11. Kapitel

Trübes Licht fiel durch eine7 gähnende Öffnung und warf gezackte Umrisse auf einen mit Trümmern besäten Boden. Scharfe Augen spähten aus einer düsteren Ecke. Gespannte junge Muskeln warteten darauf, in Tätigkeit zu treten.

Eine Ratte kroch ins Freie, zögerte und lief dann weiter. Die Augen faßten das Ziel. Die Muskeln traten in Aktion, und eine Steinschleuder sirrte. Die Ratte stürzte und blieb zappelnd liegen.

Ein Junge sprang vor und packte sie. Er nestelte eine Tasche vom Gürtel und warf die Ratte hinein. „Toll“, sagte er. „Vier habe ich jetzt bereits erwischt. Ich glaube, heute abend können wir essen.“

Ein Geräusch erreichte seine Ohren. Es war kaum wahrnehmbar, aber der Junge blieb doch wie erstarrt stehen und blickte schnell auf die Öffnung. Dann bewegte er sich ganz vorsichtig in die Schatten zurück. Leise formten die Lippen ein Wort: „Zombi.“

Die Hand fuhr an den Gürtel und riß eine Waffe heraus. Er nannte sie Messer, aber in Wirklichkeit war es nur ein Stück steifen Drahtes, das in einem rohen Holzgriff steckte. Das Drahtende war in eine Spitze gearbeitet worden.

Der Junge stellte sich hinter einen zersplitterten Schrank und wartete.

Eine Gestalt erschien in der Öffnung, blickte sich vorsichtig im Raum um und trat dann ein. Der Zombi witterte Gefahr. Er trat nur wenige Schritte vor und drehte sich dann langsam um sich selbst. In den Händen lag schußbereit seine Waffe.

Plötzlich bewegte sich der Junge. Seine bloßen Füße tasteten sich sicher und lautlos über den von Trümmern besäten Boden. Die letzten Schritte waren ein einziger wilder Sprung. Er hob das Messer, stieß zu.

Als der Zombi stürzte, ließ der Junge sofort von ihm ab. Ein Sprung brachte ihn an die Öffnung, ein anderer ging hinaus in das graue Abendlicht. Keuchend lief er um sein Leben.

Innerhalb weniger Augenblicke würden andere Zombis auftauchen. Immer war es so. Er hatte noch nie davon gehört, daß ein Zombi einen Laut ausgestoßen hätte. Sein Vater aber hatte ihm erzählt, daß die Zombis über weite Entfernungen hinweg sich einander Gedanken zusenden und diese auch verstehen konnten, und der Junge glaubte das. Jedes Mal, wenn er einen Zombi getötet hatte, war kurz darauf eine ganze Meute hinter ihm her gewesen, so daß er meistens gerade noch im letzten Augenblick entkommen konnte.

Der Junge raste über ein Stück Straße und stürzte sich kopfüber in die Ruine eines zerbombten Gebäudes. Im Sprung krachten Schüsse über ihn hinweg und bohrten Löcher in die Mauer auf der vor ihm liegenden Seite. Tief grub sich der Junge in einen Geröllhaufen und schlüpfte in den engen Eingang zu einem versteckten Tunnel. Auf Händen und Knien kroch er in ein angrenzendes Gebäude. Von hier aus wagte er einen Sprung auf einen von Unkraut überwachsenen Hof. Hinter sich hörte er dumpfes Knallen, dem helles Zischen folgte.

„Gasbomben“, murmelte er. Jetzt war er fast in Sicherheit. Ein Erdgeschoß, noch ein Tunnel, und schließlich gelangte er unter ein Gebäude, das dem Erdboden gleichgemacht worden war. Hier hatte sich der Junge ein Versteck geschaffen. Aus einem Stahlschrank, der unter dem Gewicht des eingestürzten Mauerwerks umgefallen war und in seltsamem Winkel lag, nahm er einen großen Bogen Papier.

