und scheuerten ihm die Haut auf. Die Körperrüstung war schwer. Mit der elektrischen Klinge am Gürtel konnte er nur unbeholfen gehen. So fühlt es sich an, Gaballufix zu sein, dachte Nafai. In dieser Nacht bin ich Gaballufix.

Ich muß mich beeilen. Bevor man die Leiche findet.

Nein. Die Überseele wird verhindern, daß sie die Leiche sehen, zumindest für eine Weile. Bis am Morgen so viele Menschen auf den Straßen sind, daß die Überseele sie nicht alle gleichzeitig beeinflussen kann. Also habe ich Zeit.

Er kam zur Brunnenstraße, überlegte es sich dann aber anders. Statt dessen ging er zur Langen Straße und näherte sich Gaballufix’ Haus von hinten. In der Seitengasse fand er die Tür, durch die er vor so vielen – so wenigen – Tagen Elemak das Haus betreten gesehen hatte. Würde sie abgeschlossen sein?

Sie war abgeschlossen. Was nun? Im Haus würde jemand warten. Wache halten. Wie konnte er, in der Verkleidung eines gemeinen Soldaten, zu dieser Stunde Einlaß verlangen? Was, wenn sie ihn zwangen, das Kostüm auszuschalten, sobald er im Haus war? Sie würden ihn sofort erkennen. Schlimmer noch, sie würden Gaballufix’ Kleidung erkennen und begreifen, daß er sie sich nur auf eine Weise verschafft haben konnte.

Nein, auf zwei Weisen.

Aber Gaballufix mußte schon früher betrunken nach Hause gekommen sein.

Nafai versuchte, zuerst stumm, sich daran zu erinnern, wie Gaballufix’ Stimme geklungen hatte. Heiser und rauh. In der Kehle krächzend. Nafai glaubte, sie einigermaßen hinzubekommen – und er mußte natürlich nicht perfekt sein, da Gaballufix ja betrunken war, und deshalb konnte er auch undeutlich sprechen, ja sogar lallen, und er konnte stolpern und wanken …

»Macht auf, macht die Tür auf!« grölte er.

Es war schrecklich, klang ganz und gar nicht nach Gaballufix.

»Macht die Tür auf, ihr Idioten, ich bin’s!«

Schon besser. Und außerdem wird die Überseele sie etwas anstoßen, sie ermuntern, an andere Dinge zu denken, nur nicht daran, daß Gaballufix heute abend wirklich nicht wie sonst klingt.

Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Nafai stieß sie augenblicklich ganz auf und zwängte sich hindurch. »Mich aus meinem eigenen Haus auszusperren, man müßte euch in einer Kiste nach Hause schicken, in einzelnen Stücken an eure Eltern.« Nafai hatte keine Ahnung, ob Gaballufix normalerweise so sprach, doch er vermutete eine allgemeine Verdrossenheit und Drohungen, besonders in betrunkenem Zustand. Nafai hatte noch nicht viele Betrunkene gesehen. Nur ein paar Mal auf der Straße, und natürlich ziemlich oft im Theater, aber das waren nur Schauspieler gewesen, die betrunkengetan hatten.

Ich bin schließlich auch Schauspieler, dachte er. Ich wollte einmal Schauspieler werden, und nun bin ich einer.

»Warte, ich helfe dir, Herr«, sagte der Mann. Nafai sah ihn nicht an. Statt dessen stolperte er absichtlich, fiel auf die Knie und beugte sich dann vor. »Ich glaub, ich muß kotzen«, nuschelte er. Dann berührte er das Kästchen an seinem Gürtel und schaltete das Kostüm aus. Nur einen Augenblick lang. Nur so lange, bis jeder, der sich im Raum befand, Gaballufix’ Kleidung gesehen hatte, während Nafais Gesicht und Haar nicht zu sehen waren, da er sich vorbeugte. Dann schaltete er das Kostüm wieder ein, versuchte, schwer zu atmen, und es gelang ihm so gut, daß er würgte und ihm tatsächlich etwas Galle und Magensäure in die Kehle stieg.

»Was willst du, Herr?« fragte der Mann.

»Wer hütet den Index?« grölte Nafai. »Alle wollten heute den Index haben – und jetzt will ich ihn sehen.«

»Zdorab«, sagte der Mann.

