In der äußeren Umkleidekabine kontrollierte Lioren die Verschlüsse des Helms und die Luftzufuhr des Schutzanzugs. Bevor er jedoch in die Station schwimmen durfte, wurde diese Prozedur von Oberschwester Hredlichli in dem wassergefüllten Personalraum wiederholt. Allmählich fragte er sich, ob Illensanerinnen so etwas wie ein medizinisches Monopol auf den Oberschwesterposten hatten, denn auf den zwei Stationen, die er bisher kennengelernt hatte, bekleideten jeweils Chloratmerinnen diese Position. Da er von der Schwester durch den Stoff zweier Schutzanzüge getrennt war und immerhin einige Meter Wasser dazwischenlagen, hatte er das Gefühl, daß ihm der typische Chlorgeruch allmählich zu schaffen machte.
»Ich besuche jetzt den Patienten AUGL-Zwei-Dreiunddreißig, das ist die physiologische Klassifikation für diese wasseratmende Spezies. Die AUGLs auf dieser Station sind nach den Nummern ihrer jeweiligen Krankenakte benannt, weil ihre Eigennamen nur den engen Familienangehörigen bekannt sind. Sie sehen ziemlich furchterregend aus, legen ein etwas extrovertiertes Verhalten an den Tag und – es sei denn, man verbietet es ihnen – gehen mit kleineren Wesen etwas verspielt um, verletzen eine andere Kreatur aber niemals absichtlich.«
Als der Padre in Richtung des Stationseingangs schwamm, wirkten die Bewegungen seines sonst so klobig anmutenden Pyramidenkörpers mit den zwölf Gliedmaßen im Wasser geradezu anmutig. »Die meisten Leute empfinden bei der ersten Begegnung mit einem Chalder eine gewisse Beklommenheit, und man wird es Ihnen keineswegs als mangelnde emotionale Stärke ankreiden, wenn Sie sich nicht all zu nahe an diese Wesen herantrauen«, fuhr Lioren fort. »Das hier soll übrigens auch keine Mutprobe oder dergleichen sein. Also nehmen Sie sich Zeit, und unterhalten Sie sich nur dann mit ihnen, wenn Sie das Gefühl haben, innerlich bereit dazu zu sein.«
Hewlitt starrte fast eine Ewigkeit durch die durchsichtige Wand des Personalraums in eine trübe, grüne Unterwasserwelt, in der Unmengenanscheinend zur Dekoration dienende Vegetation trieb, wobei es sich bei den größeren Pflanzen durchaus um die Patienten selbst hätte handeln können. Da sich Hredlichli und eine kelgianische Schwester auf ihre Bildschirme konzentrierten und ihn nicht weiter beachteten, schwamm er ohne weiteres Zögern langsam in die Station hinein.
Den Personalraum hatte er noch keine zehn Meter hinter sich gelassen, da trennte sich vom äußersten Rande des Sichtfelds einer der verschwommenen, dunkelgrünen Schatten aus dem Winkel zwischen Boden und Wand ab und schoß wie ein großer organischer Torpedo auf ihn zu, und je näher dieses undefinierbare Etwas auf ihn zukam, desto mehr nahm es eine grauenerregende, dreidimensionale Gestalt an. Als dieses Ungetüm ruckartig zum Stehen kam, wurde Hewlitt aufgrund der Druckwellen und Turbulenzen, die durch das überstürzte Herannahen und das schnelle Schlagen der Flossen entstanden waren, im Kreis herumgewirbelt.
Plötzlich schwang eine der wuchtigen Flossen nach oben und blieb wie eine weiche Gummimatratze einen Augenblick an seinem Rücken haften, um ihm Halt zu geben. Dann nahm das Wesen etwas Abstand und begann ihn wie ein übergroßer und nicht enden wollender Doughnut zu umkreisen, der vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Meter lang sein mußte. Er hätte ohne weiteres nach oben oder unten schwimmen können, doch aus irgendeinem Grund waren Arme und Beine und selbst seine Stimme wie gelähmt.
