2. Kapitel

Zehn Minuten später verließ er das Krankenhaus. Zwei Wärter brachten ihm Kleider, und Corban zog gehorsam schwarze Hosen und einen schwarzen Kittel an. Dann packten die Wärter ihn an den Armen, und das Krankenzimmer verschwand. Plötzlich befanden sie sich in einem riesigen, hellerleuchteten, kreisrunden Raum. Hoch über ihnen wölbte sich eine riesige Decke. In diesem Raum befand sich eine Menge Leute, von denen einige verschwanden und andere vor Corbans bestürzten Augen wieder auftauchten. Die meisten der Anwesenden betrachteten Corban mit haßerfüllten Blicken oder wandten sich ganz einfach ab.

Dann packten ihn die Wärter erneut an den Armen. Es ging durch eine Reihe derartiger Räume, die einander ähnlich waren, von denen aber dennoch keiner dem anderen gleichsah. Corban gab es schließlich auf, Überlegungen darüber anzustellen, welche Entfernung sie zurücklegten und zählte schließlich auch nicht mehr die Zimmer, durch die sie kamen.

Schließlich gelangten sie aus einem kreisrunden Zimmer in einen Gang. Die beiden Krankenwärter übergaben ihn einem muskulösen jungen Mann, der einen dunkelblauen Kittel und Hosen derselben Farbe trug. Keinerlei Worte wurden gewechselt.

Sein Begleiter brachte ihn aus dem Gebäude heraus. Corban erhaschte einen Blick auf bläulich-grünes Gras, das die Sonne beschien. Dann befand er sich plötzlich in einem geschlossenen, auto-ähnlichen Fahrzeug. Die Fahrt dauerte ziemlich lange — beinahe eine halbe Stunde — und führte über eine völlig glatte Straße.

Das Ziel war ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude mit metallisch schimmerndem, grauem Äußeren. Man stellte Corban Essen hin, aber er wies es zurück. Dann führte man ihn einen langen Gang hinab und deutete ihm, in ein Zimmer zu treten. Hinter ihm schloß sich die Tür. Sofort versuchte er, sie wieder zu öffnen, aber sie war geschlossen.

„Jedenfalls“, sagte er laut zu sich selbst, „ist es eine Abwechslung, und außerdem hat dieses Zimmer Fenster!“

Durch das Fenster konnte er auf einen herrlichen Waldpark hinabblicken. Zwischen den Bäumen waren freie Plätze zu sehen, auf denen irgendein Spiel vor sich ging. Männer und Frauen, die ähnlich wie er selbst gekleidet waren, gingen umher oder saßen im Gras, Durch die Baumwipfel hindurch blickte er auf hügeliges Ackerland. Ein kleiner Bach durchfloß den Park.

„Es muß sich um eine Art Erholungsheim handeln“, überlegte er. „Leicht hätte es ja schlimmer sein können.“

Zweifellos hätte es sehr viel schlimmer sein können. Zufrieden grinste er, drehte sich um und begann sein neues Zimmer zu untersuchen.

Sofort erkannte er das Bett. Auch ein Stuhl und ein kleiner Tisch standen da. In die Wände waren Bilder eingelassen. Es waren dreidimensionale, belebte Naturszenen. Bäche gluckerten und sprudelten, Wasser spritzte lustig über Kaskaden, und Vögel huschten um Bäume, die ganz wirklichkeitsnah im Wind schwankten. Neben seinem Zimmer befand sich ein Bad, und ein kleiner Schrank mit Schubfächern war in die Wand eingelassen. Corban versuchte, sie zu öffnen. Sie waren unverschlossen.

„Ganz gemütlich und beinahe wie zu Hause“, sagte er laut. Man mußte sich viel Mühe gegeben haben, das Zimmer behaglich einzurichten. Wie lange mochte es wohl sein Heim sein? Plötzlich leuchtete ein Paneel in der grauen Tür hellrot auf. Corban stemmte sich gegen die Tür und öffnete sie. Drei Ärzte mit ernstem Gesichtsausdruck standen ihm gegenüber. Erst als er zurücktrat und sie mit Gesten, zum Nähertreten einlud, rührten sie sich. Hier schien man wenigstens sein Privatleben zu achten. Das gefiel ihm.

