31. Kapitel


Hewlitt beobachtete, wie Cherxic sich zwischen sie gesellte, und wie der Padre, der wohl neugieriger oder vielleicht auch nur weniger feige als er selbst war, eine bloße Mittelhand auf den Kopf des Telfis legte. Eine Weile zitterte Lioren fast am ganzen Körper, obwohl er nicht beunruhigt zu sein schien. Kein Wort wurde gesprochen, und Hewlitt, der immer noch lernen mußte, den Gesichtsausdruck eines Tarlaners zu deuten, hatte keine Ahnung, was in diesem Augenblick im Padre vor sich ging. Erst nach einigen Minuten zog Lioren die Hand zurück, und somit war Hewlitt an der Reihe.


Im Gegensatz zum Körper des toten Telfi, den er berührt hatte, fühlte sich die undurchsichtige, pechschwarze Haut von Cherxic kalt an, und er spürte ein leichtes, warmes Kribbeln in der Handfläche – ein ähnliches Gefühl hatte er auch gehabt, als seine Händen mit Morredeths beschädigtem Fell in Kontakt gekommen waren. Aber dieses Mal stieg das Kribbeln den Arm hinauf, dann durch die Schulter und bis in den Kopf hinein. Für einen Moment spielten seine Sinnesnerven verrückt: sanfte Empfindungen von Wärme, Kälte, Druck, Freude und Schmerz durchdrangen seinen Körper, und gleichzeitig durchfluteten Farbenspiele, die jenseits seines bisherigen Vorstellungsvermögens lagen und die von vertrauten und absolut fremden Gerüchen und Lauten begleitet wurden, seine Sinne.


Aus einem unerfindlichen Grund tauchte vor seinem geistigen Auge plötzlich das Bild seiner Katze auf; wie sie sich bei dem Versuch, in seinem Schoß in eine bequemere Form zu drücken, im Kreis drehte und sanft mit ihren Pfoten stampfte, bevor sie sich zum Schlafen einrollte. Jetzt drückte und bohrte etwas anderes in seinem Kopf und versuchte, sich sowohl sanft als auch beharrlich in eine bequeme Position zu bringen.


Und plötzlich war es so, als ob eine gewaltige Informationsflut über sein Gehirn hereinbräche.Während er immer noch wie ein aufgeregtes Kind, das einen neuen Spielplatz erkundet, seine soeben erworbenen Erkenntnisse erforschte, bahnte sich die Virenkreatur bereits den umgekehrten Weg durch Hewlitts Schulter, Arm und Handfläche, um zu Cherxic zurückzukehren. Ohne ein Wort zu sagen, verließ der Telfi die Schleusenkammer, und die Innenluke fiel hinter ihm ins Schloß.


Lioren und Hewlitt wußten, daß es nichts mehr gab, was man Cherxic hätte sagen oder fragen müssen.


Während Hewlitt dem Padre folgte, der den G-Schlitten mit den telfischen Leichnamen durch den Bordtunnel hindurch in die Schleusenkammer des Krankenhauses lenkte, sagten beide keinen Ton. Die Luke schloß sich hinter ihnen, und gleich darauf ertönte ein lautes, zweimaliges Läuten, das von einer optischen Warnung begleitet wurde, die anzeigte, daß sich das telfische Schiff von den Dockluken gelöst hatte. Dann benutzte Lioren den Kommunikator.


»Braithwaite? Hier spricht Lioren. Ich muß mit Major O'Mara reden. Es ist dringend.«


»Ja, hier O'Mara«, ertönte die Stimme des Chefpsychologen. »Was ist los, Padre?«


»Wir stellen die Suche ein«, antwortete Lioren. »Wir haben eben den letzten und einzig übriggebliebenen Wirt der Virenkreatur aufgespürt. Sie befindet sich gegenwärtig in einem Teilwesen einer telfischen Gesamtgestalt, deren Schiff in diesem Augenblick ablegen will. Das Raumschiff muß ohne Verzögerung eine Starterlaubnis erhalten. Sie können auch die Evakuierungsübungen abbrechen und somit die bereitstehenden Schiffe zurückziehen. Das Problem mit dem Energieerzeugungssystem und die…«


»Ich sehe da überhaupt keinen Zusammenhang«, fiel ihm O'Mara scharf ins Wort. »Oder wollen Sie mir etwa erzählen, daß es da einen gibt?«


