5

Zu Mittag des folgenden Tages meldete sich plötzlich der Ausguck: »Schlangenboot an Steuerbord!«

Forkbeard blickte von seinem Kaissabrett auf. In seine Männer kam Leben. Sie eilten zur Steuerbordreling. Noch war nichts zu sehen. »Auf die Bänke!« brüllte Forkbeard, und seine Krieger gehorchten; ich hörte, wie die Ruder hinausgeschoben wurden.

»Verändere nichts an den Figuren«, sagte Ivar Forkbeard und verließ das Spiel. Dann kletterte er halb das Knotenseil hinauf, das am Mast herabhing.

Ich stand auf. Der Himmel war bewölkt, man hatte den Sonnenschutz nicht aufgespannt; die Häute lagen zusammengerollt zwischen den Bänken. Ich konnte nichts erkennen.

Die Sklavinnen sahen sich erschrocken um, während sie von Gorm gefesselt wurden. Wenn es zu einem Kampf kam, waren sie völlig hilflos und konnten sich nicht im geringsten einmischen.

»Das Schlangenschiff Thorgards von Scagnar!« rief Forkbeard erfreut.

»Ist das ein Freund?« fragte ich.

»Nein!« rief Forkbeard entzückt. »Ein Feind.«

Ich sah, wie sich die Männer Forkbeards angrinsten. Als nächstes kam der Befehl, die Segel zu reffen. »Haltet das Heck im Wind«, sagte er. Die Ruder glitten hinaus.

»Wir haben noch für ein paar Züge Zeit«, sagte Ivar Forkbeard.

»Ich versuche noch immer den Angriff mit der Jarls Axt zu durchbrechen«, sagte ich.

»Sänger auf Axt Zwei ist kein besonders starker Zug«, brummte Forkbeard.

In langen Spielen war ich am Tag zuvor zweimal gegen den Angriff mit der Jarls Axt gescheitert.

»Als nächstes willst du natürlich deinen Jarl auf Axt Vier ziehen.«

»Ja.«

»Interessant«, meinte Forkbeard. »Spielen wir diese Variation mal durch.«

Im Süden war dieser Spielzug sehr beliebt, während er im Norden nicht so geläufig ist.

»Die Schlange Thorgards hat uns gesehen!« meldete der Ausguck frohlockend.

»Ausgezeichnet«, sagte Ivar Forkbeard. »Jetzt müssen wir nicht erst ins Horn stoßen.«

Ich lächelte. »Erzähl mir mehr über Thorgard von Scagnar«, sagte ich.

»Er ist mein Feind«, sagte Ivar Forkbeard schlicht.

»Die Schiffe Thorgards haben die Schiffe Port Kars oft belästigt.«

»Die Schiffe Port Kars«, erwiderte Ivar Forkbeard lächelnd, »sind nicht die einzigen, die auf diese Weise ausgezeichnet werden.«

»Er ist also auch mein Feind«, fuhr ich fort.

»Wie heißt du?« fragte Forkbeard.

»Nenn mich Tarl«, sagte ich.

»Das ist ein Name aus Torvaldsland«, erwiderte er. »Stammst du nicht aus diesem Land?«

»Nein.«

»Tarl – und wie weiter?«

»Es genügt, wenn du mich Tarl nennst.«

»So sei es«, meinte er, »aber hier im Norden müssen wir dich von anderen Tarls unterscheiden können.«

»Und wie?«

Er betrachtete mein Haar und grinste. »Wir nennen dich Tarl Rothaar.«

»Also gut«, sagte ich.

»Wo liegt deine Heimatstadt?«

»Meine Heimat dürfte in Port Kar liegen.«

»Gut«, sagte er, »aber ich glaube, das hängen wir lieber nicht an die große Glocke, denn die Port Karer sind im Norden nicht sehr beliebt.«

»Und die Torvaldsländer sind im Süden nicht gerade beliebt.«

»Die Männer aus Port Kar werden aber bei uns respektiert.«

»Und die Torvaldsländer bei uns.«

»Du verstehst dich auf das Kaissaspiel«, fuhr Forkbeard fort. »Wir wollen Freunde sein.«

Und wir reichten uns die Hände.

