3. Kapitel

An einem Nachmittag erkannte Corban, daß er Dr. Alir liebte. Statt aber direkt auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen, lud er sie ein, mit ihm zusammen Vögel zu beobachten. Zu seiner Überraschung nahm sie seine Einladung an. Jetzt saßen sie in dem kleinen Wäldchen, und er lauschte ihren Worten über die Vögel und erkannte immer mehr, daß seine ganze Liebe ihr gehörte.

Er hätte sich aber kaum eine hoffnungslosere Liebe vorstellen können. Selbst in seiner eigenen Welt war er nicht eben ein hervorragender Heiratskandidat gewesen. Dennoch bekleidete er dort eine einigermaßen angesehene Stellung. In dieser Welt aber war er weniger als nichts. Man hielt ihn für verrückt.

Düster blickte er auf, als sie die verschiedenen Vögel mit Namen bezeichnete und ihm mit leiser, wohlklingender Stimme deren Lebensgewohnheiten erläuterte. Sie kannte sie alle und wußte beinahe alles über sie, obwohl es doch kein Buch darüber gab.

„Haben Sie Kummer?“ fragte sie teilnahmsvoll.

Welche Frage. Aber weshalb wollte er nicht jetzt sprechen?

„Was bedeutet Arruclam?“

Sie senkte das Fernglas und starrte ihn an. „Sie wissen es nicht?“

„Nein“, sagte er.

„Sie wissen es wirklich nicht?“

„Nein. Und Cilloclam, was bedeutet das?“

Plötzlich stand sie auf und ging bis an den Waldrand. Dort blieb sie stehen und kehrte ihm den Rücken zu. Sie starrte auf die Felder hinaus. Unbehaglich sah Corban zu ihr hinüber.

Schließlich kehrte sie zurück. „Ich glaube, wir gehen besser zurück.“

„Gut“, antwortete er.

Seite an Seite gingen sie den Hang hinab und durch die Getreidefelder.

Als sie das Gebäude erreicht hatten, gingen sie direkt auf den Verwaltungsflügel zu. „Warten Sie hier“, sagte sie und verschwand in den Räumen, deren Betreten Unbefugten untersagt war. Corban ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken.

An der gegenüberliegenden Wand zerlegte eine Uhr mit ihren konzentrischen Skalen die Zeit. Das Büropersonal verlor das Interesse an ihm und widmete sich schweigend seiner Arbeit. Er vergrub das Gesicht in den Händen und wartete.

Plötzlich stand sie wieder vor ihm. „Treten Sie bitte ein“, sagte sie.

Er folgte ihr. Ein schmaler Gang, ein Knick, nochmals ein Gang und dann eine Tür. Sie öffnete die Tür vor ihm und trat hinter ihm in das Privatbüro.

Der Direktor erhob sich hinter einem langen Tisch und lächelte. Er war einer der Arzte, die Corban bei seiner Ankunft untersucht hatten — ein großer schlanker Mann von angenehmem Äußeren mit durchdringenden blauen Augen. Corban hatte ihn seit damals öfters gesehen, ohne zu wissen, wer er in Wirklichkeit war. „Sie haben doch Herrn Direktor Wiln bereits kennengelernt, nicht wahr?“ sagte Dr. Alir.

„Ich glaube, ja“, antwortete Corban. Der Direktor nickte. „Nehmen Sie bitte Platz.“

Corban setzte sich und beobachtete den Direktor, der mit dem Daumen in einem Stapel Papieren wühlte. „Ihre Akten sind ziemlich vollständig“, sagte der Direktor schließlich. „Den Krankenberichten zufolge hat man mit Ihnen sämtliche Buror-Tests gemacht und, Sie längere Zeit therapeutisch behandelt. Stimmt das?“

Corban schüttelte den Kopf. „Ich verstehe einfach nicht.“

„Die Buror-Tests“, erklärte der Direktor, „aber natürlich, der Name kann Ihnen ja nicht vertraut sein. Gewiß aber …“

Er machte eine Pause und wechselte einen Blick mit Dr. Alir. Sie verließ das Zimmer und kehrte einen Augenblick später mit einem gestreiften Ballon zurück.