Mit Handbewegungen suchten sie ihm klarzumachen, daß er seine Kleider ablegen sollte. Sie untersuchten ihn genau. Dann bedeuteten sie ihm, sich wieder anzuziehen. Keiner sprach ein Wort und mit einer Geste, die halb Verbeugung, halb Gruß war, verließen sie das Zimmer wieder. Nach ihrem Weggang suchte er erneut die Tür zu öffnen, Sie war wieder verschlossen.

Ein junger Mann in dunkelblauer Wärtertracht brachte ihm Kleidungsstücke. Sie waren alle von dem stumpfen Schwarz der Kleidung, die er bereits trug. Die Tür blieb verschlossen. Erneut ging er ans Fenster und blickte in den Park hinab. Auch das Fenster ließ sich nicht öffnen, bis er einen Hebel an der Wand bemerkte. Ein Druck, und das ganze Fenster schwang etwa zehn Zentimeter nach außen. Tief sog er die Luft ein, die ins Zimmer drang. Irgendwo in der Nähe klang Zupfen auf einem Saiteninstrument. Plötzlich erhob sich eine Stimme zum Gesang. Er fühlte sich seltsam bewegt. Es war die erste menschliche Stimme, die er seit seinem Abflug vom Stützpunkt Qualo gehört hatte. Gleichzeitig war es der Beweis für ihn, daß diese Leute eine gesprochene Sprache besaßen — auch wenn sie es offensichtlich nicht liebten, mit Fremden zu reden.

Als die ersten Schatten der Dämmerung auf den Park herabsanken, erschien ein Tablett mit Speisen auf dem Tisch. Er aß und blickte dabei zum Fenster hinaus. Im Zimmer wurde es dunkel, und er wußte nicht, wie das Licht eingeschaltet wurde. Es lag ihm auch gar nichts daran. Nach dem Essen blieb er am Fenster sitzen und lauschte auf Schritte, die unter seinem Fenster vorbeigingen oder auf das Gemurmel einer unverständlichen Unterhaltung.

Am Morgen badete er, zog sich an und aß das Frühstück, das auf dem Tisch aufgetaucht war. Daß er weiterhin in strengstem Gewahrsam behalten wurde, gab ihm unlösbare Rätsel auf. Es war durchaus verständlich, wenn man einen Fremden einige Zeit isolierte, um seinen Gesundheitszustand genau zu untersuchen. Das sollte doch aber nicht auf eine Person zutreffen, die nach langem Aufenthalt im Krankenhaus entlassen worden war.

Eine Reihe von Klängen erreichte sein Ohr. Er blickte sich nach deren Ursprung um. Das Türpaneel leuchtete rot auf. Rasch sprang er darauf zu.

Der Besucher war ein Mädchen. Sie trug die hellblaue Kleidung der Ärzte, was ihn ziemlich überraschte, da sie noch sehr jung aussah. Auf seine einladende Geste hin trat sie ein, schloß die Tür hinter sich und stand lächelnd vor ihm.

Mit weitausholender Geste bot er ihr den Stuhl zum Sitzen an. Sie drehte sich um, ging zum Schrank und zog daraus den Untersatz eines zweiten Stuhles heraus. Sie stellte ihn auf den Boden, rückte ihn zurecht und ließ sich auf die unsichtbare Polsterung nieder.

An der Tatsache, daß die Besucherin anziehend war, gab es keinen Zweifel. Die hochaufgetürmte Haarfrisur berührte ihn noch immer seltsam, aber das Mädchen hätte ohne Rücksicht auf Mode und Frisur überall anziehend gewirkt. Sofort hatte er irgendwie das Gefühl, daß sie anders war als die Frauen, die er bisher gesehen hatte.

Er verstand auch ihr Lächeln. Sie akzeptierte ihn ohne weiteren Aufhebens als Mitmenschen. Gehorsam nahm er ihre unausgesprochene Einladung an, sich neben sie zu setzen.

Aus einer Tasche nahm sie einen Stapel polierter Würfel und legte sie auf den Tisch vor ihm. Sie breitete die Würfel aus, wählte vier davon aus und legte sie in eine Reihe.

„Alir“, sagte sie. Ihre Stimme war weich und klang wie Musik, und tief nahm er ihren Klang in sich auf. Auf den Würfelflächen waren seltsame Symbole eingraviert. Wahrscheinlich waren es irgendwelche Buchstaben und sie versuchte, ihn ihre Sprache zu lehren.