»Ganz genau«, bekräftigte Lioren. »Wenn zwei ungewöhnliche Ereignisse zur selben Zeit geschehen, dann besteht sogar eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß sie eine gemeinsame Ursache haben. Leider hatteich dieses ungeschriebene Naturgesetz längst vergessen. Ach, und außerdem ist es Hewlitt gewesen und nicht ich, der diese Verbindung als erster erkannt hat. Es besteht für niemanden mehr irgendeine Gefahr, weder die einer Nuklearexplosion noch die einer speziesübergreifenden Ansteckung. Wir werden Ihnen vollständig Bericht erstatten, sobald wir in Ihrer Abteilung eintreffen.«


»Sie bleiben dort, wo Sie jetzt sind!« befahl O'Mara. »Moment… « Hewlitt schien Lioren eine Ewigkeit anzustarren, der mit allen Augen auf


die beiden toten Telfis blickte, bevor die Stimme des Chefpsychologen


erneut ertönte.


»Sie haben recht, Padre«, verkündete O'Mara. »Die technische Abteilung hat gerade bestätigt, daß die Instabilität der Kernkraft- und sonstigen Energieversorgungsanlagen behoben ist, wieso oder weshalb wissen sie zwar nicht, doch der Ausnahmezustand ist bereits aufgehoben. Das alles soll innerhalb der letzten fünfzehn Minuten passiert sein. Trotzdem war dieses Problem nur das geringere von den beiden Übeln. Die Geschichte mit der sich frei im Krankenhaus bewegenden Virenkreatur muß noch immer geklärt werden, und Sie beide sind, bei allem Respekt, so tief und persönlich in diese Angelegenheit verstrickt, daß es sich bei Ihrer Zusicherung, es bestehe keine Gefahr mehr… nun ja, wohl eher um ein Produkt Ihres Wunschdenkens als um eine medizinische Tatsache handelt. Ist sich Hewlitt der ganzen Situation überhaupt bewußt?«


Als feststand, daß Lioren nicht vorhatte, darauf zu antworten, sagte Hewlitt: »Ja, ich denke, schon.«


»Dann gibt es keinen Zweifel mehr, daß Sie beide nicht mehr ganz bei Sinnen sind und in ernsten Schwierigkeiten stecken«, meinte O'Mara. »Mir persönlich tut das, wie auch allen anderen hier, wirklich sehr leid. Ihre Probleme, Hewlitt, fingen damit an, daß Sie bereits als Kind auf Etla von der Virenkreatur infiziert wurden, die dann auf die ehemalige Patientin Morredeth und Padre Lioren übertragen wurde, und nun also, was ich absolut unglaublich finde, auf einen Telfi, dessen Physiologie und Umgebung für eine mikrobiologische Lebensform weniger geeignet ist als der heißesteDampfkochtopf unserer terrestrischen Vorfahren. Wir gehen jedenfalls davon aus, daß es noch weitere Wirtskörper gibt, von deren Existenz wir nur noch nichts wissen. Als sich beim Energieversorgungssystem trotz all der umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen und automatischen Reparatureinrichtungen erste Anzeichen zunehmender Instabilität bemerkbar machten, haben wir deshalb lieber erst einmal Notfallübungen durchführen lassen, als sofort alle Patienten und Mitarbeiter auf die zum Zweck der Evakuierung zusammengezogenen Schiffe zu verfrachten. Wir können es uns nämlich nicht leisten, das Risiko einzugehen, einen speziesübergreifenden Krankheitserreger mit unbekanntem Potential unkontrolliert in der Föderation umherreisen zu lassen.


Padre, ich möchte Sie wirklich nicht kränken, indem ich die Worte eines Trägers des Blauen Mantels von Tarla anzweifle«, fuhr der Chefpsychologe fort, »doch der Überlebenswille, der in Ihnen beiden wie in jedem anderen Bürger der galaktischen Föderation steckt, ist ein evolutionäres Gebot, das auch durch ethische Überlegungen nicht ersetzt werden darf. Deshalb sind die Behörden auf Kelgia angewiesen worden, Patientin Morredeth bei ihrer Ankunft unter orbitale Quarantäne zu stellen. Ähnliche Anweisungen betreffend des Schiffs, das gerade abgeflogen ist, werden bereits an den Planeten Telfi übermittelt und bezüglich der Katze auch an den Planeten Etla. Sie beide werden für intensive Studien, die von der Pathologie durchgeführt werden, ab sofort unter Quarantäne gestellt. Außerdem wird gerade die Entscheidung getroffen, die Evakuierungsschiffe zurückzuziehen und sie durch ein Geschwader des Monitorkorps zu ersetzen, das dafür sorgen soll, sämtliche Außenkontakte des Orbit Hospitals vorläufig zu unterbinden. Das könnte zwar überall in der Föderation zu einer ernsthaften Destabilisierung führen, aber es sieht ganz so aus, als hätten wir keine andere Wahl. Verstehen Sie unsere Haltung zu diesem Problem?«


