11 Brüder

Basilika war noch nicht in Sicht, doch Elemak kannte die Straße. Kannte sie so gut wie die Haut seines eigenen Gesichts im Spiegel, jedes Muttermal auf der Oberfläche, jeden Gipfel oder Hang, der unter die Rasierklinge geriet und blutete. Er kannte die Schatten jeder Stunde des Tages, die Stellen, wo sich nach einem Regen Wasser finden ließ oder wo sich vielleicht Räuber verbargen.

An einen dieser Orte führte Elemak seine Brüder nun. Sie hatten die Straße schon vor geraumer Weile verlassen, waren bislang jedoch immer in Sichtweite geblieben. Nun ließen sie sie zurück, und schon bald wurde das Gelände so holprig, daß er sie anhalten und absitzen ließ.

»Warum halten wir hier an?« fragte Mebbekew.

»Die Flossen funktionieren wieder«, sagte Issib. »So nah sind wir der Stadt schon. Ich kann mich ohne den verdammten Stuhl bewegen.«

Elemak musterte seinen verkrüppelten Bruder und schüttelte den Kopf. »Nicht zuverlässig genug. Wir laden den Stuhl ab. Du wirst ihn benutzen.«

Issib war normalerweise so willfährig, doch jetzt nicht. »Benutze ihn selbst, wenn du ihn für so bequem hältst.«

»Sieh dich an«, sagte Elemak. »Die Flossen funktionieren hier bestenfalls nur zeitweilig. Sie setzen aus, und du stürzt, und das hätte uns gerade noch gefehlt. Benutze den Stuhl.«

»Je näher wir der Stadt kommen, desto besser wird es.«

»Wir kommen ihr nicht näher«, sagte Elemak.

»Was hast du vor?« fragte Mebbekew.

»Wir ziehen in dieses ausgetrocknete Flußbett, wohin das Magnetfeld Basilikas bestimmt nicht reicht, und warten dort bis zum Anbruch der Dunkelheit ab.«

»Und dann?« fragte Mebbekew. »Da du ja anscheinend glaubst, hier das Kommando zu haben, frage ich lieber mal.«

Elemak hatte so etwas schon oft von Mitreisenden auf der Straße gehört, manchmal sogar von angeheuerten Hilfskräften. Er wußte, wie man damit umzugehen hatte – mit brutaler Unterwerfung, augenblicklich und öffentlich, damit niemand mehr den geringsten Zweifel hatte, wer das Sagen hatte. Also beantwortete er Mebbekews Frage nicht, sondern nahm ihn an den Armen – dünne, frauenhafte Arme, ein Schauspieler, bei der Überseele! – und rammte ihn gegen die Felswand. Die plötzliche Bewegung erschreckte eins der Kamele. Es stampfte, spuckte und schiß aus Protest. Einen Augenblick lang befürchtete Elemak, er müsse das Tier beruhigen – aber nein, Nafai war schon bei ihm und beruhigte es. Der Junge war tatsächlich zu etwas nützlich, einmal abgesehen davon, sich bei Vater einzuschmeicheln. Nicht wie Mebbekew, der nur in seiner Unzuverlässigkeit zuverlässig war. Elemak hatte niemals begriffen, wieso sich Gaballufix ihm anvertraut hatte. Bestimmt hatte Gabja gewußt, daß Mebbekew etwas ausplaudern würde. Selbst, wenn er Vater nicht direkt von der Verschwörung erzählt hatte, mußte er irgend jemandem davon berichtet haben – wie hätte Vater es sonst wissen können?

Es stand nackte Panik und Schmerz in Mebbekews Blick sein Kopf war hart gegen den Stein geprallt. Na gut, dachte Elemak. Denke ein wenig über Schmerz nach. Denke genau darüber nach, bevor du meine Autorität auf der Straße in Frage stellst.

»Ich habe hier das Kommando«, flüsterte Elemak.

Meb nickte.

»Und ich sage, daß wir bis zum Anbruch der Dunkelheit warten.«

»Es war doch nur ein Scherz«, jammerte Meb. »Mußt du denn immer alles so ernst nehmen?«

Elemak hätte ihn dafür fast geschlagen. So ernst? Begreifst du denn nicht, daß dort in Basilika der mächtigste, gefährlichste Mann der Stadt überzeugt sein wird, daß wir ihn verraten und Vater zur Flucht geraten haben? Für Mebbekew war Basilika eine Stadt des Vergnügens und der Aufregung. Nun ja, Aufregung mochte durchaus innerhalb dieser Mauern auf sie warten, doch von Vergnügen keine Spur.

Elemak schlug Meb aber nicht, denn das wäre übertrieben gewesen und hätte bei den anderen vielleicht nicht Respekt, sondern Verärgerung hervorgerufen. Elemak wußte, wie man Männer zu führen hatte und seine eigenen Gefühle beherrschte und verhinderte, daß sie die Urteilskraft verzerrten. Er lockerte den Griff und drehte Mebbekew dann den Rücken zu, um sein absolutes Vertrauen in seine Führung und seine Verachtung für Mebbekew zu zeigen. Meb würde es nicht wagen, ihn anzugreifen, nicht einmal hinterrücks.

»Heute nacht gehen wir folgendermaßen vor. Es ist ganz einfach. Ich werde in die Stadt gehen, mit Gaballufix sprechen und den Index holen.«

»Nein«, sagte Issib. »Vater hat gesagt, wir sollen gemeinsam gehen.«

Eine weitere Insubordination – aber keine ernsthafte, und sie kam von Issib, dem Krüppel, und daher war es ausgeschlossen, ihn körperlich zu maßregeln. »Und wir sind gemeinsam gegangen. Aber ich kenne Gaballufix. Er ist mein Halbbruder – genauso mein Bruder wie jeder von euch. Mir wird es am ehesten möglich sein, ihn zu überreden, uns den Index zu geben.«

»Du meinst, wir haben den weiten Weg zurückgelegt«, sagte Issib, »und du läßt mich hier warten, in meinem Metallsarg, und ich darf gar nicht in die Stadt gehen?«

»Besser in deinem Stuhl als in einem echten Sarg«, sagte Elemak. »Laß dir gesagt sein, wenn du glaubst, es wäre ein Vergnügen, in die Stadt zu gehen, bist du verrückt. Gaballufix ist gefährlich.«

»Das ist er wirklich«, sagte Nafai. »Elja hat recht. Wenn wir gemeinsam gehen, bedeutet ein Scheitern, daß wir alle getötet werden, oder gefangengenommen, oder was weiß ich. Wenn nur einer geht, und er scheitert, könnten die anderen vielleicht trotzdem noch etwas bewirken.«

»Wenn ich scheitere, kehrt ihr zu Vater zurück«, sagte Elemak.

»Ja, klar«, sagte Meb. »Ich bin sicher, wir alle haben uns den Weg gemerkt.«

»Du kannst nicht gehen«, sagte Issib. »Du bist der einzige, der uns zurückführen kann.«

»Ich werde gehen«, sagte Nafai.

»Klar«, sagte Elemak lachend. »Du bist derjenige, der der Herrin Rasa am ähnlichsten sieht. Ich glaube, du begreifst es nicht, Njef – ein Blick auf dich, und Gaballufix wird an die einzige Erniedrigung erinnert, für die er sich niemals rächen konnte, daß Rasa nach zwei Töchtern seinen Vertrag nicht verlängerte und innerhalb einer Woche einen neuen Vertrag mit Vater schloß, den sie noch nicht beendet hat. Wenn du Gaballufix’ Haus allein betrittst, Njef, und niemand in der Stadt weiß davon, ist dein Leben verwirkt.«

»Dann gehe ich«, sagte Mebbekew.

»Du würdest dich nur betrinken oder eine Frau aufgabeln«, sagte Elemak, »und dann zurückkommen und lügen und behaupten, du hättest mit Gaballufix gesprochen, und er habe abgelehnt.«

Mebbekew schien mit der Idee zu spielen, wütend zu werden, überlegte es sich dann jedoch anders. »Vielleicht«, sagte er. »Aber es ist ein besserer Plan als jeder andere, den ich bislang gehört habe.«

»Wie wäre es mit meinem?« sagte Issib. »Ich gehe und frage ihn. Was wird Gaballufix einem Krüppel schon antun?«

Elemak schüttelte den Kopf. »Dich mit bloßen Händen zerreißen, wenn ihm der Kopf danach steht.«

»Und du warst sein Freund?« fragte Mebbekew.

