Es war sehr still. Kein Mann sagte ein Wort.
Unter uns im Tal erstreckte sich zehn Pasang weit das Lager der Kurii.
Zu Füßen Ivar Forkbeards kniete Hilda die Hochmütige, Tochter Thorgards von Scagnar.
»Nun geh«, befahl Ivar.
Gehorsam sprang sie auf und eilte durch die Dunkelheit davon.
In meiner Nähe wartete Svein Blue Tooth. Es war kalt. Ich sah die Umrisse seines Helms, den Rand seines Schildes, den Speer.
Hinter uns warteten Gorm Ottar und Rollo und weitere Kampfgefährten von Forkbeards Heimstatt. Bis zur goreanischen Dämmerung waren es noch einige Ehn. In unserer Reihe stand auch Gjarni aus dem Thorstein-Lager und der Mann, der bei dem formellen Duell seinen Schild getragen hatte. Hinter dem Kämpfer erblickte ich den jungen Mann, den er in dem Duell hatte besiegen wollen. In Begleitung des Jünglings war der Junge, der seinen Schild tragen wollte.
Der Kriegspfeil war durch das Land getragen worden.
Er war zum Grünklippen-Fjord getragen worden, zum Thorstein-Lager, zum Axtgletscher und zu Einars Felsenriff, er war zu den hohen Höfen, zu den Seen und zur Küste gekommen, er war zu Fuß befördert worden oder mit einem schnellen Schiff. Tausend Pfeile, jeder vom Pfeil des Torvald berührt, waren über Land gebracht worden, und die Männer hatten ihn berührt und gesagt: »Ich komme.« Und sie waren gekommen. Kapitäne und Piraten, Bauern, Fischer, Jäger, Netzweber, Schmiede, Holzschnitzer und Kaufleute; Männer, die kaum mehr als ihre Lederkleidung und eine Axt besaßen, und reiche Jarls mit prunkvollen Waffen. Und in der Menge standen auch Thralls, die in Kriegszeiten mitkämpfen durften.
Ich fragte mich, wie viele Männer heute sterben würden. Und ich fragte mich, ob auch für mich heute früh in Torvaldsland, in der frühen Morgendämmerung, das Ende heranrückte. Ich umfaßte meine Axt, ein beruhigendes Gewicht. Die Waffe war gut ausbalanciert.
Auf der anderen Seite des Tals warteten weitere Männer. Das Signal sollte durch einen Schild gegeben werden, der die Morgensonne einfing und einen Blitz über das Tal schickte – dann der Angriff. Lautes Kriegsgeschrei würde ertönen. Unter uns befanden sich auch Männer aus Hunjer, Skjern, Helmutsport und Scagnar, über dessen Klippen Thorgard herrschte.
Soweit ich wußte, hatten noch niemals Menschen einen Angriff auf Kurii gewagt.
Svein Blue Tooth betastete den Zahn des Hunjerwals. Er war ein guter Jarl. Er war nach Ivar Forkbeard und Tarl Cabot, einem Krieger aus Ko-ro-ba, der dritte gewesen, der den Pfeil Torvalds gehoben hatte.
Einige Reihen hinter ihm stand ein großer Mann, der so groß war wie Rollo oder noch größer. Ich kannte ihn nicht näher. Er hatte einen struppigen Bart und trug einen Speer. Er hatte gesagt, er heiße Hrolf und käme aus dem Osten. Niemand hatte ihm weitere Fragen gestellt.
Im Tal unter uns sahen wir die Asche von tausend Lagerfeuern glimmen. Die Kurii schliefen dort unten, zu mehreren in einem Lager zusammengerollt. Die Feldlager der Kurii bestehen aus Häuten und Fellen, die über gebogene Äste geworfen sind. Diese Gebilde sind nur etwa vier bis fünf Fuß hoch und entsprechend breit, doch fünfzig oder sechzig, manchmal sogar hundert Fuß lang. Diese Schutzbauten winden sich hierhin und dorthin, da und dort stoßen sie aneinander und haben gemeinsame Zugänge. Sie ähneln Höhlen, die auf dem flachen Land errichtet worden sind. Die Kurii bewegen sich darin auf allen vieren. Sie schlafen nicht gern im Freien. Wenn sie keine andere Möglichkeit haben, graben sie sich sogar in den Boden ein und bedecken sich mit Gras und Zweigen. Ein Kur schläft immer mit dem Kopf zum Eingang.