Es war eine sorgfältig gezeichnete Landkarte, die mit merkwürdigen Bemerkungen versehen war. An der Stelle, an der er eben den Zombi getötet hatte, malte er ein X auf die Karte und einen Kreis darum. Neben das danebengelegene Erdgeschoß schrieb er: „Gas“, und setzte das Datum darunter. Er seufzte. „Wochen werden vergehen, ehe ich dort wieder Ratten fangen kann.“

Dann versteckte er die Landkarte wieder und wandte seine Aufmerksamkeit dem Messer zu. Mit einem scharfen Stein schnitt er eine neue Kerbe in den Griff. Wenn er nur ein Gewehr bekommen könnte, aber das war nicht möglich. Es war zu gefährlich. Auf diese Weise hatten die Zombis Willie Ulstead erwischt. Er hatte versucht, einem Zombi das Gewehr abzunehmen. Aber ehe Willie die Waffe ergreifen konnte, waren die übrigen Zombis über ihm gewesen. Nein, das hatte keinen Sinn. Er konnte nur zustechen und dann laufen, was die Beine hergaben.

In dem feuchten, halb eingefallenen Keller, in dem seine Eltern wohnten, war kein Licht. Er glitt aus der Nacht in diese noch dunklere Nacht des Kellers und pfiff im Näherkommen leise, damit er die Eltern nicht erschreckte. „Mach’ Licht, Ma“, sagte er.

Als sie ein kleines Licht angezündet hatte, gab er ihr die Tasche mit den Ratten und setzte sich neben seinen Vater. „Etwas für dich, Vater“, sagte er und brachte eine Flasche hervor.

Mit leeren Augen starrte der Vater auf die gegenüberliegende Wand. Unter vollem, dichtem Bart war das Gesicht wachsbleich. Die zitternden Finger legten sich um die Flasche, die seinem Griff entglitt. Im letzten Augenblick erwischte sie der Junge und stellte sie dem Vater auf den Schoß zurück.

„Schau, Vater. Es ist etwas Besonderes.“

Der Vater hob die Flasche und blinzelte. „Whisky!“ sagte er und flüsterte ehrfürchtig: „Whisky! Wo …“

„Ich habe ihn ausgegraben“, antwortete der Junge. „Ich dachte. du würdest ihn mögen.“

„Wir wollen ihn für besondere Gelegenheiten aufbewahren“, murmelte der Vater. „Er soll möglichst lange reichen. Wir haben nicht viele besondere Gelegenheiten, jetzt aber ist meiner Ansicht nach eine, denn du hast die Flasche gefunden. Mutter?“

„Nein“, sagte sie. „Trinke du sie.“

„Es ist keine besondere Gelegenheit, wenn man allein trinken muß.“ Er entkorkte die Flasche und schnupperte. Impulsiv hob er sie an den Mund, nahm einen tiefen Schluck und leckte schmatzend die Lippen. „Mutter?“

„Nur einen kleinen Schluck.“

Er füllte eine flache Schale und sah zu, wie sie trank. Dann blickte er zögernd auf den Jungen.

„Jerry.“

Der Junge nahm die Flasche, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Er reichte dem Vater die Flasche zurück, und dieser verkorkte sie sorgfältig.

„Nun“, sagte er und rieb sich die Hände. „Nun.“ Er strahlte. „Wie viele Ratten hast du heute erwischt, Jerry?“

„Vier, und sie sind fett. Ich habe auch einen Zombi erwischt“, sagte der Junge ganz nebenbei.

Seine Mutter drehte sich mit bleichem Gesicht langsam um. „Oh, Jerry, sei vorsichtig. Was sollten denn dein Vater und ich tun, wenn dir etwas zustieße?“

„Ein wenig früher sterben“, murmelte der Vater. „Spielt das eine Rolle?“

Der Junge hob ein zerrissenes Buch auf und hielt es an das schwache Licht des Feuers, um zu lesen. Die Ratten brutzelten und zischten in der Pfanne, und jedes Mal, wenn er eine Seite umblätterte, blickte er auf und schnupperte hungrig. Er achtete nicht auf die Blicke seiner Eltern, die ihm Unbehagen verursachten. Sie blickten ihn an, als sei er ein Fremder. Gleichzeitig hatte auch er das Gefühl, als seien sie ihm fremd. Die beiden waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Schönheit der Mutter war vergangen, und aus dem einst mutigen Vater war ein Mann geworden, der bei jedem unerwarteten Geräusch zusammenzuckte und im Schlaf redete.