„Ach, das meinen Sie“, rief Corban und grinste bei dem Gedanken an die einsamen Tage im Krankenhaus.

„Ist Ihnen dieser Ballon vertraut?“

„Aber ja. Damals waren es zwei.“

„Und wie war Ihre Reaktion bei jener Phase des Tests?“

„Ich könnte mich nicht erinnern, daß ich überhaupt reagierte. Das Ganze hatte für mich keinen Sinn.“

„Ja, ich weiß. Dr. Alir ist der Ansicht, daß Ihr Fall völlig falsch behandelt worden ist, und ich neige beinahe dazu, ihr recht zu geben. Gewiß waren die Buror-Tests bei einem Patienten sinnlos, der sich über deren Bedeutung gar nicht im klaren war.“

Er blätterte wieder in den Papieren auf seinem Tisch, warf einen verstohlenen Blick zu Dr. Alir, die abwartend in der Ecke stand. Auf ihrem Gesicht lag Erwartung — Erwartung worauf? Darüber war Corban sich nicht im klaren.

„Die Medizin macht immer größere Fortschritte“, erklärte der Direktor. „Aber das menschliche Gehirn bleibt dennoch bis zu einem gewissen Grad ein Geheimnis. Sie haben schwere Schädelverletzungen erlitten. Eigentlich ist es beinahe ein Wunder, daß Sie überhaupt am Leben geblieben sind, und meiner Ansicht nach hat das Krankenhaus-Personal es vernachlässigt, zu untersuchen, ob auch ihr Gedächtnis Schäden erlitten hat. Wir dürfen jedoch nicht zu ernst mit ihm ins Gericht gehen. Ihr Fall ist höchst selten und umso schwieriger zu beurteilen, als wir uns auf einem Gebiet bewegten, auf dem unsere Kenntnisse in der Hauptsache nur theoretischer Natur sind, Es darf auch nicht außer Betracht gelassen werden, daß die Ärzte keinerlei Möglichkeit hatten, sich mit Ihnen zu verständigen. Auch wir sind nicht ganz ohne Schuld, denn wir haben den ärztlichen Bericht ohne weitere Überprüfung akzeptiert. Nun, Dr. Alir empfiehlt, daß wir die Therapie wieder aufnehmen, und ich stimme gern zu. Inzwischen haben wir ja eine Möglichkeit gefunden, uns miteinander zu verständigen, so daß hoffentlich bessere Ergebnisse erzielt werden können. Ich kann Ihnen versprechen, daß mein ganzes Personal sich dafür einsetzen wird, daß Sie bald wieder hergestellt sind. Ich darf doch wohl auf Ihre uneingeschränkte Mitwirkung dabei rechnen?“

Corban schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann und sagte: „Aber selbstverständlich …“

„Sehr gut. Ihre therapeutische Behandlung wird unter der Leitung von Dr. Alir durchgeführt werden. Wie Sie ja wissen, ist Dr. Alir eine sehr gute Ärztin. Das wäre für den Augenblick alles, was zu besprechen wäre.“

Corban murmelte einen Dank, und Dr. Alir begleitete ihn aus dem Zimmer. Ihre Augen strahlten hell. „Morgen früh werden wir mit der Behandlung beginnen“, erklärte sie.

Statt der gewohnten Sprachstunden begannen Dr. Alir und Corban am nächsten Tag das Spiel mit den Ballons. Dr. Alir erklärte Corban, daß es darauf ankam, sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, die Ballons zu bewegen. Erst jetzt begriff Corban, was seinerzeit die Ärzte von ihm gewollt hatten. Die Ballons wurden allein mit Willenskraft bewegt. Es handelte sich also um Telekinese!