»Das hört sich ja ganz so an, als wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn das Krankenhaus explodiert wäre, um allen Beteiligten eine Menge Ärger zu ersparen«, erwiderte Hewlitt mit einem leichten Zittern in der Stimme, das teilweise von seiner Angst herrührte, das aber auch eine Reaktion auf diesicherlich gut gemeinte, jedoch völlig törichte Vorgehensweise der Krankenhausleitung war. »Jetzt glauben Sie mir doch bitte, daß Sie absolut nichts zu befürchten haben.«


»Tut mir leid, Hewlitt«, antwortete O'Mara erstaunlich gefaßt. »Sollte der Padre den Kommunikator ausgeschaltet haben, dann sagen Sie ihm bitte, daß wir jetzt mit ihm sprechen möchten. Die Diagnostiker Conway und Thornnastor sowie Murchison, Prilicla und Colonel Skempton sind gerade bei mir. Wie Sie vielleicht bereits wissen, ist Lioren früher im Orbit Hospital ein hochangesehener Chefarzt gewesen. Das soll keine Beleidigung für Sie sein, Hewlitt, aber im Augenblick würden wir lieber den Bericht eines ausgebildeten Fachmanns hören.«


Eins von Liorens Augen bewegte sich und betrachtete Hewlitt für einen Moment, dann widmete der Padre seine ganze Aufmerksamkeit wieder den beiden toten Telfis. Hewlitt konnte Liorens gegenwärtigen Kummer und den in ihm aufsteigenden Schmerz fast spüren.


»Lioren kann oder will jetzt weder mit Ihnen noch mit mir sprechen«, sagte Hewlitt. »Aber wir sind dem Telfi und auch uns während der vergangenen Minuten sehr nahe gekommen. Ich weiß genauso gut über die Situation Bescheid wie Lioren und bin gern bereit, darüber zu sprechen.«


»Es sieht dem Padre überhaupt nicht ähnlich, sich so zu verhalten«, beklagte sich der Chefpsychologe, in dessen Stimme Ungeduld und Sorge mitschwangen. »Trotzdem fürchte ich, daß wir uns mit einem blutigen Anfänger zufrieden geben müssen. Also los, dann reden Sie endlich, verflucht noch mal!«


Hewlitt riß sich mit aller Anstrengung noch mehr zusammen und begann: »Der Padre könnte durchaus gekränkt sein, weil Sie uns unterstellt haben, daß wir lügen. Ich bin es auf jeden Fall. Vor allem aber bekümmert ihn der Tod zweier Telfis, die wahrscheinlich nicht gestorben wären, wenn wir vorher das gewußt hätten, was wir jetzt wissen. Doch als die beiden im Sterben lagen, beschloß der Padre, dem Patienten Cherxic Trost zu spenden, dessen Erkrankung sich ebenfalls im Endstadium befand, wenngleich sein Zustand nicht so weit fortgeschritten war wie bei denbeiden anderen. Der Fehler, den der Padre nicht bewußt begangen hat und der bestimmt kein Grund ist, sich Vorwürfe zu machen, war zwar längst nicht so schlimm wie die falsche Entscheidung, die er vor einigen Jahren getroffen hatte. Lioren hat seinen Kummer über die Ereignisse auf Cromsag nierichtig…«


»Lioren hat mit Ihnen über Cromsag gesprochen?« unterbrach ihn O'Mara. »Normalerweise spricht er nie mit jemandem darüber, nicht einmal mit mir.«


»Er hat nicht mit mir darüber gesprochen«, stellte Hewlitt klar. »Seit die Virenkreatur vor wenigen Minuten vorübergehend von Cherxic zu Lioren und dann zu mir gewechselt ist, weiß ich alles, was der Padre im Gedächtnis gespeichert hat…«


Er mußte seinen Bericht unterbrechen, denn es hörte sich so an, als ob sechs Stimmen gleichzeitig versuchten, sechs verschiedene Fragen auf einmal zu stellen. Hilfesuchend blickte er in Richtung des Padre, aber dessen Augen ruhten immer noch auf den toten Telfis, und er wußte, daß Lioren mit den Gedanken in der Vergangenheit bei dem schrecklichen Ereignis war, als ein Planet aufgrund einer einzigen, versehentlich getroffenen Fehlentscheidung beinahe entvölkert worden wäre. Sein Mitgefühl für den Tarlaner ließ Hewlitts Stimme rauher klingen, als es ihm lieb war.