Aus unmittelbarer Nähe sah das Wesen wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kräftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring von Tentakeln besaß, die aus den wenigen sichtbaren Öffnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwärtsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Körperseiten an, aber sie waren so lang, daß sie über die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Während die Kreatur ihn enger umkreiste, beobachtete sie ihn aus zwei lidlosen Augen, die in Form und Größe umgedrehten Suppenschüsseln ähnelten. Plötzlichteilte sich der Kopf und entblößte einen riesigen, rosafarbenen Rachen, umsäumt von einer Dreierreihe scharfer, weißer Zähne.
»Hallo«, begrüßte ihn der Chalder. »Sind sie etwa die neue Schwesternschülerin? Wir hatten eigentlich eine Kelgianerin erwartet.«
Hewlitt öffnete ebenfalls den Mund, aber es dauerte einen Augenblick, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. »N-nein«, stammelte er. »Ich bin kein Mediziner, sondern nur ein ehemaliger Patient und besuche die Chalderstation zum ersten Mal.«
»Oh, ich hoffe, daß ich Sie dann durch mein Herannahen nicht allzu sehr erschreckt habe«, entschuldigte sich der Chalder. »Falls doch, tut es mir leid. Sie haben aber auch überhaupt nicht wie ein Besucher reagiert, der das erste Mal hier ist. Ich bin übrigens AUGL-Zwei- Elf. Wenn Sie mir die Aktennummer der Person nennen, die Sie besuchen möchten, bringe ich Sie gerne zu ihr.«
Als Hewlitt sich vorstellen wollte, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, daß Chalder ihren Namen nicht preisgeben und vermied es deshalb, sich oder sein Gegenüber in ernste Verlegenheit zu bringen. Die Höflichkeit des AUGLs mußte ihn wohl ein wenig übermütig gemacht haben, denn zu seiner eigenen Verwunderung entgegnete er: »Vielen Dank, aber eigentlich möchte ich zu keiner bestimmten Person. Wäre es vielleicht möglich, alle Patienten kurz kennenzulernen?«
Patient Zwei-Elf machte das Maul einige Male auf und zu. Noch während sich Hewlitt fragte, ob der Chalder sein Bitte ablehnen wollte, antwortete dieser: »Das wäre durchaus möglich und in meinen Augen sogar wünschenswert. Dies gilt insbesondere für die drei Patienten, zu denen übrigens auch ich gehöre, deren Entlassung überfällig ist und die sich zusehends langweilen. Es bleibt Ihnen allerdings nicht viel Zeit, denn in knapp einer Stunde wird die Hauptmahlzeit ausgeteilt. Die Nahrung ist selbstverständlich synthetisch, aber höchst beweglich und naturgetreu nachgebildet, und kleine Wesen wie Sie werden aufgefordert, während der Essenszeit die Station zu verlassen, damit sie nicht versehentlich verspeist werden.«»Keine Sorge, ich werde mich bestimmt rechtzeitig zurückziehen«, versicherte ihmHewlitt.
»Das klingt sehr vernünftig«, pflichtete ihm der Chalder bei und hielt kurz inne, bevor er fragte: »Kann es sein, daß ich Sie durch irgendeine unpassende Bemerkung oder Andeutung beleidigt habe?«
Hewlitt musterte erneut den gewaltigen Panzerkörper und die respekteinflößenden Zähne und erwiderte: »Ich bin keineswegs beleidigt.«
»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte der AUGL, bevor er näher herankam und direkt an Hewlitt vorbeiglitt, bis nur noch ein riesiges Auge, eine Hälfte der Mundöffnung und eine steif vorstehende Flosse von ihm zu sehen waren. »Terrestrier kann man nicht unbedingt als wassertauglich bezeichnen; sie bewegen sich viel zu langsam und müssen ungeheuer viel Energie dafür aufwenden. Wenn Sie nach der Flosse greifen, die in Ihrer Reichweite ist, und sich an deren Ende mit beiden Händen festhalten, dann können wir zwischen den Patienten umherschwimmen und werden dafür nur einen Bruchteil der Zeit benötigen, die Sie sonst aufwenden müßten.«
Hewlitt zögerte. »Die Flosse sieht… nun ja… ziemlich empfindlich aus. Kann ich Ihnen dabei auch wirklich keinen Schaden zufügen?«
»Quatsch, überhaupt nicht!« widersprach Zwei-Elf entschieden. »Ich gebe zwar gern zu, daß ich mich in letzter Zeit etwas schwach gefühlt habe, aber ich bin sehr viel besser bei Kräften, als es derzeit den Anschein hat.«
Hewlitt, dem dazu keine passende Antwort einfiel, griff kurzerhand nach der Flosse, deren dickes, rotgeädertes Ende wie eine riesige, durchsichtige Rhabarberstange aus einer Öffnung des schuppigen Panzers sproß. Als er plötzlich spürte, wie etwas Unsichtbares ihn loszureißen versuchte, packte er fester zu, bis er merkte, daß nur der steigende Wasserdruck an ihm zerrte, der durch die rasche Vorwärtsbewegung ausgelöst worden war. Während sie wie ein Torpedo durch die ganze Station schossen, glitten sie an den Zierpflanzen, den riesigen Patienten und dem im direkten Vergleich geradezu winzig wirkenden Pflegepersonal vorbei.