»Hol ihn.«

»Er schläft, er …«

Nafai sprang auf. »Wenn ich in diesem Haus wach bin, hat niemand zu schlafen!«

»Ich hole ihn, Herr, es tut mir leid, ich dachte nur …«

Nafai drehte sich schwerfällig zu ihm um. Der Mann schreckte zurück und schaute völlig entsetzt drein. Gehe ich zu weit? fragte sich Nafai. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Der Mann ging eine Wand entlang und durch eine Tür. Nafai konnte nicht sagen, ob er mit Soldaten zurückkommen würde, um ihn festzunehmen.

Er kam mit Zdorab zurück. Zumindest vermutete Nafai, daß es Zdorab war. Aber er mußte sich vergewissern, nicht wahr? Also beugte er sich zu dem Mann vor und atmete ihm unhöflich ins Gesicht. »Bist du Zdorab?« Sollte der Mann doch glauben, daß Gaballufix so betrunken war, daß er ihn nicht mehr erkannte.

»Ja, Herr«, sagte der Mann. Er schien sich zu fürchten. Gut.

»Mein Index. Wo ist er?«

»Welcher?«

»Der, den diese Arschlöcher haben wollten … die Knaben des Wetschik … der Index, bei der Überseele!«

»Der Palwaschantu-Index?«

»Wo bewahrst du ihn auf, du Schurke?«

»Im Gewölbe«, sagte Zdorab. »Ich konnte nicht wissen, daß du ihn sehen willst. Du hast ihn noch nie benutzt, und da dachte ich …«

»Ich kann ihn mir ansehen, wann ich will!«

Hör auf, so viel zu reden, sagte er sich. Je mehr du sagst, desto schwerer fällt es der Überseele, diesen Mann davon abzuhalten, meine Stimme in Zweifel zu ziehen.

Zdorab ging einen Korridor voraus. Nafai achtete darauf, dann und wann gegen die Wand zu prallen. Als er mit der Seite gegen die Mauer stieß, auf der ihn Elemaks Stab am schwersten getroffen hatte, zuckte von der Schulter bis zur Hüfte ein Schmerz durch seinen Körper. Er stöhnte auf – und hoffte, daß seine Vorstellung dadurch nur glaubhafter wurde.

Als sie das tiefste Stockwerk des Hauses erreicht hatten, überkam ihn wieder die Furcht. Was, wenn er sich eindeutig identifizieren mußte, um das Gewölbe zu öffnen? Eine Retina-Untersuchung? Ein Daumenabdruck?

Doch die Tür des Gewölbes stand offen. Hatte die Überseele jemanden beeinflußt, einfach zu vergessen, sie zu schließen? Oder lief jetzt alles nur noch auf Zufälle hinaus? Bin ich ein Glückspilz, fragte sich Nafai, oder nur noch die Puppe der Überseele? Oder besteht noch eine geringe Aussicht darauf, daß ich mir wenigstens einen Teil des Weges dieser Nacht nach eigenem Gutdünken wählen kann?

Er wußte nicht einmal, welche Antwort er hören wollte. Wenn er sich frei entscheiden konnte, hatte er sich frei entschieden, einen Mann zu töten, der hilflos auf der Straße lag. Der Gedanke, daß die Überseele ihn dazu getrieben oder irgendwie überlistet hatte, war ihm viel angenehmer. Oder, daß etwas in seinen Genen oder seiner Erziehung ihn zu der Tat gezwungen hatte. Die Annahme, daß es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, war viel angenehmer, als sich ständig mit der Frage zu quälen, ob es nicht genügt hätte, Gaballufix’ Kleidung zu stehlen, ohne ihn gleich umbringen zu müssen. Die Verantwortung für seine Taten war eine größere Last, als Nafai eigentlich tragen wollte.

Zdorab ging ins Gewölbe. Nafai folgte ihm und blieb dann stehen, als er einen großen Tisch sah, auf dem das gesamte Vermögen, das Gaballufix ihnen an diesem Nachmittag gestohlen hatte, in ordentlichen Stapeln ausgebreitet war.

»Wie du siehst, Herr, ist die Überprüfung fast fertig«, sagte Zdorab, als er zu einigen Regalen ging. »Ich habe alles sauber und ordentlich gehalten. Es ist sehr freundlich, daß du mich hier besuchst.«

Schindet er hier im Gewölbe Zeit, fragte sich Nafai, bis Hilfe eintrifft?

