Ich saß allein in der großen Halle auf dem Kapitänsstuhl. Es war dunkel.
Die etwa fünf Fuß dicken Mauern aus gewaltigen Steinblöcken ragten ringsum auf. Jenseits des langen Tisches, an dem ich saß, waren die riesigen Fliesen des Bodens zu sehen. Der Tisch war leer. Keine Spur mehr von den festlichen gelben und roten Tüchern, die im fernen Tor gewoben worden waren; keine Spur mehr von den schweren Platten, deren Silber aus Tharna stammte, und von den hübsch geformten Kelchen aus herrlichem Turia-Gold. Es war lange her, daß ich den kräftigen Paga der Sa-Tarna-Felder nördlich des Vosk gekostet hatte. In diesen Tagen kamen mir sogar die Weine aus den herrlichen Lagen Ars bitter vor.
Ich hob den Blick und betrachtete die schmalen Öffnungen in der Mauer zu meiner Rechten. Draußen, am tarnschwarzen Himmel, sah ich einige Sterne. Die Halle war groß und leer und still. Ich war allein. Selten ließ ich in diesen Tagen meinen Stuhl ins Freie tragen; die meiste Zeit brachte ich an diesem Ort zu.
Schritte näherten sich. Es war Luma, die Erste Schreiberin meines Hauses. Sie war eine hagere, nicht besonders attraktive junge Frau, doch ihre Augen waren tiefblau, und sie war eine ausgezeichnete Verwalterin, eine ehemalige Pagasklavin.
»Kapitän«, sagte Luma und blieb seitlich von meinem Stuhl stehen.
Ich hatte das Mädchen in ehrlichem Kampf gewonnen, in einem Schwertkampf gegen Kapitän Surbus. Zu meiner Verblüffung waren nach den Gesetzen Port Kars durch meinen Sieg auch die Schiffe, Besitztümer und Titel Surbus' an mich gefallen. Seine Männer standen plötzlich alle in meinen Diensten, seine Halle wurde mein Heim, seine Reichtümer die meinen. So war ich Kapitän in Port Kar geworden, dem Juwel am schimmernden Thassa.
»Ich möchte dir die Bücher zur Inspektion vorlegen«, sagte Luma.
Luma trug ihren Sklavenkragen längst nicht mehr. Ich hatte sie befreit, denn sie hatte meinen Reichtum vermehrt. Sie freute sich über das Vertrauen, das ich in sie setzte, ganz zu schweigen von den Freiheiten, die ich ihr einräumte.
»Ich möchte die Bücher nicht sehen«, sagte ich.
»Die Geschäfte gehen ausgezeichnet«, meldete Luma. »Du wirst ständig reicher.«
»Geh«, sagte ich, »Schreiberin Luma, geh.«
Und wieder saß ich allein in der Dunkelheit. Ich wollte nicht gestört werden. Ich sah mich in der großen Halle um. Ich war reich, Luma hatte recht. Ich lächelte bitter. Zugleich gab es auf dieser Welt nur wenige Männer, die so hilflos und so verarmt waren wie ich. Es traf zu, daß das Vermögen des Hauses Bosk erheblich zugenommen hatte – im ganzen bekannten Gor gab es wohl keinen zweiten Händler, der so reich und mächtig war wie ich. Zweifellos wurde ich von vielen beneidet, die mich nicht kannten, mich, Bosk, den Einsiedler, der als Krüppel aus den Wäldern des Nordens zurückgekehrt war.
Ich war reich. Und doch war ich arm, denn ich vermochte meine linke Körperseite nicht mehr zu bewegen.
Die Wunden hatte ich mir zugezogen, als ich hoch im Norden, an der Küste des Thassa, den Beschluß faßte, mir meine Ehre zurückzuholen – in einem Kampf gegen Feinde, die unter dem Kommando Sarus' aus Tyros standen.