Wie Hewlitt sehen konnte, gab es auf dieser Station keine Betten, wasallerdings angesichts der hier herrschenden Umweltbedingungen alles andere als verwunderlich war. Diejenigen Chalder, die bettlägerigen Patienten am ehesten gleichkamen, waren an offene Behandlungsgestelle gebunden, die wie Kastendrachen aussahen. Einer dieser Patienten, dessen gesamte Körperoberfläche aus krankheits- und altersbedingten Gründen rissig und verfärbt war, erhielt gerade Besuch von Lioren. Die Mehrheit der anderen schwamm ohne Einschränkungen in den ihnen zugewiesenen, an Wänden und Decke markierten Bereichen umher, und da sie die Augen auf flackernde Bildschirme richteten, sahen Sie sich vermutlich Unterhaltungsprogramme an. Zwei Chalder trieben Kopf an Kopf fast bewegungslos am Ende der Station und unterhielten sich offenbar. Dort befand sich auch das Ziel. Als sich Zwei-Elf und Hewlitt den beiden näherten, schlugen sie mit den gewaltigen Schwänzen, drehten sich schwerfällig um und starrten sie mit weit aufgesperrten Mäulern an.
»Wenn Sie möchten, können Sie jetzt absitzen«, meinte Zwei-Elf und deutete mit einem fransigen Tentakel auf die beiden AUGLs: »Das sind übrigens die Patienten Eins-Dreiundneunzig und Zwei-Einundzwanzig. Und das hier ist eine terrestrische Besucherin, die sich mit uns unterhalten möchte.«
»Ich sehe auch so, daß es sich nicht um einen deiner widerlichen Körperparasiten handelt«, frotzelte Eins-Dreiundneunzig. »Worüber möchte er sich denn mit uns unterhalten? Über den idiotischen Grund, weshalb wir immer noch hier sind?«
Bevor Hewlitt antworten oder die geschlechtliche Frage klarstellen konnte, meldete sich Zwei-Einundzwanzig zu Wort: »Bitte entschuldigen Sie das Verhalten unseres Freundes, kleine Sauerstoffatmerin. Seine Manieren lassen aufgrund einer Mischung aus Ungeduld, Langeweile und Heimweh in letzter Zeit etwas zu wünschen übrig. Normalerweise ist sein Benehmen viel besser… na ja… zumindest etwas besser, als es jetzt der Fall ist. Dennoch bleibt seine Frage bestehen, nämlich warum Sie hier sind und was Sie uns zu sagen haben.«
Hewlitt wartete solange, bis die drei die Position gewechselt hatten undnebeneinander im Wasser schwebten, so daß sie ihn direkt ansehen konnten. Der Anblick eines aufgerissenen Rachens mit drei Zahnreihen war ihm schon etwas nahe gegangen, aber die drei übergroßen, aufgesperrten Mäuler, die nur wenige Meter von seinem Kopf entfernt waren, hatten nun eine eher lächerliche als furchterregende Wirkung auf ihn, so daß er sich langsam zu entspannen begann. Nach kurzer Überlegung faßte er den Entschluß, daß es sich wieder einmal um einen jener Augenblicke handelte, in dem man lieber sparsam und vielleicht sogar etwas erfinderisch mit der Wahrheit umgehen sollte.