So sehr er sich auch anstrengte, die Ballons rührten sich nicht. Niedergeschlagen zuckte er die Schultern und sagte: „Es geschieht nichts.“

„Sie müssen nur Ihren ganzen Willen darauf konzentrieren, die Ballons zu bewegen“, erklärte Dr. Alir.

Erneut versuchte er es, aber auch dieses Mal geschah nichts.

„Sie dürfen nicht den Mut verlieren. Ihr Gedächtnis hat gelitten. Wenn Sie sich nur bemühen, werden Sie bald wieder im Vollbesitz Ihrer Kräfte sein. Für heute ist es genug.“

„Nun möchte ich gern auch noch wissen, was eigentlich all die anderen Tests auf sich haben, die man mit mir anzustellen versuchte“, sagte Corban, nachdem sie das Spiel mit den Ballons eingestellt hatten.

„Sie sollen sich nicht überanstrengen. Es genügt, wenn wir uns zunächst mit Arruclam befassen.“

„Aber ich möchte es gerne wissen“, beharrte Corban.

„Nun gut, dann wollen wir einige Experimente machen.“

Mit festem Blick sah sie ihn an, bis er errötete und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. „Haben Sie etwas gehört?“ fragte sie schließlich.

„Etwas gehört?“

„Ich habe mit Ihnen gesprochen.“

„Ich habe nichts gehört — Sie haben gesprochen?“

„Ja, ich habe Ihnen etwas über die Vögel erzählt.“

„In Ihren Gedanken?“

„Aber gewiß. Auf diese Weise unterhalten wir uns normalerweise. Die gesprochene Sprache ist nur für diejenigen gedacht, die irgendwelche Schäden haben oder …“

„Oder nicht normal sind!“ unterbrach Corban sie.

Sie stand auf. „Wollen wir uns wieder die Vögel ansehen? Kommen Sie mit.“

Verwundert trat er neben sie.

„Denken Sie jetzt“, sagte sie, „an die kleine Lichtung neben dem Bach. Erinnern Sie sich daran?“

Er nickte.

„Also gut. Denken Sie fest daran. Konzentrieren Sie sich darauf. Jetzt — gehen wir dahin!“

Sie war verschwunden. Langsam trat er zurück und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Einen Augenblick später stand sie wieder vor ihm und sah ihn forschend an.

„Tun Sie auch das mit Ihrem Willen?“ wollte er wissen.

„Ja.“

„Sie sind also gerade dorthin gegangen, wo wir uns gestern unterhielten?“

„Natürlich.“

Es war zum Verrücktwerden. Die Leute unterhielten sich nicht nur auf dem Gedankenwege. Nein, sie konnten auch Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren und sich auch allein mit der Willenskraft von einem Ort zum anderen bewegen. Man hatte hier also Telepathie, Telekinese und Teleportation zum äußersten Grad der Perfektion entwickelt.

„Gibt es sonst noch etwas?“

„Das sind die wichtigsten Dinge“, antwortete sie. „Nach und nach werden wir alles durchnehmen. Wenn Sie die drei ersten Eigenschaften wiedergewonnen haben, dann werden die anderen kein Problem mehr darstellen.“ Wenn sie zurückkommen.

„Ich verstehe“, meinte er. „Allmählich beginne ich wirklich zu begreifen, und zwar eine ganze Menge.“

Sie hob wieder den Ballon auf und fragte: „Wollen wir wieder beginnen?“

„Wenn Sie mir nicht böse sind, dann möchte ich zunächst einmal über das Ganze nachdenken.“

Sie verstand ihn sofort und erwiderte: „Aber gewiß. Ich komme also morgen früh wieder. Soll ich den Ballon hier lassen?“

„Was sagen Sie? Aber ja, lassen Sie ihn hier.“

Sie ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich.

