Sie öffnete die Tür einen winzigen Spalt breit, so daß genügend Licht in das Zimmer fiel, damit er die Kleider ordentlich anziehen konnte. Er zögerte, als er bemerkte, daß die Kleidung vom offiziellen Hellblau der Mediziner war. Aber sie sagte nichts, und so zog er sie schließlich an.
Sie befanden sich in einem kleinen Nebengebäude, offensichtlich einem Vorratsschuppen für Gartengeräte. Draußen war es dämmerig. In der Ferne erkannte Corban ein riesiges Gebäude, das von einem Garten umgeben war. Kleine Pfade liefen im Zickzack zwischen Beeten mit Blumen entlang, die ihre Blüten der untergehenden Sonne zurichteten.
Als er sich angekleidet hatte, öffnete sie die Tür ganz, spähte vorsichtig hinaus und nickte ihm aufmunternd zu. „Es gibt nur einen Weg, auf dem man durch die Energieschranke gelangen kann“, flüsterte sie. „Die Wache muß uns durchlassen. Man muß uns für zwei Ärzte halten. Verhalte dich also entsprechend. Sobald ich vorgehe, trittst du an meine Seite. Wenn wir erst draußen sind, besteht keine Gefahr mehr. Verstehst du mich?“
„Ja“, sagte er. Er verstand es sehr wohl. Die Gefahr lauerte hier. Wenn man sie erwischte, dann würde man ihn in die Anstalt zurückbringen, und es ging ihm bestimmt nicht schlechter als zuvor. Sie aber riskierte alles.
Fest packte sie ihn am Arm. Er wurde sich überhaupt keiner Bewegung bewußt, aber plötzlich standen sie vor dem Tor, durch das er in diese Anstalt gebracht worden war. Einen Augenblick lang wurde er von Neugier überwältigt. Die Energieschranke war natürlich nötig, um die Insassen des Irrenhauses, die ja der Teleportation fähig waren, an der Flucht zu hindern. Eine derartige Energieschranke war nach seinen Begriffen eine beinahe ans Wunderbare grenzende Sache. Wie mochte sie wohl funktionieren?
Die Wache warf ihnen nur einen oberflächlichen Blick zu und drückte dann auf einen Hebel. Als Dr. Alir voranging, hielt sich Corban an ihrer Seite. Dann waren sie jenseits der Schranke, und die friedliche Landschaft breitete sich einladend vor ihnen aus.
„Jetzt“, flüsterte sie und verstärkte den Griff an seinem Oberarm. Dann machten sie ihren ersten Sprung.
Das Dunkel um sie wurde tiefer, und sie machten Sprung um Sprung. Corban konnte die einzelnen Plätze, auf denen sie landeten, in der dunklen Nacht nicht voneinander unterscheiden. Er wußte nicht, ob sie bei jedem Sprung nur Meter oder Meilen zurücklegten. Eines aber war sicher. Sie entfernten sich vom Ort seiner Qualen — dem Irrenhaus.
Allmählich wurden die Sprünge kürzer und die Ruhepausen länger. Corban spürte deutlich, daß die Kräfte des Mädchens nachließen. Das war auch nicht verwunderlich. Bisher hatten ihn stets zwei kräftige Wärter an den Oberarmen gepackt und ihn mittels Teleportation von einem Ort zum andern gebracht. Ab und zu tauchten in der Ferne Lichter auf.
„Bist du bereit?“ fragte das Mädchen vor jedem Sprung, und dann ging es weiter.
„Sie muß alles sehr sorgfältig geplant haben“, dachte Corban.
„Sie muß bereits früher in dieser Gegend gewesen sein. Sonst wüßte sie nicht, wohin wir jetzt gehen.“
Am Himmel stand bereits das erste Grau des heraufdämmernden Tages, als sie eine kleine Waldlichtung erreichten, an deren Rand eine Blockhütte lag. Corban hatte bis jetzt auf diesem Planeten noch kein ähnliches Gebäude zu Gesicht bekommen. Verwundert wandte er sich zu Dr. Alir.