Ich hatte einmal Tarl Cabot geheißen. Mein früheres Ich hatte unter diesem Namen bei der großen Belagerung von Ar gekämpft. Aber Tarl Cabot gab es nicht mehr. Noch waren die Lieder über die große Belagerung Ars in aller Munde. Tarl war später in das Sardargebirge eingedrungen und gehörte zu den wenigen Menschen, die die Wahrheit über die Priesterkönige kannten – jene ungewöhnlichen Wesen, die die Welt Gor beherrschten. Er hatte im Nestkrieg eine wichtige Rolle gespielt und genoß die Freundschaft des Priesterkönigs Misk. Und er war in das Land der Wagenvölker gezogen, auf die Ebene von Turia, um das letzte Ei der Priesterkönige zu retten, das er wohlbehalten ins Sardargebirge zurückbrachte. Tarl Cabot war ein junger, mutiger Mann gewesen, jeder Zoll ein Krieger. Er hatte den Priesterkönigen gut gedient. Und dann hatte er sich in das Delta des Vosk gewagt. Er wollte sich mit Samos aus Port Kar in Verbindung setzen, einen Agenten der Priesterkönige, um diesen Wesen weiter zu dienen. Doch im Voskdelta hatte er seine Ehre verloren. Er hatte seinen eigenen Kodex verraten. Nur um sein elendes Leben zu retten, hatte er die Sklaverei über die Freiheit eines ehrenvollen Todes gestellt. Er hatte das Schwert und die Ehre beschmutzt, die er Ko-ro-bas Heimstein verpfändet hatte. Durch diese Tat hatte er sich von seiner Vergangenheit losgeschnitten – und an seiner Stelle kniete ein Sklave mit dem unwürdigen Namen Bosk – mit dem Namen eines großen zottigen, büffelähnlichen Lebewesens der goreanischen Ebenen.
Dieser Bosk hatte später seine Geliebte, die schöne Telima, gezwungen, ihm die Freiheit zu gewähren und war nach Port Kar gezogen, Telima als Sklavin mitnehmend; und nach vielen Abenteuern war er hier zu Reichtum und Ruhm gekommen und führte zeitweise sogar den Titel eines Admirals von Port Kar. Er war es gewesen, der in einer großen Seeschlacht die Flotten aus Cos und Tyros besiegt hatte. Er hatte sich in Telima verliebt und ihr die Freiheit wiedergegeben, doch als sie erfuhr, daß er den Aufenthaltsort seiner ehemaligen Freien Gefährtin Talena wußte und sie retten wollte, war Telima aus seinem Haus geflohen und wutentbrannt in die Rencesümpfe des gewaltigen Voskdeltas zurückgekehrt, die ihre Heimat waren.
Ein echter Goreaner wäre ihr gefolgt und hätte sie in Sklavenketten zurückgebracht. Doch in seiner Schwäche hatte er nur getrauert und hatte sie ziehen lassen. Sicher verachtete sie ihn nun.
Bosk von Port Kar war in die nördlichen Wälder gezogen, um Talena zu befreien, seine ehemalige Freie Gefährtin. Dabei war er auf Marlenus von Ar gestoßen, den Ubar von Ar, Ubar aller Ubars. Obwohl er nur ein Kaufmann war, hatte er Marlenus aus Ar vor der Schande der Sklaverei bewahrt. Daß ein Mann von seinem niedrigen Stande dem hohen Herrscher geholfen hatte, kam fast einer Beleidigung gleich. Aber Marlenus war befreit worden. Zuvor hatte er sich von seiner Tochter Talena losgesagt, die um ihre Freiheit gefleht hatte, wie es nur eine Sklavin tut. Durch diese Tat war seine Ehre gerettet worden. Die Ehre Tarl Cabots ließ sich jedoch nicht zurückgewinnen.
Aber dann war ich allein in das Palisadenlager der Männer aus Tyros eingedrungen, darauf gefaßt, den Tod zu finden. Nicht daß ich ein Freund Marlenus' oder etwa sein Verbündeter gewesen wäre. Nein, ich hatte mir als Krieger – als ehemaliger Angehöriger dieser Kaste – die Aufgabe gestellt, ihn zu befreien.
Und dieses Ziel erreichte ich – ich gewann meine Ehre zurück.
Aber diese Tat hatte mir Wunden eingebracht und einen schmerzerfüllten Körper, dessen linke Seite ich nicht bewegen konnte. Mein Körper fesselte mich so stark an diesen Stuhl, wie es Ketten nicht vermocht hätten. Der Stuhl mochte der kostbare Thron eines Kapitäns sein, doch trug er nur klägliche Überreste eines Mannes.
Ich saß in der Dunkelheit und machte mir so meine Gedanken über Ehre und Mut. Welche Bedeutung hatte diese Vorstellung im Leben der Menschen? Was unterschied uns von Urts und Sleen? Die Fähigkeit zu multiplizieren und zu subtrahieren, zu lügen oder Messer herzustellen? Nein, es ist in erster Linie das Ehrempfinden und der Wille, sich durchzusetzen.