Zdorab kam von den Regalen am Ende des Raums zurück. Er war klein, beträchtlich kleiner als Nafai, und sein Haar fiel ihm schon aus, obwohl er kaum älter als dreißig Jahre sein konnte. Ein ziemlich komischer Mann – doch wenn er herausfand, was hier wirklich geschah, konnte es Nafai das Leben kosten.

»Ist es das?« fragte Zdorab.

Nafai hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, wie der Index aussah. Er hatte schon viele Indexe gesehen, doch die meisten davon waren kleine, freistehende Computer mit drahtlosen Verbindungen zu einer großen Bibliothek gewesen. Dieser hier verfügte über nichts, was Nafai als Computer-Display erkannt hätte. Zdorab hielt eine oben und unten etwas abgeflachte, messingfarbige Metallkugel von etwa fünfundzwanzig Zentimetern Durchmesser in der Hand. »Zeig mal her«, knurrte Nafai.

Zdorab schien sich nicht gern davon zu trennen. Einen Augenblick lang verspürte Nafai nackte Panik. Er will ihn mir nicht geben, weil er weiß, wer ich bin.

Dann enthüllte Zdorab, worum es ihm wirklich ging. »Herr, du hast gesagt, wir müßten ihn stets sehr sauber halten.«

Er machte sich Sorgen darüber, wie schmutzig Gaballufix unter seinem Soldaten-Kostüm sein mochte. Schließlich schien er ja sehr betrunken und mehrmals gestürzt zu sein und stank nach Schnaps und Schlimmerem. An seinen Händen konnte alles Mögliche kleben.

»Du hast recht«, sagte Nafai. »Du trägst ihn.«

»Wenn du möchtest, Herr«, sagte Zdorab.

»Das ist er doch, oder?« fragte Nafai. Er mußte ganz sicher gehen – er konnte nur hoffen, daß er den Betrunkenen so überzeugend spielte, daß diese dummen Fragen keinen Argwohn erregen würden.

»Es ist der Palwaschantu-Index, wenn du das meinst. Ich habe mich nur gefragt, ob du wirklich diesen Index sehen möchtest. Du hast dich noch nie danach erkundigt.«

Also hatte Gaballufix ihn nicht einmal aus dem Gewölbe geholt – er hatte niemals, keine Sekunde lang, die Absicht gehabt, ihnen den Index zu geben, ganz gleich, wieviel Elemak ihm dafür geboten hatte. Nafai fühlte sich etwas besser. Es hatte keine verpaßte Gelegenheit gegeben. Jedes Vorgehen hätte zum selben Ergebnis geführt.

»Wohin bringen wir ihn?« fragte Zdorab.

Eine ausgezeichnete Frage, dachte Nafai. Ich kann ihm ja schlecht sagen, daß wir ihn zu den Söhnen des Wetschik bringen, die vor dem Rauchfang in der Dunkelheit warten.

»Wir müssen ihn dem Klans-Rat zeigen.«

»Zu dieser späten Stunde?«

»Ja, zu dieser späten Stunde! Die Arschlöcher haben mich unterbrochen. Hatten eine Feier und mußten unbedingt den Index sehen, weil irgendein Jammerlappen auf die Idee kam, die diebischen, verlogenen Mörder von Wetschiks Söhnen hätten ihn vielleicht gestohlen.«

Zdorab hustete leise, zog den Kopf ein und setzte sich in Bewegung, führte Nafai den Korridor entlang.

Also gefiel es Zdorab nicht, daß Gaballufix die Söhne des Wetschik mit solchen Attributen bezeichnete. Sehr interessant. Aber nicht so interessant, daß Nafai den Mann ins Vertrauen gezogen hätte. »Nicht so schnell, du elender kleiner Zwerg!« schimpfte er.

»Ja, Herr«, sagte Zdorab. Er ging langsamer, und Nafai schlurfte ihm hinterher.

Sie kamen zur Tür, an der derselbe Mann wie vorher Wache stand. Der Mann sah Zdorab an; sein Blick schien eine Frage auszudrücken. Das ist der entscheidende Augenblick, dachte Nafai. Die beiden verständigen sich stumm.