Die Kurii-Herden waren ruhig; der Wind stand gegen uns. Ich sah die weiße Verrherde, Hunderte von Tieren, die im nordwestlichen Eck des Lagers eingepfercht waren; in der Nordostecke befanden sich die Tarskgehege, die man bis hierher roch. Die Bosks befanden sich im Süden des Lagers. Sie bildeten einen wichtigen Teil unserer Strategie. Sie sollten verhindern, daß die Kurii nach Süden entkamen. Die Herde bestand aus mehreren tausend Tieren. Die Nordseite des Lagers sollte ungeschützt bleiben – ein scheinbarer Ausweg, der die Kurii – sollte sich das Kriegsglück gegen sie wenden – hoffentlich zur Flucht in diese Richtung veranlaßte.
Etwa in der Mitte des Lagers, südöstlich gelegen, befand sich eine Herde von Kurii-Beutestücken; auch diese Wesen befanden sich in einem Gehege, das mehr als einen Viertel-Pasang breit war und aus zusammengebundenen Holzstangen bestand. Dieses Gehege wurde von gezähmten Sleen bewacht.
Nordwestlich von der Mitte des Lagers sah ich die Zelte Thorgards von Scagnar und seiner Männer.
Die Kurii hatten es mit ihrem Marsch in den Süden nicht eilig gehabt. Vor mehreren Tagen war es ihnen nicht gelungen, die Torvaldsländer dazu zu bringen, ihnen Vorräte für ihren Marsch zur Verfügung zu stellen. Nach ihrem überwältigenden Sieg am Abend von Svein Blue Tooths Fest, bei dem die Halle niedergebrannt und das Thinglager vernichtet worden war, hatten sie ein eigenes Lager errichtet und sich methodisch daran gemacht, Proviant zusammenzutragen. Hunderte von Trupps hatten die Berge und Täler durchkämmt, hatten Höfe niedergebrannt und Vorräte geplündert, Werkzeuge und Waffen erbeutet, Menschen und Tiere zusammengetrieben und ins Lager geschafft. Zur gleichen Zeit hatte Svein Blue Tooth hundert Pasang weiter südlich seine Kampfgefährten um sich versammelt.
In diesen Tagen hatte ich mich viel mit den Kurii beschäftigt. Die Trupps der Kurii, die normalerweise aus sechs Wesen bestanden, wurden zumeist von ausgebildeten Sleen begleitet. Bei meinen Kundschaftergängen mußte ich mich zweimal dieser Tiere erwehren. Sie werden verschieden eingesetzt; einige dienen nur als Wachtiere, andere fungieren gewissermaßen als Kundschafter beim Vorrücken von Kampfverbänden, und wieder andere sind noch besser ausgebildet und werden eingesetzt, um Menschen zu jagen, insbesondere Sklavinnen, die sie ohne viel Umstände über Land in das Lager der Kurii treiben.
Ich blickte zum Torvaldsberg hinüber. Der Gipfelschnee schimmerte in der Sonne.
Im Tal unter uns befand sich das Lager der Kurii noch im Dunkeln. Wir hörten das leise Heulen eines Sleen. Ich fragte mich, ob Kurii träumen konnten. Es war anzunehmen.
»Bald ist es soweit«, sagte Ivar Forkbeard zu mir.
Ich nickte.
Von unten hörten wir plötzlich den Jagdschrei eines Sleen, gefolgt von den Stimmen zweier anderer Tiere.
Ich beneidete Hilda nicht. Die Kurii würden sich nicht weiter um die Sleen kümmern, die ihrer Aufgabe nachkamen, ein geflohenes Tier einzufangen und zur Herde zurückzubringen. Die Dämmerung strich über das Tal. Aus dem Lärm der Sleen schlossen wir, wo sich Hilda befand.