»Wenn Sie nicht aufhören, alle auf einmal Fragen zu stellen, kann ich nicht eine einzige davon beantworten. Und jetzt seien Sie bitte ruhig und hören mir zu.«


Hewlitt war überrascht, wie schnell die Stimmen verstummten, bis ihm klar wurde, daß O'Mara ihnen dasselbe mitgeteilt hatte, wenngleich in einer viel weniger höflichen Ausdrucksweise.


»Ja, die Virenkreatur ist tatsächlich kurz wieder in meinen Körper und vor allem in mein Gehirn eingedrungen. Und zu Ihrer anderen Frage: Dieser Vorgang hat mich nicht zum Telepathen gemacht. Die Wirkung entspricht eher der Erfahrung mit den Schulungsbändern, woran sich Lioren als ehemaliger Chefarzt noch recht gut erinnern kann. Allerdings verläuft dieserVorgang sanfter und ohne die psychologische Desorientierung, die durch die plötzliche Vermittlung des Wissens und der Persönlichkeit eines völlig fremden Bandurhebers ausgelöst werden kann. Bei uns handelte es sich aber nicht um einen mechanisch verlaufenden Wissenstransfer, sondern um die Übertragung von Erinnerungen durch ein denkendes, empfindsames Wesen. Da es sich uns gegenüber verpflichtet fühlte, wollte es uns keine seelischen Qualen bereiten… «


»Warten Sie!« fiel ihm O'Mara ins Wort, und seine Stimme klang äußerst mißtrauisch, als er fortfuhr: »Wollen Sie etwa damit sagen, daß die Ihnen vermittelten Erinnerungen zuvor verändert oder sogar korrigiert worden sind?«


»Im Laufe der Zeit haben sie sich natürlich etwas abgeschwächt, sind aber nie verfälscht worden«, antwortete Hewlitt. »Sie haben doch mit der Behandlung telepathischer Spezies Erfahrungen gesammelt und müßten eigentlich wissen, daß es für diese Wesen unmöglich ist, gedanklich zu lügen. Ich weiß alles, was diese Virenkreatur im Sinn hat – die übrigens keinen Namen trägt, weil sie von ihrer Art anscheinend das einzige Exemplar ist -, und das schließt auch ihre zukünftigen Absichten mit ein, die sie als telepathisches Wesen weder verbergen noch verfälschen kann.«


»Fahren Sie fort«, forderte ihn O'Mara ungeduldig auf.


»Während des Besuchs der Virenkreatur in meinem Gehirn gelangten sämtliche Erinnerungen der vorherigen Wirte in mein Bewußtsein. Am stärksten waren die von Lioren, Cherxic und den ganzen Teilwesen der Telfigestalt, unter denen sich die Virenkreatur frei bewegen konnte. Wenn Sie mal darüber nachdenken, dann hat eine organisierte und intelligente Virenansammlung sehr viel mit einem Gestaltwesen gemein. Aber erst die telfische Kontakttelepathie ermöglichte es dieser Kreatur zum allerersten Mal, eine perfekte Kommunikation mit anderen intelligenten Wesen herzustellen. Ohne genau zu wissen, wieso oder weshalb, ist das genau die Befähigung, nach der sie sich ein ganzes Leben lang gesehnt hat. Dazu war es besonders wichtig, daß sie sich dem auf direkter Strahlenumwandlung basierenden Metabolismus und den lebensfeindlichen Umweltbedingungender VTXMs anzupassen lernte, zusammen mit dem Versprechen der Telfis einer langfristigen Zusammenarbeit, was der Virenkreatur zukünftig einen anderen und sehr viel riskanteren Wechsel von Wirtskörpern ermöglichen wird. Aus diesem Grund führten die Telfis mit der Virenkreatur anfängliche Untersuchungen und Experimente durch, die auch die Ursache für die Probleme mit der Energieversorgung waren. Das hatte zwar für das Krankenhaus besorgniserregende Folgen, stellte aber zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Bedrohung dar.


Leider verfüge ich nicht über das technische Vokabular, aber es scheint ganz so, als ob die Virenkreatur über einen Körperbau verfügte, der es ihr ermöglicht, sie in ein Reaktorgehäuse einzuschleusen und dort auf subatomarer Ebene ein erhebliches Maß an Kontrolle auszuüben.«


Hewlitt hielt für einen Moment inne und begab sich dann wieder auf vertrauteres Terrain. »Mir wurden auch Morredeths Gedanken übertragen und merkwürdigerweise ebenso die Gefühle der Kreatur, die sie einst empfunden hatte, als sie mich als kleines Kind zum ersten Mal zu ihrem Wirtskörper machte. Glauben Sie mir, das Ganze ist eine ziemlich verrückte Erfahrung. Außerdem habe ich alles über ihre gemeinsam mit Lonvellin verbrachte Zeit erfahren und über noch sehr viel weiter zurückliegende Perioden, die sie mit einer ganzen Reihe nicht intelligenter Wirte verbracht hat und die so weit zurückreichen, daß sie sich selbst nicht mehr daran erinnern kann.


