17. Kapitel

In der Linken hielt Corban einen Ballon, in der Rechten ein Gerät, das einer Stoppuhr ähnlich war. Er beugte sich über den Rand des Balkons, ließ den Ballon sinken und drückte gleichzeitig auf die Stoppuhr. Der Ballon sank langsam zu Boden.

Corban sah ihm beinahe gleichgültig nach. Wie mußte man es nur anpacken, mit geistigen Kräften einen solchen Gegenstand zu handhaben? Denkt man etwa: „Langsamer, verdammt! Bleibe mitten in der Luft stehen. Komm hierher zurück!“ oder stellt man sich einfach vor, daß der Gegenstand an einer Art geistigen Angelleine befestigt ist, die auf die leiseste Kopfbewegung reagiert. Oder identifiziert man sich selbst mit dem Gegenstand, kam es also auf das Einfühlungsvermögen an?

Er wußte es nicht. Nicht einmal Dr. Alir war in der Lage, ihm das zu erklären. Für sie war es einfach eine Instinkthandlung, dachte er. Sie war sich der Ausübung ihrer geistigen Kräfte gar nicht bewußt, Sie wollte etwas bewegen, und es bewegte sich.

Der Ballon berührte den Boden. Corban drückte auf die Stoppuhr „Sieben, vierzehn“, sagte er. „Kontrolle.“

„Kontrolle“, wiederholte eine Stimme unter ihm Die Frau trug die Zahlen ein und blickte lächelnd zu ihm hinauf. Es war Dr. Alirs Mutter, Alira. Ihr Haar schimmerte zwar silbergrau, aber sie war ebenso schön wie ihre Tochter. Jahrelang hatte sie selbst als Ärztin Erfahrungen mit Geisteskranken sammeln können, Corbans Leute hatten ihren Mann und jüngsten Sohn erschossen, und dennoch hatte sie ihn wie einen lange verloren gewesenen und geliebten Verwandten begrüßt, nannte ihn „mein lieber Junge“ und übernahm seine Schulung mit einem Geschick und einer Energie, über die Corban beinahe bestürzt war.

Corban lehnte sich zurück und blickte auf den Tisch neben sich. Eine kleine, bleistiftähnliche Röhre lag auf glatt polierter Oberfläche. Diese Röhre rollte so leicht und glatt, daß Corban sie durch Pusten ohne weiteres von einem Ende des Tisches zum anderen treiben konnte. Mit seinen Gedanken jedoch konnte er noch nicht einmal ein leises Erschüttern dieses Röhrchens verursachen. Er erinnerte sich an ein Spiel, das er als Junge mit Metallzylindern und einem Magnet ausgeführt hatte. Ein Pol des Magneten hatte den Zylinder über eine glatte Oberfläche getrieben, der andere Pol hatte sie wieder angezogen. Ob wohl die Kräfte der Telekinese irgendwie den Kräften des Magnetismus ähnlich waren? Dr. Alir und ihre Mutter hatten seine diesbezüglichen Fragen konsterniert aufgenommen.

Alira tauchte neben ihm auf dem Balkon auf. „Wie wäre es, wenn Sie jetzt Phase zwei versuchen würden?“ sagte sie. „Im Garten ist es für Sie angenehmer.“

Phase zwei bedeutete Teleportation. Wie einfach war es für Alira. Im Augenblick stand sie noch neben ihm. Kurz darauf winkte sie ihm vom Garten aus zu. Corban konzentrierte sich mit aller Anstrengung darauf, sich in den Garten zu versetzen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wenn er aber die Augen wieder öffnete, stand er nach wie vor auf dem Balkon.

Mutlos hob er schließlich die Hände. „Es hat einfach keinen Sinn. Ich versuche Phase um Phase, und nichts geschieht.“

„Sei doch nicht so feige!“

Erschrocken sah er auf. Neben ihm stand Dr. Alir. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Augen brannten. Die zitternden Hände hatte sie zu Fäusten geballt. „Du machst es dir hier bequem“, warf sie ihm verbittert vor. „Du hast wohl den Krieg vergessen. Sonst könntest du dir kaum Sorgen darüber machen, wie schwierig Teleportation und Telekinese sind. Du würdest deine ganzen Kräfte anspannen, um es zu meistern.“

Von Zorn gepackt trat er auf sie zu. „Du hast es einfach, von Erfolg zu sprechen. Von Kindheit an beherrscht du diese Fähigkeiten.“