»Ich weiß selbst nicht so genau, worüber ich reden möchte«, antwortete er. »Das Thema ist mir eigentlich egal. Ich möchte mich lediglich ein bißchen unterhalten. Ich bin weder Mediziner noch Psychologe, sondern nur ein ehemaliger Patient, der bei einigen Nachforschungen behilflich ist. Da es noch eine Weile dauern kann, bis man mir genehmigen wird, das Krankenhaus zu verlassen, und es nichts Interessantes für mich zu tun gibt, hat man mir auf meine Bitte hin die Erlaubnis erteilt, die Zeit dafür zu nutzen, so viele Patienten und Klinikmitarbeiter wie möglich kennenzulernen und mich mit ihnen zu unterhalten.
Hier im Orbit Hospital bietet sich einem die fast einmalige Chance, praktisch jede Spezies der Föderation hautnah zu erleben, während ich mich auf der Erde schon glücklich schätzen könnte, zu meinen Lebzeiten überhaupt nur fünf verschiedenen Fremdweltlern zu begegnen. Eine solch günstige Gelegenheit wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
»Aber es gibt über hundert Chalder auf der Erde«, wandte Zwei-Elf ein. »Sie kümmern sich um die Fortbildung der intelligenten Meeressäugetiere, die von Ihren Vorfahren fast ausgerottet worden wären.«
»Sicher, aber die meisten davon sind chalderische Wissenschaftler und deren Familien«, sagte Hewlitt. »Nur einigen wenigen terrestrischen Meeresbiologen ist es erlaubt, sich mit ihnen zu treffen oder zusammenzuarbeiten. Leuten, die wie ich nicht vom Fach sind, ist es aus Gründen des Umweltschutzes strikt verboten, mit ihnen in Kontakt zu treten, wohingegen sich die Patienten hier im Orbit Hospital gegenseitigbesuchen dürfen.«
»Dennoch glaube ich, daß ein körperlich so schwaches Wesen wie Sie ein ernsthaftes Risiko eingeht, wenn es sich hier im Hospital überall umsieht, nur um die Zeit bis zur Entlassung totzuschlagen«, meinte Eins-Dreiundneunzig. »Im Vergleich zu einigen anderen Stationen sind die Umweltbedingungen hier auf der Chalderstation nämlich noch ausgesprochen freundlich. Aber mal was anderes: Spielte bei ihrer überwundenen Krankheit eigentlich auch eine psychologische Komponente eine Rolle?«
»Auf der Erde hielten das die meisten Mediziner sogar für sehr wahrscheinlich«, entgegnete Hewlitt, dem klar war, daß eine ironische Antwort keinen Sinn gehabt hätte. »Im Orbit Hospital wurde aber die wahre Ursache entdeckt, und es stellte sich heraus, daß sich die terrestrischen Ärzte allesamt geirrt hatten. Und was Ihre Befürchtungen angeht, daß ich ein zu großes Risiko eingehen würde, wenn ich mich hier im Hospital umsehe, so kann ich Sie beruhigen, da sich Padre Lioren bereiterklärt hat, mir sozusagen als Fremdenführer und Beschützer in einem zur Seite zu stehen.«
»Das Krankenhaus muß sich Ihnen gegenüber ziemlich verpflichtet fühlen, wenn es Ihnen einen solch ungewöhnlichen Wunsch erfüllt«, merkte Eins-Dreiundneunzig an. »Was fehlte Ihnen denn?«
Hewlitt versuchte immer noch, sich eine angemessene, nicht offenkundige Antwort einfallen zu lassen, als Eins-Dreiundneunzig sagte: »Wahrscheinlich handelte es sich um eins dieser ekligen Fortpflanzungsprobleme, die diese Wesen haben, die keine Eier legen können. Ihr seht doch, daß die Terrestrierin es uns nicht sagen will, und außerdem glaube ich nicht, daß ich es überhaupt wissen will.«