»Bruder. Wir sind Brüder. Weißt du, unsere Brüder können wir uns nicht aussuchen«, sagte Elemak. »Wir müssen uns mit dem zufrieden geben, was wir bekommen haben.«

»Er würde einem Krüppel nichts tun«, wiederholte Issib. »Es würde ihn vor seinen eigenen Leuten beschämen.«

Elemak wußte, daß Issib recht hatte. Der Krüppel mochte die besten Chancen haben, ein Gespräch mit Gaballufix lebend zu überstehen. Das Problem war nur, daß Elemak nicht zulassen konnte, daß Issib oder Nafai mit dem Mann sprachen. Gaballufix würde vielleicht etwas sagen, das Elemak kompromittierte. Nein, Elemak selbst mußte gehen, damit er allein mit Gabja sprechen und vielleicht einige Dinge klarstellen konnte, seinen Bruder überzeugte, daß nicht er Vater vor dem Plan gewarnt hatte, Roptat unter Umständen zu töten, die Wetschik belasten und diskreditieren würden. Wenn Meb, Issja und Njef jemals davon erfuhren, würden sie nicht verstehen, daß dieser Plan auf lange Sicht zu Vaters Bestem war. Wenn sie Vater nicht auf diese Art neutralisierten, würde es vielleicht einmal Vater sein, der unter geheimnisvollen Umständen starb.

»Ich sage euch was«, schlug Elemak vor. »Da wir unterschiedlicher Meinung sind, wer gehen sollte, lassen wir die Überseele entscheiden. Eine alte Tradition – wir ziehen Lose.«

Er griff hinab und hob eine Handvoll Kiesel auf. »Drei helle, ein dunkler.« Doch während er dies sagte, klemmte er einen vierten hellen Stein zwischen zwei Fingern ein. »Der dunkle Stein geht in die Stadt.«

»Na schön«, sagte Meb, und die anderen nickten.

»Ich halte die Steine«, sagte Nafai.

»Niemand hält die Steine, mein lieber, kleiner Junge«, sagte Elemak. »Wir wollen doch niemandem die Gelegenheit zum Betrug geben, oder?« Er griff zu einem Felsvorsprung hinauf, den man von dort, wo sie standen, nicht einsehen konnte, und mischte die vier Steine mit einer Hand durcheinander. »Wenn ich sie gemischt habe, kannst du sie noch einmal mischen, Nafai«, sagte er. »Auf diese Weise gehen wir sicher, daß niemand weiß, welcher Stein welcher ist.«

Nafai trat augenblicklich vor, griff zu dem Felsvorsprung hinauf und mischte die Kiesel. Vier Stück natürlich – Elemak wußte, daß er vier Steine ertasten und zufrieden sein würde. Nafai konnte natürlich nicht wissen, daß der dunkle Kiesel nun zwischen Elemaks Fingern klemmte und alle vier Steine auf dem Vorsprung hell waren.

»Wenn du die Hand schon da oben hast, Njef, kannst du direkt einen Stein ziehen.«

Nafai, der arme Narr, erwischte einen hellen Stein und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Was hatte er erwartet? Er spielte ein Männer spiel. Keiner dieser Jungen schien zu begreifen, daß ein Mann mit Elemaks Verantwortung sich niemals auf diese Sache eingelassen hätte, wenn er nicht zuvor dafür gesorgt hatte, daß das Ergebnis seinen Wünschen entsprechen würde.

»Jetzt ich«, sagte Issib.

»Nein«, sagte Elemak. »Ich bin dran.« Das war ebenfalls eine Regel des Spiels – Elemak mußte früh ziehen, oder jemand könnte Argwohn schöpfen, die Kiesel überprüfen und herausfinden, daß sich kein dunkler darunter befand. Er griff hinauf, tat so, als würde er die Steine abtasten, und zog dann den dunklen – wobei er den überzähligen hellen aber wieder zwischen die Finger geklemmt hatte. Wenn sie jetzt nachsahen, würden sie nur zwei Steine auf dem Felsvorsprung finden.

»Du hast den Stein ertastet«, sagte Mebbekew.

»Sei doch kein schlechter Verlierer«, sagte Elemak. »Wenn alles gut verläuft, können wir vielleicht alle in die Stadt. Es hängt davon ab, wie Gaballufix reagiert, klar? Und er ist mein Bruder – wenn jemand ihn überreden kann, dann ich.«

»Ganz gleich, was passiert, ich gehe in die Stadt«, sagte Issib. »Ich werde warten, bis du zurückkommst, aber ich kehre nicht zurück, bevor ich nicht in der Stadt war.«

»Issja«, sagte Elemak, »ich kann dir nicht versprechen, daß ich dich innerhalb der Stadtmauern lasse. Aber ich kann dir versprechen, daß du, bevor wir umkehren, nahe genug an die Stadt herankommen wirst, um die Flossen zu benutzen. Einverstanden?«

Issib nickte verdrossen.

»Euer Wort darauf, daß ihr bis zu meiner Rückkehr hier wartet.«

»Und was machen wir, wenn Gaballufix dich tötet?« fragte Meb.

»Das wird er nicht.«

»Was machen wir«, beharrte Meb, »wenn du nicht zurückkommst?«

»Wenn ich bis zur Dämmerung nicht zurück bin«, sagte Elemak, »bin ich entweder tot oder gefangen. Und dann, meine lieben kleinen Brüder, habe ich nicht mehr das Kommando, und dann ist es mir so ziemlich egal, was ihr tut. Geht nach Hause, kehrt zu Vater zurück, oder geht in die Stadt und hurt herum oder verirrt euch oder laßt euch umbringen, für mich spielt das dann keine Rolle mehr. Aber habt keine Angst – ich werde zurückkommen.«

Das gab ihnen jede Menge zum Nachdenken, während er sie den Flußlauf entlang zu einer freien Stelle führte, wo niemand sie so schnell finden würde. »Schaut doch«, sagte Elemak. »Ihr könnt von hier aus die Stadtmauern sehen. Ihr könnt das Hohe Tor sehen.«

»Wirst du durch dieses Tor gehen?« fragte Nafai.

»Auf dem Hinweg«, sagte Elemak. »Auf dem Rückweg werde ich jedes beliebige Tor nehmen, das ich erreichen kann.«

Und damit ließ er sie stehen, schritt kühn davon und wünschte sich, er wäre in Wirklichkeit nur halb so kühn, wie er es ihnen vormachte.


Es war nicht annähernd so schwierig, die Stadt durch das Hohe Tor zu betreten, wie es beim Markttor der Fall gewesen wäre – schließlich gab es dort keinen Goldmarkt zu schützen. Dennoch mußte sich Elemak den Daumen scannen lassen, um seine Bürgerschaft zu beweisen, und damit wußte der Stadtcomputer, daß er sich in Basilika befand. Elemak bezweifelte nicht, daß Gabja – selbst, wenn sein Hauscomputer nicht direkt mit den Stadtcomputern verbunden war, was natürlich illegal gewesen wäre – mit Sicherheit Informanten in der Stadtverwaltung hatte, und falls Gabja auf die Information Wert legte, daß sich Elemak in Basilika befand, würde er sie innerhalb weniger Augenblicke bekommen haben.

Elemak war eigentlich schon sehr erleichtert, nicht von der Wache am Tor verhaftet zu werden; das bedeutete, daß Gaballufix seinen Namen nicht zur direkten Festnahme ausgeschrieben hatte. Oder es bedeutete, daß Gabja in der Stadt noch nicht über so viel Macht verfügte, wie er seinen Freunden und Unterstützern gegenüber prahlerisch behauptete. Vielleicht gehörte es noch nicht zu seinen Befugnissen, den Wachen an den Toren zu befehlen, seine persönlichen Feinde in Haft zu nehmen.

Bin ich sein Feind? dachte Elemak. Sein Bruder, ja. Sein Freund, nein. Des eigenen Vorteils willen eine Zeitlang sein Verbündeter, ja. Wir beide haben in einer engeren Beziehung Vorteile gesehen. Doch wird er mich nun als alten Geschäftskollegen ansehen, der von ihm abgefallen ist, als möglicherweise nützlichen Freund, oder als Verräter, der bestraft werden muß?

Elemak hatte eigentlich direkt zu Gaballufix’ Haus gehen wollen, doch als er sich erst einmal in der Stadt befand, brachte er es nicht über sich. Er trabte vom Hohen Rauchfang zur Bibliotheksstraße und dann über die Tempel- zur Flügelstraße. Sowohl über die Tempel- als auch über die Flügelstraße hätte er zu Gabjas Haus gelangen können, doch mittlerweile zeigte sich Elemak immer besorgter über die zahlreichen Soldaten, denen er begegnete. Es waren wesentlich mehr von ihnen unterwegs als in den Tagen, bevor Vater sie in die Wüste geführt hatte, und obwohl er es sorgsam vermied, sie anzusehen, bereiteten sie ihm ein immer stärkeres Unbehagen. Als er schließlich sah, daß ein Trupp von zwölf Mann auf die Flügelstraße einbog, duckte er sich in einen Türeingang und betrachtete sie dann verstohlen, als sie an ihm vorübergingen.