„Alir“, wiederholte er.

Sie deutete auf sich. „Alir.“

Er nickte. Sie hieß also Alir.

Sie zeigte auf ihn. „Paul“, sagte er. Sie nahm drei Würfel, legte sie in eine Reihe und wiederholte: „Paul.“ Damit war die gegenseitige Vorstellung beendet, und die erste Unterrichtsstunde begann.

Mehrere Vormittage verbrachte sie mit ihm zusammen. Nachdem er sich einen kleinen Wortschatz angeeignet hatte, führte sie ihn durch das Gebäude. Alir zeigte ihm den Speisesaal, ein rundes Hallenbad und eine Vielzahl von Räumen, die der Erholung dienten mit Geräten, deren Sinn Paul nicht verstand. Schließlich führte ihn die junge Ärztin zu einem Spaziergang in den Park und stellte ihn einer Anzahl von Leuten vor, die dieselbe schwarze Kleidung trugen wie er.

Impulsiv versuchte er nach ihrem Weggang, die Tür seines Zimmers zu öffnen. Sie war unverschlossen. Er schloß sie wieder und streckte sich auf seinem Bett aus. So lange schon war er gefangen gewesen, daß ein gewisses Maß an Freiheit ihm beinahe ein Gefühl des Unbehagens bereitete.

Beinahe fürchtete er, daß die unverschlossene Tür das Ende seines Sprachunterrichts bedeute, aber Dr. Alir kam wie gewöhnlich am nächsten Morgen. Sie gab sich redliche Mühe, ihm den Tagesablauf in diesem Hause zu erklären. Er konnte sich in einen der Speisesäle begeben und dort seine Mahlzeiten einnehmen oder sie sich auf sein Zimmer kommen lassen. Völlig frei konnte er sich im Gebäude und auf dem umliegenden Grundstück bewegen, ausgenommen diejenigen Räume oder Gebiete, die besonders markiert waren.

Einige der Patienten gaben sich den verschiedensten Beschäftigungen hin, die ihr Interesse fanden. Manche hatten mehrere Steckenpferde, die sie als Zeitvertreib bezeichneten. Wenn er sich ebenfalls ein solches Steckenpferd zulegen wollte, dann brauchte er es nur zu sagen. Sie würde jeden Morgen zu ihm kommen und ihm Sprachunterricht geben, so lange, bis er geläufig sprechen konnte. Die einzige Verpflichtung, der er unterworfen war, bestand darin, daß er sich auf Verlangen einer Untersuchung unterziehen mußte.

Mühevoll suchte er aus seinem beschränkten Wortschatz die Wörter zusammen, um ihr eine Frage zu stellen. Wie lange mußte er sich hier aufhalten?

Bildete er es sich nur ein, oder war ihr Lächeln unsicher geworden? „Bis Sie ganz genesen sind“, antwortete sie, und im Augenblick befriedigte ihn diese Antwort durchaus. Erst später wurde ihm bewußt, daß er doch augenscheinlich völlig gesund war, und eine Flut von Fragen stürmte auf ihn ein.

Sobald sie weggegangen war, verließ er sein Zimmer und eilte den Gang hinab. Durch eine Seitentür verließ er das Gebäude, ging am Rand des Parks entlang und eilte mit weitausholenden Schritten über die Felder davon. Im hellen Sonnenschein reifte das Getreide auf den Halmen. Die Felder waren kreisförmig angelegt und weit voneinander getrennt. Die von schweren, dunkelbraunen Körnern besetzten Ähren schwankten auf hüfthohen Halmen. In der Ferne hantierten zwei Männer in dunkler Kleidung mit einer Maschine. Parallel mit der Straße, die rechts von ihm verlief, ging er durch die Felder.

Der unbehinderte Blick auf die vor ihm liegende Landschaft ließ in ihm ein seit langem nicht gekanntes Frohgefühl erwachen.

Eine flache Mulde folgte der Straße und zeigte vermutlich die Grenze des Grundstückes an. Jenseits der Straße folgte, mit bläulich-grünem Gras bewachsen, Hügel auf Hügel wie die Wellen einer See, und in der Ferne leuchteten hell die Mauern von Gebäuden.