»Bitte öffne dem Herrn Gaballufix die Tür«, sagte Zdorab. »Wir gehen noch mal aus.«

Die einzige Verständigung, begriff Nafai, hatte darin gelegen, daß der Türsteher stumm gefragt hatte, ob der Mann in dem holographischen Soldaten-Kostüm Gaballufix war und Zdorab geantwortet hatte, indem er ihm versicherte, daß der Trunkenbold in dem Kostüm derselbe war, der kurz zuvor ins Haus gekommen war.

»Du willst feiern, Herr?« fragte der Türsteher.

»Der Rat scheint sich heute abend durchzusetzen«, sagte Zdorab.

»Soll ich eine Eskorte abstellen?« fragte der Türsteher. »Wir haben nur ein paar Dutzend Leute in der Nähe, können in ein paar Minuten aber einige aus der Hundestadt kommen lassen, wenn du möchtest.«

»Nein«, brüllte Nafai.

»Ich dachte nur … vielleicht muß man den Rat noch einmal daran erinnern, wie beim letzten Mal …«

»Die vergessen das schon nicht«, sagte Nafai. Er fragte sich, was »beim letzten Mal« geschehen war.

Zdorab ging voraus, und Nafai stolperte ihm hinterher. Hinter ihnen fiel die Tür zu.

Als sie über die fast verlassenen Straßen Basilikas gingen, dämmerte Nafai allmählich, was er gerade geschafft hatte. Nach allen Fehlschlägen des Tages hatte er gerade Gaballufix’ Haus mit dem Index verlassen. Oder zumindest mit einem Mann, der den Index trug.

»Die frische Luft ist sehr belebend, nicht wahr, Herr?« sagte Zdorab.

»Nun ja«, entgegnete Nafai.

»Ich meine – dein Kopf scheint beträchtlich klarer geworden zu sein.«

Nafai wurde klar, daß er vergessen hatte, weiterhin den Betrunkenen zu spielen. Zu spät, jetzt wieder damit anzufangen – es wäre eine Dummheit, jetzt wieder herumzustolpern, nachdem Zdorab gerade festgestellt hatte, daß er nicht mehr so betrunken wirkte. Also blieb Nafai stehen, sah Zdorab an und warf ihm einen finsteren Blick zu. Nicht, daß Zdorab seinen Gesichtausdruck hätte sehen können. Nein, der Mann mußte ihn sich vorstellen.

Anscheinend hatte Zdorab eine sehr lebhafte Phantasie. Er schien sich augenblicklich zu ducken. »Nicht, daß dein Kopf nicht von Anfang an klar gewesen wäre. Ich meine, die ganze Zeit über. Das heißt, dein Kopf ist immer klar, Herr! Und du triffst dich heute mit dem Klans-Rat, und da muß er ja besonders klar sein!«

Na wunderbar, dachte Nafai.

»Wo trifft sich der Rat heute?« fragte Zdorab.

Nafai hatte nicht die geringste Ahnung. Er wußte nur, daß er zu seinen Brüdern vor dem Rauchfang mußte. »Was glaubst du denn?« knurrte er.

»Na ja, ich meine, es ist nur … du scheinst zum Rauchfang zu wollen, und … das soll nicht heißen, daß der Rat sich nicht in der Hundestadt treffen könnte, aber normalerweise … na ja, ich war noch nie dabei. Ich meine, ich weiß nicht, ob sie ihre Versammlungen jeden Abend an einem anderen Ort abhalten, ich habe nur gehört, daß jemand darüber sprach, daß der Klansrat sich im Haus deiner Mutter am Hinteren Tor trifft, aber das war nur … na ja, vielleicht nur das eine Mal.«

Nafai ging weiter und ließ Zdorab sich in immer größeres Entsetzen reden.

»O nein!« rief Zdorab.

Nafai blieb stehen. Wenn ich jetzt den Index nehme … kann ich das Tor erreichen, bevor er Alarm schlägt?