An diesem Nachmittag blieb Corban auf seinem Zimmer und dachte noch einmal über all die Geschehnisse nach. Eine Ewigkeit schien vergangen, seit er sich auf diesem Planeten befand. Deutlich erinnerte er sich wieder an den Tag, an dem er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte und über sich das Gesicht eines älteren Arztes sah, der sich darüber freute, daß es ihm gelungen war, diesen jungen Menschen am Leben zu erhalten. Er begriff jetzt, was in jenem Mann damals vor sich gegangen sein mochte, als er erkennen mußte, daß der Mann, den er am Leben erhalten hatte, ein Idiot war, ein Idiot nach den Begriffen der Menschen auf diesem Planeten. So und nicht anders mußte es gewesen sein.

Jetzt verstand er auch die Antwort des alten Lautenspielers: „Schon immer.“ Als die Ärzte erkannt hatten, daß sein Fall offensichtlich hoffnungslos war und all ihren Bemühungen für eine Besserung widerstand, hatten sie ihn in eine Irrenanstalt eingewiesen. Was aber konnte er tun, um nicht sein ganzes Leben allein hinter den Mauern einer solchen Anstalt verbringen zu müssen? Zwar hatte Dr. Alir gesagt, daß er mit der Zeit seine Fähigkeiten zurückgewinnen würde und dann aus dieser Anstalt entlassen würde.

Aber das waren reine Spekulationen von seiten Dr. Alirs. Man hätte ihn ebensogut auffordern können, Eisen in Gold zu verwandeln, wie sich allein durch die Willenskraft von einem Ort zum anderen zu begeben.

Am nächsten Morgen erschien Dr. Alir pünktlich wie immer. Sie war schön wie stets, lächelte und strahlte Zuversicht aus. „Haben Sie geübt?“ wollte sie wissen.

„Nein“, antwortete Corban.

„Aber Sie dürfen doch nicht so schnell aufgeben. Es kann sehr gut sein, daß wir sehr lange arbeiten müssen, bis Sie Ihre Kräfte wiedergewonnen haben.“

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich Ihnen alles erzähle“, unterbrach Corban sie. „Ich bin nie in der Lage gewesen, Dinge zu vollbringen, wie Sie sie von mir erwarten. Aus diesem Grunde werde ich auch nicht in der Lage sein, derartige Kräfte zu entwickeln. Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“

Mit gerunzelter Stirn stand sie vor ihm und sah ihn todernst an. Nie hatte sie lieblicher ausgesehen und gleichzeitig auch so hoffnungslos unerreichbar. Stundenlang war er in seinem Zimmer auf- und abgegangen und hatte um einen Entschluß gerungen, was er tun sollte. Schließlich war er zu der Überzeugung gelangt, daß es am besten wäre, wenn er alles erzählte.

„Natürlich konnten Sie all diese Dinge einmal vollbringen“, widersprach sie ihm. „Jede normale Person kann das. Ihr Gedächtnis…“

„Mein Gedächtnis ist völlig in Ordnung. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, woher ich gekommen bin, denn ich weiß es nicht. Ich bin vom Kurs abgekommen und habe mich verirrt. Aber irgendwo dort draußen zwischen den Sternen wohnen die Menschen meiner Rasse, und unter jenen Menschen bin ich vollkommen normal, denn niemand meiner Rasse kann Dinge vollbringen, wie sie hier von normalen Personen getan werden.“

„In Ihren Akten steht, daß Sie aus einem zerschmetterten Raumschiff geborgen wurden“, murmelte sie.