Allmählich stieg das Gelände an. Er folgte der Biegung der Straße, und als er zurückblickte, sah er den Torbogen über dem Haupteingang — den einzigen Eingang, den es seines Wissens gab.

Links von ihm befand sich ein bewaldeter Hügel, von dessen Höhe herab sich der Bach ergoß, der schließlich den Park in der Nähe des Gebäudes durchfloß, in dem er lebte. Zu seiner Rechten lag die Straße. Ihre dunkle Fläche zog sich in die Ferne, soweit sein Blick ihr folgen konnte. Doch nirgends war darauf eine Bewegung oder Verkehr zu entdecken.

Impulsiv drehte er sich um und ging auf die Straße zu.

Als er die Bodenwelle erreicht hatte, stieß er völlig unvermutet auf einen festen Widerstand. Vorsichtig tastete er ihn mit den Händen ab und stellte fest, daß es sich um die gleiche unsichtbare, schwammige, aber dennoch feste Substanz handelte, die von der Bodenplatte seines Bettes ausging.

Entschlossen trat er zurück und stieß wie ein Narr gegen das Hindernis. In einem Wutanfall sprang er darauf zu und suchte daran hochzuklettern. Zu seiner Überraschung war dies sehr einfach. Hände und Füße ließen sich leicht in die schwammige Substanz stoßen und fanden dort Halt. Zug um Zug kletterte er nach oben, aber die Wand schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Verwundert hielt er ah und blickte unbehaglich auf den Boden zurück, sich fest an die unsichtbare Masse klammernd.

Erneut schweifte sein Blick über die herrliche Landschaft auf der anderen Seite der Barriere, und zu seiner Überraschung stand plötzlich auf der anderen Straßenseite ein Mann und beobachtete ihn. Seine Kleidung war blaugrün. Unter dem Arm hielt er eine Waffe, die Corban unbekannt war. Als Paul Corban zögerte, tauchte urplötzlich neben dem einzelnen Wachtposten eine ganze Gruppe von Bewaffneten auf. Ihre Mienen waren zwar aufmerksam, aber keineswegs kriegerisch. Sie beobachteten ihn und warteten ab.

Corban kletterte wieder zum Boden zurück. Als er sich umdrehte waren die Wächter verschwunden. Nur der einzelne Wachtposten sah ihm noch nach.

Hastig entfernte sich Corban und suchte zwischen den Bäumen auf dem Hügelkamm Zuflucht. Es war ein friedlicher Platz voll Anmut. Eine Quelle kam aus dem Boden und plätscherte über mehrere kleine Kaskaden den Hügelhang hinab. Entzückende, exotisch wirkende bunte Vögel flatterten in den Zweigen über ihm herum.

Corban beobachtete durch die Büsche hindurch das Gelände auf der anderen Straßenseite. Allmählich erkannte er die einzelnen Wachtposten, die an verschiedenen Stellen rund um das Gelände versteckt standen. Die Farbe ihrer Uniform machte sie nur schwer erkennbar, aber sie waren vorhanden, und zwar in regelmäßigen Abständen, gleichgültig, ob er nach links oder nach rechts blickte.

Er zuckte die Achseln und verbannte diese Angelegenheit aus seinen Gedanken. Geheimnis über Geheimnis stellte sich ihm hier entgegen, so daß er es in der Zwischenzeit müde geworden war, darüber nachzudenken. Er streckte sich im weichen Gras aus und sah den Vögeln zu, bis er einschlief.

An diesem Abend klangen die Laute des Saiteninstruments erneut an Corbans Ohr. Er verließ sein Zimmer, ging in den Hof hinab und setzte sich neben den Spieler. Der Lautenspieler war ein älterer Mann. Mit ungeschickten Fingern zupfte er die drei Saiten eines groben, selbstgebastelten Instruments. Als Corban auftauchte, unterbrach er sein Spiel.

„Sie sind wohl neu?“ wollte er wissen.

„Ja“, antwortete Corban.

Ein in der Nähe stehender anderer Insasse dieses Gebäudes brach in einen Wortschwall aus, dem Corban nur mit Mühe folgen konnte. Es schien darauf hinauszugehen, daß jemand, der im Büro arbeitete, Corbans Akten gesehen und erfahren hatte, daß ein Unfall die Ursache seines Aufenthalts hier war.