„Hier bist du sicher“, erklärte sie. „In der Hütte sind Lebensmittel. Ich muß jetzt sofort zurückkehren. Wenn ich bei Tagesanbruch nicht im Krankenhaus bin, schöpft man vielleicht Verdacht.“
Rasch sah er zum Himmel auf. Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln und sagte: „Allein kann ich viel schneller gehen. Morgen abend komme ich zurück, und dann werden wir das letzte Stück Weges zurücklegen. Fremde kommen kaum hierher. Dennoch ist es am besten, wenn du dich im Innern der Hütte aufhältst.“
Urplötzlich war sie verschwunden. Corban betrat müde die Hütte. Ohne sich weiter umzusehen, ließ er sich auf das Bett fallen und war kurz darauf tief eingeschlafen. Als er aufwachte, war dunkle Nacht um ihn. Er starrte lange auf das Fenster, ehe er erkannt hatte, daß er den ganzen Tag verschlafen hatte. Dann suchte er nach den Lebensmitteln, von denen sie gesprochen hatte und aß heißhungrig. Schließlich machte er es sich bequem und wartete auf das Mädchen.
Aber sie kam nicht. Unruhig ging er stundenlang im dunklen Hütteninnern auf und ab. Seine Unruhe steigerte sich immer mehr. Als das Grau am Himmel immer heller wurde, schwand auch der letzte Rest seiner Hoffnung. Er wußte, daß das Schlimmste eingetroffen war. Seine Flucht war entdeckt worden. Er wunderte sich, daß er nicht bereits früher an diese Möglichkeit gedacht hatte. Die Wache am Tor würde sich bestimmt an Dr. Alir erinnern, die mit einem fremden Arzt die Irrenanstalt verlassen hatte. Von da an aber würde niemand, der auch nur ein winziges Quäntchen Intelligenz besaß, noch daran zweifeln können, was vor sich gegangen war.
Sie hatte sich geopfert, um ihm seine Freiheit wiederzugeben. Mit stumpfem Blick sah er sich in der kleinen Hütte um und fragte sich, was er damit eigentlich gewonnen hatte. Die Lebensmittel würden nur für wenige Tage reichen. Er wußte nicht, wo er sich befand und wie weit die nächste menschliche Ansiedlung entfernt war. Der erste Donirianer, dem er begegnete, würde schnell herausfinden, daß er nicht telepathisch anzusprechen war. Wenn er nicht den Verfolgungen der Bevölkerung erlag, so würde er sich über kurz oder lang bestenfalls im Raxtinu oder aber, was weit schlimmer war, in der Irrenanstalt wiederfinden. Dr. Alirs Opfer war dann umsonst gewesen.
Jedenfalls würde er diesmal verzweifelt kämpfen. „Wenn man Verdacht auf sie wirft“, überlegte er, „und wenn diese Hütte ihr gehört oder in irgendeiner Verbindung mit ihr steht, dann darf ich keinerlei Spuren hinterlassen, die auf mich hinweisen. Andererseits muß ich nahe genug bei der Hütte bleiben für den Fall, daß sie früher oder später zurückkehrt oder jemanden schickt. Das ist meine einzige Hoffnung.“
Kurze Zeit später verließ er, schwer mit Lebensmitteln und Wasser beladen, die Hütte und verschwand im Wald. Er suchte einen Baum, in dessen Krone er sich gut verbergen konnte und von wo aus er die Hütte gut im Blickfeld hatte. Dort richtete er sich eine kleine Plattform ein. Nachts verließ er den Baum und verbarg sich in einem Gebüsch in der Nähe der Hütte.
Am dritten Tag tauchte eine Kompanie Soldaten auf. Ihr plötzliches Auftauchen auf der Lichtung erfüllte ihn mit Entsetzen. Dennoch beobachtete er sie unangefochten aus seiner Baumkrone. Schnell durchsuchten sie das Haus und verschwanden dann wieder. Für den umliegenden Wald zeigten sie keinerlei Interesse.
In der siebten Nacht, als die Lebensmittel bereits zur Neige gegangen waren und er verzweifelt Pläne schmiedete, kehrte Dr. Alir zurück. Zuerst erkannte er sie gar nicht. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und lief verzweifelt auf das Haus zu. Lichter blitzten auf. Sie lief von Zimmer zu Zimmer und rief: „Paul! Paul!“
Rasch lief er zu ihr hin, und sie warf sich schluchzend in seine Arme. Schnell hatte sie sich jedoch wieder gefaßt und begrüßte ihn mit einem Lächeln. „Ich hatte Angst um dich“, sagte sie.