„Es war ein Schiff der Raumflotte meiner Heimat. Ich bin Offizier der Raumflotte. Unterwegs bin ich vom Kurs abgekommen, habe mich verirrt, und als der Treibstoff ausging, blieb mir keine andere Wahl, als auf dem nächstgelegenen bewohnbaren Planeten zu. landen.“

„Im Bericht steht“, fuhr sie leise fort, „daß das Schiff von unbekannter Bauart war, daß die Schäden jedoch ein Ausmaß aufwiesen, die es Fachleuten unmöglich machten, Näheres darüber festzustellen. Man gelangte zu der Ansicht, daß es sich um eine Neuentwicklung handeln müsse, und die Regierung versucht noch immer, festzustellen, woher das Schiff stammt.“

„An meinem Schiff war gar nichts Außergewöhnliches“, erwiderte Corban. „Bereits seit vielen Jahren habe ich derartige Schiffe geflogen.“

Sie schien mehr überrascht als ungläubig. „Die Menschen Ihrer Rasse beherrschen den interstellaren Flug und dennoch sind Sie nicht in der Lage…“

„Wir bewohnen Hunderte von Welten. Unsere Macht ist groß und unsere Wissenschaft weit fortgeschritten. Sie glauben nicht, welch herrliche Zivilisation wir haben, aber wenn Sie zu uns kommen würden, dann würden Sie bei uns als ebenso anomal gelten, wie es mir bei Ihnen ergeht.“

Würde sie ihm Glauben schenken? Ängstlich beobachtete er sie. Sie runzelte erneut die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ihr Gedächtnis … Aber Sie sind doch ganz sicher, nicht wahr? Es gab doch keinerlei Anzeichen… Ich meine, Sie würden doch nicht etwas derartiges erfinden? Eine interplanetarische Zivilisation?“

Ganz offen beantwortete er ihre Fragen. Telekinese und Teleportation waren der Gegenstand theoretischer Spekulationen auf der Erde, die jedoch in der Praxis unbekannt waren. Telepathie wurde experimentell seit bereits etwa tausend Jahren oder vielleicht auch noch viel länger betrieben, und es gab auch starke Anzeichen dafür, daß zumindest einige Leute telepathische Kräfte besaßen. Keiner dieser Menschen war der Telepathie jedoch in einem Maße fähig, daß sie zur gewöhnlichen Verständigung hätte dienen können.

„Das ist ja entsetzlich!“ sagte sie schließlich.

„Nicht wahr?“

„Ich wollte doch nur sagen, wenn Sie bei uns bleiben, dann müssen Sie Ihr Leben hinter den Mauern dieser Anstalt verbringen. Unter der großen Masse meines Volkes kann man keinerlei Verständnis antreffen. Es herrschen unüberwindbare Vorurteile gegen Menschen, die in geistiger Hinsicht vom Üblichen abweichen. Das Leben wäre für Sie außerhalb dieser Anstalt unerträglich, und außerdem verstieße es gegen das Gesetz, Sie daraus zu entlassen. Wenn Sie aber unter Leuten Ihrer eigenen Rasse ganz normal sind, weshalb haben Sie dann nicht schon früher darüber gesprochen?“

„Ich fürchtete mich, irgend jemand davon zu erzählen. Stets glaubte ich, die Dinge für mich nur noch schlimmer zu machen. Vielleicht hätte ich zu Ihnen schon eher sprechen sollen. Aber was wäre dadurch geändert worden?“

„Sehr viel vielleicht. Mein Volk hat zwar Vorurteile wie alle Menschen, aber es ist Fremden gegenüber gastfreundlich. Wenn die Behörden Ihnen Glauben schenken, dann möchte ich beinahe mit Gewißheit behaupten, daß alle Anstrengungen unternommen werden, um Sie zu Ihrem Volk zurückzubringen.“

Zweifelnd sah er sie an.

„Wollen Sie das etwa nicht?“ fragte sie.