Augenblicklich begriff er, was mit ihnen nicht stimmte. Sie waren alle identisch – die Gesichter, die Kleidung, die Waffen, alles. »Unmöglich«, flüsterte er. Es konnte einfach nicht so viele identische Menschen auf der Welt an einer Stelle geben. Die uralten Geschichten über das Klonen kamen ihm in den Sinn – Hexen und Hexenmeister, die die Welt beherrschen wollten, indem sie identische Kopien von sich selbst schufen, die sich (zumindest in den Geschichten) unausweichlich gegen ihre Schöpfer wandten und sie töteten. Aber das war die wirkliche Welt, und das waren Gabjas Soldaten; und der hatte vom Klonen genauso wenig Ahnung wie vom Fliegen, und hätte er Klone schaffen können, hätte er sich bestimmt ein besseres Modell als diesen schwer zu beschreibenden, dumm aussehenden Klotz von Mann ausgesucht, der zu Dutzenden durch die Straßen patrouillierte.

»Das ist nur ein Schwindel«, sagte eine Frau.

Elemak befand sich allein auf der Schwelle. Erst, als er auf die Straße trat, sah er die Sprecherin, eine verwahrloste Wilde unbestimmbaren Alters, nackt bis auf die Staub- und Schmutzschichten, die sie bedeckten. Elemak gehörte nicht zu jenen, die die Wilden als Objekte der Begierde sahen, wenngleich sich einige seiner Freunde gelegentlich ihrer beiläufig bedienten, als wären sie Urinale für die Lust. Normalerweise hätte er sie ignoriert, doch sie schien auf seine geflüsterte Bemerkung geantwortet zu haben, und außerdem, mit wem konnte man sicherer sprechen als mit einer anonymen heiligen Frau aus der Wüste?

»Wie machen sie es?« fragte er. »Daß sie alle gleich aussehen, meine ich.«

»Es heißt, es wäre eine alte Theaterkostüm-Technik, die vor tausend Jahren groß in Mode war.«

Sie sprach nicht wie eine Wüstenfrau. »Wie funktioniert es?«

»Ein feines Netz, das man wie einen Mantel trägt. Mit einem Knopf an der Hüfte schaltet man es ein und aus. Es paßt sich automatisch der Helligkeit der Umgebung an – im Sonnenlicht wird es sehr hell, im Mondlicht oder Schatten nicht so sehr. Eine sehr kluge Erfindung.«

Ihre Stimme klang von Satz zu Satz kultivierter.

»Wer bist du?« fragte er.

Sie sah ihm ins Gesicht. »Ich bin die Überseele«, sagte sie. »Und wer bist du, Elemak? Bist du mein Freund oder mein Feind?«

Einen Augenblick lang stand Elemak starr vor Entsetzen da. Er hatte solche Angst vor Gaballufix gehabt, davor, daß ein Soldat ihn erkennen, seinen Namen rufen und ihn abführen oder vielleicht sogar auf der Stelle töten würde, daß er nun völlig fassungslos war, von einer Verrückten erkannt worden zu sein. Wie soll man sich verstecken, wenn einen sogar die Bettler auf der Straße mit Namen kennen? Erst, als sie sich bewegte, als sie ihren Zeigefinger in den Nabel steckte und ihn drehte, als rühre sie dort eine widerwärtige Mixtur an, überwand sein Abscheu seine Furcht, und er lief auf die Straße und rannte blindlings vor ihr davon.

Also konnte er seinen Plan, sich unauffällig durch die Straße zu bewegen, vergessen. Er war jedoch so geistesgegenwärtig, um nicht sofort zu Gabjas Haus zu gehen, nicht in diesem Geisteszustand. Wohin konnte er sich dann wenden? Die Macht der Gewohnheit würde ihn zum Haus seiner Mutter führen – die alte Hosni hatte ein schönes, altes Haus in Den Quellen, in der Nähe des Hinteren Tores, in dem sie in der Politik mitmischte und aufstrebende junge Männer und Frauen in der Regierung und Verwaltung förderte oder vernichtete. Doch das Begehren triumphierte über die Gewohnheit, und statt Zuflucht bei seiner Mutter zu suchen, fand er sich auf den Stufen von Rasas Haus.

Er war als Junge natürlich hier unterrichtet worden, noch bevor Vater den ersten Vertrag mit ihr geschlossen hatte; nur, weil seine Mutter ihn bei Rasa studieren ließ, hatten sein Vater und seine Lehrerin sich überhaupt kennengelernt. Es war irgendwie peinlich gewesen, daß sich die anderen Schüler den Mund über die Liaison zwischen ihrer Herrin und Eljas Vater zerrissen, und von da an hatte er sich hier niemals wohl gefühlt, bis er schließlich im Alter von dreizehn Jahren seine Ausbildung dankbar beendet hatte. Nun jedoch kam er nicht als Schüler zu Rasas Haus, sondern als Freier – und als einer, dessen Werben seit langem willkommen war.

Einen Augenblick lang zögerte Elemak an der Tür, als ihm klar wurde, daß er genau das tat, was er seinen jüngeren Brüdern verboten hatte – daß er persönlichen Angelegenheiten nachging, während er doch eigentlich Vaters Auftrag erledigen sollte. Doch er schüttelte die Bedenken, die sich einstellten, sofort wieder ab. Sein Werben um Eiadh war weit mehr als nur ein abenteuerliches Spiel. Irgendwann in den letzten Monaten hatte er sich in sie verliebt; er begehrte sie mehr, als er je für möglich gehalten hatte, eine Frau begehren zu können. Ihre Stimme war für ihn wie Musik, ihr Körper eine unendlich veränderbare Skulptur, die ihn mit jeder Bewegung erstaunte. Doch während seine Hingabe für sie wuchs, wurde auch die Furcht in ihm immer größer, daß ihre Liebe für ihn nicht entsprechend zunahm. Soweit er wußte, begehrte sie ihn noch immer lediglich als den Erben des großen Wetschik, der ihr ein gewaltiges Vermögen und Prestige einbringen konnte. Vielleicht mochte sie jetzt, nachdem so viel vom Geschäft geschlossen oder verkauft worden war, keinen Vorteil mehr darin sehen, den Erben des Wetschik zu heiraten. Wie würde sie nun auf ihn reagieren?

Er zog an der Schnur; die Glocke läutete. Es war eine altmodische Glocke, ein tiefer Gong statt des musikalischen Geläuts, das jetzt in Mode war. Zu seiner Überraschung öffnete Rasa persönlich die Tür.

»Ein Mann kommt zu meiner Tür«, sagte sie. »Ein starker, junger Mann, mit dem Schmutz und Schweiß der Wüste auf seinem Gesicht. Was soll ich von dir halten? Bringst du mir Nachricht von meinem Gefährten? Bringst du weitere Drohungen von Gaballufix? Bist du hier, um meine Nichte Eiadh zu holen? Oder bist du mit Furcht im Herzen gekommen, zurück zum Haus deiner Kinder- und Schulzeit, in der Hoffnung auf ein Bad und eine Mahlzeit und vier starke Wände, die dich schützen werden?«

Das alles sagte sie so humorvoll, daß Elemaks Furcht schwand. Es war ein gutes Gefühl, daß Rasa ihn fast als Gleichberechtigten ansprach. »Vater geht es gut«, antwortete er, »Gabja habe ich nach meiner Rückkehr zur Stadt noch nicht gesehen, Eiadh würde ich gern sehen, doch ich habe im Augenblick nicht vor, sie zu entführen, und was das Bad und die Mahlzeit betrifft – ich würde diese Gastfreundschaft dankbar annehmen, hätte aber nie darum gebeten.«

»Das will ich dir gern glauben«, sagte Rasa. »Du wärest hereingeplatzt und hättest angenommen, daß sich Eiadh über deine Umarmung freut, wenn du wie ein Kamel riechst und mit jedem Schritt, den du tust, Staub verbreitest. Komme herein, Elemak.«

Als er das Bad genoß, fühlte er sich erneut schuldig und dachte an seine Brüder, die in der Hitze des Tages in den Hügeln auf ihn warteten – andererseits hingegen war es nur vernünftig, ein Bad zu nehmen und sich zu säubern, bevor er Gaballufix aufsuchte. Er sah dann nicht mehr so abgerissen aus und konnte die klare Botschaft vermitteln, daß er Freunde in der Stadt hatte – eine viel bessere Verhandlungsposition. Falls Gaballufix es nicht als weiteren Beweis nahm, daß Elemak ein doppeltes Spiel getrieben hatte. Seine Kleidung, frisch gewaschen und ausgelüftet, lag im Sekator für ihn bereit, und er zog sie dankbar an, nachdem er das Bad beendet hatte, und ließ sich dabei vom Sekator abtrocknen. Das Haaröl verschmähte er – die Mitglieder der Potokgavan-Partei verzichteten auf jegliche Pomade, da sie in keiner Hinsicht den Naßköpfen ähneln wollten.