»Ich habe das Gewölbe nicht verschlossen«, sagte Zdorab. »Ich habe mir solche Sorgen um den Index gemacht … bitte vergib mir, Herr. Ich weiß, daß die Tür nur offenstehen darf, wenn ich dort bin, und ich … du meine Güte, mir fällt gerade ein, daß ich sie auch offenstehen ließ, als ich dich an der Hintertür abholte. Was ist nur in mich gefahren? Ich weiß, daß du mich deshalb entlassen könntest, Herr. Ich habe die Gewölbetür noch nie offenstehen lassen. Soll ich umkehren und sie abschließen? Die ganzen Schätze dort … wie kannst du sicher sein, daß keiner der Diener … Herr, ich kann zurücklaufen und habe dich in ein paar Minuten wieder eingeholt, ich versichere dir, ich bin sehr flink …«

Das war die perfekte Gelegenheit, Zdorab loszuwerden – nimm den Index, schicke den Mann zurück und laufe zum Rauchfang-Tor, bevor er dich wieder einholen kann. Aber was, wenn das nur ein Vorwand ist? Wenn Zdorab ihn nur abschütteln wollte, um Gaballufix’ Soldaten zu warnen, daß sich ein Betrüger in einem holographischen Kostüm mit dem Index davonmachte? Er konnte es sich nicht leisten, Zdorab gehen zu lassen, jetzt noch nicht. Erst, wenn er sicher zum Tor hinaus war.

»Bleib bei mir«, sagte Nafai. Er zuckte zusammen, als er hörte, wie wenig seine Stimme der von Gaballufix jetzt noch ähnelte. Hatte Zdorab überrascht die Stirn gerunzelt, als er Nafai sprechen hörte? Fragte er sich in diesem Augenblick, was es mit der Stimme auf sich hatte? Geh weiter, dachte Nafai. Geh weiter und sage nichts. Er schritt schneller aus. Zdorab mußte mit seinen kürzeren Beinen in einen leichten Trab fallen, um mithalten zu können.

»Ich war noch nie auf so einer Versammlung, Herr«, sagte Zdorab. Er keuchte jetzt vor Anstrengung. »Ich werde doch nichts sagen müssen, oder? Ich meine, ich bin ja kein Ratsmitglied. O, was sage ich da nur? Wahrscheinlich werden sie mich gar nicht hereinlassen. Ich werde draußen auf dich warten. Bitte verzeih mir, daß ich so nervös bin, es liegt nur daran … ich arbeite natürlich hauptsächlich im Gewölbe und der Bibliothek, mache die Buchhaltung und so weiter, du weißt ja, daß ich nicht oft ausgehe, und da ich allein lebe, unterhalte ich mich auch nicht oft … Das meiste, was ich über Politik weiß, entnehme ich dem, was ich so aufschnappe. Ich weiß natürlich, daß du in der Politik eine wichtige Rolle spielst. Alle Bediensteten im Haus sind sehr stolz darauf, für so einen berühmten Mann zu arbeiten. Aber die Politik ist doch gefährlich, nicht wahr? Nachdem heute abend Roptat ermordet wurde … hast du nicht die geringste Angst um dich?«

Ist er wirklich solch ein Narr? fragte sich Nafai. Oder weiß er wirklich nicht, daß Gaballufix Roptats Mörder sein könnte, und versucht er auf diese unbeholfene Art und Weise, mir ein paar Informationen zu entlocken?

Auf jeden Fall bezweifelte Nafai, daß Gaballufix so eine Frage beantworten würde; also hielt er die Zunge im Zaum. Und da endlich war das Tor.

Die Wächter waren sehr wachsam. Natürlich – es würde Zdorabs Mißtrauen erregen, wenn sie diesmal so seltsam untätig wären. Nafai verfluchte sich, Zdorab mitgebracht zu haben. Er hätte den Mann loswerden sollen, als sich die Gelegenheit dazu bot.

Die Wächter nahmen Haltung an und griffen nach den Daumenscannern. Sie wirkten aggressiv – Nafais Soldatenkostüm machte ihn zum Feind oder zumindest zum Rivalen. Der Daumenscanner würde natürlich stumm seine wahre Identität enthüllen, doch da Nafai nun unter Verdacht stand, Roptat ermordet zu haben, würde ihm das auch nicht weiterhelfen.