Diese Virenkreatur ist alt, sehr alt sogar …«


Wie Hewlitt weiter ausführte, war nichts darüber bekannt, durch welche umweltbedingten Einflüsse die Virenkreatur eine Intelligenz entwickeln konnte oder ob jemals andere Exemplare ihrer Gattung existiert hatten, so daß es sich bei der Entstehung dieses Wesens durchaus um einen genetischen Unfall gehandelt haben könnte und somit in seiner Art einzigartig war. Am Anfang waren die Wirte der Virenkreatur sehr klein gewesen, doch anstatt sie durch die unkontrollierte Ausbreitung von Viren zu infizieren und zu töten, wie es bei normalen Krankheitserregern der Fall wäre, versuchte sie, ihr eigenes langfristiges Überleben sicherzustellen,indem sie den optimalen physischen Zustand ihrer Wirtskörper so lange wie möglich aufrechterhielt. Sobald ein Wirtskörper trotz ihrer Bemühungen zu alt oder von einem größeren Raubtier getötet wurde, wechselte sie den Wirt, wobei im zweiten Fall das Raubtier automatisch zu ihrer neuen Heimat wurde.


Es mußten bereits etliche Jahrhunderte vergangen sein, ehe der hochintelligente und extrem langlebige Lonvellin den Heimatplaneten der Virenkreatur besuchte. Da dieser aufgrund der allgemein bekannten Annahme, daß fremdweltlerische Krankheitserreger einem nichts anhaben konnten, es für unnötig hielt, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wurde er von diesem höchst ungewöhnlichen und einzigartigen Parasiten heimgesucht.


Instinktiv erkannte die Virenkreatur, daß sie einen Organismus gefunden hatte, den sie sehr lange am Leben erhalten konnte, doch war der neue Wirtskörper derart groß und fremd, daß sie große Anpassungsschwierigkeiten mit der neuen Umgebung hatte. Lonvellin hingegen, der während seines langen Lebens viele lästige und unangenehme Krankheiten gehabt haben mußte, dürfte die Gegenwart und die Fähigkeiten seines Leibarztes von der Tatsache abgeleitet haben, daß seine früheren Gebrechen plötzlich nicht mehr auftraten. Doch damals konnte die Virenkreatur weder mit ihrem Wirt kommunizieren, noch war sie sich der Gründe bewußt, weshalb gewisse metabolische Prozesse in dem riesigen und komplizierten Körper stattfanden. Alles, was sie damals tun konnte, war, den physiologischen Zustand ihres Wirtskörpers im selben Zustand aufrechtzuerhalten, wie sie ihn vorgefunden hatte.


Die Virenkreatur beging auch Fehler.


Einer davon brachte Lonvellin sogar ins Orbit Hospital; nämlich ihr stures Festhalten an abgestorbenen Körperzellen, die normalerweise abgestoßen und durch nachwachsende ersetzt worden wären. Ein weiterer war, sich vom damaligen Chefarzt Conway aus dem Wirtskörper herauslocken zu lassen, wodurch sie sich als separates Wesen offenbarte. Zu diesem Zeitpunkt ihrer rasch fortschreitenden evolutionären Entwicklung war die Virenkreatur zwar intelligent, stellte sich aber nicht unbedingt gescheit an.Nachdem sie von Lonvellin als Leibarzt beansprucht worden war, reiste sie mit ihm nach Etla, wo sie nur knapp der Detonation einer Atombombe entging, durch die ihr Wirt umkam. Durch die Folgen dieser Explosion wäre die Virenkreatur fast selbst gestorben, doch führten sie bei ihr statt dessen zu organischen Mutationen, die sie dazu befähigten, sich später sogar dem Wirtskörper eines strahlenverwertenden Telfi anzupassen.