Eigentlich wollte sich Hewlitt spontan gegen die Vermutung wehren, ein weibliches Wesen zu sein, das keine Eier legen konnte. Da er aber ebensowenig wußte, ob er es mit weiblichen oder männlichen Chaldern zu tun hatte, konnte er es ihnen umgekehrt nicht vorwerfen, wenn sie mit ihm denselben Fehler begingen. Also besann er sich eines Besseren undantwortete diplomatisch:
»Meistens ist der übliche Klatsch und Tratsch hier im Orbit Hospital mit irgendeinem körperlichen oder emotionalen Aspekt des Fortpflanzungsprozesses verbunden. Wenn ich Ihnen die peinlichen Erlebnisse anderer Wesen erzählen sollte, dann wäre ich natürlich weniger zurückhaltend, als wenn es sich um die eigene Person dreht.«
»Aha, ich fürchte, wir verstehen, was Sie uns damit sagen wollen«, meinte Eins-Dreiundneunzig. »Aber jetzt würden wir lieber erst einmal wissen, wann wir voraussichtlich nach Hause geschickt werden. Haben Sie diesbezüglich irgend etwas vernommen?«
»Nein, leider nicht«, antwortete Hewlitt. »Aber ich werde versuchen, das herauszufinden.«
Das stimmt zumindest, dachte er, wobei er sich an die von der Rhabwar empfangene Warnung erinnerte und an die Notfallübung, die auf seiner ehemaligen Station stattgefunden hatte. Ob es ihm überhaupt erlaubt war, etwas von seinen Erkenntnissen preiszugeben, stand auf einem ganz anderen Blatt, denn allmählich befürchtete er, daß es weder einfach noch angenehm sein würde, die ganze Angelegenheit zu erklären. Doch stellte sich schon bald heraus, daß die drei Chalder im Grunde nur über ihre alles geliebte Heimat sprechen wollten.
Zuerst hatte er damit gerechnet, daß der Versuch, ihm die Wasserwelt von Chalderescol zu beschreiben, dasselbe wäre, als würde man einem Farbenblinden einen Sonnenuntergang beschreiben, doch hatte er sich diesbezüglich geirrt. Innerhalb weniger Minuten erfuhr er etwas über die Freiheit eines Meeres, das, abgesehen von zwei kleinen Gegenden an den Polen, die gesamte Planetenoberfläche bedeckte und über hundertfünfzig Kilometer tief war. Nachdem sich die Chalder auf die oberste Sprosse der evolutionären Unterwasserleiter ihres Heimatplaneten Chalderescol II hochgekämpft und etabliert hatten, war es ihnen gelungen, die Energie der Unterwasservulkane in den Griff zu bekommen und zu nutzen und gleichzeitig mit den natürlichen Ressourcen des vielleicht schönsten Planeten der Föderation hauszuhalten; wenngleich die meisten außerplanetarischenWesen spezielle druckbeständige Unterwasserfahrzeuge und Sehhilfen benötigten, um diese Welt vor Ort bewundern zu können. Schon lange vor der Entdeckung des Feuers waren die Chalder eine hoch zivilisierte Spezies und konnten schon nach den ersten technischen Errungenschaften durch die fast vakuumdichte Atmosphäre über ihren Ozean fliegen und schon bald darauf Weltraumflüge unternehmen. Doch egal wie weit oder häufig diese Wesen auch reisten und aus welchen Beweggründen sie dies auch immer taten, sie blieben doch stets ein Teil des chalderischen Heimatozeans und mußten regelmäßig auf ihren geliebten Planeten zurückkehren.
Angesichts ihrer gewaltigen Größe und des enormen Aufwands an erforderlichen Lebenserhaltungssystemen sowie der extremen Gefahren und Unannehmlichkeiten, denen sich diese Wesen bei Weltraumreisen aussetzten, fragte sich Hewlitt, warum sie nicht einfach zu Hause auf Chalderescol II blieben.