Sollte er die einzige Frau, die er je geliebt hatte, verlassen und nie wiedersehen? Aber sie waren ja bereits durch eine Entfernung getrennt, die nicht einmal in Lichtjahren gemessen werden konnte. „Doch“, antwortete er, „das möchte ich.“

„Dann werde ich mit dem Direktor sprechen.“

Corban wurde zu einer neuen Konferenz bestellt. Der Direktor drückte ganz offen seinen Unglauben aus. Wo sollte denn diese interplanetare Zivilisation existieren? Corban konnte es nicht sagen. Er hatte stundenlang den Nachthimmel angestarrt, um die Position dieses Planeten feststellen zu können, aber die Gestirne am Himmel waren ihm völlig fremd. Doch vielleicht gab es hier einen Sternenatlas.

„Unsere Astronomie steckt nicht mehr in den Kinderschuhen“, meinte der Direktor trocken.

Aber Sternenkarten waren nicht gerade etwas, was in einem Irrenhaus für dessen Insassen gebraucht wurde. Der Direktor mußte erst danach schicken. Am Nachmittag wurde Corban wieder zum Direktor gerufen. Voll Entzücken breitete er die riesige Karte auf dem Schreibtisch des Direktors aus. Der Direktor und Dr. Alir sahen überrascht zu, als er die Grenzen der Galaktischen Föderation genau umriß, in deren Mitte der Planet Erde stand, von dem aus die Föderation ihren Ursprung genommen hatte und auf dem auch die Regierung ihren Sitz hatte.

Kleinlaut sagte der Direktor: „Und diese Milliarden von Menschen — die sollen alle ebenso anomal sein wie Sie, sagen Sie?“

Corban lächelte eisig. „Von Ihrem Standpunkt aus sind sie es wohl.

Unterschätzen Sie sie aber nicht. Für anomale Menschen leisten sie Überraschendes.“

„Das scheint beinahe so“, gab der Direktor zu.

„Und wo liegt diese Welt?“ fragte Corban. Der Direktor zeigte ihm die Welt, auf der er sich befand und alle anderen Planeten, deren Zahl in die Hunderte ging und die zur donirianischen Zivilisation weit jenseits der Grenzen der Galaktischen Föderation gehörten. Corban war entsetzt, wie sehr er sich verirrt hatte. Gleichzeitig aber war er auch amüsiert über den kleinen Raum, den diese sich so überlegen haltenden Menschen erobert hatten.

„Ihre Zivilisation kann nicht sonderlich ehrgeizig sein“, sagte er grinsend.

Der Direktor zuckte die Achseln. „Wachstum kann nicht gerade als Maß der Größe bezeichnet werden“, meinte er. „Das deutet nur auf mangelnde Selbstbeschränkung hin.“

Corban fühlte sich getroffen und schwieg zunächst. Dann beantwortete er alle Fragen über die Galaktische Föderation, die der Direktor ihm stellte. Immer wieder kam es vor, daß der Direktor über die Antworten Corbans den Kopf schüttelte und sich Notizen machte. Als die Sitzung beendet wurde, wollte Corban wissen, ob man ihn zu seinen Leuten zurückschicken würde. Der Direktor konnte keine Zusagen machen. Er konnte lediglich die von Corban erhaltenen Auskünfte an höhere Behördenstellen weiterleiten und gleichzeitig Corbans Ersuchen um Repatriierung vorbringen. Seiner Ansicht nach war dieser Wunsch jedoch durchaus verständlich, und er glaubte, daß man ihn auch entsprechend in Betracht ziehen würde.

„Ich bin ganz sicher, daß man in aller Kürze Maßnahmen ergreifen wird“, sagte Dr. Alir. „Wir werden Sie sehr vermissen.“

In seiner ersten Erregung über die Möglichkeit einer Heimkehr versuchte er, irgend jemand seiner Leidensgenossen von seiner Herkunft zu erzählen. Schweigend hörten sie ihm zu, zuckten die Achseln und wandten sich ab. Was jenseits der Energieschranken geschah, die die Anstalt umgaben, kümmerte sie nicht.