Sie rettete Hewlitt als Kind gleich zweimal das Leben; einmal nach dessen Obstvergiftung und dem normalerweise tödlichen Sturz vom Baum und ein zweites Mal nach dem folgenden Flugzeugabsturz. Dennoch beging sie immer noch dieselben Fehler wie früher, wie zum Beispiel den Blutkreislauf durch einen Herzstillstand kurzfristig zum Stehen zu bringen, damit sie die Wirkung eines verabreichten Medikaments schneller zunichte machen konnte, was letztendlich zur Einlieferung des erwachsenen Hewlitt ins Orbit Hospital führte. Allerdings war sie lernfähig und wurde sich zunehmend ihrer eigenen wie auch der Gefühle und Gedanken ihres Wirtskörpers bewußt. Zwar begann dieser Prozeß bereits mit Lonvellin, doch stellte sich der Zwischenfall mit der verwundeten Katze als sehr viel wichtiger heraus, als man bislang vermutet hatte, denn zum ersten Mal war die Virenkreatur durch psychologische Faktoren dazu gebracht worden, die Wirtskörper zu wechseln, insbesondere durch den emotionalen Druck, der durch ein um seine sterbende Katze trauerndes Kind auf sie ausgeübt worden war.


»… dieser Wechsel war nur vorübergehend, weil es nicht im Interesse der Virenkreatur sein konnte, von einem langlebigen in einen kleinen und kurzlebigeren Wirtskörper umzuziehen«, fuhr Hewlitt fort. »Damals wurde sie in erster Linie von ihrer Neugierde und der damit einhergehenden Freude am Experimentieren getrieben, aber auch von dem unbändigem Willen, bis in eine unbestimmte Zukunft hinein zu überleben. Doch standen ihr eine lange Zeit nur Terrestrier wie ich zur Verfügung, und die Funktionsweise des menschlichen Körpers hatte sie noch nicht ganz verstanden. Nach meiner Ankunft hier im Orbit Hospital wurde sie immer neugieriger, nahm ihre Umgebung bewußter wahr und sehnte sich nach denneuen Erfahrungen, die sie an einem solchen Ort machen konnte, zumal es hier von höchst interessanten und langlebigen und somit potentiellen Wirtskörpern nur so wimmelt. Als sie meine Besorgnis und mein Mitleid für Patientin Morredeth spürte und ich mehr oder weniger unfreiwillig – vielleicht wurde ich aber auch unterbewußt von der Virenkreatur dazu gedrängt – die Stelle, wo Morredeths Fell beschädigt war, mit den Händen berührte, okkupierte sie zum ersten Mal einen kelgianischen Körper. Später siedelte sie zum Padre und schließlich zu Cherxic über und suchte dann abwechselnd die überlebenden Teilwesen der Gesamtgestalt des Telfi-Schiffs auf, wo die letzte und einschneidendste Anpassung stattfand, auch wenn es sich dabei nach ihrer eigenen Überzeugung noch längst nicht um das Ende ihres Entwicklungsprozesses handelt. Von den telepathischen und auf verschiedene Aufgaben spezialisierten Teilwesen der Telfigestalt lernte sie, mit ihren wechselnden Wirtskörpern von Verstand zu Verstand zu kommunizieren und die Grundlage der telfischen Strahlenverwertung sozusagen bis ins letzte atomare Elementarteilchen zu verstehen und zu beherrschen. Die von den Telfis angeregten Experimente mit dem Energieversorgungssystem des Orbit Hospitals waren Bestandteil dieses Lernprozesses.


Jetzt hat die Virenkreatur alles, was sie für die Zukunft benötigt. Einzelne Telfis werden sterben, wenngleich jetzt längst nicht mehr so häufig wie früher, da sie nun über einen sehr mobilen Arzt verfügen, aber die Telfigestalt wird immer wieder Teilwesen ersetzen müssen oder sich erweitern und so für einen ständigen Informationsfluß und Erfahrungsaustausch sorgen. Somit hat die Virenkreatur ihre perfekte Wirtskörperspezies gefunden. Mit dem Willen zur Zusammenarbeit und dem Strahlenabsorptionsmechanismus der Telfigestalt als Starthilfe wird sie an Größe, Intelligenz und Energie zunehmen und sich fortwährend weiterentwickeln, bis sie in der Lage ist, Sonnen zu besiedeln, selbst auf die Gefahr hin, sich dabei selbst umzubringen. Das Orbit Hospital wird mit der Virenkreatur nie wieder Probleme haben.«


Hewlitt konnte in seinem Kopfhörer bis auf einige ungläubige Zischlautenichts hören, bis sich schließlich eine Stimme zu Wort meldete, die so leise und emotionsgeladen klang, daß sie nicht zu identifizieren war.