Ich versuchte die linke Faust zu ballen. Aber die Hand bewegte sich nicht.
Im Ehrenkodex der Krieger heißt es: ›Sei stark und tue, was dir gefällt. Das Schwert der anderen zeigt dir deine Grenzen.‹
Ich war einer der besten Schwertkämpfer auf Gor gewesen. Doch jetzt war die linke Seite meines Körpers taub.
Allerdings herrschte ich immer noch über Stahlklingen, über die Waffen meiner Männer, die mir aus unverständlichen Gründen treu blieben, mir, einem Krüppel, der sich nicht aus seinem Kapitänsstuhl erheben konnte. Ich war den Männern dankbar, ein Gefühl, das ich ihnen nicht zeigen durfte, denn ich war Kapitän.
Sie durften nicht erniedrigt werden.
›Im Wirkungskreis seines Schwertes‹, so steht es im Kodex der Krieger, ›ist jeder Mann ein Ubar.‹
›Stahl ist die Münze des Kriegers‹, heißt es dort weiter. ›Damit erwirbt er, was ihm gefällt.‹
Als ich aus den Wäldern des Nordens zurückgekehrt war, hatte ich mir Talena, die frühere Tochter des Marlenus, vorführen lassen. Samos hatte sie von zwei Panthermädchen erworben, nachdem ich mein Leben für sie riskiert hatte.
Und so standen wir uns gegenüber.
Wieder sah ich die herrlichen grünen Augen, die vollkommen geschwungenen Lippen, die makellose olivenfarbene Haut.
»Es ist lange her«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte sie.
»Viele Jahre sind vergangen«, sagte ich und lächelte. »Ich sah dich zum letztenmal an dem Abend, da wir unsere Gefährtenschaft begannen.«
»Als ich erwachte, warst du fort.«
»Ich habe dich nicht freiwillig verlassen.«
Samos forderte mich mit einem Seitenblick auf, nicht von den Priesterkönigen zu sprechen. Sie hatten mich damals zur Erde zurückgebracht.
»Ich glaube dir nicht«, sagte sie.
»Hüte deine Zunge, Mädchen!« sagte Samos, dem die Sklavin gehörte.
»Ich bin die Tochter von Marlenus aus Ar!« sagte sie stolz.
»Im Wald hast du um deine Freiheit gejammert und darum gebeten, daß dein Vater dich kauft.«
»Ja«, sagte sie.
»Weißt du, daß Marlenus auf sein Schwert und das Medaillon von Ar geschworen und dich als seine Tochter verstoßen hat?«
»Das glaube ich nicht!«
»Du bist nicht mehr seine Tochter. Du bist ohne Kaste, ohne Heimstein und ohne Familie.«
»Du lügst!« rief sie.
»Knie nieder!« grollte Samos und hob seine Peitsche.
»Laß die Strafe«, schaltete ich mich ein.
Samos sah mich mürrisch an.
»Was kostet sie?« fragte ich ihn.
»Ich habe zehn Goldstücke für sie bezahlt.«
Sie schien verblüfft zu sein, daß sie eine so geringe Summe erbracht hatte. Doch für die Jahreszeit und den Ort des Verkaufs war der Preis beachtlich.
»Ich gebe dir fünfzehn«, sagte ich.
»Einverstanden.«
Mit der rechten Hand griff ich in den Beutel an meinem Gürtel, zog die Münzen heraus und reichte sie Samos.
»Binde sie los.«
Samos gehorchte.
»Tausend Goldstücke wären nicht zuviel für mich!« sagte sie. »Als Tochter Marlenus' hätte ein Freier tausend Tarns und fünfhundert Tharlarion aufbieten müssen.«
»Du bist nicht mehr die Tochter des Marlenus aus Ar«, sagte ich.
»Und du bist nicht mehr Tarl Cabot – du Sklave!«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich.
»Ich hatte mir die Freiheit herausgenommen«, gestand Samos, »ihr von den Ereignissen im Voskdelta zu erzählen – obwohl ich damals das Ausmaß deiner Verletzungen noch nicht kannte.«
Ich ballte wütend die rechte Faust.
»Es tut mir leid«, sagte Samos.