Eiadh empfing ihn in Rasas Salon. Sie wirkte schüchtern, doch das nahm er als gutes Zeichen – zumindest war sie nicht hochmütig oder wütend. Doch konnte er es wagen, sich die Freiheiten herauszunehmen, die sie ihm bei seinem letzten Besuch gewährt hatte? Oder wäre dies nun, da die Verhältnisse sich geändert hatten, zu vermessen? Er ging zu ihr, doch statt neben ihr auf dem Sofa Platz zu nehmen, sank er vor ihr auf ein Knie nieder und griff nach ihrer Hand. Sie duldete es – und streckte dann die andere Hand aus und berührte seine Wange. »Sind wir jetzt Fremde?« fragte sie. »Möchtest du dich nicht neben mich setzen?«

Sie hatte sein Zögern verstanden, und das war die Rückversicherung, die er brauchte. Augenblicklich setzte er sich neben sie, küßte sie, legte die Hand auf ihre Taille und spürte, daß sie leidenschaftlich atmete, daß sie ihn heftig begehrte. Sie sprachen anfangs nur wenig, zumindest mit Worten; mit ihren Taten verriet sie ihm, daß sich ihre Gefühle für ihn nicht verändert hatten.

»Ich dachte, du wärest für immer gegangen«, flüsterte sie nach langem Schweigen.

»Nicht von dir«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, was die Zukunft für mich bereithält. Der Aufruhr in der Stadt, Vaters Exil …«

»Einige behaupten, dein Bruder habe sich verschworen, deinen Vater zu töten …«

»Niemals.«

»Und andere sagen, dein Vater habe deinen Bruder töten wollen …«

»Unsinn. Lachhaft. Beide sind willensstarke Männer, das ist alles.«

»Das ist nicht alles«, sagte Eiadh. »Dein Vater kam niemals mit Soldaten hierher, um zu drohen, er könne sich Zutritt verschaffen, wann immer er wollte, wie Gaballufix es tat.«

»Er kam hierher?« sagte Elemak wütend. »Weshalb?«

»Vergiß nicht, er war einst Tante Rasas Gefährte, sie haben zwei Töchter …«

»Ja, ich glaube, ich habe sie kennengelernt.«

»Natürlich«, sagte sie lachend. »Ich weiß, es sind deine Nichten. Und sie sind auch Njefs und Issibs Schwestern – sind Familienverhältnisse immer so kompliziert? Aber ich meinte, seltsam war nicht, daß Gaballufix kam, sondern wie er kam, mit diesen Soldaten in ihren schrecklichen Kostümen, in denen sie alle so … unmenschlich aussehen.«

»Ich habe gehört, es sei eine Holographie.«

»Ein sehr altes Theaterrequisit. Nun, da ich es gesehen habe, bin ich froh, daß unsere Schauspieler Schminke oder Masken benutzen. Hologramme sind sehr verwirrend. Unnatürlich.« Sie schob ihre Hand in sein Hemd und streichelte seine Haut. Es kitzelte. Er zitterte. »Siehst du?« fragte sie. »Wie könnte ein Hologramm jemals so etwas empfinden? Wie kann man es nur ertragen, so unwirklich zu sein?«

»Ich stelle mir vor, daß sie unter dem Hologramm noch durchaus wirklich sind. Und sie können einem die Zunge herausstrecken, ohne daß man es mitbekommt.«

Sie lachte. »Aber stelle dir einmal vor, du wärest ein Schauspieler und müßtest so etwas tragen. Wie könnte man da noch deinen Gesichtsausdruck ausmachen?«

»Vielleicht haben sie sie nur für Statisten benutzt – damit ein und derselbe Schauspieler Dutzende von Rollen spielen kann, ohne das Kostüm zu wechseln.«

Eiadhs Augen wurden größer. »Mir war gar nicht bekannt, daß du so viel über das Theater weißt.«

»Ich habe einmal einer Schauspielerin den Hof gemacht«, sagte Elemak. Er sagte es absichtlich, da er wußte, daß es die meisten Frauen störte, von alten Lieben zu hören. »Ich hielt sie damals für wunderschön. Verstehst du, ich hatte dich noch nicht gesehen. Jetzt frage ich mich, ob sie auch nur ein Hologramm war.«

Zur Belohnung für das nette Kompliment küßte sie ihn.

Dann wurde die Tür geöffnet, und Rasa kam herein. Sie hatte ihnen die nach den gesellschaftlichen Gepflogenheiten angemessenen fünfzehn Minuten zugestanden – vielleicht ein paar mehr. »Ich freue mich, daß du uns besuchst, Elemak. Vielen Dank, Eiadh, daß du mit unserem Gast Konversation getrieben hast, während ich abgelenkt war.« Dieser Brauch, so zu tun, als wolle der Freier die Dame des Hauses besuchen, während die junge Dame, die umworben wurde, der Herrin lediglich half, den Gast zu unterhalten, gehörte zu den delikaten Vor wänden des Werbens.

»Ich finde keine Worte dafür, wie dankbar ich dir für deine Gastfreundschaft bin«, sagte Elemak. »Du hast einen müden Reisenden gerettet, meine Herrin Rasa; ich habe nicht gewußt, wie nah ich dem Tod gewesen sein muß, bis deine Freundlichkeit mich wieder so lebendig machte.«

Rasa wandte sich an Eiadh. »Er ist darin wirklich gut, nicht wahr?«

Eiadh lächelte freundlich.

»Meine Herrin Rasa«, sagte Elemak, »ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Ich muß mich heute mit Gaballufix treffen, und ich weiß nicht, was dabei herauskommen wird.«

»Dann treffe dich nicht mit ihm«, sagte Rasa, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. »Ich glaube, er ist sehr gefährlich geworden. Roptat ist überzeugt, daß es an jenem Tag, als Wetschik ging, einen Plan gab, ihn bei diesem Treffen am Kühlhaus zu töten. Wäre Wetschik wie vereinbart dort gewesen, wäre Roptat in eine Falle gelaufen. Ich glaube ihm – ich glaube, daß Gaballufix Mord im Herzen hat.«

Elemak wußte es; aber er hatte nicht die geringste Vorstellung, was daraus entstehen würde, wenn er Rasas Verdacht bestätigte. Zum einen würden sich Rasa und Eiadh vielleicht fragen, woher Elemak von solch einer Verschwörung wissen konnte und wieso er Roptat, wenn er davon gewußt hatte, nicht gewarnt hatte. Frauen verstanden nicht, daß es manchmal am freundlichsten und friedlichsten war, einen Konflikt mit einem einzigen Todesfall zur rechten Zeit zu verhindern, um Tausende von Gefallenen eines blutigen Krieges zu vermeiden. Die Naiven konnten eine gute Strategie so leicht als Mord mißverstehen.

»Vielleicht«, sagte Elemak. »Weiß wirklich jemand, was ein anderer im Herzen hat?«

»Ich kenne das Herz eines anderen«, sagte Eiadh. »Und mein Herz hat keine Geheimnisse vor ihm.«

»Wenn du dich damit nicht auf Elemak beziehst«, sagte Rasa, »könnte der arme Elemak vielleicht in Betracht ziehen, selbst ein heißblütiges Verbrechen aus Leidenschaft zu begehen.«

»Natürlich spreche ich von Elja«, sagte Eiadh. Sie nahm seine Hand und hielt sie in ihrem Schoß.

»Herrin Rasa, es ist unbedingt nötig, daß ich Gaballufix aufsuche. Vater schickt mich. Er braucht etwas, das nur Gaballufix ihm geben kann.«

»Wir alle brauchen etwas, das nur Gaballufix geben kann«, sagte Rasa, »und das ist Friede. Das könntest du vielleicht erwähnen, wenn du mit ihm sprichst.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Elemak, obwohl sie beide wußten, daß er es nicht tun würde.

»Was will Wetschik haben? Hat er dir eine Nachricht für mich mitgegeben?«

»Er hat nicht damit gerechnet, daß ich dich sehe«, sagte Elemak. »Eine Vision der Überseele schickt mich hierher. Eigentlich sind wir alle vier gekommen …«

»Sogar Issib! Hier!«

»Nein. Ich habe sie vor der Stadt zurückgelassen, an einem sicheren Ort. Wenn es nach meinem Willen geht, werdet nur ihr beide erfahren, daß sie hier sind. Mit etwas Glück werde ich mir den Index noch vor der Nacht beschaffen und die Stadt wieder verlassen können. Ich habe keine Ahnung, wann wir danach wieder zurückkehren werden.«

»Der Index«, flüsterte Rasa. »Dann kann er niemals zurückkommen.«

Elemak verwirrten ihre Worte. »Wieso? Was hat es überhaupt mit diesem Index auf sich?«

»Nichts«, sagte sie. »Ich meine, ich weiß es nicht. Nur, daß … sagen wir es einmal so. Wenn die Palwaschantu merken, daß er verschwunden ist …«

»Wie kann er nur so wichtig sein? Ich habe nie von ihm gehört, bevor Vater uns schickte, ihn zu holen.«

»Nein, man spricht nicht viel von ihm«, sagte Rasa. »Ich vermute, es hat auch kein Grund dafür bestanden. Oder die Überseele wollte vielleicht nicht, daß viele von ihm erfahren.«