Der Alte wandte sich Corban zu. „Was für einen Unfall hatten Sie denn?“

Corbans Wortschatz war nur gering, so daß ihm eine Antwort auf diese Frage mehr als schwer fiel. Ungeschickt antwortete er: „Einen schlimmen Unfall.“

Der Alte schien befriedigt und zupfte wieder die Saiten seines Instruments.

Corban stellte nun seinerseits eine Frage: „Wie lange sind Sie schon hier?“

Überrascht blickte der Alte auf. Seltsam berührt blickten sich die Leute an, die Corban und den Alten umstanden. „Schon immer“, sagte der Lautenspieler schließlich.

Langsam ging Corban davon. Ein neues Geheimnis bedrückte ihn. Konnte er denn nirgends Näheres erfahren?

Über dem Haupteingang war ein Schild angebracht. Vielleicht wußte er mehr, wenn er es gelesen hatte.

Beim nächsten Sprachunterricht brachte er das Gespräch auf das Gebüsch droben auf dem Hügel. „Die Vögel sind hübsch“, sagte er und ärgerte sich, daß ihm nicht mehr Wörter zur Verfügung standen.

Dr. Alir lächelte. „Ja, sie sind sehr hübsch.“

„Ich sehe ihnen gerne zu“, fuhr er fort. „Wenn ich nur etwas hätte, womit ich sie besser beobachten könnte.“

Sie runzelte die Stirn und erklärte: „Ich verstehe Sie nicht.“

Mit Gesten suchte er ihr klarzumachen, daß er ein Fernglas wünschte. Sie begriff schließlich und brachte ihm ein Monokular. Seine Bitte um ein Buch über Vögel wurde aber nicht erfüllt. Dr. Alir erklärte ihm zögernd, daß es etwas Derartiges nicht gäbe.

Am nächsten Tag ging er wieder hinab durch die Getreidefelder. Als er an die Stelle gelangte, von der aus das Tor zu sehen war, ließ er sich auf den Boden nieder. Auf der anderen Seite hatte er hinter einem Busch einen reglos stehenden Wächter gesehen. Corban bewegte sich so natürlich wie möglich. Er versteckte das winzige Fernglas in der Hand und fuhr sich damit über das Gesicht.

Ohne daß es dem Posten auffiel, studierte er das Schild über dem Haupteingang. Deutlich war zu lesen: UNBEFUGTEN ZUTRITT VERBOTEN. Darüber stand in großen, schwarzen Lettern ein einziges Wort: RAXTINU. Nie zuvor hatte er dieses Wort gesehen oder gehört.

Nach einer Weile stand er auf und ging langsam auf die Baumgruppe auf dem Hügelkamm zu. Vielleicht bedeutete das Wort ganz einfach Sanatorium, aber er bezweifelte es. In diesem Fall hätte man wohl kaum das Gelände mit unsichtbaren Wänden umgeben und bewaffnete Postenketten aufgestellt.

Droben im Wäldchen legte Corban sich ins Gras und dachte nach. Verbrecher konnten die Insassen dieser Anstalt kaum sein. Nichts deutete darauf hin. Viel eher war anzunehmen, daß es sich um Patienten irgendeiner Art handelte, vielleicht aber auch um politische Gefangene. Traf dies aber zu, weshalb hielt man dann ihn hier fest?

„Schon immer“, hatte der Alte gesagt.

„Bis Sie genesen sind“, hatte Dr. Alir ihm erklärt.

Wovon genesen?

In dem Gebäude gab es auch eine Bibliothek. Doch nur wenige Bücher waren darin zu finden. Sie waren schlecht gedruckt und noch schlechter gebunden. Wären nicht die Blätter aus synthetischem Stoff gewesen, so hätte Corban sie für die Erzeugnisse irgendeiner unterentwickelten Kulturstufe gehalten. Die Sprache dieser Bücher war sehr einfach, und meist handelten sie von völlig unverfänglichen Gegenständen wie etwa Landwirtschaft oder Basteln. Auf seine entsprechende Bitte brachte Dr. Alir ihm einen dünnen Band, der so etwas Ähnliches wie ein Lexikon darstellte.