„Und ich fürchtete für dich“, erzählte er ihr. Er beschrieb, wie er die Zeit in der Erwartung auf ihre Rückkehr verbracht hatte, wie die Soldaten aufgetaucht waren, und sie nickte ernst und sagte ihm, daß er sehr klug gehandelt habe.
„Können wir jetzt weitergehen?“ fragte sie.
„Können wir nicht zuerst sprechen?“ entgegnete er.
„Nur wenige Minuten. Wir müssen noch weit gehen.“
„Was ist dir denn zugestoßen?“
„Man nahm an, daß ich dir zur Flucht verholfen hätte“, berichtete sie. „Ich wußte wohl, daß sie mich im Verdacht hatten, aber sie warfen mich ins Gefängnis, verhörten mich immer wieder, und das hatte ich nicht erwartet.“
„Die Wache mußte sich doch an dich erinnern“, sagte Corban. „Wir hätten dich verkleiden sollen. Das hätte ich dir auch vorgeschlagen, aber ich wußte ja nicht, wohin wir gehen würden.“
„Es war ja viel zu wenig Zeit dazu“, widersprach sie. „Ich wußte nicht, wann man dich vermissen würde, und wir mußten schnellstmöglich die Energieschranke passieren. Ich baute darauf, daß die Wache verwirrt sein würde. Vorher hatte ich nämlich mit einem Freund das Tor verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war ein anderer Posten im Dienst. Dann kehrte ich in einem Verpflegungsfahrzeug unbemerkt zurück.“
„Ich verstehe“, sagte Corban. „Die andere Wache hat dich also weggehen sehen, niemand aber bemerkte dich bei der Rückkehr. Deshalb mußte man zu der Ansicht gelangen, daß du es gar nicht gewesen sein konntest, die das Tor verließ.“
„Man glaubte zunächst, du hieltest dich irgendwo in der Anstalt verborgen und untersuchte jeden Winkel. Als man aber nichts fand, entließ man mich schließlich unter Entschuldigungen und gab zu, daß man sich geirrt haben müsse, da ich ja bereits das Tor verlassen hatte. In der Anstalt aber praktizieren viele Ärzte. Im Augenblick ist man zu der Ansicht gelangt, daß du tot bist.“
„Ich hoffe, daß sie bei dieser Ansicht bleiben!“
„Hoffentlich. Die anderen Patienten haßten dich. Sie fühlten, daß du anders warst als sie, und die Behörden sind jetzt sicher, daß die anderen Patienten dich umgebracht und deine Leiche irgendwo innerhalb der Energieschranke verscharrt haben.“
„Dr. Alir“, sagte Corban schließlich, „weshalb wurde ich eigentlich dorthin gebracht?“
Sie setzte sich und winkte ihm zu, neben ihr Platz zu nehmen. „Ich will mir die Zeit nehmen, es dir zu erzählen“, erklärte sie. „Mein Volk führt Krieg.“
„Ich weiß es.“
„Zu Beginn des Krieges hatte mein Volk edle Absichten. Man wollte die Welten deiner Rasse schnell erobern, ohne den Menschen Schaden zuzufügen, sofern dies möglich war. Dann wollte man diese Menschen heilen.“
„Heilen? Willst du etwa sagen…“
„Ja, so wie wir auch dich zu heilen suchten.“
„Du weißt doch, was wirklich beabsichtigt wurde“, erklärte Corban bitter. „Dein Volk wußte, daß der Versuch, mich zu heilen, kläglich mißlungen war. Man mußte genau gewußt haben, daß man mit anderen Menschen meiner Rasse wohl kaum bessere Resultate erzielen würde. In Wirklichkeit wollte man mein Volk so einsperren, wie man es mit mir getan hat.“
Dr. Alir vergrub das Gesicht in den Händen. „Es war falsch und ist auch jetzt noch falsch. Unsere Führer haben aber erklärt, daß es unsere Pflicht ist, zu versuchen, dein Volk zu normalen Menschen zu machen. Zunächst schien auch alles nach ihren Plänen abzulaufen. Dein Volk wurde überrascht, und es fanden kaum Kämpfe statt. Alle Ärzte, die man hier entbehren konnte, arbeiteten in den Gefangenenlagern. Dann aber begann dein Volk, sich zu wehren, und es folgten entsetzliche Kämpfe.“ Sie schauderte und beugte sich vor. „Kennst du eine Welt, die bei deinen Leuten Willar genannt wird?“
„Ich habe davon gehört, ja.“