„Weshalb schreist du mich denn so an? Wenn du dich schon nicht freundlicher ausdrücken kannst, dann kannst du zumindest leiser sprechen.“

„Freundlich sprechen!“ brüllte er. „Höre mir zu. Ich habe diesen Krieg verursacht. Jeder Tote auf beiden Seiten ist Blut an meinen Händen. Glaubst du etwa, ich könnte das auch nur eine Minute vergessen?“ Noch während er sprach, tauchte Alira auf. Corban schwieg. Mutter und Tochter sahen einander an und unterhielten sich vermutlich telepathisch. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, fochten sie eine Meinungsverschiedenheit aus. Dr. Alir verschwand schließlich.

„Arme Alir“, murmelte Alira. „Und armer Paul.“ Mitleidig legte sie die Hand auf seine Schulter. „Sie liebt Sie. Das wissen Sie. Genauso, wie Sie sie lieben. Oh, ich weiß alles. Es liegt klar auf der Hand. Sie liebt sie und weiß, daß Sie auf dieser Welt nie in Sicherheit, leben können. Und als ob dies noch nicht genug wäre, tobt ein Krieg, für den Sie beide sich die Schuld zuschreiben. Das arme Mädchen hat vor Kummer und Sorgen beinahe die Sinne verloren. Und um alles noch schlimmer zu machen, gehen die Untersuchungen über Ihre Flucht weiter, und Alir wurde vor den Obersten Rat geladen. Alir fürchtet, daß Ihre Anwesenheit gerüchteweise bekanntgeworden sein könnte. Sie glaubt, daß die Diener geschwatzt haben.“

„Man sucht also noch immer nach mir?“ fragte Corban.

„Die ganze Zivilgarde sucht nach Ihnen. Ich hätte nie gedacht, daß Sie so wichtig sind, aber der Oberste Rat scheint größten Wert darauf zu legen, Sie in die Hände zu bekommen.“

„Vielleicht wäre es das beste, wenn ich mich einfach stellen würde. Alle meine Anstrengungen führen doch zu nichts, und ich verursache Ihnen nur Ungelegenheiten, wenn nicht mehr,“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen. Das Wichtigste ist, daß Sie nicht aufhören, immer wieder zu versuchen, die Fähigkeiten zu erlangen. Strengen Sie sich an. Wir müssen diesen Krieg ganz einfach beenden.“

„Ich weiß. Aber es ist wirklich nicht angenehm, daran zu denken, daß das Ende des Krieges davon abhängt, daß ich das…das …“

Er wollte sagen „Unmögliche“, aber die Erinnerung an Dr. Alirs plötzlichen Zornesausbruch ließ ihn im letzten Augenblick schweigen.

Nachdenklich blickte Alira Corban an. „Vielleicht gelänge es, wenn man Ihnen einen seelischen Schock versetzen könnte.“ Sie wiegte den Kopf. „Versuchen Sie jetzt weiter Phase zwei.“

Corban ging in den Garten. Er strengte seinen Willen an, bis er glaubte, der Kopf platze ihm, aber wenn er die Augen wieder öffnete, stand er noch immer auf demselben Fleck. Erschöpft gab er es schließlich auf, verließ den Garten, ging über eine Wiese und stieg auf eine kleine Anhöhe, von der aus er die ringsum liegende Ebene überblicken konnte.

Nie würde er die Fähigkeiten dieser Donirianer erwerben können, die doch den Menschen so ähnlich waren, wie er auch von hier aus entdecken konnte. Häuser, Gärten und Felder sahen fast genauso aus wie auf den Welten, die von der Menschenrasse bewohnt wurden. Wenn er nur von hier entfliehen könnte. Er wollte gerne auf der Seite seines Volkes kämpfen, auch wenn er den sicheren Tod vor Augen hätte. Dieser Tod hatte dann doch wenigstens einen Sinn.

Seufzend hob er die Augen und blickte zum Haus Dr. Alirs hinüber. Alira tauchte im Garten an der Stelle auf, an der er vor kurzem noch Phase zwei geübt hatte. Offensichtlich suchte sie nach ihm.

Zwischen dem dichten Blattwerk der Bäume war er ihren Blicken verborgen. „Ich glaube, es ist Zeit, daß ich zurückkehre“, sagte Corban laut.

Alira verschwand. Corban hatte sich eben aufgerichtet, als plötzlich Soldaten ankamen. Es war mindestens eine Kompanie, die vor dem Haus auftauchte. Instinktiv duckte er sich tiefer zwischen die Büsche.