Schon beim ersten Blick in dieses Buch verwirrte Corban die Tatsache, daß es nicht in alphabetischer Form angelegt war. Er kam nicht ganz hinter das zugrundeliegende System. Offensichtlich aber waren die Wörter nach ihrer Bedeutung geordnet. Das Buch wirkte eher wie eine Sammlung von Ausdrücken, für den Gebrauch von Autoren bestimmt.

Da dieses Buch sehr dünn war, hatte er es rasch durchgesehen. Das Wort „Raxtinu“ tauchte darin nicht auf.

Die unsichtbare Energiebarriere umschloß ein riesiges Gebiet. Eines Morgens machte Corban sich nach dem Sprachunterricht auf den Weg und versuchte, der Barriere rings um das ganze Gelände zu folgen. Als er am späten Nachmittag zurückkehrte, hatte er noch nicht das Ende der einen Seite erreicht, die parallel der Straße verlief. Auf dem ganzen Weg sah er immer wieder Wachtposten. Aus Raxtinu auszubrechen, war bestimmt nicht einfach.

Abends setzte Corban sich immer zu dem Spieler. Auch andere Insassen gesellten sich dazu, doch schien ihr Interesse mehr Corban als dem Spieler zu gelten. Insbesondere die jüngeren Frauen interessierten sich für Paul. Er benahm sich ihnen gegenüber ziemlich linkisch. Als Offizier der Raumflotte hatte er nie an Heirat gedacht, denn monate- oder gar jahrelange Trennung schienen nicht gerade die geeignete Grundlage für eine glückliche Ehe zu sein. Sein kommandierender Offizier, Commander Winslow, war aber anderer Ansicht. Er hielt Corban für einen glänzenden jungen Offizier mit großer Zukunft, und seiner Meinung nach war für einen jungen Offizier nichts nützlicher als eine verständnisvolle Frau.

„Ich lade meine Schwester ein, uns hier einige Monate zu besuchen“, sagte er eines Tages zu Corban. „Sie ist hübsch und ein wirklich nettes Mädchen. Wir sind uns schon immer nahegestanden. Sie wäre eine sehr gute Frau für einen jungen Offizier, und ich möchte gern, daß Sie sie kennenlernen.“

Das war nun einmal Commander Winslows Art. Dagegen konnte man nichts machen. Corban mußte auch zugeben, daß seine Schwester zumindest auf dem Foto sehr gut aussah. Er konnte ja schließlich auch seinem Vorgesetzten nicht gut sagen, daß er keinen Wert darauf lege, dessen Schwester kennenzulernen.

Das war kurz vor dem Abflug vom Stützpunkt Qualo gewesen. Bei seiner Rückkehr hätte er Sylvia Winslow antreffen sollen. Inzwischen hatte Winslow aber wohl einen anderen Offizier für seine Schwester gefunden.

Corban war andererseits aber auch nicht geneigt, eine dieser Patientinnen zur Frau zu nehmen und sich in einem der kleinen Dörfer niederzulassen, die er auf seiner Wanderung gesehen hatte. Die Bemerkung des alten Mannes verfolgte ihn. „Schon immer“, hatte er gesagt. Corban aber hatte nicht die Absicht, immer in Raxtinu zu bleiben.

Zwei Patienten traten aus der Dunkelheit auf ihn zu und ließen sich neben Corban nieder. Er hatte sie nie zuvor gesehen und nahm an, daß sie in einem anderen Gebäude wohnten. Auf seinen Spaziergängen hatte er mehrere große Gebäude bemerkt. Während der Alte sang, blickten die beiden Corban an, und er seinerseits betrachtete sie forschend.

Einer der beiden, ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, hatte das normale Aussehen der Bewohner dieses Planeten. Der andere dagegen besaß flammend rotes Haar. Bis jetzt hatte Corban unter den Leuten dieses Planeten noch niemanden mit rotem Haar bemerkt.

Der Alte beendete sein Lied und schlug noch einige Akkorde an.

„Sie sind wohl neu hier, was“ fragte der Rotkopf.

Corban nickte. Das war die übliche Frage, die man ihm immer wieder stellte.

„Wie heißen Sie denn?“

„Paul“, erklärte Corban.

Der Rotkopf schien überrascht. Er öffnete den Mund, als wollte er eine weitere Frage stellen, zögerte und sah dann seinen Begleiter an.