„Dort hat dein Volk zu kämpfen begonnen. Eine unserer Armeen nach der andern wurde vernichtet. Mein Vater, der General war, fiel dort ebenso wie mein jüngerer Bruder.“
Er nahm ihre Hand und streichelte sie zärtlich. „Ich verstehe deinen Schmerz. Oft schon habe ich mich gefragt, was mit meinen Brüdern, meiner Schwester und meinen Eltern geschehen ist.“
„Dein Volk hatte nur eine kleine Armee auf Willar, und wenn wir schließlich auch den Sieg davongetragen haben, so waren die Opfer doch entsetzlich. Nicht lange danach wurde die Hälfte unserer Flotte in einer einzigen Schlacht zerstört. Unser Volk weiß all diese Dinge nicht. Der Oberste Rat hat es nicht gewagt, sie bekanntzugeben. Man glaubt, daß wir leichte und ruhmreiche Siege erringen. Mein älterer Bruder jedoch ist stellvertretender Minister, und er hat mir alles erzählt.“
Corban war ganz benommen. „Willst du damit sagen,, daß mein Volk wirklich gewinnt?“
„Nein“, erwiderte sie traurig. „Niemand kann einen solchen Krieg gewinnen, aber dein Volk wird besiegt. Überall. Und der Krieg hat sich gewandelt. Nach den entsetzlichen Siegen, die dein Volk errungen hat, gelangte man bei uns zu der Ansicht, daß es sich nicht um Menschen handeln und man sie nie zu Menschen machen könne. Der Gedanke ihrer Heilung wurde aufgegeben. Man mußte die Angehörigen deiner Rasse in Anstalten sperren oder sie vernichten. Unsere Soldaten töten die Menschen deiner Rasse, wo sie sie finden. Jetzt sucht man den Krieg dadurch zu gewinnen, daß man die Soldaten aushungert und sie tötet, wenn sie sich ergeben. Es ist purer Wahnsinn. Mein Volk ist verrückt, und mein Bruder, der stellvertretende Minister ist der festen Ansicht, daß ein Volk wie das deinige niemals ganz geschlagen werden kann. Einige werden am Leben bleiben, und sie werden nie vergessen, was mein Volk ihnen angetan hat. Sie werden eines Tages andere Welten entdecken und schreckliche Rache an uns nehmen.“
„Die anderen Minister sind wohl nicht der Ansicht deines Bruders?“, wollte Corban wissen.
„Sie denken nur an Haß und Mord.“ Das Mädchen schluchzte herzerweichend. „Ich habe alles ins Rollen gebracht. Hätte ich dir nicht gesagt, du solltest deine Geschichte erzählen, dann hätte es keinen Krieg gegeben.“
„Nein“, widersprach Corban sanft, „Die Schuld liegt allein bei mir.“
„Erst als man zu der Ansicht gelangte, daß dein Volk nicht menschlich sein könne, daß die Menschen deiner Rasse nur wilde Tiere seien, brachte man dich in das Irrenhaus.“
Eine Weile saßen die beiden Menschen schweigend da. Dann legte er den Arm um sie, und sie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Doch nur kurz ließ sie ihn dort liegen. Dann richtete sie sich rasch auf. „Wenn wir beide diesen Krieg verursacht haben“, sagte sie, „dann müssen wir auch gemeinsam versuchen, ihn zu beenden.“
Corban lachte. „Das scheint dir wohl sehr einfach vorzukommen?
Wunderbar. Sage mir, was ich tun soll, und ich werde eilen und den Krieg aufhalten.
Was soll ich denn tun? Soll ich meinem Volk sagen, es soll den Kampf einstellen und sich ergeben? Sie würden mich als Verräter erschießen und weiterkämpfen.“
„Hast du vergessen, weshalb der Krieg überhaupt begonnen wurde? Wir wollten dein Volk heilen. Unsere Führer haben das jetzt aus den Augen verloren. Wir müssen sie wieder daran erinnern. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir in deinem Volk eigentlich uns selbst bekämpfen.“
„Und wie soll das geschehen?“
„Wir müssen zeigen, daß ein Volk geheilt werden kann — dadurch, daß wir dich heilen.“
„Meinst du Arruclam und Cilloclam und…“
„Du mußt diese Fähigkeiten beherrschen“, erklärte sie ernst, „du mußt, und wenn du sie beherrschst, dann können wir auch den Krieg beenden!“