Als er dort stand, vor Unentschlossenheit erstarrt, mischte sich Zdorab ein. »Ihr werdet doch nicht darauf bestehen, daß mein Herr seinen Daumen auf euern kleinen, dummen Bildschirm legt, oder?« rief er. Dann drückte er seinen Daumen auf den Scanner. »Da, verrät euch das nicht, wer ich bin? Der Schatzmeister des Herrn Gaballufix!«

»Das Gesetz lautet, daß jeder den Daumen auf den Scanner legt«, sagte der Wächter. Doch nun wirkte er keineswegs mehr so selbstsicher. Es war eine Sache, Gaballufix’ Soldaten zu schikanieren, aber eine ganz andere, sich mit dem Mann selbst anzulegen. »Es tut mir leid, Herr, aber wenn ich nicht darauf bestehe, verliere ich meinen Posten.«

Nafai bewegte sich noch immer nicht.

»Das ist eine Belästigung«, sagte Zdorab. »Die reinste Schikane.« Er sah Nafai an, konnte der gefühlslosen holographischen Maske aber natürlich keine Zustimmung oder Mißbilligung entnehmen.

»In der Stadt treiben sich Mörder herum«, sagte der Wächter entschuldigend. »Du selbst hast gemeldet, daß des Wetschiks jüngster Sohn Roptat ermordet hat, also müssen wir jeden überprüfen.«

Nafai trat vor und streckte die Hand nach dem Daumenscanner aus. Doch dabei neigte er den Kopf zu dem Wächter hinab und sagte leise: »Und was, falls der Mann, der diese absurde Lüge verbreitet, selbst der Mörder war?«

Der Wachposten zuckte zurück; die junge Stimme hatte ihn überrascht, und den Worten konnte er keinen Sinn entnehmen. Dann schaute er auf den Bildschirm hinab und sah den Namen, den der Stadtcomputer dort angab. Er zögerte einen Augenblick lang und dachte nach.

Überseele, gib diesem Mann Verstand. Laß ihn die Wahrheit verstehen und dementsprechend handeln.

»Danke, daß du dich dem Gesetz unterworfen hast, Herr Gaballufix«, sagte der Wächter. Er drückte den Freigabeknopf, und Nafai sah, daß sein Name vom Bildschirm verschwand. Niemand sonst hatte ihn sehen können.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, schritt Nafai durch das Tor hinaus. Er hörte Zdorabs Schritte hinter sich. »Habe ich das richtig gemacht, Herr?« fragte Zdorab. »Ich meine, ich hatte den Eindruck, du wolltest den Daumenabdruck nicht geben, und da habe ich … Wohin gehen wir? Ist es nicht etwas zu dunkel, um sich hier in die Büsche zu schlagen? Können wir nicht auf der Straße bleiben, Herr Gaballufix? Natürlich spendet der Mond Licht, also ist es nicht so dunkel, aber …«

Bei Zdorabs Gerede war es unmöglich, sich der Stelle, an der Nafais Brüder auf ihn warteten, leise zu nähern. Und nun hatte Zdorab ihn laut mit dem Namen Gaballufix angesprochen. Es kam kaum überraschend, als Nafai eine hastige Bewegung sah und sich schnell entfernende Schritte hörte. Natürlich – sie glaubten, daß Nafai gefangengenommen worden war und sie verraten hatte, daß Gaballufix kam, um sie zu töten. Was konnten sie denn schon sehen? Doch nur das Kostüm.

Nafai hantierte an dem Kontrollkästchen herum. Wie konnte er sagen, ob das Kostüm ein- oder ausgeschaltet war? Schließlich riß er sich das Kostüm über den Kopf und rief dann, so laut, wie er es wagte, und mit nicht mehr verstellter Stimme: »Elemak! Issja! Meb! Ich bin’s – lauft nicht weg!«

Sie blieben stehen.

»Nafai!« sagte Meb.

»In Gaballufix’ Kleidung!« sagte Elemak.

»Du hast es geschafft!« rief Issib lachend.

Ein leiser Schrei direkt hinter ihm erinnerte Nafai daran, daß der arme Zdorab weniger Gefallen an dieser freudigen Wiedersehensszene gefunden hatte; schließlich hatte er gerade herausgefunden, daß er genau dem Mann gefolgt war, dem man vorwarf, vor nur wenigen Stunden Roptat ermordet zu haben und der mit Gaballufix etwas Ähnliches angestellt haben mußte.