»Warum? Es gibt zahlreiche Indexe – Dutzende in jeder Bibliothek auf der Welt, Hunderte allein in Basilika. Warum ist das der Index?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Rasa. »Wirklich nicht. Ich weiß nur, daß es sich um das einzige Artefakt der Männerreligion handelt, das auch in den Überlieferungen der Frauen erwähnt wird.«

»Männerreligion? Wie wird er benutzt?«

»Ich weiß es nicht. Meines Wissen wurde er niemals benutzt. Ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht.«

»Das sind wirklich gute Nachrichten«, sagte Elemak. »Ich ging davon aus, daß er wie jeder andere Index auch aussieht, und nun sagst du mir, daß Gaballufix mir alles geben und als Index bezeichnen könnte und ich nicht einmal wüßte, ob er mich betrügt.«

Rasa lächelte. »Elemak, du verstehst nicht ganz. Wenn er nicht die Führung der Palwaschantu verlieren wird, wird er dir den Index niemals geben.«

Elemak war besorgt, aber nicht bestürzt. Sie meinte es eindeutig ernst, aber das bedeutete nicht unbedingt, daß sie Recht hatte. Niemand konnte voraussagen, was Gaballufix tun würde, und wenn er glaubte, dadurch einen Vorteil zu bekommen, würde er alles eintauschen. Selbst ihre Mutter, falls Gabja auf den Gedanken kommen sollte, die alte Hosni hätte irgendeinen Wert für ihn. Nein, er würde sich vom Index trennen, wenn der Preis stimmte.

Und um so mehr ihm klar wurde, wie wichtig dieser geheimnisvolle Index war, um so dringender wollte er ihn haben, nicht nur, um Vaters Auftrag zu erfüllen, sondern um ihn zu behalten. Wenn der Index seinem Besitzer eine solche Macht bescherte, warum sollte dieser Besitzer dann nicht Elemak sein?

»Elemak«, sagte Rasa, »falls du den Index irgendwie bekommen solltest, mußt du wissen, daß Gaballufix ihn dir nicht einfach lassen wird. Irgendwie wird er ihn sich zurückholen. Dann schwebst du in schrecklicher Gefahr. Ich will dir damit sagen – vertraue keinem Mann, falls du oder einer deiner Brüder Zuflucht vor Gabja brauchen solltet. Hast du verstanden? Vertraue keinem Mann.«

Elemak wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er war ein Mann; wie sollte er auf so einen Rat reagieren?

»Es gibt nur wenige Frauen in dieser Stadt«, sagte Rasa, »die sich nicht freuen würden, würde man Gabja eines Großteils seiner Macht und seines Prestiges berauben. Sie würden dem neuen Besitzer des Index gern helfen, dem Zugriff von Gaballufix zu entkommen – selbst, wenn dieser sich den Index auf eine Weise beschafft hat, die manche als …«

»Kriminell bezeichnen würden«, sagte Elemak.

»Ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden«, sagte Rasa. »Aber dein Vater hat sicherlich Recht, daß es ein harter Schlag gegen Gaballufix wäre, ihm den Index zu nehmen.«

»Es war eigentlich nicht Vaters Idee«, sagte Elemak. »Er behauptet, sie sei ihm in einem Traum gekommen. Von der Überseele.«

»Dann könnte es vielleicht wahr werden«, sagte sie. »Es könnte geschehen. Vielleicht … Wer weiß, ob die Überseele noch genug Macht über Gaballufix hat, um ihn … nun ja, kurzfristig dumm zu machen.«

»So dumm, daß er ihn mir gibt?«

»Und so dumm, daß er dich nicht findet und dann erschlägt.«

Elemak fühlte Eiadhs Hand in der seinen. Ich kam hierher, um Zuflucht zu finden und weil ich dich begehre, Eiadh – doch in Wirklichkeit habe ich Rasas Hilfe benötigt. Wenn man sich vorstellt, ich wäre zu Gaballufix gegangen, ohne zu wissen, wie wichtig dieser Index wirklich ist! »Herrin Rasa, wie kann ich dir für alles danken, was du für mich getan hast?«

»Ich fürchte, ich habe dich entmutigt, dein Leben bei einem unmöglichen Unterfangen aufs Spiel zu setzen«, sagte Rasa. »Ich hasse die Vorstellung, daß Gaballufix dir wirklich etwas antun könnte, aber der Einsatz in diesem Spiel ist sehr hoch. Die Zukunft Basilikas ist der Preis – aber ich fürchte, daß die Stadt beim Kampf um diesen Preis so einen großen Schaden nehmen wird, daß es das Spiel nicht mehr wert ist.«

»Was immer auch geschieht«, sagte Elemak, »du kannst dich darauf verlassen, daß ich zu Eiadh zurückkehren kann, wenn es mir möglich ist und sie mich noch haben will.«

»Selbst, wenn du ein Ausgestoßener und ein Verbrecher bist?« sagte Rasa. »Erwartest du von ihr, daß sie selbst dann mit dir gehen würde?«

»Gerade dann!« rief Eiadh. »Ich liebe Elja nicht wegen seines Geldes oder Rangs in der Stadt, ich liebe ihn, weil er Elja ist.«

»Meine Liebe«, sagte Rasa, »du kennst ihn ohne sein Geld oder seinen Rang doch gar nicht. Woher willst du wissen, wer er sein wird, wenn er beides nicht mehr hat?«

Es war grausam von ihr, dies zu sagen; Elemak konnte nicht glauben, daß sie diesen Gedanken überhaupt hatte, geschweige denn, daß sie ihn über die Lippen brachte. »Falls Eiadh eine Frau wäre, deren Herz ihrem Begehren folgen würde, Herrin Rasa, wäre sie keine Frau, die ich lieben oder der ich auch nur vertrauen könnte. Aber ich liebe sie wirklich, und keine Frau ist meines Vertrauens würdiger.«

Rasa lächelte ihn an. »O Eiadh, dein Freier hat so ein schönes Bild von dir. Versuche, dich seiner würdig zu erweisen.«

»Wie meine Tante Rasa spricht, könnte man glauben, sie wolle dir ausreden, mich zu lieben«, sagte Eiadh. »Vielleicht ist sie eine Winzigkeit eifersüchtig darauf, daß ein so guter Mann um mich wirbt.«

»Du vergißt«, sagte Rasa, »ich habe schon den Vater. Was will ich noch mit dem Sohn?«

Es war ein kritischer Augenblick; es waren Dinge gesagt worden, die in höflicher Gesellschaft nicht gesagt werden sollten – durften. Wenn es sich nicht um einen Scherz handelte.

Endlich lachte Rasa, sie fielen erleichtert in ihr Gelächter ein.

»Möge die Überseele dich begleiten«, sagte Rasa.

»Komm bald zu mir zurück«, sagte Eiadh. Sie drückte sich eng an ihn. Er erwiderte die Umarmung; sie würde keinen Zweifel an seinem Verlangen und seiner Hingabe haben.


Am Spätnachmittag stand Elemak vor Gaballufix’ Haus. Aus reiner Macht der Gewohnheit wäre er fast in die Gasse und zu dem privaten Nebeneingang geschlüpft. Doch dann wurde ihm klar, daß sich sein Verhältnis zu Gaballufix unvorhersagbar verändert hatte. Falls Gaballufix ihn als Verräter betrachtete, würde eine geheime, völlig unbeobachtete Ankunft Gab ja eine perfekte Gelegenheit geben, ihn loszuwerden, ohne daß je jemand davon erfuhr. Außerdem gestand er praktisch ein, wenn er den Hintereingang nahm, daß er von geringerem Rang als Gaballufix war. Er hatte genug davon. Er würde offen und für jeden wahrnehmbar durch den Vordereingang kommen, wie ein Mann von einiger Bedeutung in der Stadt, ein geehrter Gast – mit zahlreichen Zeugen.

Zu seinem Vergnügen waren Gaballufix’ Diener ehrerbietig und führten ihn augenblicklich herein, und er mußte nur kurz warten, bis man ihn in die Bibliothek führte, in der er sich immer mit Gaballufix getroffen hatte. Nichts schien sich geändert zu haben – Gabja erhob sich von seinem Stuhl und begrüßte Elemak mit einer Umarmung. Sie sprachen wie Brüder, sprachen ein paar Minuten lang über Leute unter Gaballufix’ Freunden und Unterstützern, die sie beide kannten. Der einzige Hinweis auf Spannungen zwischen ihnen lag darin, wie Gabja von Elemaks ›überstürztem mitternächtlichem Aufbruch‹ sprach.