„Terry?“

„Ja, Ma.“

„Ich möchte, daß du dich von den Zombis fernhältst.“

„Die Burschen haben es verdient“, erklärte der Junge fest. „Sie haben doch Paul und Bill erwischt. Und Sue? Ich werde sie rächen, bis ich selbst an die Reihe komme.“

„John, sprich doch mit ihm.“

„Nein.“ Der Vater schüttelte den Kopf. Der Schluck Whisky hatte ihn belebt. Er saß auf dem Boden, hatte die Flasche in der Hand und studierte immer wieder das Etikett. „Nein. Es hat keinen Sinn mehr, zu leben. Warum sollte er nicht im Kampf untergehen! Es ist besser, als sich hier wie eine Ratte zu verstecken, bis die Zombis uns entdecken. Wenn ich nur aus diesem Loch herauskönnte, dann würde ich selbst noch einige töten.“

Hilflos hob die Mutter die Hände und wandte ihre Aufmerksamkeit den Ratten zu.

„Du hättest fliehen können, wenn ich nicht gewesen wäre“, sagte der Vater leise. „Ihr beide hättet entkommen können. Es wäre besser gewesen als hierzubleiben. Ich bin sicher, daß Jerry dann den Zombis auch schwer zu schaffen gemacht hätte. Die menschliche Rasse braucht Jungs wie ihn, die lernen, die Schiffe zu fliegen und die Waffen zu bedienen.“

„Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt essen“, erklärte die Mutter nervös.

Heißhungrig machten sie sich über die Ratten her. Nachdenklich starrte der Junge in das in sich zusammensinkende Feuer. Warum mußten sie ein solches Leben führen. Es wäre doch schön gewesen, wenn man ein großes Feuer entfachen und sich die Nacht daran wärmen könnte. Brennmaterial gab es genug, aber Feuer waren leicht zu sehen. Der Rauch hätte vielleicht die Feinde angelockt.

Plötzlich waren über ihnen Geräusche zu hören — dumpfem Knallen folgte ein unheimliches Zischen. Mit einem Satz sprang Jerry auf. „Gasbomben! Schnell! Diesen Tunnel entlang.“ Wie rasend warf er Steine und Erde vor der Tunnelöffnung beiseite. „Du zuerst, Mutter. Eile dich, Vater.“

„Nein!“ John Corban winkte sie weg. „Geht ihr beide. Ich bin euch zu lange eine Last gewesen.“

Jerry lief in die Ecke und packte den Vater am Arm. „Wir haben nicht viel Zeit“, keuchte er und zerrte wild. Der Vater wehrte sich und stieß den Jungen beiseite. Schließlich packte die Mutter den Mann am anderen Arm, und gemeinsam zerrten sie ihn trotz seiner Abwehr zur Tunnelöffnung.

„Dort hinein — schnell!“

„Ich gehe nicht“, widersetzte John Corban sich entschlossen.

„Also gut. Wenn du bleibst, dann bleibe ich bei dir.“

Einen Augenblick lang starrte er sie wild an, dann drehte er sich um und kroch in den Tunnel. Mit den Armen arbeitete er sich vorwärts und zog die Beinstümpfe hinter sich her. Seine Frau folgte und suchte ihm zu helfen. Den Schluß bildete Jerry, der die Tunnelöffnung hinter sich schloß und eine möglichst feste Erdwand aufrichtete, die das Eindringen des tödlichen Gases in den Tunnel verhindern sollte.

Nur langsam kamen sie voran. Die Luft im Tunnel war schlecht. Der Gang war so schmal und eng, daß selbst Jerry nur schwer vorankam, der stundenlang daran gearbeitet hatte, ihn auszuhöhlen und jetzt wünschte, er hätte ihn breiter gemacht.

Plötzlich hielt John Corban an.