Nafai drehte sich um und sah, daß Zdorab Fersengeld gab und weglaufen wollte. »Ich bin sehr flink«, hatte Zdorab zuvor gesagt, doch nun erfuhr Nafai, daß er gelogen hatte. Mit einem halben Dutzend Schritten hatte er den Mann eingeholt; er riß ihn zu Boden und rang kurz mit ihm, dann hatte er ihn in den Schwitzkasten genommen und die Hand auf seinen Mund gedrückt. Die Wächter waren keine fünfzig Meter weit entfernt. Zweifellos hatte die Überseele verhindert, daß sie dem Schrei Beachtung schenkten, doch die Fähigkeit der Überseele, die Menschen dumm zu machen, war begrenzt.

»Hör mir zu«, flüsterte Nafai wütend. »Wenn du tust, was ich sage, Zdorab, werde ich dich nicht töten. Hast du verstanden?«

Nafai fühlte, daß der Mann nickte.

»Ich gebe dir meinen Eid bei der Überseele, daß ich Roptat nicht ermordet habe. Dein Herr Gaballufix hat Roptats Tod veranlaßt und den Befehl gegeben, auch mich und meine Brüder zu töten. Er war der Mörder, doch nun habe ich Gaballufix getötet und seiner gerechten Strafe zugeführt. Hast du mich verstanden? Ich töte nicht des Vergnügens willen. Ich will dich nicht töten. Wirst du still sein, wenn ich die Hand von deinem Mund nehme?«

Erneut ein Nicken, und Nafai gab seinen Mund frei.

»Ich bin froh, daß du mich nicht töten willst«, flüsterte Zdorab. »Ich möchte nicht tot sein.«

»Glaubst du meinen Worten?«

»Würdest du meiner Antwort glauben?« fragte Zdorab. »Wir sind jetzt wohl in einer jener Situationen, in denen man ziemlich genau das sagt, was der andere hören will, meinst du nicht auch?«

Damit hatte er nicht Unrecht. »Zdorab, ich kann dich nicht in die Stadt zurückkehren lassen, verstehst du? Ich glaube, es läuft darauf hinaus – wenn du wirklich einer von Gaballufix’ Leuten bist, eine der Läuse, die er anheuert, damit sie in Basilika die Drecksarbeit für ihn erledigen, kann ich dir nicht vertrauen und müßte dich jetzt einfach töten. Aber ich glaube nicht, daß du so ein Mistkerl bist. Ich glaube, du bist ein Bibliothekar, ein Buchhalter, der keine Ahnung hatte, worauf er sich einließ, als er eine Stelle bei Gaballufix antrat.«

»Ich habe gewisse Dinge gesehen, doch niemand schien sie für seltsam zu halten, und niemand hat je meine Fragen beantwortet, und so habe ich schließlich einfach den Mund gehalten. Hauptsächlich.«

»Wir gehen in die Wüste. Wenn du mit uns gehst und bei uns bleibst und uns dein Wort gibst, wirst du ein freier Mann sein, Teil unseres Haushalts, gleichberechtigt mit jedem anderen. Wir wollen dich nicht als Diener; wir nehmen dich nur als Freund.«

»Natürlich gebe ich dir meinen Eid. Aber wie willst du wissen, ob du mir auch glauben kannst?«

»Schwöre bei der Überseele, mein Freund Zdorab, und ich werde es wissen.«

»Dann schwöre ich bei der Überseele, daß ich bei dir bleiben und auf ewig dein treuer Freund sein werde. Unter der Bedingung, daß du mich nicht umbringst. Denn wenn du mich töten würdest, wäre der Rest meiner Schwurs ja wohl hinfällig.«

Nafai sah, daß seine Brüder sich nun um sie geschart hatten. Sie hatten den Schwur natürlich gehört, aber eine andere Meinung. »Töte ihn«, sagte Meb. »Er ist einer von Gaballufix’ Leuten, du kannst ihm nicht glauben.«

»Ich werde ihn töten, wenn es sein muß.«

»Woher sollen wir es wissen?« fragte Issib.

Aber Nafai hörte sie nicht. Er lauschte der Überseele, und die Antwort war klar. Vertraue dem Mann.

»Ich akzeptiere deinen Eid«, sagte Nafai. »Und ich schwöre bei der Überseele, daß weder ich noch ein Mitglied meiner Familie dir Schaden zufügen wird, solange du deinen Eid hältst. Ihr alle – schwört es.«

»Das ist absurd«, sagte Mebbekew. »Du bringst uns alle in Gefahr.«

»Für diese Nacht hat die Überseele mir die Befehlsgewalt gegeben«, sagte Nafai, »und ihr habt versprochen zu gehorchen. Ich kam mit dem Index aus der Stadt, nicht wahr? Und Gaballufix ist tot. Also schwört es diesem Mann!«

Sie alle leisteten den Eid.