»Die Geschichte ist kein Geheimnis. Viele wissen davon.«
»Ein Wunder, daß dir überhaupt noch Männer gehorchen!« rief Talena spöttisch. »Du hast deine Ehre verraten! Du bist ein Feigling und ein Tor! Du bist meiner nicht würdig!«
»Warum hast du ihr von den Ereignissen im Voskdelta erzählt?« wandte ich mich an Samos.
»Damit die Liebe, die es vielleicht zwischen euch gegeben hat, endgültig zerstört wird.«
»Du bist grausam.«
»Die Wahrheit ist grausam.«
»Ich möchte zu meinem Vater zurück!« sagte Talena.
Ich zog fünf Goldstücke aus der Tasche. »Mit diesem Gold soll sie von Tarnwächtern sicher nach Ar geleitet werden«, sagte ich zu Samos.
Talena befestigte einen Schleier vor ihrem Gesicht. »Ich lasse dir das Geld zurückschicken«, sagte sie hochmütig.
»Nein, nimm es als Geschenk, als Zeichen für meine frühere Zuneigung.«
»Sie ist ein bösartiger Sleen«, sagte Samos.
»Mein Vater würde diese Beleidigung mit den Tarnkavallerien Ars rächen.«
»Du bist verstoßen!« erinnerte sie Samos und verließ den Saal. Ich hielt die fünf Goldstücke in der Hand.
»Gib mir das Geld«, sagte Talena und entriß mir förmlich die Münzen. »Schau dich an, du Schwächling!« rief sie. »Du kannst ja keinen Finger mehr rühren! Leb wohl!« Und sie verließ den Raum.
Und jetzt saß ich allein in der Dunkelheit meines großen Saals. Talena war längst in Ar. Wie erstaunt und niedergeschlagen mußte sie gewesen sein, als sie erfuhr, daß ihr Vater sie wirklich verstoßen hatte! Sie hatte darum gefleht, als Sklavin gekauft zu werden, und um seine Ehre zu schützen, mußte sich Marlenus von ihr lossagen. Sie gehörte keiner Kaste mehr an; das einfachste Bauernmädchen hatte mehr Rechte als Talena. Marlenus hielt sie bestimmt in seinem Zentralzylinder von Ar gefangen, damit ihre Schande seinen Ruhm nicht befleckte. Ihr Wunsch hatte sich erfüllt: Sie war wieder in Ar – doch als Gefangene.
Ich hatte sie gehen lassen.
Und als Telima aus meinem Haus geflohen war, nachdem ich meinen Beschluß verkündet hatte, in den Wäldern des Nordens nach Talena zu suchen, hatte ich sie ebenfalls ziehen lassen. Ein echter Goreaner wäre ihr gefolgt und hätte sie gewaltsam zurückgeholt. Ich dachte über dieses Verhalten nach; auch über meine Krankheit. Ich hatte die besten Wundärzte Gors zu mir rufen lassen. Aber sie wußten mir nicht viel zu sagen. Allerdings hatte ich erfahren, daß Schäden am Gehirn und an der Wirbelsäule nicht vorlägen. Die Mediziner waren ratlos. Die Wunden waren tief und schwer und würden mir von Zeit zu Zeit Schmerzen verursachen, doch meine Lähmung war ihnen angesichts der Art meiner Verletzungen rätselhaft.
Eines Tages kam ein weiterer Arzt an meine Tür – ein Arzt, den ich nicht gerufen hatte.
»Laßt ihn eintreten«, hatte ich gesagt.
»Er ist ein Flüchtling aus Turia, ein Verbannter«, hatte Thurnock gesagt.
»Laßt ihn vor.«
»Es ist Iskander.«
Der Name Iskander von Turia war mir bekannt. Obwohl der Mann die Mauern seiner Heimatstadt seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, führte er ihren Namen noch immer in seinem Titel. Man hatte ihn verbannt, nachdem er vor den Mauern Turias einen jungen Tuchukkrieger namens Kamchak verarztet hatte. Wie so viele andere war er nach Port Kar gekommen und hatte dort eine neue Karriere begonnen. Jahrelang war er Privatarzt Sullius Maximus' gewesen, einer der fünf Ubars von Port Kar in der Zeit vor der Machtübernahme durch den Kapitänsrat. Als Sullius Maximus aus der Stadt fliehen mußte, war Iskander zurückgeblieben.