»Die Schlange Thorgards dreht in unsere Richtung!« rief der Ausguck beschwingt.

»Soll ich meinen Langbogen holen?« fragte ich Ivar Forkbeard. Ich wußte, daß die Reichweite dieser Waffe größer war als die der kürzeren Bögen des Nordens.

»Nein«, erwiderte Forkbeard entrüstet.

»Entfernung acht Pasang!« rief der Ausguck. »Die Schlange jagt uns!«

Der Forkbeard und ich machten vier weitere Züge. »Faszinierend«, sagte er.

»Entfernung vier Pasang!« tönte es von oben.

»Welcher Schild ist drüben am Mast!« rief Forkbeard.

»Der rote!« rief der Ausguck.

»Wir setzen noch keinen Schild«, befahl der Pirat aus dem Norden. Seine Männer sahen ihn überrascht an.

»Thorgard ist ziemlich stolz auf sein großes Langschiff«, sagte er, »eine Schlange mit dem Namen ›Schwarzer Sleen‹.«

Ich hatte schon von dem Schiff gehört.

»Es hat ein viel größeres Freibord als unser Schiff«, sagte ich zu Ivar Forkbeard. »Es ist ein Kriegsschiff, kein Piratenschiff. In einem Kampf wären wir hoffnungslos im Nachteil. Auch gilt es als das schnellste Schiff im Norden.«

»Das werden wir feststellen«, sagte Forkbeard. »Das Schiff hat vierzig Bänke«, fuhr der Mann aus dem Norden fort. »Achtzig Ruder, hundertundsechzig Ruderer. Aber es ist schwerfällig.«

»Willst du kämpfen?«

»Das wäre töricht. Ich habe Beute aus dem Tempel in Kassau an Bord, außerdem achtzehn Leibeigene und die hübsche Aelgifu, die nochmal einen Sack Goldstücke wert ist. Ich hätte also viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Wenn ich mich mit Thorgard von Scagnar einlasse, dann zu meinen Bedingungen.«

»Noch ein Pasang!« meldete der Ausguck.

Ivar Forkbeard stand auf. Er wies Gorm an, die Sklavenmädchen an die Bordwand zu führen, damit die Angreifer sehen konnten, was dieses Schiff zu bieten hatte.

»Ein halber Pasang! Kommt näher!« tönte es von oben. »Annäherung von achtern.«

»Abfallen! Haltet den Burschen unsere Beute unter die Nase. Sie sollen sehen, daß sich der Sieg über uns lohnt!«

Die Ruderer auf der Backbordseite schwenkten wertvolle Tuche und goldene Kelche und brüllten spöttisch zu dem anderen Schiff hinüber, das nur noch etwa hundert Meter entfernt war.

Ein Pfeil sirrte durch die Luft.

»Werft die Tuche über die Sklavinnen!« rief Forkbeard. Auf diese Weise wurden sie vor den Geschossen geschützt. »Und dazu die Plane!« Über die Mädchen und die kostbare Beute wurde die große Plane aus Häuten gebreitet.

Weitere Pfeile schwirrten heran. Einer traf den Mast, an dem Aelgifu noch gefesselt hockte.

Das Schiff Thorgards, der Schwarze Sleen, war nur noch etwa fünfzig Meter entfernt. Ich sah behelmte Männer an der Reling, etwa fünf Fuß über der Wasserlinie. Die Helme des Nordens sind im allgemeinen konisch geschnitten und haben einen Nasenschutz, den man hin und her schieben kann. Hinten herum zieht sich gewöhnlich ein Schutz aus Kettengewebe. Der Helm Thorgards schützte auch den Nacken und die Seiten des Kopfes. Zwei gewaltige Hörner zierten den Helm. Fast alle Männer waren mit langen, breiten Speeren bewaffnet, manche auch mit Äxten.

»Auf die Bänke!« rief Ivar Forkbeard lachend. »Und Segel setzen!«

Ich befürchtete jedoch, daß er schon zu lange gewartet hatte.