»Warum wollen wohl sämtliche Spezies, die ansonsten alle sieben Sinne einigermaßen beisammen haben, unbedingt Weltraumreisen unternehmen?« fragte Zwei- Elf zurück und erinnerte Hewlitt daran, daß er laut nachgedacht haben mußte. »Falls Sie sich auch noch mit den anderen Patienten auf unserer Station unterhalten wollen, dann ist das eine viel zu umfassende philosophische Frage, als daß wir sie noch vor der Jagd nach dem Mittagessen klären könnten. Halten Sie sich bitte wieder an meiner Flosse fest…«
Die Begegnung mit den drei Chaldern hatte ihm die Angst vor diesen Unterwassermonstern gänzlich genommen, so daß er sich fortan mit den anderen Patienten auf fast freundschaftlicher Ebene unterhalten konnte, da er deren Gefühle nun etwas besser verstand, ohne sich dabei zum Narren machen zu müssen. Bei dem schwer erkrankten Patienten, mit dem sich Lioren unterhielt, legte er zwar einen kurzen Zwischenstop ein, sagte aber keinen Ton. Die beiden waren bereits in ein Gespräch vertieft, und er hielt es für angebrachter, sie dabei nicht zu stören. Dennoch hatte der kurze Aufenthalt neben dem Behandlungsgestell für ihn ausgereicht, um festzustellen, daß auch dieser Chalder kein Wirt der Virenkreatur gewesenwar, was ebenso für den Rest der Patienten und das gesamte Pflegepersonal auf dieser Station zutraf.
Als er zum Personalraum zurückkehren wollte, entdeckte er, daß die Klappe des Essenspenders neben dem Eingang offenstand, und mehr als hundert flache, eiförmige Gebilde horizontal durchs Wasser trieben, die alle knapp einen Meter Durchmesser hatten. An der Oberfläche waren sie mit unregelmäßigen matten Flecken bedeckt, während die Unterseite blaßgrau gefärbt war. Eine lange, flache Rückenflosse verlief von vorn nach hinten, und im äußeren Rand der Schwanzflosse befanden sich drei kreisförmige Löcher. Als er ein Stück darauf zuschwamm, um eins dieser Objekte genauer zu begutachten und es versehentlich berührte, begann es sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Plötzlich tauchte Oberschwester Hredlichli neben ihm auf.
»Was ist das für ein… ?« begann Hewlitt und hielt inne, als eine formlose illensanische Gliedmaße vorschoß, nach dem Objekt griff und es wieder ausrichtete.
»Sie dürfen die Flugbahn nicht verändern«, ermahnte ihn Hredlichli in ihrer gewohnt ungeduldigen Art. »Zu Ihrer Information: Falls Sie es noch nicht wissen sollten, das hier ist ein Behälter mit konzentrierter Nahrung und einer genießbaren Außenhülle, der durch verborgen angebrachte Hochdruckkapseln mit ungiftigem Gas angetrieben wird. Dadurch wird die Bewegung eines im Wasser fliehenden, nicht empfindungsfähigen Schalentiers simuliert, das im chalderischen Ozean heimisch ist. Man hat herausgefunden, daß bewegliche Nahrung den Appetit der Patienten anregt und sich generell positiv auf das körperliche Wohlbefinden auswirkt. Sollte solch ein Krusten tier-dummy gegen eine Wand oder die Decke knallen und aufspringen, dann würde das einen ziemlichen Dreck verursachen, den mein Pflegepersonal aus dem Wasser filtern und entfernen müßte, obgleich wir hier wirklich etwas Wichtigeres zu tun haben. Gehen Sie also bitte wieder in den Personalraum.« Damit wandte sich Hredlichli von Hewlitt ab, blickte in Richtung der Station und verkündete: »Achtung! Ich bitte alle Anwesenden um Ihre Aufmerksamkeit!«Hredlichlis Stimme war sowohl aus den Wandlautsprechern als auch über Hewlitts Kopfhörer zu vernehmen.