»Das war nicht meine Idee«, sagte Elemak. »Ich weiß nicht, wer von deinen Leuten geplaudert hat, aber Vater weckte uns Stunden vor der Morgendämmerung, und als das Treffen stattfinden sollte, waren wir schon tief in der Wüste.«

»Ich mag solche Überraschungen nicht«, sagte Gaballufix. »Aber ich weiß, daß man manchmal keinen Einfluß auf solche Dinge hat.«

Gabja war verständnisvoll. Erleichterung durchflutete ihn, und Elemak machte es sich auf seinem Stuhl etwas bequemer. »Du kannst dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe. Ich konnte mich ja schlecht davonstehlen und dich warnen – Vater war die ganze Zeit bei uns, ganz zu schweigen von meinen kleinen Brüdern.«

»Mebbekew?«

»Ich konnte nur dafür sorgen, daß er sich nicht auf der Stelle in die Hosen schiß. Du hättest ihn niemals in den Plan einbeziehen sollen.«

»Hätte ich das nicht?«

»Woher willst du wissen, ob er nicht derjenige war, der Vater gewarnt hat?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Gaballufix. »Ich weiß nur, daß mein lieber Vetter Wetschik verschwand, und mein Bruder Elemak mit ihm.«

»Wenigstens hat er die Stadt verlassen. Er wird deine Pläne nicht mehr stören.«

»Ach nein?«

»Natürlich nicht. Was kann er in einem kleinen, abgeschiedenen Tal in der Wüste schon bewirken?«

»Er hat dich zurückgeschickt«, sagte Gaballufix.

»Mit einem begrenzten Auftrag, der nichts mit der ganzen Debatte über Kriegswagen und Potokgavan und den Naßköpfen zu tun hat.«

»Die Debatte ist sowieso schon weit über diese Themen hinaus«, sagte Gaballufix. »Oder sollte ich vielleicht besser sagen, sie hat jetzt ganz andere Inhalte als diese Themen. Also sage mir – worin besteht der begrenzte Auftrag deines Vaters, und wie kann ich ihn durchkreuzen?«

Elemak lachte in der Hoffnung, daß Gabja einen Scherz gemacht hatte. »Das kannst du wohl am besten, wenn du ihm gibst, was er will – eine Kleinigkeit, eigentlich gar nichts. Dann verschwinden wir wieder, und es läuft auf dich und Roptat hinaus, wie es deine Absicht war.«

»Ich habe nie gewollt, daß etwas auf mich und sonst jemanden hinausläuft«, sagte Gaballufix. »Ich bin ein friedlicher Mensch. Ich will keinen Streit. Ich dachte, ich hätte einen Plan, mit dem man einen Konflikt vermeiden kann, doch im letzten Augenblick haben die Leute, auf die ich mich verließ, einen Rückzieher gemacht.«

Er lächelte noch immer, doch Elemak begriff, daß die Dinge zwischen ihnen nicht so gut standen, wie er gehofft hatte.

»Nun sag mir, Elja, was ist das für eine Kleinigkeit, die ich für deinen Vater tun soll, nur, weil dein Vater es verlangt?«

»Es gibt da irgendeinen Index«, sagte Elemak. »Ein altes Ding, das seit Generationen der Familie gehört.«

»Ein Index? Warum sollte ich einen Familienindex des Wetschik haben?«

»Keine Ahnung. Ich nahm an, du wüßtest, welchen er meint. Er nannte ihn einfach ›den Index‹, und da dachte ich, du wüßtest es.«

»Ich habe Dutzende von Indexen. Dutzende.« Dann runzelte Gaballufix plötzlich die Stirn, als wäre ihm etwas eingefallen. Elemak hatte jedoch schon öfter gesehen, daß er diese Geste zeigt, und wußte demzufolge, daß Gaballufix nur ein Spielchen mit ihm trieb. »Außer, du meinst … aber nein, das ist absurd, das hat dem Hause Wetschik niemals gehört.«

Elemak spielte pflichtschuldig mit. »Wovon sprichst du?«

»Natürlich vom Palwaschantu-Index«, sagte Gaballufix. »Der Grund dafür, daß sich der Klan überhaupt gebildet hat, damals im Anbeginn der Zeit. Das wertvollste Artefakt in ganz Basilika.«

Natürlich würde er den Wert hochspielen, genau wie jeder Händler, der etwas verkaufen wollte. Man gibt vor, daß das, was man zu verkauften hat, das Wertvollste auf dem gesamten Planeten ist, um einen absurd hohen Preis festsetzen und sich dann herunterhandeln lassen zu können.

»Dann kann es dieser Index nicht sein«, sagte Elemak. »Vater ist bestimmt nicht der Meinung, daß er solch einen Wert hat. Es handelt sich eher um eine Sentimentalität. Er hat seinem Großvater gehört, und der hat ihn dem Klansrat zur Aufbewahrung gegeben, wenn er auf Reisen ging. Nun will Vater ihn auf seine Reisen mitnehmen.«

»Oh, dann ist er es doch. Sein Großvater hatte ihn, aber nur als befristeter Hüter. Der Palwaschantu-Klan hat ihn dem Wetschik übertragen; doch er wurde der Last müde und gab ihn zurück. Jetzt wurde ein anderer Hüter ernannt – ich. Und ich bin meiner Pflichten nicht müde. Sag deinem Vater bitte, ich sei ihm dankbar dafür, daß er mir bei meinen Pflichten geholfen hat, aber ich glaube, ich werde mich noch ein paar Jahre lang ohne seine Hilfe abmühen.«

Jetzt war es an der Zeit, daß der Preis erwähnt wurde. Elemak wartete, doch Gaballufix sagte nichts.

Und nachdem sich das Schweigen dann ein paar Minuten lang ausgedehnt hatte, erhob sich Gaballufix hinter seinem Tisch. »Auf jeden Fall, mein lieber Bruder, freue ich mich, dich in der Stadt zurück zu sehen. Ich hoffe, daß du lange bleiben wirst – ich kann deine Unterstützung gebrauchen. Nun, da dein Vater geflohen zu sein scheint, werde ich all meinen Einfluß einsetzen, damit du an seiner statt zum Wetschik ernannt wirst.«

Damit hatte Elemak ganz und gar nicht gerechnet. Er wollte damit ein Verhältnis zwischen Elemak und seinem Erbe errichten, das auf keinen Fall zu akzeptieren war. »Vater ist Wetschik«, sagte er. »Er ist nicht tot, und wenn er stirbt, bin ich Wetschik, ohne daß mir jemand helfen müßte.«

»Er ist nicht tot?« fragte Gaballufix. »Wo ist er dann? Ich sehe meinen alten Freund Wetschik nicht – aber ich sehe den Sohn, der versucht, den größten Nutzen aus seinem Tod zu ziehen.«

»Meine Brüder können bezeugen, daß Vater lebt.«

»Und wo sind sie?«

Fast wäre Elemak damit herausgeplatzt, daß sie sich nicht weit von der Stadtmauer entfernt versteckt hielten. Dann jedoch begriff er, daß Gaballufix wahrscheinlich genau dies in Erfahrung bringen wollte – wer Elemaks Verbündete waren und wo sie sich verbargen. »Du glaubst doch nicht, daß ich die Stadt allein betreten habe, oder, wenn meine Brüder genauso darauf versessen sind, nach Basilika zurückzukehren, wie ich es bin?«

Natürlich wußte Gaballufix, daß Elemak log – oder zumindest, daß Elemaks Daumenabdruck der einzige war, der an einem der Stadttore registriert worden war. Doch Gabja konnte nicht wissen, ob Elemak lediglich bluffte und seine Brüder sich weit entfernt in der Wüste befanden – oder ob sie die Wachen an den Toren umgangen hatten und sich nun in der Stadt befanden und irgendeinen Unfug planten, um den sich Gaballufix kümmern mußte. Doch Gaballufix konnte nicht eingestehen, daß er wußte, daß Elemak die Stadt als einziger legal betreten hätte – sonst hätte er zugegeben, daß er freien Zugang zu den Computern der Stadt hatte.

»Ich freue mich, daß sie zu den Vergnügungen der Stadt zurückkehren konnten«, sagte Gabja. »Hoffentlich sind sie auch vorsichtig. Ungehobelte Elemente wurden in die Stadt geholt – hauptsächlich von Roptat und seiner Bande, befürchte ich; und obwohl ich der Stadt helfe, indem ich ein paar meiner Leute zusätzlich durch die Straßen patrouillieren lasse, ist es trotzdem gut möglich, daß ein paar junge Männer, die allein durch die Stadt ziehen, in unglückliche Zwischenfälle verstrickt werden.«

»Ich werde ihnen raten, auf der Hut zu sein.«

»Und sei auch du auf der Hut, Elemak. Ich mache mir Sorgen um dich, mein Bruder. Manche Leute glauben, dein Vater sei in eine Verschwörung gegen Roptat verwickelt. Was, wenn sie ihren Groll an dir auslassen?«

In diesem Augenblick wurde Elemak klar, daß seine Mission fehlgeschlagen war. Gabja ging eindeutig davon aus, daß Elemak ihn verraten hatte – oder er war zumindest zum Schluß gekommen, daß Elemak nicht mehr nützlich für ihn und vielleicht sogar so gefährlich war, daß man ihn töten mußte. Jetzt bestand nicht mehr die geringste Hoffnung, mit dem Anschein höflicher Brüderlichkeit irgend etwas zu erreichen. Aber vielleicht konnte er es ja auf andere Weise versuchen.