Iskander aus Turia stellte genau dasselbe fest wie die anderen Ärzte. Als er aber seine Instrumente wieder in dem Beutel verstaut hatte, den er über der Schulter trug, fügte er hinzu: »Die Wunden sind dir durch Tyrosklingen zugefügt worden.«
»Ja.«
»Es befindet sich ein kaum feststellbares Giftmittel in den Wunden.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe es noch nicht konkret festgestellt – aber es dürfte keine andere Erklärung geben.«
»Ein Giftmittel?« fragte ich.
»Vergifteter Stahl.«
Ich schwieg.
»Sullius Maximus«, fuhr er fort, »ist in Tyros.«
»Ich hätte nie für möglich gehalten, daß Sarus aus Tyros vergiftete Klingen benutzen würde.« Ein solches Verhalten verstieß nicht nur gegen den Ehrenkodex des Kriegers, sondern galt grundsätzlich als unwürdig für einen Mann. Gift war die Waffe der Frau.
Iskander zuckte die Achseln. »Sullius Maximus hat ein solches Mittel gefunden. Er probierte es mit Nadelstichen an den Gliedern eines gefangenen Gegners aus und lähmte ihn vom Hals abwärts. Er ließ ihn über eine Woche lang zu seiner Rechten sitzen, als prunkvoll gekleideten Gast. Als er des Vergnügens überdrüssig wurde, ließ er ihn enthaupten.«
»Gibt es ein Gegenmittel?«
»Nein.«
Ich lachte bitter auf, als ich an dieses Gespräch zurückdachte.
In diesem Augenblick gab es Unruhe am Eingang zur Halle. »Kapitän!« rief eine Stimme. Es war mein alter Freund Thurnock. Hinter ihm wurden eilige Schritte laut. Offenbar liefen Mitglieder des Haushalts zusammen.
»Ich muß sofort vorgelassen werden!« verlangte eine fremde Stimme. Ich fuhr hoch. Es war die Stimme Samos', des Ersten Sklavenhändlers von Port Kar.
Mit Fackeln in der Hand traten sie ein, Bedienstete steckten die flackernden Stangen in die Ringe an den Wänden. Angehörige meines Hauses traten vor. Samos erschien auf der anderen Seite des Tisches, begleitet von Thurnock. Auch Luma war anwesend.
»Was ist los?« fragte ich.
Daraufhin trat ein weiterer Mann vor. Es war Ho-Hak, ein Rencebauer aus den Sümpfen. Sein Gesicht war bleich. Wortlos hielt er mir ein goldenes Armband hin. Das Schmuckstück war blutverschmiert.
Ich kannte dieses Armband. Es hatte Telima gehört, die in die Sümpfe geflohen war, als ich mich auf die Suche nach Talena machte.
»Telima«, sagte Ho-Hak.
»Wann ist es geschehen?« fragte ich.
»Vor kaum vier Ahn«, erwiderte der Mann und wandte sich an einen anderen Rencer in seiner Begleitung. »Sprich!« befahl er.
»Ich habe nicht viel gesehen«, berichtete der Mann. »Ein Tarn und ein Ungeheuer. Ich hörte den Schrei einer Frau. Ich stakte mein Renceboot darauf zu und hielt meinen Bogen schußbereit. Dann ein neuer Schrei. Der Tarn flatterte tief über den Rencepflanzen dahin, das Ungeheuer auf dem Rücken, geduckt, zottig. Ich fand ihr Rencefloß, die Bootsstange schwamm in der Nähe. Es war viel Blut daran. Und dort fand ich auch das Armband.«
»Und die Leiche?«
»Es waren Tharlarion in der Nähe.«
Ich überlegte, ob das Ungeheuer möglicherweise aus Hunger angegriffen hatte. Im Haus des Cernus hatte es ein ähnliches Tier gegeben, das Menschenfleisch verzehrte. Vielleicht war es ganz gut, daß die Leiche nicht gefunden worden war. Sie wäre sicher in einem schrecklichen Zustand gewesen. Da war es schon besser, daß die Überreste den Tharlarion zum Opfer gefallen waren.
»Warum hast du das Biest nicht getötet oder den Tarn angegriffen?« fragte ich.
»Ich hatte keine Gelegenheit dazu«, erwiderte der Rencebauer.
»In welche Richtung ist der Tarn geflogen?«
»Nach Nordwesten.«
»Das kann nur einer der Kurii gewesen sein«, schaltete sich Samos ein.
»Kurii?« fragte ich.
»Das Wort ist eine goreanische Verballhornung ihres eigenen Namens für ihre Rasse«, erklärte Samos.