»Dort«, sagte Ivar und hob die Hand.
Die Sleen stellten das Mädchen nördlich von der Boskherde. Wir sahen ihren bleichen Körper und die dunklen, geschmeidigen Silhouetten, die sich ihr näherten. Dann war sie umringt und blieb stehen. Die Sleen wichen zur Seite und deuteten ihr damit an, in welche Richtung sie gehen sollte. Zwei Sleen trieben das Mädchen sodann vor sich her.
Im nordwestlichen Teil des Lagers befand sich die Verrherde, im Nordosten lagen die Tarskgehege, im Süden wurden die Bosk festgehalten, und etwas südöstlich von der Lagermitte wurde eine ganz anders geartete Herde bewacht – und zu diesem Gehege wurde die Tochter Thorgards von Scagnar getrieben. Alles ging nach Plan. Nachdem die Sleen ihre Beute abgeliefert hatten, nahmen sie ihre Patrouille wieder auf. Ein Tier war zur Herde geführt worden, und sie interessierten sich nicht mehr dafür, solange es nicht zu fliehen versuchte. Wir sahen Hilda zu den anderen eilen, die dort auf dem zertrampelten Rasen hockten.
»Ich wünschte«, seufzte Ivar Forkbeard, »ich hätte auch so eine Herde.«
Die Herde bestand aus schlanken zweibeinigen Tieren.
»Einige der Mädchen gehören dir«, erinnerte ich ihn.
»Die werde ich mir auch zurückholen.«
In dieser Herde befanden sich vermutlich mehrere unserer Frauen: Thyri, Aelgifu, Gunnhild, Schmollmund, Honigkuchen, Leah – und jetzt Hilda, die inzwischen Forkbeards Lieblingssklavin geworden war.
Jetzt teilte Hilda den verängstigten Mädchen unsere Anweisungen mit. Nun mußte sich erweisen, ob sie Sleen und Kurii mehr fürchteten als ihre Herren. Wenn sie nicht gehorchten, war ihr Leben verwirkt. Sie erhielten einen Befehl, und als Sklaven mußten sie gehorchen.
Die Sonne beleuchtete nun den Gipfel des Torvaldsbergs.
»Bindet die Tücher um«, sagte Svein Blue Tooth. Die Anordnung wurde von Mann zu Mann weitergegeben. Auf der anderen Seite des Tals mußten ähnliche Vorbereitungen im Gange sein. Jeder von uns band sich ein gelbes Tuch an die Schulter – das Zeichen, an dem die Kurii ihre Verbündeten, die Männer Thorgards von Scagnar, erkannten. Auch wir wollten dieses Zeichen tragen – zur Rache an jenen, die ihre Artgenossen verraten hatten.
»Haltet die Waffen bereit«, sagte Svein Blue Tooth. Die Männer kamen in Bewegung.
Es kam mir seltsam vor, daß sich Menschen, einfache Menschen, zum Kampf gegen die Kurii rüsteten. Aber in diesem Augenblick hatte ich noch keine Ahnung von dem großen Zorn, der in ihnen loderte.
Svein Blue Tooth hatte den Kopf gesenkt.
Ich spürte die seltsame Erregung als erstes bei dem riesigen Rollo. Es war kein menschlicher Laut; es war ein Schnauben, ein Knurren, das aus seiner Kehle drang, wie der Laut eines Larl, der aus dem Schlaf geweckt wird. Meine Nackenhaare sträubten sich. Der riesige Kopf wurde langsam gehoben. Rollo öffnete die Augen, und ihr Blick war nicht mehr leer, sondern in ihrer Tiefe schien ein schreckliches Feuer zu leuchten. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich, seine Schultern waren hochgezogen. Halb geduckt stand er da, während das Etwas, die Wut, der Wahnsinn, in ihm zu toben begann.
»Es beginnt«, sagte Ivar Forkbeard zu mir.
»Was meinst du?« fragte ich.