Seine Männer sprangen zu den Bänken und ergriffen ihre Ruder. Gleichzeitig fiel das gewaltige Segel herab und blähte sich knallend.

»Zieht durch!« brüllte Forkbeard, und die Schlange Ivar Forkbeards sprang förmlich auf den Horizont zu.

Verwirrung herrschte an Deck des Schwarzen Sleen. Ich sah Thorgard von Scagnar mit seinem gehörnten Helm. Er gab hastig Befehle.

Behäbig drehte sich der Bug des Schwarzen Sleen in unserem Kielwasser. Männer rannten zu ihren Bänken. Die langen Ruder wurden angehoben und senkten sich wieder.

Ein Wurfspieß und vier Pfeile trafen das Deck unseres Schiffs, aber sie richteten keinen Schaden mehr an. Die nächste Salve fiel bereits harmlos hinter uns ins Meer, und die Bogenschützen kehrten auf ihre Bänke zurück.

Eine Viertel-Ahn lang stand Forkbeard persönlich am Steuerruder seiner Schlange. Aber dann ließ er grinsend seinen Steuermann weitermachen und kehrte in die Schiffsmitte zurück.

Wieder stellten wir das Brett zwischen uns auf eine Truhe. Die Stellung der Figuren hatte sich natürlich nicht verändert; die Pflöcke hatten sie festgehalten.

»Eine sehr interessante Variation«, sagte Forkbeard und konzentrierte sich wieder auf das Spiel.

»Vielleicht breche ich diesmal den Angriff der Jarls Axt.«

»Ich glaube nicht. Aber wir werden sehen.«

Nach einer weiteren Viertel-Ahn wies Forkbeard seine Ruderer an, sich auszuruhen.

Der Schwarze Sleen, angeblich das schnellste Schiff des Nordens, mühte sich in der Ferne mit Rudern und Segeln, den Anschluß nicht zu verlieren. Aber es gelang ihm nicht. Nur unter Segel fahrend, lief Ivar Forkbeards Schiff dem Schlangenboot Thorgards davon, fast mühelos. Nach kurzer Zeit war es nur noch ein Punkt am Horizont und konnte schließlich nur noch vom Ausguck gesehen werden. Die Plane wurde zurückgezogen und eingerollt. Die Sklavinnen schnappten erleichtert frische Luft, und nach kurzer Zeit normalisierte sich das Leben an Bord.

Es wurde Abend.

»Nimm Kurs auf Einars Felsenriff«, befahl Ivar Forkbeard seinem Steuermann.

»Jawohl, Kapitän.«

Aelgifu lachte erfreut auf.

Am Felsenriff, am Runenstein von Torvaldsmark, sollte Ivar Forkbeard das Lösegeld für sie in Empfang nehmen.

Eine Ahn später erfuhr ich, daß Sänger auf Axt Zwei, gefolgt von Jarl auf Axt Vier, als Konterschlag gegen den Angriff der Jarls Axt nicht genügt.

»Hatte ich mir doch gleich gedacht«, bemerkte Ivar Forkbeard.

»Das Schiff Thorgards von Scagnar ist der Schwarze Sleen. Wie heißt dein Schiff, wenn ich fragen darf?«

»Mein Schiff«, erwiderte Ivar, »heißt Hilda.«

»Ist es nicht ungewöhnlich, daß ein Schiff des Nordens den Namen einer Frau trägt?«

»Nein.«

»Warum heißt es denn Hilda?«

»Das ist der Name der Tochter Thorgards von Scagnar«, sagte Ivar Forkbeard.

Ich musterte ihn erstaunt.

»Die Hilda ist mein Schiff«, sagte Ivar Forkbeard, »und die Tochter Thorgards von Scagnar wird meine Leibeigene sein.«


Einen Pasang vor Einars Felsenriff lagen wir beigedreht, ohne Lichter. Ivar und vier Männer waren im Beiboot fortgerudert, das normalerweise kieloben auf dem Achterdeck festgezurrt ist. Sie hatten Aelgifu mitgenommen.

Im Nachtdunkel machte ich den schwarzen Umriß des Felsenriffs aus. Vor dem Sternenhimmel war die Silhouette des nadelgleichen Runensteins zu erkennen.