»Jetzt«, sagte Nafai zu Zdorab, »gib mir den Index.«

»Das kann ich nicht«, sagte Zdorab.

»Seht ihr?« sagte Meb.

»Ich meine – als du mich zu Boden gerissen hast, habe ich ihn fallen lassen.«

»Wunderbar«, sagte Elemak. »Die ganze Mühe, um diesen wertvollen Index zu bekommen, und jetzt müssen wir ihn Stück um Stück vom Wüstenboden auflesen.«

Doch Issib fand ihn nur einen Meter entfernt, und als Elemak ihn aufhob, schien er unbeschädigt zu sein. Zumindest im Mondlicht konnten sie nicht einmal einen Kratzer ausmachen.

Mebbekew sah ihn sich genau an, nahm ihn in die Hand, hob ihn hoch. »Nur ein Ball. Eine Metallkugel.«

»Er sieht nicht einmal wie ein Index aus«, sagte Issib.

Nafai streckte die Hand aus und nahm ihn von Mebbekew entgegen. Augenblicklich begann er zu leuchten. Lichter erschienen unter ihm.

»Ich glaube, du hältst ihn verkehrt herum«, sagte Zdorab.

Nafai drehte ihn um. In der Luft über dem Ball deutete ein holographischer Pfeil nach Südwesten. Über dem Pfeil befanden sich mehrere Worte, aber in einer Sprache, die Nafai nicht verstand.

»Das ist Altpuckji«, sagte Issib. »Das spricht heute keiner mehr.«

Die Buchstaben veränderten sich und bildeten ein einzelnes Wort. Stuhl.

»Der Pfeil«, sagte Issib. »Er deutet in die Richtung, in der ich meinen Stuhl zurückgelassen habe.«

»Zeig mal her«, sagte Elemak.

Nafai gab ihm dem Index. In dem Augenblick, da er Nafais Hände verließ, verschwand die Schrift.

Nafai griff nach dem Index. Elemak sah ihn fest an, mit Augen wie aus Eis, und gab Nafai die Metallkugel dann zurück. Als Nafai sie erneut berührte, baute sich das Display wieder auf. Nafai wandte sich an Zdorab. »Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung«, sagte Zdorab. »So etwas hat es noch nie gemacht. Ich dachte, es wäre kaputt.«

»Laß es mich mal versuchen«, sagte Issib.

»Bitte nicht«, sagte Nafai. »Wickeln wir es wieder ein und bringen es Vater, ohne es noch einmal anzusehen. Elemak kennt den Weg. Er sollte uns führen.«

»Genau«, sagte Mebbekew.

»Wie du meinst«, sagte Issib.

»Wer von euch ist Elemak?« fragte Zdorab.

Elemak wandte sich in Richtung Hohe Straße und der Stelle, wo Issibs Stuhl auf sie wartete. Als sie bei den Kamelen eintrafen, hellte sich der Himmel im Osten gerade auf. Nafai wickelte den Index ein und gab ihn Elemak, damit er ihn in einem Packgestell verstaute.

»Du solltest ihn Vater geben«, sagte Nafai.

Elemak griff nach ihm und nahm einen Fetzen von Nafais – nein, Gaballufix’ – Hemd zwischen Daumen und Zeigefinger. Er beugte sich vor. »Behandle mich nicht herablassend, Nafai. Ich sehe, wie die Dinge stehen, und ich sage es dir nur einmal. Als Geschenk von dir werde ich mir weder Macht noch Ehre noch sonst etwas geben lassen. Was immer ich habe, gehört mir, weil ich es mir genommen habe. Hast du mich verstanden?«

Nafai nickte. Elemak ließ sein Hemd los und ging davon. Erst jetzt begriff Nafai, daß dieser Bruch zwischen ihm und seinem ältesten Bruder niemals heilen würde. Der Index war unter Nafais Händen zum Leben erwacht. In Elemaks hatte er leblos gelegen. Die Überseele hatte gesprochen, und Elemak würde ihr niemals die Botschaft verzeihen, die sie mitgeteilt hatte.

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