Ich sah, wie Svein Blue Tooth, der Jarl Torvaldslands, den Kopf hob, doch er schien nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sein Gesicht kam mir plötzlich verändert, ja völlig fremd vor. Ruckartig fuhr seine Hand über die Speerklinge. Entsetzt bemerkte ich, daß er sich tief in die Hand geschnitten hatte und sein eigenes Blut ableckte.
Ein Mann kämpfte gegen das Gefühl, das ihn zu sprengen drohte. Dabei riß er sich das Haar büschelweise aus. Ein anderer ließ den Kopf hin und her rollen; sein Körper bebte. Er murmelte unverständliche Worte. Ein dritter Kämpfer warf seinen Schild zur Seite und riß sich das Hemd auf. Andere stöhnten und begannen zu knurren wie erregte Tiere, die sich kaum noch beherrschen konnten. Jene, die von dieser Erscheinung noch nicht berührt waren, verharrten entsetzt zwischen ihren Kampfgefährten. Sie befanden sich in einer Horde von Ungeheuern; doch die Erregung griff um sich.
»Das ist die Wut Odins«, sagte Forkbeard. »Die Wut Odins.«
Einer nach dem anderen wurden die Männer davon angesteckt. Das Phänomen schien beinahe etwas Greifbares zu sein, etwas, das von einem Krieger zum nächsten übersprang. Man hatte fast das Gefühl, diese Wut zu sehen – doch in Wirklichkeit waren nur die Auswirkungen zu bemerken, wie eine gespenstische Seuche, wie ein unsichtbares, verzehrendes Feuer, wie die Berührung durch die Götter, durch die harten, grausamen Götter Torvaldslands. Und die Macht dieser Götter war schrecklich.
Ivar Forkbeard warf plötzlich den Kopf in den Nacken und schrie lautlos zum Himmel empor. Das Etwas hatte ihn berührt.
Ringsum atmeten die Männer schwer, knirschten mit den Zähnen, kämpften mit dem Drang in ihrem Innern.
Ich mußte den Blick von Ivar Forkbeard abwenden. Er war nicht mehr der Mann, den ich kannte. Seinen Platz hatte ein Ungeheuer eingenommen.
Ich blickte ins Tal hinab. Dort unten schliefen die Kurii. Noch zu gut erinnerte ich mich an die Mordgier dieser Bestien, an das grauenhafte Massaker, das sie in der Halle Svein Blue Tooths angerichtet hatten.
Plötzlich spürte ich in mir ein seltsames Gefühl. »Wahnsinn!« sagte ich mir. In dem Lager unter uns schliefen die Kurii, die gemordet hatten, die ein nächtliches Massaker angerichtet hatten. Unter uns schliefen ahnungslos unsere Feinde.
Ich bekämpfte die Gefühle, die mich durchströmten – doch ebensogut hätte ich mich gegen die Gewalt eines Vulkans stellen können.
Ich öffnete die Augen.
Das Tal unter uns schien gerötet vor Wut, der Himmel war rot, ebenso die Gesichter der Männer in meiner Nähe. Eine Woge der Aggression staute sich in mir. Ich wollte zuschlagen, hacken, zerren, vernichten. Die Erscheinung hatte mich berührt und mich in eine unheimliche rote Welt des Zorns gestürzt.
Svein Blue Tooth hatte Schaum vor dem Mund. Seine Augen blitzten wie die eines Wahnsinnigen.
Ich hob meine Axt.
Die vielen tausend Torvaldsländer zu beiden Seiten des Tals machten sich bereit. Ich spürte ihren Erregungszustand, ihren unerträglichen Drang, ihre unbezähmbare Spannung.
Der Signalspeer in der Hand des bebenden Blue Tooth wurde angehoben. Die zahllosen Krieger hielten eine Sekunde lang den Atem an. Dann blitzte die Sonne auf dem Schild. Der Signalspeer deutete auf das Tal.
Mit einem wilden Schrei stürmte die Streitmacht hangabwärts. Die Torvaldsländer griffen an!