»Komm schon, Gabja«, sagte Elemak, »du weißt, daß du selbst die Geschichte verbreitest, Vater habe sich gegen Roptat verschworen. Das war doch dein Plan, oder? Man sollte Vater mit dem ermordeten Roptat im Kühlhaus finden. Man würde ihn dieses Verbrechens zwar nicht verurteilen, aber er wäre in Mißkredit gebracht worden. Doch Vater ist nicht gekommen, und daher lief Roptat nicht in die Falle, die deine Schläger ihm gestellt hatten, und nun versuchst du, soviel wie möglich von deinem Plan zu retten. Wir saßen hier und haben darüber gesprochen – warum sollten wir jetzt so tun, als wüßten wir nicht genau, was da vorgeht?«

»Aber wir wissen doch nicht, was da vorgeht«, sagte Gaballufix. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«

Elemak betrachtete ihn verächtlich. »Und ich habe einmal geglaubt, du wärest dazu imstande, Basilika zu neuer Größe zu führen. Du konntest nicht einmal deine Opposition neutralisieren, als du die Chance dazu hattest.«

»Ich wurde von Narren und Feiglingen verraten«, sagte Gaballufix.

»Das ist die Entschuldigung, die Narren und Feiglinge immer für ihr Scheitern angeben – und sie ist immer richtig, solange man weiß, daß sie von Selbstbetrug sprechen.«

»Du nennst mich einen Narr und Feigling?« Gaballufix war jetzt wütend und verlor die Beherrschung. Elemak hatte ihn niemals so gesehen; er zeigte allerhöchstens gelegentlich ein Aufblitzen von Zorn. Er war keineswegs überzeugt davon, damit fertig zu werden, doch zumindest war dies nicht mehr die gnädige Gleichgültigkeit, die Gabja ihm bislang gezeigt hatte. »Wenigstens habe ich mich nicht mitten in der Nacht davongeschlichen«, sagte Gaballufix. »Wenigstens habe ich nicht jede Geschichte geglaubt, die man mir erzählt hat, ganz gleich, wie idiotisch sie war.«

»So wie ich, meinst du?« fragte Elemak. »Du vergißt, Gabja, du hast mir diese Geschichten erzählt. Und jetzt würde ich gern wissen, welche deiner idiotischen Geschichten ich geglaubt haben soll. Daß du nur im besten Interesse Basilikas handelst? Das habe ich nicht geglaubt – ich wußte genau, daß es dir nur um Profit und Macht ging. Oder vielleicht die Geschichte, daß du meinen Vater wirklich liebst und versuchst, ihn davor zu bewahren, daß ihm die politische Situation über den Kopf wächst? Glaubst du wirklich, das hätte ich geglaubt? Du haßt ihn, seit Rasa den Vertrag mit dir nicht erneuert und einen mit ihm eingegangen ist, und du haßt ihn jedes Jahr, das sie zusammen bleiben, um so stärker.«

»Das ist mir doch völlig egal!« sagte Gaballufix. »Sie bedeutet mir nichts!«

»Selbst jetzt ist sie das einzige Publikum, dem du zu gefallen versuchst – stelle dir vor, du gehst du ihrem Haus und stolzierst wie ein Hahn herum, um sie zu beeindrucken. Du solltest hören, wie sie jetzt über dich lacht.« Elemak wußte natürlich, daß er Rasa mit dieser Behauptung in große Gefahr brachte – aber das war ein Spiel mit hohen Einsätzen, und Elemak konnte nicht hoffen, es zu gewinnen, wenn er nicht ein gewisses Risiko einging. Außerdem wurde Rasa schon mit Gaballufix fertig.

»Lachen? Sie lacht nicht. Du hast nicht einmal mit ihr gesprochen.«

»Schau mich an – siehst du den Schmutz der Reise auf meiner Kleidung? Ich habe in ihrem Haus gebadet. Ich werde ihre Lieblingsnichte ehelichen. Sie hat mir gesagt, sie hätte sich lieber mit einem Kaninchen gepaart, als noch eine Nacht mit dir zu verbringen.«

Einen Augenblick lang dachte er, Gaballufix würde eine Waffe ziehen und ihn auf der Stelle töten. Dann entspannte sich Gabjas Gesicht ein wenig und zeigte den Ansatz eines Lächelns. »Jetzt weiß ich, daß du lügst«, sagte er. »Rasa würde niemals etwas so Unhöfliches sagen.«

»Natürlich habe ich es mir ausgedacht«, sagte Elemak. »Ich wollte dir nur zeigen, wer der Narr ist und jede Geschichte glaubt, die er hört.«

In diesem Augenblick dämmerte Elemak erstmals, welche Lüge er Gaballufix zufolge noch immer glaubte. Und Gabja hatte Recht – Elemak war ein Narr, sie jemals geglaubt zu haben, und ein viel schlimmerer Narr, sie heute noch immer zu glauben. »Du hattest niemals vor, Vater des Mordes an Roptat zu beschuldigen, oder?«

»Natürlich hatte ich das vor«, sagte Gabja.

»Aber du wolltest ihn nicht anklagen.«

»Nein, das wäre dumm gewesen – die reinste Zeitverschwendung. Das habe ich dir doch gesagt.«

»Du hast gesagt, es wäre eine Zeitverschwendung, weil Vater wegen seines Prestiges in der Stadt niemals verurteilt werden würde. Aber in Wahrheit wäre es niemals zu einem Prozeß gekommen, weil man im Kühlhaus sowohl Roptats als auch Vaters Leichen finden sollte.«

»Was für ein schrecklicher Vorwurf. Ich bestreite alles. Du hast eine böse Phantasie, Junge.«

»Du wolltest mich benutzen, indem ich meinen eigenen Vater an dich verrate, damit du ihn töten konntest.«

»Eine geraume Weile«, sagte Gaballufix, »nahm ich an, du wüßtest das. Ich ging davon aus, wir wären übereingekommen, nicht direkt über das Thema zu sprechen, weil es so unangenehm war. Ich dachte, du hättest begriffen, ich könne dir dein Erbe lediglich frühzeitig beschaffen, indem ich den Tod deines Vater arrangiere.«

Elemaks Zorn, fast zum Mitverschwörer bei einem Vatermord geworden zu sein, nahm ihm die letzte Selbstbeherrschung. Er machte einen Satz, griff nach Gaballufix – und starrte auf den Pulsator in Gaballufix’ Hand.

»Ja, wie ich sehe, weißt du, was ein Pulsator in geringer Entfernung mit einem Menschen anstellen kann. Du hast einmal einen Menschen mit so einer Waffe getötet, nicht wahr? Vielleicht«, sagte Gaballufix, »war es sogar diese Waffe hier.«

Elemak betrachtete den Pulsator und erkannte die Kratzspuren darauf, wo die Farbe durch das Sonnenlicht verblichen war, als er ihn während unzähliger Reisestunden in der Wüste an seiner Hüfte getragen hatte. »Am Tag, als ich von meiner letzten Karawane nach Haus kam«, sagte er einfältig, »habe ich diesen Pulsator Mebbekew geliehen.«

»Und Mebbekew hat ihn mir geliehen. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn dir später auf einer Feier als Überraschung überreichen wollte, um dich zu ehren, daß du es endlich geschafft hast. Ich habe ihm gesagt, ich wolle mit deiner Geschichte meine Soldaten anspornen.« Gaballufix lachte.

»Deshalb hast du Meb ins Spiel gebracht. Um meinen Pulsator zu bekommen.« Aber warum? Elemak stellte sich vor, daß sein Vater tot dort lag, und dann entdeckte jemand in der Nähe seinen Pulsator, den er vielleicht bei der überstürzten Flucht fallen gelassen hatte. Er stellte sich vor, wie Gaballufix es mit Tränen in den Augen dem Stadtrat erklärte. »Dorthin führt die Gier in der jüngeren Generation – mein eigener Halbbruder hat seinen Vater ermordet, um sein Erbe zubekommen.«

»Du hast Recht«, sagte Elemak ruhig. »Ich war ein Narr.«

»Du warst einer, und du bist einer«, sagte Gaballufix. »Man hat dich heute in der Stadt gesehen, überall in der Stadt. Meine Männer haben dich in verschiedenen Vierteln verfolgt. Es gibt viele Zeugen – und was wird es mich freuen, wenn Rasa gegen den ältesten Sohn ihres geliebten Volemak aussagen muß. Denn jemand wird heute nacht sterben, wird mit diesem Pulsator getötet werden, den man neben der Leiche finden wird, und dann werden alle wissen, daß Wetschiks Sohn der Mörder war, wahrscheinlich im Auftrag seines Vaters. Und das Schönste daran ist, ich kann es dir verraten, und dann kann ich dich sogar lebendig aus der Stadt werfen lassen, und du kannst nichts dagegen tun. Wenn du den Leuten erzählst, ich hätte vor, jemanden zu töten, werden sie annehmen, daß du damit ganz einfach dein eigenes Verbrechen im voraus verschleiern willst. Du bist ein Narr, Elemak, genau wie dein Vater. Selbst als du wußtest, daß ich nicht vor einem Mord zurückschrecke, um meine Pläne durchzusetzen, hast du irgendwie geglaubt, du und deine Familie, ihr wäret immun, irgendwie wäre ich rücksichtsvoller gegen dich, weil wir beide, du und ich, neun Monate lang im selben müden, alten Leib waren und das Leben aus ein und derselben Plazenta gesogen haben.«

Elemak hatte niemals solch einen Haß auf einem menschlichen Gesicht gesehen. Hier stand er und betrachtete Gabja, der fröhlich ein Verbrechen beschrieb, das er begehen wollte. Es entsetzte Elemak, doch es gab ihm auch eine verrückte Zuversicht. Als habe Gaballufix damit seine wahre innerliche Kleinheit enthüllt und Elemak damit aufgezeigt, um wie vieles er selbst doch größer war.