Plötzlich mischte sich der Alte in das Gespräch. „Er hatte einen Unfall, einen sehr schweren Unfall.“

„So, so“, meinte der Rotkopf. „Wohl Kopfverletzung, was?“

„Alle möglichen Verletzungen“, antwortete Corban.

„Das erklärt vieles.“

Die beiden Männer zogen sich zurück. In einiger Entfernung unterhielten sie sich leise, und an jenem Abend beobachteten sie ihn ununterbrochen mit unverhohlener Neugier. Mehrere Tage lang tauchten sie regelmäßig am Abend auf, setzten sich neben Corban, beobachteten ihn und hörten den Gesprächen zu. Dann sah er sie nicht mehr.

Raxtinu hieß das Wort, und er mußte herausfinden, was es bedeutete. Ganz vorsichtig plante er sein Vorgehen. „In einigen der Bücher“, erklärte er Dr. Alir, „bin ich auf Wörter gestoßen, deren Bedeutung ich nicht kenne. Diese Wörter sind auch nicht im Lexikon zu finden. Gibt es irgendwo in diesem Gebäude ein größeres Lexikon?“

„Das ist seltsam“, meinte sie. „Wie heißen denn die Wörter? Vielleicht kann ich Ihnen sagen, was sie bedeuten.“

„Ich habe sie mir nicht aufgeschrieben“, antwortete er. „Das werde ich in Zukunft aber tun. Ich möchte Ihnen jedoch nicht Ihre Zeit stehlen und Sie jedesmal stören, wenn ich auf ein fremdes Wort stoße. Gibt es nicht irgendwo ein Nachschlagewerk?“

„Im Büro des Direktors gibt es eine Datenverarbeitungsmaschine. Diese Maschine ist allerdings nur für das Personal bestimmt. Aber vielleicht kann ich für Sie eine Sondererlaubnis bekommen.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das versuchen wollten“, bedankte sich Corban. „Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht ein Buch über Vögel schreiben könnte, da darüber kein Werk existiert. Hier gibt es viele Vögel der verschiedensten Arten, und vielleicht könnte das Beobachten von Vögeln für einige andere Insassen dieser Anstalt eine Ablenkung bedeuten.“

„Das ist eine ausgezeichnete Idee. Ich werde mit dem Direktor darüber sprechen.“

Die Maschine wurde herbeigeschafft und im Büro des Verwaltungsflügels aufgestellt. Er setzte sich davor, und ein Angestellter beobachtete ihn neugierig, während Dr. Alir ihm den Mechanismus der Maschine erläuterte. Corban blies den Staub von den Tasten. Offensichtlich wurde diese Maschine nur selten benützt. Er hantierte an den Skalen und Hebeln und gab das Wort ein, das Vogel bedeutete. Ein Schirm leuchtete auf. Darauf erschien in enzyklopädischer Form die Erläuterung. Er notierte die Namen und Beschreibungen der verschiedenen Vogelarten. Dr. Alir verließ ihn. Die Leute im Büro beobachteten ihn eine Zeitlang neugierig, schenkten ihm dann aber keine Aufmerksamkeit mehr. Nur noch eine junge Frau, die offensichtlich beauftragt worden war, ihn im Auge zu behalten, blickte in seine Richtung. Corban schrieb geduldig die Informationen auf, die ihm von der Maschine gegeben wurden und wartete eine Chance ab.

Schließlich verließ die junge Frau das Zimmer. Die anderen schienen ihn nicht zu beachten. Schnell gab er das Wort Raxtinu in die Maschine. Der Schirm leuchtete hell auf.

„Raxtinu“, las er und starrte verständnislos auf die fremden Wörter, die diesen Begriff erläuterten. „ … für Geisteskranke. Das Wort Raxtinu wird auf Personen angewandt, die unter Geisteskrankheiten leiden und ist der Sammelbegriff für alle Arten von Geisteskrankheiten, von der einfachsten Art des Schwachsinns bis zu fehlendem Arruclam, Cilloclam …“

Hastig schrieb er die fremden Wörter auf, gab wieder das Wort Vögel in die Maschine und starrte benommen auf den Leuchtschirm.

Er befand sich in einer Irrenanstalt. Sie hielten ihn für verrückt.

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