Seine Frau stieß gegen ihn. Von hinten zischte Jerry: „Weiter, Vater.“

Des Vaters gedämpfte Stimme drang zu ihm: „Der Gang scheint eingebrochen zu sein.“

Einen Augenblick lang schwieg Jerry. „Du mußt dich durchgraben“, sagte er schließlich. „Schiebe die Erde zu Mutter zurück, und sie wird sie zu mir weiterschieben.“

Keuchend und schwitzend arbeiteten sie in der erstickenden Finsternis. „Scheint kein Ende nehmen zu wollen“, keuchte John Corban.

„Nur weiter, Vater“, rief Jerry.

Die Luft wurde schnell schlechter. Die Erde, die Jerry hinter sich in den Gang stieß, füllte den Tunnel bis zur Decke, und die Luft wurde so schlecht, daß ihr Atmen immer keuchender klang.

Die Mutter schob schließlich keine Erde mehr zu Jerry zurück. „Es hat keinen Sinn“, sagte John Corban von vorn. „Wir hätten uns sowieso nicht mehr lange halten können.“

„Grabe weiter, Vater“, bettelte Jerry.

„Ich kann nicht mehr. Mir wird schwindlig.“

„Sage ihm doch, daß er graben soll, Mutter.“

Die Mutter antwortete nicht. Jerry packte sie am Fuß und schüttelte sie. „Vater, Mutter ist ohnmächtig geworden!“

Er hörte die verzweifelte Anstrengung, die der Vater machte und dann den Schrei: „Meine Hand ist durch!“

„Schiebe die Erde beiseite“, stöhnte Jerry.

Plötzlich drang frische Luft in den Tunnel. Jerry massierte die Beine der Mutter. Sie erwachte aus ihrer Bewußtlosigkeit und blieb schluchzend und reglos am Boden liegen. Der Vater grub sich weiter durch den Erdeinbruch, und Jerry schob die Mutter vorwärts. Der Gang schien sich endlos zu dehnen. Nur in kleinen Rucken kamen die drei Menschen voran.

„Noch ein Einbruch“, erklang John Corbans Stimme von vorn.

Jerrys Mutter sprach zum erstenmal, seit sie in den Tunnel gekrochen waren. Es war ein verzweifelter Schmerzensschrei. „Nein!“

„Vielleicht ist es das Ende“, sagte Jerry, „ich meine, das Ende des Tunnels. Der Einbruch kann nicht groß sein. Aber Vater, wenn sie diesen Keller vergast haben, dann sind wir erledigt.“

„Das wollen wir gleich einmal feststellen“, sagte der Vater. „Wir sind auch erledigt, wenn wir noch lange hier drinnen bleiben.“

„Sei aber ganz leise, Vater.“ Wenige Minuten später standen sie in einem Keller und atmete in tiefen Zügen die kühle, dumpfe Kellerluft ein. Erschöpft streckten sie sich auf dem Boden aus. Noch immer konnten Zombis in der Nähe sein, und dieser Keller war nicht gerade ein ideales Versteck.

Ein wildes Gewirr von Gedanken durchzuckte Jerrys Hirn. Hier konnten sie nicht bleiben. Sie mußten ein neues Versteck finden, in dem sie leben konnten. Er hatte bereits früher mehrere geeignete Plätze ausgesucht. Eigentlich hatte er seine Eltern schon längst an einen anderen Platz bringen wollen. Sein Vater hatte sich jedoch eigensinnig gegen diesen Gedanken gewehrt. Jetzt waren die beiden von der Anstrengung erschöpft. Es lag jedoch ein gefährlicher Weg vor ihnen, bevor sie sich noch vor Einbruch der Morgendämmerung in Sicherheit gebracht hatten.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich nach Zombis umschaue“, sagte der Junge.

Plötzlich begann der Vater zu weinen.

Ein wildes Schluchzen erschütterte ihn. Jerry sprang entsetzt zu ihm hinüber und erwartete, jeden Augenblick die Silhouette eines Zombis gegen den Nachthimmel zu sehen.

Der Junge beugte sich über seinen Vater, fand seine Hand und schüttelte sie linkisch. „Vater? Was ist denn los, Vater?“

„Der Whisky“, schluchzte John Corban, „ich habe den Whisky vergessen.“

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