Unendlich langsam vergingen jetzt die Tage. Es gab keine Geheimnisse mehr, über die Corban hätte nachgrübeln können. Am Morgen fanden keine Sprachstunden und keine Übungen mit Ballons mit Dr. Alir mehr statt. Er sah sie jedoch oft und wußte genug über ihre tägliche Berufsarbeit, um ihr immer wieder begegnen zu können. Aber ihr Pflichtenkreis war sehr groß, und er konnte jetzt nicht mehr ihre Zeit für sich allein in Anspruch nehmen. Oft bereute er, daß er überhaupt von seiner Herkunft gesprochen hatte. Er hätte ja vorgeben können, sich intensiv mit ihrer Therapie zu beschäftigen, so lange, bis man seinen Fall erneut für hoffnungslos erklärt hätte.

Eines Tages traf er im Park wieder die beiden Männer, die ihn eines Abends angesprochen hatten, als er dem Spiel des Alten mit der Laute lauschte.

Der Rothaarige sprang auf ihn zu. „Sie!“ schrie er. „Sie Verräter!“

Ein gewaltiger Faustschlag traf Corban mitten ins Gesicht, so daß er rückwärts zu Boden stürzte. Benommen blieb er dort liegen, aber seine Benommenheit rührte weniger vom Schlag als von den Worten des Rothaarigen.

Die Worte waren in der galaktischen Sprache geschrien worden. Wuterfüllt sprang der Rothaarige wieder auf Corban zu. Er hätte sich auf ihn geworfen, wenn nicht im letzten Augenblick sein Begleiter dazwischen gesprungen wäre.

Das Gesicht in den Händen vergraben, weinte der Rothaarige. „Wir sollten ihn umbringen … wir sollten ihn umbringen.“

„Dadurch würde nichts geändert“, meinte der andere verdrossen. „Es war ja nicht seine Schuld.“

Corban richtete sich langsam auf. „Sie kommen aus der Föderation?“ fragte er.

Der Ältere der beiden nickte traurig. „Wenn wir es nur gewußt hätten, dann wäre dies nicht geschehen. Er heißt doch Paul — das hätte es uns doch schon sagen sollen. Aber die Erzählung vom Unfall schien alles so plausibel zu machen, daß wir nicht weiter darüber nachdachten. Wirklich, es ist nur unser Fehler. Wir hätten es versuchen sollen. Wenige Worte in galaktischer Sprache hätten schließlich nichts schaden können. Jetzt aber ist es zu spät.“

„Es tut mir leid, aber ich verstehe überhaupt nichts. Wie wäre es, wenn Sie mir erklären würden …“

„Gewiß“, erwiderte der Rotkopf bitter. „Wir werden es Ihnen erklären. Sie sind ein Verräter.“

„Das nützt nichts“, murmelte der andere. „Wie heißen Sie denn mit Nachnamen, Paul?“

„Corban.“

„Paul Corban. Mein Kamerad hier heißt Miles Fletcher, und ich bin Roger Froin. Ich bin bereits seit vierundzwanzig Jahren in dieser Irrenanstalt, natürlich in galaktischer Zeit gerechnet. Fletcher ist erst seit zwei Jahren hier. Insgesamt sind wir zehn Leute aus der Galaktischen Föderation, die aus irgendwelchen Gründen bis hierhergekommen sind und als Idioten in diese Anstalt eingewiesen wurden. Die meisten Patienten werden bereits als Kinder eingeliefert. Deshalb kommt es nur selten vor, daß Erwachsene hier aufgenommen werden. Es passiert nur etwa einmal im Jahr, und daher kann man mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß ein Neuzugang aus der Galaktischen Föderation stammt. Jahrelang habe ich mich an alle Erwachsenen herangemacht, die eingeliefert wurden. Wenn sie aus der Föderation kamen, dann hatten wir sie in unsere Gruppe aufgenommen. Auch in Ihrem Fall hätten wir es versuchen sollen, aber jener Unfall …“

„Hätten Sie es doch nur getan“, sagte Corban.

„Weshalb haben Sie das nur gemacht?“ wollte der Rotkopf wissen.