Die Soldaten durchsuchten das Haus und dessen Umgebung. Überall tauchten sie auf. Von einer unüberwindbaren Panik gepackt, lief Corban davon, obwohl er wußte, daß er seinen Verfolgern dadurch nicht entgehen konnte. Seine einzige Hoffnung bestand darin, daß er sich versteckte und ihren Blicken verborgen blieb.

Im Laufen drehte er sich um und entdeckte die ersten Soldaten bereits am Waldrand. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als auf den nächsten Baum zu steigen. Schon damals bei der Blockhütte hatten ihn die Verfolger nicht entdeckt. Vielleicht konnte er ihnen auch hier auf diese Weise entgehen. Kurzentschlossen kletterte er in einen dichtbelaubten Baum hinauf. Auf einem dicken Ast machte er es sich so bequem wie möglich und wartete ab.

Systematisch durchsuchten die Soldaten den Wald. Laut knackten Zweige unter ihren Tritten. Wild pochte Corbans Herz, so daß er meinte, es müsse ihm die Brust sprengen. Zum zweiten Male gingen sie unter seinem Baum vorbei. Corban glaubte sich bereits sicher und umklammerte fest den Ast, auf dem er saß. Plötzlich jedoch drehte sich einer der Soldaten um und blickte zu ihm hinauf.

Verständnisloses Staunen zeigte sich einen Augenblick lang auf dem Gesicht des Soldaten. Gleichzeitig drehten sich auch die übrigen um und starrten zu ihm hinauf. Im Nu wimmelte es unter dem Baum von Donirianern, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hielten.

„Es ist aus“, dachte Corban stumpf.

Eine unsichtbare Kraft zerrte und rüttelte an ihm und schien ihn von seinem Sitzplatz herunterreißen zu wollen. Mit aller Kraft umspannte er den Ast. Seine Knöchel wurden weiß. Blut sickerte hervor an den Stellen, wo die Hände in scharfe Kanten der Rinde griffen. „Telekinese“, stöhnte er. „Sie versuchen, mich herunterzureißen.“

Dann ließ der Sog langsam nach. Ein Soldat trat vor und ging auf den Baumstamm zu. Er hob eine Waffe. Corban blickte in eine dunkle Gewehrmündung. Langsam und umsichtig zielte der Soldat.

„Vielleicht ist es so am besten“, überlegte Corban. „Nie könnte ich lange genug leben, um all das Übel gutzumachen, das ich verursacht habe.“

Es blieb ihm nur die Frage, weshalb er überhaupt gelebt hatte. Er hatte aber auch nichts vollbracht, was erwähnenswert gewesen wäre. Die glückliche Zeit, die er verlobt hatte, lag bereits Lichtjahre entfernt und war seiner Erinnerung beinahe entschwunden. Lebhaft standen vor seinem inneren Auge nur noch die Qualen, die er im Irrenhaus durchgemacht hatte. Hatte er unter diesen Übermenschen eigentlich überhaupt Ruhe und Frieden gefunden?

Ja, dachte er. Es gab Augenblicke des Friedens. Wie schön war es doch gewesen, als er in der kleinen Baumgruppe auf dem Hügelkamm im Raxtinu gesessen hatte und Dr. Alir neben ihm durch das Fernglas die Vögel beobachtete. Damals hatte er sich für unglücklich gehalten, für ein Opfer einer unerreichbaren Liebe, derer sich zu erfreuen er keine Ursache hatte. Damals aber hatte es noch keinen Krieg gegeben, der seine Gedanken belastet hätte. Damals quälte ihn nicht in den Nächten brennendes Schuldgefühl, das ihm den Schlaf geraubt hätte. In jener Zeit hatte es für ihn wirklichen Frieden, wenn nicht gar Zufriedenheit gegeben, und wenn er eine Seele besaß, die er hätte einhandeln können, dann hätte er sie freudig dafür hingegeben, nochmals einen einzigen Augenblick lang jene Zeit zurückkehren zu lassen. Die riesigen Bäume mit den großen Blättern, die flatternden, bunten Vögel, das Plätschern des Wassers…

Der Soldat schien ihn endlich genau im Ziel zu haben. Corban, dessen Gedanken im Wäldchen in Raxtinu weilten, blickte geistesabwesend hinab und sah bläuliches Feuer aufblitzen.

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