»Also beabsichtigt die Virenkreatur, die Sterne zu infizieren und zu besiedeln. Ich bezweifle nicht, daß sie meint, was sie sagt, schließlich wissen wir ja bereits, daß man mit dem Verstand nicht lügen kann. Das könnte das Ende eines ungehinderten Kontakts zwischen den verschiedenen Spezies einläuten und letztendlich zum Zusammenbruch der Föderation führen. Vielleicht bedeutet es sogar das Ende allen intelligenten Lebens, weil die Mitgliedswelten von unkontrollierbaren speziesübergreifenden Seuchen heimgesucht werden, wenn wir nicht sofort etwas dagegen unternehmen. Es tut uns schrecklich leid, Hewlitt, aber dazu gehört auch, daß wir Lioren, Morredeth, die telfische Schiffsbesatzung, Sie selbst und sogar das Haustier aus Ihrer Kindheit von allen zukünftigen Kontakten mit anderen Wesen für den Rest ihres Lebens isolieren müssen.«


»Das werden Sie nicht, verdammt noch mal!« wehrte sich Hewlitt aufgebracht. »Warum hören Sie mir eigentlich nicht zu, wenn ich was sage? Warum glauben Sie mir nicht einfach? Padre, könnten Sie das diesen Ignoranten vielleicht bitte erklären?«


Während die Stimme aus O'Maras Büro zu hören gewesen war, hatte Lioren die telfischen Särge geschlossen und seine Aufmerksamkeit dem Gespräch zugewandt. Hewlitt hatte das Gefühl, daß sich die emotionale Aufgewühltheit des Padre wieder gelegt oder zumindest normalisiert hatte.


»Ich hätte das keinen Deut besser erklären können«, meinte der Padre. »Erzählen Sie weiter, Hewlitt, aber beeilen Sie sich. Oje! Da kommen schon zwei G-Schlitten und… eine bewaffnete Eskorte!«


Hewlitt atmete tief durch und versuchte, sich möglichst kurz und einfach auszudrücken, als er sagte: »O'Mara! Sie irren sich alle, und das in zweifacher Hinsicht. Keiner der Wirtskörper der Virenkreatur ist infiziert oder hat irgendwelche Samen, Eier oder Embryos eingepflanzt bekommen. So funktioniert das nicht. Das Wesen ist eine intelligente, organisierte Virenansammlung, ein einzigartiges und sehr egoistisches Individuum, das niemals die Abtrennung eines Teils von sich freiwillig zulassen würde, weildadurch die Leistungsfähigkeit und Intelligenz des Gesamtwesens verringert werden würden. Meine Probleme während und nach meiner Pubertät wurden durch den Umstand verursacht, daß die Virenkreatur zwar die Notwendigkeit des Absonderns von Körperausscheidungen verstehen konnte, doch die Ausstoßung von gesundem, lebendem Material wie Samenflüssigkeit völlig fremd für sie war, weil sie sich damals einfach nicht vorstellen konnte, daß sich irgendein Wesen fortpflanzen wollte, anstatt allein weiterzuleben. Sie hat noch immer Probleme damit, die Vorstellung zu akzeptieren, daß wir zum Überleben der eigenen Art zig Millionen Samen opfern.


Auf Etla, auf der Erde und hier im Orbit Hospital bestand also nie das Risiko einer zusätzlichen Infektion. Falls sich die Pläne der Virenkreatur verwirklichen lassen, dann ist sie vielleicht in ferner Zukunft in der Lage, sich zu teilen, aber bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg, und selbst dann würde das für uns keine Gefahr bedeuten. Zur Zeit kann sie nur einen Wirtskörper gleichzeitig bewohnen, und diesen hinterläßt sie nicht im erkrankten Zustand, sondern stattet ihn bis zu seinem Lebensende mit einem hohen Maß an körperlicher Gesundheit aus, die alle ehemaligen Wirtskörper wie eine organische Signatur sofort erkennen können.


Dies tut sie aus Dankbarkeit für das Wissen und die Erfahrungen, die ihr vom Wirt vermittelt wurden. Sie bezeichnet sich selbst als eine Art Untermieter, der seine Miete bezahlen muß.«


Die mit geöffnetem Kuppeldach bereitstehenden Quarantäne- G- Schlitten wurde von zwei wuchtigen hudlarischen Ärztinnen und acht bewaffneten Angehörigen des Monitorkorps begleitet, die nach terrestrischen Maßstäben sehr kräftig gebaut waren. Die Gesichtsausdrücke der Anwesenden verrieten eine Mischung aus Verlegenheit und Entschlußkraft, und Hewlitt beeilte sich noch mehr als zuvor.