»Wer ist der Narr, Gabja«, sagte Elemak. »Wer ist der Narr?«

»Daran besteht doch wohl nicht mehr der geringste Zweifel«, sagte Gaballufix.

»Allerdings«, sagte Elemak. »Du machst es mir und Vater unmöglich, in die Stadt zurückzukehren, zumindest eine Zeitlang, aber Roptats Tod wird dir nicht den Weg ebnen. Bist du wirklich so dumm? Niemand wird auch nur einen Augenblick lang glauben, daß Vater Roptat getötet hat, oder auch ich.«

»Ich habe die Waffe!« sagte Gaballufix.

»Die Waffe, aber keinen Tatzeugen, nur deine Geschichte, die von deinen Leuten verbreitet wird. Sie sind nicht so dumm, daß sie nicht eins und eins zusammenzählen können. Wer hat denn etwas von Roptats Tod und Vaters Exil zu gewinnen? Doch nur du, Gabja. Diese Stadt wird sich in blutiger Rebellion gegen dich erheben. Deine Soldaten werden auf den Straßen sterben.«

»Du überschätzt die Willenskraft meiner schwachherzigen Feinde«, sagte Gaballufix. Doch seine Stimme klang nicht mehr so sicher, und das fröhliche Funkeln war verschwunden.

»Nur, weil deine Feinde nicht bereit sind zu töten, um ihre Ziele durchzusetzen, sind sie noch längst nicht schwachherzig. Sie werden töten, um einen Mann wie dich aufzuhalten. Einen böswilligen kleinen Parasiten wie dich.«

»Willst du unbedingt sterben?«

»Nur zu, tötete mich hier, Gabja. Hunderte von Menschen wissen, daß ich hier bin. Hunderte wollen hören, was ich ihnen zu berichten habe. Dein ganzer Plan wird enthüllt, und du wirst ihn nie verwirklich können. Weil du so dumm warst, unbedingt prahlen zu müssen.«

Elemaks Worte waren natürlich nur ein Bluff, doch Gaballufix glaubte ihm. Zumindest soweit, daß er zögerte. Dann lächelte Gabja. »Elja, mein Bruder, ich bin stolz auf dich.«

In diesem Augenblick wußte Elemak, daß Gaballufix nachgegeben hatte. Er erwiderte nichts darauf.

»Du bist also doch mein Bruder – Volemaks Blut hat dich nicht schwächer gemacht, sondern vielleicht sogar stärker.«

»Glaubst du wirklich, ich würde deine Schmeicheleien jetzt noch schlucken?«

»Natürlich nicht«, sagte Gaballufix. »Natürlich wirst du sie mißachten – aber das hindert mich nicht daran, dich trotzdem zu bewundern, oder? Es hindert dich nur daran, mir meine Bewunderung zu glauben! Das ist dein Verlust, lieber Elja.«

»Ich bin gekommen, um den Index zu holen, Gaballufix«, sagte Elemak. »Eine einfache Sache. Gib ihn mir, und ich bin wieder verschwunden. Wetschik und seine Familie werden dich nie wieder belästigen, und du kannst deine kleinen Spielchen treiben, bis dir jemand einen Dolch zwischen die Rippen stößt.«

Gaballufix neigte den Kopf zur Seite.

Er wird ihn mir geben, dachte Elemak triumphierend.

»Nein«, sagte Gaballufix. »Ich würde es gern, kann es aber nicht. Das Verschwinden des Index – das könnte ich dem Klans-Rat nur schwer erklären. Es würde mir eine Menge Ärger machen, und warum sollte ich mich diesem Ärger aussetzen, nur um Wetschik loszuwerden? Schließlich bin ich ihn doch schon losgeworden.«

Nun endlich war Elemak dort, wo er hinwollte: Jetzt konnte er wie ein Händler feilschen. »Was könnte dich überzeugen, diesen Ärger doch auf dich zu nehmen?«

»Mach mir ein Angebot. Genug Geld, um einen Ausgleich für diesen Ärger zu schaffen.«

»Gib mir den Index, und Vater wird dir die Summe zukommen lassen, die du verlangst.«

»Ich soll auf das Geld warten? Darauf warten, daß Wetschik mich später für einen Index bezahlt, den ich dir jetzt gebe?

Oh … ich verstehe … jetzt begreife ich!« Gaballufix lachte spöttisch. »Du kannst mir jetzt kein Geld geben, weil du keins hast. Wetschik hat dir noch nichts von seinem Vermögen überschrieben! Er hat dich auf diesen Botengang geschickt und dir noch nicht einmal Zugang zu seinem Geld gewährt!«

Es war erniedrigend. Vater hätte wissen müssen, daß Verhandlungen mit Gaballufix letztendlich auf Geld hinauslaufen würden; er hätte ihm das Kennwort verraten sollen, mit dem er an das Familienvermögen herangekommen wäre. -Raschgallivak, der Verwalter, hatte eine größere Macht über das Wetschik-Vermögen als Elemak. Ärger und Groll erfüllte ihn, weil sein Vater ihn in eine so schwache Position gesetzt hatte. Der kurzsichtige, dumme alte Mann, der immer über seine eigenen Füße stolperte, wenn es um Geschäfte ging!

»Sag mir, Elja«, sagte Gaballufix und hörte endlich auf zu lachen, »warum sollte ich dir den Index anvertrauen, wenn dein eigener Vater dir nicht sein Geld anvertraut?«

Bei diesen Worten griff Gaballufix unter den Tisch und berührte anscheinend irgendeinen Knopf, denn gleichzeitig wurden drei Türen geöffnet, und identisch aussehende Soldaten stürmten in den Raum. Sie ergriffen Elemak und zerrten ihn grob in die Halle und dann zur Eingangstür hinaus.

Doch das war noch nicht genug. Sie brachten ihn im Stechschritt zum nächsten Tor, bei dem es sich zufällig um das Hintere Tor handelte – es lag direkt neben dem Haus seiner Mutter – und warfen ihn vor den Wächtern zu Boden.

»Der Kerl hier verläßt die Stadt!« rief einer der Soldaten.

»Und er wird nie mehr zurückkommen!« rief ein anderer.

Die Wächter schienen jedoch nicht besonders beeindruckt zu sein. »Bist du ein Bürger?« fragte einer.

»Ja«, sagte Elemak und klopfte sich den Staub ab.

»Bitte den Daumen.«

Elemak hielt den Daumen über den Scanner. »Bürger Elemak, Sohn der Herrin Rasa vom Wetschik. Es ist uns eine Ehre, dir zu Diensten sein zu können.« Woraufhin alle Wächter salutierten.

Es verblüffte ihn vollkommen. Nie zuvor, ob er die Stadt nun betreten oder verlassen hatte, hatte ein Wächter auch nur die Stirn gerunzelt, wenn der Stadtcomputer seinen hohen Rang mitteilte. Und nun ein Salut!

Dann grölten Gaballufix’ Soldaten wieder los und prahlten damit, was sie mit ihm machen würden, falls er jemals zurückkehren sollte, und Elemak begriff. Die offiziellen Stadtwächter wollten ihm und allen anderen, die sich in der Nähe befanden, zeigen, daß sie nicht zu Gaballufix’ kleiner Armee gehörten. Des weiteren bewirkte schon allein die Tatsache, daß Wetschiks Sohn eindeutig Gaballufix’ Feind war, daß die Stadtwächter ihm ihre Ehre bezeugten. Diese Situation würde Elemak vielleicht einmal zu seinem Vorteil ausnützen können. Was, wenn ich als Befreier zur Stadt zurückkehre und die Wächter und die Miliz in den Kampf gegen Gabja und seine verhaßte Armee kostümierter Klone führe? Die Stadt würde mir dann freiwillig alles geben, was Gabja nun durch Betrug, Einschüchterung und Mord zu gewinnen versucht. Ich hätte alle Macht, von der Gaballufix träumt – und die Stadt würde mich trotzdem lieben.

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