»In Torvaldsland bedeutet das Wort ›Ungeheuer‹«, sagte Tab, ein Kapitän meiner Flotte.
»Interessant«, sagte ich. Wenn dieses Wort in Torvaldsland bekannt war, mochten die Ungeheuer dort ebenfalls bekannt sein.
Der Tarn war nach Nordwesten geflogen. Vermutlich folgte er der Küstenlinie, vielleicht drang er bis zu den öden Ländereien des abweisenden Torvaldsland vor.
»Nimmst du an, daß das Ungeheuer angegriffen hat, weil es hungrig war?«
»Das Ungeheuer«, sagte der Rencebauer, »ist vorher schon zweimal auf verlassenen, halb verfaulten Renceinseln gesehen worden. Es schien auf etwas zu warten.«
»Hat es Nahrung zu sich genommen?«
»Soweit wir feststellen konnten, nicht.«
»Hatte es Gelegenheit dazu?«
»Vielleicht sogar noch mehr als in dem Augenblick, als es wirklich angriff.«
»Das Ungeheuer hat nur einmal angegriffen?«
»Ja«, sagte der Mann.
»Was meinst du, Samos?«
»Der Angriff scheint gezielt gewesen zu sein. Welches andere Mädchen in den Sümpfen trägt ein goldenes Armband?«
»Aber warum?« fragte ich. »Warum?«
Er sah mich an. »Die Probleme der Welt scheinen dich ja doch noch zu interessieren.«
»Er ist verletzt!« rief Luma. »Du redest seltsam. Er kann nichts unternehmen. Geht!«
Ich senkte den Kopf und spürte plötzlich, wie sich meine Faust auf dem Tisch ballte. Heiße Freude durchströmte mich. Ich hätte schreien können vor Überraschung und Erleichterung: Ich konnte meine Faust ballen. Das Gift war überwunden!
»Bringt mir einen Kelch!«
Man gehorchte. Der Kelch bestand aus schwerem Gold. Ich nahm ihn in die linke Hand und drückte ihn langsam zusammen. Dann schleuderte ich ihn von mir.
Die Angehörigen meines Hauses wichen überrascht und erschrocken zurück.
»Ich ziehe los«, sagte Samos. »Es gibt Arbeit im Norden. Ich werde die Rache vollstrecken.«
»Nein«, sagte ich. »Ich reise selbst.«
Erstaunt sahen sich die anderen an.
»Telima war einmal meine Frau«, sagte ich. »Es liegt an mir, die Rache zu vollziehen.«
»Du bist ein Krüppel! Du kannst dich nicht bewegen!« rief Luma.
»Über meiner Couch hängen zwei Schwerter«, sagte ich zu Thurnock. »Das eine ist schlicht und hat einen abgewetzten Griff; das andere ist prunkvoll und besitzt einen juwelenbesetzten Griff. Bring mir die zweite Waffe, die Klinge aus Port Kar.«
Thurnock hastete aus dem Zimmer.
»Paga!« brüllte ich. »Und bringt mir heißes Boskfleisch!«
Ich nahm den Kelch entgegen, der mit beißendem Paga gefüllt war. Seit meiner Rückkehr aus den Wäldern des Nordens hatte ich keinen Paga mehr getrunken.
»Ta-Sardar-Gor«, sagte ich und verspritzte einen Teil des Getränks als Gottesgabe auf den Tisch. Dann stand ich auf.
»Er steht!« rief Luma. »Er steht!«
Ich warf den Kopf in den Nacken und schüttete mir Paga in den Hals. Dampfendes Fleisch wurde gebracht, und ich biß heißhungrig hinein. »Sattle einen Tarn«, sagte ich zu Thurnock. »Ich fliege nach Norden.«
»Jawohl, Kapitän«, flüsterte er.
»Du darfst nicht gehen«, sagte Samos. »Vielleicht ist das ein Trick, der dich in die Falle locken soll.«
Ich lächelte ihn an. »Natürlich ist es ein Trick«, sagte ich. »Für jene, mit denen wir es hier zu tun haben, ist Telima gar nicht wichtig. Sie haben es auf mich abgesehen. Und sie sollen ihre Gelegenheit bekommen.«
Trotz weiterer Einwände machte ich kehrt und ging mit großen Schritten auf das Tor der Halle zu. Luma hatte die Hände vor den Mund geschlagen.
Ich sah sie an. Ich hatte lange keine Frau mehr gehabt.