»Glauben Sie mir, weder die Föderation noch deren Bürger haben von der Virenkreatur irgend etwas zu befürchten. Aus den zuvor genannten Gründen ist sie, mit Ausnahme der Telfis, an keiner Spezies der Föderation mehr interessiert, da sie für ihre Verhältnisse viel zu kurzlebig sind. Auchwenn die Vollendung dieses Projekt etliche unserer Lebensspannen benötigen wird, ist ihr unumstößliches Ziel, einen Stern nach dem anderen zu besiedeln, und sie will mit der telfischen Heimatsonne beginnen, da diese nach astronomischen Maßstäben immer älter und kranker wird. Auch wenn die Möglichkeit besteht, daß sie sich bei diesem Versuch selbst vernichtet, so will sie dieses Risiko auf jeden Fall eingehen. Eine Sonne zu bewohnen, der sie Intelligenz und Stabilität vermitteln und deren sämtliche inneren Vorgänge sie steuern kann, ist das erklärte Endziel der Virenkreatur.


Ein intelligenter Stern wäre das langlebigste Wesen, das man sich vorstellen kann«, beendete Hewlitt seine Ausführungen.


Jetzt waren die Diagnostiker Conway, Prilicla und Thornnastor an der Reihe, ein Gespräch miteinander zu führen, während die beiden Hudlarerinnen und die Monitoreskorte darauf warteten, welche Entscheidung man für das weitere Vorgehen treffen würde. Eine ganze Weile schienen der Padre und Hewlitt in Vergessenheit geraten zu sein, während der Krisenstab in O'Maras Büro diskutierte, ob man Lonvellins Reisen vor seiner damaligen Einlieferung ins Orbit Hospital zurückverfolgen könnte, um so den Herkunftsplaneten der Virenkreatur ausfindig zu machen. Sollte man dort die Vorfahren dieses Wesen entdecken – vermutlich nicht intelligente Virenstämme -, müßte man diese untersuchen und sie mit Hilfe von Zellkultivierung zu vermehren versuchen. Natürlich wäre für solch ein Forschungsprojekt die Mitarbeit ehemaliger Wirte der Virenkreatur von unschätzbarem Wert. Alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen müßten getroffen werden, und es gäbe eine Menge Probleme zu bewältigen, doch sollte man erfolgreich sein, ließe sich absehen, daß die Bürger der galaktischen Föderation in ferner Zukunft lediglich mit einem Virus infiziert werden müßten, um ansonsten völlig frei von Krankheiten zu sein. Für die ärztliche Zunft bliebe dann nichts weiteres zu tun, als die Behandlung von Unfallopfern und die Versorgung chirurgischer Notfälle zu gewährleisten. Wie nicht anders zu erwarten war, blieb es dem Chefpsychologen vorbehalten, ungeduldig das Schlußwort zu ergreifen.»Genug jetzt, werte Kollegen! Ihre zukünftigen Probleme werden wir in den nächsten Minuten auch nicht klären können, zumal sie auf rein hypothetischen Überlegungen basieren. Und Sie, Padre Lioren und Hewlitt, können sich erst mal entspannen. Wir haben entschieden, daß es kein Sicherheitsproblem mehr darstellt, wenn Morredeth auf Kelgia landet und die Telfigestalt mit ihrem neuen Freund auf ihren Heimatplaneten zurückkehrt. Die bewaffnete Eskorte kann abtreten, aber sie beide werden sich sofort auf den Weg machen, und zwar nicht, um auf der Isolierstation der Pathologie zu landen, sondern um sich hier im Büro einigen noch ungeklärten Fragen zu stellen… «


Hewlitt gab einen leisen, unübersetzbaren Laut von sich, den nur der Padre hören konnte, und Lioren flüsterte ihm zu: »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund. Das Büro des Majors ist mit einem Essensspender ausgestattet, und wenn man uns nicht erlaubt, etwas zu essen, dann werden wir auch nicht reden.«


»… und mit einem von einer Hudlarerin gelenkten G-Schlitten werden Sie noch eher hier sein, als wenn Sie zu Fuß gehen«, fuhr O'Mara fort. »Gibt es sonst noch irgendwas, was Sie mir vorher sagen müssen?«


Hewlitt war sich nicht sicher, ob das, was ihm durch den Kopf ging, die Folge von Erschöpfung, unbändigem Hunger oder purer Erleichterung war. Jedenfalls lachte er nur und antwortete: »Mich plagt noch ein kleines psychologisches Problem: Aus mir scheint ein ehemaliger Hypochonder geworden zu sein, dem absolut nichts fehlt und der trotzdem unbedingt in einem Krankenhaus bleiben möchte. Ich habe einfach keine Lust mehr, terrestrische Schafe zu hüten.«

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