»Sie kommen zurück«, sagte Gorm leise.

Ich starrte in die Nacht hinaus. Einige hundert Meter entfernt machte ich das Boot aus. Ich hörte das Plätschern der Ruder, die sich in einheitlichem Rhythmus bewegten. Die Schlagzahl war sehr langsam, so daß sie offenbar nicht verfolgt wurden.

Dann sah ich Ivar Forkbeard am Steuerruder. Das Boot scharrte leise an der Bordwand des Schlangenschiffs entlang.

»Hast du das Lösegeld?« fragte ich.

»Ja«, erwiderte er grinsend und hob einen schweren Beutel hoch.

»Es hat lange gedauert«, bemerkte ich.

»Es dauerte seine Zeit, bis wir das Gold gewogen hatten«, sagte Ivar. »Und es gab Auseinandersetzungen um die Genauigkeit unserer Waagen.«

»Oh?« fragte ich.

»Ja, die Waage Gurts aus Kassau hat nicht genau gestimmt – sie zeigte ein zu hohes Gewicht an.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Hier ist das Gold.« Ivar Forkbeard warf Gorm den Beutel zu. »Hundertundzwanzig Goldstücke.« Dann schleuderte er weitere Geldbörsen in das Schiff.

»Was ist das?«

»Die Geldbeutel der Leute, die Gurt von Kassau begleitet haben«, bemerkte er.

Ich hörte ein Stöhnen aus dem Boot und sah eine Bewegung unter einem See-Sleen-Fell. Forkbeard riß das Fell fort und zeigte uns die stolze Aelgifu, die gefesselt im Boot lag. Sie starrte entsetzt zu uns empor. Forkbeard stemmte sie über die Bordwand. »Zu den anderen Sklavinnen mit ihr!« befahl er.

Ich half dem Piratenkapitän und seinen Männern, das kleine Boot wieder an Deck zu hieven.

Plötzlich bohrte sich ein Pfeil in die Bordwand.

»Los! Ablegen!« brüllte Forkbeard. »Auf die Bänke!« Am Bug und am Heck holte man die beiden Anker auf. Die Ruderluken wurden aufgestoßen, die Ruder hinausgeschoben.

Von der Küste näherte sich ein gutes Dutzend kleiner Boote mit jeweils zehn bis fünfzehn Mann.

Zwei weitere Pfeile trafen das Schiff. Andere zuckten in der Dunkelheit an uns vorbei, und nur das Flüstern ihrer Schaftfedern war zu hören.

»Aufs Meer!« brüllte Forkbeard. »Zieht durch!«

Die Schlange wandte ihren Bug zum Meer, und die Ruder senkten sich, drangen in das Wasser ein, wurden durchgezogen. Das Schiff setzte sich in Bewegung.

Wütend stand Forkbeard an der Reling und starrte auf die Bootsarmada. Dann wandte er sich an seine Männer. »Das soll euch eine Lehre sein!« rief er. »Den Kassauern ist nicht zu trauen!«

Die Männer an den Rudern begannen zu singen.

»Und was hast du mit Gurt und seinen Begleitern gemacht?« fragte ich.

»Wir haben sie nackt liegenlassen.« Dann blickte er nach achtern, wo die kleinen Boote nun zurückblieben. »Anscheinend kann man sich auf keinen mehr verlassen.«

Dann ging er zu Aelgifu und ließ ihr den Knebel abnehmen.

»Offenbar ist diese Nacht doch nicht deine letzte in meinen Fesseln.«

»Du hast das Lösegeld genommen!« rief sie. »Du hast das Geld genommen!«

»Ich habe mehr als Lösegeld genommen.«

»Warum hast du mich dann nicht freigelassen?« fragte sie.

»Weil ich dich haben will. Ich habe zwar gesagt, daß ich das Lösegeld nehme, aber davon, daß ich dich freilasse, war nie die Rede. Dazu bist du viel zu hübsch. Und warum sollte ich die erkleckliche Mitgift verschmähen? Willkommen in der Sklavenfessel!«

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