»…die Hauptmahlzeit steht unmittelbar bevor«, fuhr die Oberschwester fort. »Fünfzehn Minuten später folgen die mit blauen Kreisen gekennzeichneten Behälter, in denen sich die für die Patienten Eins-Dreiundneunzig, Zwei- Elf und Zwei-Fünfzehn erforderliche Schonkost befindet. Denken Sie bitte freundlicherweise daran, daß diese Kost ausschließlich für die eben genannten Patienten bestimmt ist. Den in Behandlungsgestellen befindlichen Patienten werden die Mahlzeiten vom Pflegepersonal geliefert, sobald die schwimmfähigen Patienten mit dem Essen fertig sind. Alle Klinikmitarbeiter, die sich noch auf der Station befinden, werden aufgefordert, sofort in den Personalraum zurückzukehren. Das gilt übrigens auch für Sie, Padre Lioren.«
Kurz darauf traf Lioren im Personalraum ein, doch schien er keine Lust zu haben, sich zu unterhalten. Wahrscheinlich war er noch mit seinen Gedanken bei dem kranken Patienten. Hewlitt beobachtete, wie die künstlichen Krustentiere aus den Essensfahrzeugen herauskatapultiert wurden und durch die Station trudelten und wie sich ihre Anzahl rasch verringerte, weil riesige Schatten mit zuschnappenden Mäulern auf sie zuschossen. Hredlichli, die in ihrem Schutzanzug wie eine in Plastik eingewickelte Pflanze wirkte und ziemlich grotesk aussah, trieb näher zu ihm heran. Zum ersten Mal seit seinem Eintreffen auf dieser Station, schien selbst die Oberschwester nichts zu tun zu haben.
Hin und wieder gab es seiner Meinung nach Zeiten, wo man durch das Vortäuschen falscher Tatsachen oder das Anbringen von Halbwissen sehr viel mehr erreichen konnte, und deshalb entschloß er sich, eine etwas riskante Frage zu stellen.
»Die AUGL-Spezies ist außerhalb ihres Heimatplaneten bestimmt nicht leicht zu transportieren, nicht wahr, Oberschwester Hredlichli? Wie lange würde eigentlich eine Evakuierung sämtlicher Patienten von dieser Station dauern? Und wie würden Sie ganz persönlich die Erfolgsaussichten einer solchem Maßnahme beurteilen?«In Hredlichlis Schutzanzug zuckten einige der öliggelben, palmwedelähnlichen Blätter, als sie antwortete: »Offensichtlich wissen Sie über den Notfall schon längst Bescheid. Das erstaunt mich, weil diese Information ausschließlich den ranghöchsten Offizieren und medizinischen Mitarbeitern vorbehalten ist sowie einer einzigen Oberschwester, nämlich mir, weil diese Station bei einer eventuellen Evakuierung spezielle Probleme mit sich bringt. Oder sind Sie etwa mehr als nur ein neugieriger Besucher, und steckt womöglich ein ganz anderer Grund dahinter, weshalb Sie sich mit sämtlichen Patienten auf der Station unterhalten wollten?«
Daß die Antwort auf beide Fragen ›ja‹ lautete, war Hewlitt klar, aber das konnte er nicht zugeben, da von der Existenz der Virenkreatur ebenfalls nur einige wenige wußten. Eigentlich wollte er von der Oberschwester ein paar genauere Details über den Notfall erfahren, doch traute er sich nicht mehr, irgendwelche Fragen zu stellen, zumal er so tun müßte, als wüßte er Bescheid. Aus seiner anfänglichen Neugier wurde allmählich wachsende Furcht.
»Tut mir leid, Schwester, aber leider ist es mir nicht erlaubt, diese Frage zu beantworten«, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.
Immer mehr Körperteile Hredlichlis zuckten aufgeregt. »Wenn es um meine Station geht, dann kann ich einer solchen Geheimniskrämerei nicht zustimmen. Meine Chalder mögen zwar eine gewisse Übergröße haben, aber deswegen sind sie noch lange nicht dumm. Selbst in diesem Krankenhaus gibt es noch immer viel zu viele Leute, die körperliche Größe mit einem Mangel an Intelligenz gleichsetzen. Sollten meine Patienten erfahren, daß es eine Fehlfunktion im Energieversorgungssystem gibt, durch die das ganze Orbit Hospital bedroht ist, würden sie trotzdem niemals in Panik geraten. Sie würden nicht einmal auszubrechen versuchen, wenn man ihnen sagt, daß sie aufgrund ihrer Größe und den daraus folgenden Problemen mit ihrer Evakuierung zu den letzten zählen, die das Krankenhaus verlassen können, und daß wegen der knapp bemessenen Zeit nicht genügend Schiffe für ihre Unterbringung umgerüstet werden könnten. Und die giftige und verdünnte Atmosphäre außerhalb dieserStation wäre für diese Wesen genauso tödlich wie meine Chloratmosphäre oder der Weltraum. Diejenigen Patienten, die zurückbleiben müßten, würden ihr Schicksal akzeptieren und ganz bestimmt darauf bestehen, daß sich ihr Pflegepersonal retten solle, weil diese Chalder sehr intelligente, hoch sensible und äußerst fürsorgliche Monster sind.«