„Was gemacht?“

„Dem Personal im Krankenhaus erzählt, woher Sie kommen.“

„Das ist doch sicher nichts Schlimmes“, antwortete Corban. „Dr. Alir und der Direktor glauben, daß die Regierung Schritte einleiten wird, um mich nach Hause zu schicken. Das bedeutet, daß wir alle heimkehren können. Wollt ihr denn nicht nach Hause?“

„Sie verstehen diese Leute nicht“, erwiderte Froin. „Ihre einzige Erfahrung mit ihnen haben Sie im Krankenhaus gemacht, wo man wahrscheinlich versuchte, Sie wieder herzustellen und dann hier in der Anstalt, wo das Personal sich sehr anständig benimmt.

Die Masse der Bevölkerung jedoch haßt uns. Wir besitzen nicht die psychischen Kräfte wie sie und sind keine Esper. Wir erscheinen ihnen wie etwas Unreines, und sie behandeln uns wie giftige Spinnen. Man hat mich halbtot geschlagen, ehe sich jemand für meine Einlieferung in diese Anstalt einsetzte.“

„Mir gegenüber haben sie sich jedenfalls immer freundlich gezeigt“, erklärte Corban. „Die Ärzte …“

„Sie dürfen dieses Volk nicht nach seiner Intelligenzschicht beurteilen.“

„Haben Sie ihnen alles über die Föderation erzählt?“ unterbrach der Rotkopf seinen Begleiter.

„Ja“, gab Corban zu.

„Haben Sie auch die Lage der Föderation angegeben?“

„Ich… ja.“

„Ist Ihnen denn gar nicht klar, was Sie damit angerichtet haben? Wenn die Behörden Ihnen Glauben schenken, werden sie entsetzt sein. Man wird von wahnsinniger Furcht bei dem Gedanken gepackt werden, daß eine derartig große Kultur von Kriminellen und Geistesschwachen existiert, die das Reich der Donirianer bedroht. Es bedeutet Krieg. Man wird alles daransetzen, die den Donirianern angeblich von der Galaktischen Föderation drohende Gefahr abzuwenden.“

Corban trat zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum.

„Glauben Sie wirklich, daß es so schlimm ist?“

„Ich fürchte, ja“, antwortete Froin. „Man wird unsere Leute in Anstalten wie diese hier einsperren und verhüten, daß sie sich vermehren. Oder man wird sie ganz einfach umbringen. So oder so wird man die Galaxis von Menschen unserer Rasse säubern.“

„Das wußte ich nicht.“

„Es war ja auch nicht Ihre Schuld. Wir hätten mit Ihnen in Verbindung treten sollen. Früher oder später mußte dies sowieso geschehen. Die Föderation dehnt sich ja immer mehr aus, aber wir wollten es so lange wie nur irgend möglich verhindern. Je mehr Zeit verging, desto mehr hätte die Föderation eine Chance gehabt, neue Waffen zu entwickeln und Gott weiß, was noch, um sich gegen die Donirianer mit ihren psychischen Kräften zu verteidigen.“

„Ich nehme an, daß man jetzt wohl nichts mehr dagegen tun kann.“

„Keine Ahnung“, meinte Froin. „Meinen Sie, man wird Ihnen glauben, wenn Sie Ihre Erzählung als Lüge darstellen? Eine interplanetarische Zivilisation von Idioten muß doch diesen Leuten hier als phantastisch erscheinen. Vielleicht glauben sie Ihnen, wenn Sie erklären, Sie hätten das Ganze einfach erfunden.“

„Ich werde es versuchen.“

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, fand er dort Dr. Alir schluchzend vor.

„Was ist denn los?“ flüsterte er. Weinend berichtete sie, daß Corbans Erzählung von allerhöchsten Stellen genau geprüft worden war und man Schritte unternehmen würde, und diese Schritte hießen: Krieg.

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