»Das kann ich nur bestätigen«, pflichtete ihr Hewlitt bei, schließlich hatte er sich erst kurz zuvor mit allen Chaldern unterhalten und selbst davon überzeugen können. Außerdem hatte er eben eine beängstigende Bestätigung des Grunds für die Notfallübungen erhalten, die offenbar überall stattgefunden hatten, nur nicht auf der Chalderstation. Am meisten beschäftigte ihn allerdings der Gedanke, weshalb er urplötzlich ein für ihn unerklärliches Mitleid mit dieser optisch so abscheulichen Chloratmerin empfand. »Wahrscheinlich wird es sowieso nicht so weit kommen, Oberschwester«, fügte er hinzu. »Ich denke, daß die Wartungsingenieure dieses Problem noch rechtzeitig in den Griff bekommen.«
»Bedenkt man, wie lange die gebraucht haben, nur um den Müllabzug am Behandlungsgestell von Eins- Siebenundachtzig zu reparieren, dann kann ich das Vertrauen, das Sie in diese Stümper setzen, nicht ganz nachvollziehen«, antwortete Hredlichli in ihrer gewohnt bärbeißigen Art.
Während seines Gesprächs mit der Oberschwester hatte Lioren die ganze Zeit sämtliche Augen auf Hewlitt gerichtet, doch selbst nie ein Wort dazu gesagt. Als sie sich wenige Minuten später wieder auf dem Korridor befanden, fragte sich Hewlitt, ob ihm der Padre das Gespräch mit Hredlichli krummnahm.
»Sind wir uns einig, daß es auf der Chalderstation keine Exwirte der Virenkreatur gibt?« erkundigte sich Hewlitt.
»Ja«, antwortete Lioren knapp.
Immerhin hatte dieses kleine Wort schon mal ein kleines Loch in die Mauer des Schweigens gerissen. Doch mit der wachsenden Angst wuchs auch Hewlitts Verlangen, mehr zu erfahren, und ihm war klar, daß seine nächste Frage dieses kleine Loch in der Mauer wieder verschließen könnte.»Haben Sie den Grund für die Notfallübung eigentlich auch gekannt und ihn mir extra nicht verraten, Lioren?«
»Ja«, antwortete der Padre, und bevor Hewlitt die naheliegende Frage nach dem Warum stellen konnte, fuhr Lioren fort: »Dafür gab es drei Gründe. Einer davon ist Ihnen ja bereits bekannt; nämlich der, daß Sie auf diesem Gebiet kein Experte sind, was wiederum bedeutet, daß es überhaupt keinen Sinn gehabt hätte, Sie über den wahren Sachverhalt zu informieren, da es nicht zur Lösung des Problems beigetragen hätte. Zweitens hätten Sie sich nur unnötige Sorgen gemacht, was sich möglicherweise auf Ihr Verhalten bei unserer gegenwärtigen Suche negativ ausgewirkt hätte. Und drittens bin ich über den Notfall unter ganz besonderen Begleitumständen informiert worden, die es mir verbieten, meine Kenntnisse preiszugeben. Auf jeden Fall haben Sie von Hredlichli auch nicht viel weniger erfahren, als ich weiß, so daß ich mich jetzt durchaus in der Lage sehe, mich mit Ihnen über die aktuelle Situation zu unterhalten… zumindest ganz allgemein.«
»Soll das etwa heißen, daß es da immer noch etwas gibt, das Sie mir nicht verraten wollen«, hakte Hewlitt nach und fügte im geringschätzigen Ton hinzu: »Natürlich nur, damit ich mir keine unnötigen Sorgen mache, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Lioren.
Jetzt war Hewlitt an der Reihe, lieber eine Mauer des Schweigens um sich herum zu errichten, denn die Wörter, die er Lioren gerne an den Kopf geworfen hätte, wären dem Padre höchstwahrscheinlich nicht gerecht geworden.
Folglich mußte sich dieses Mal Lioren als Abbruchunternehmer von Schweigemauern betätigen. »Als nächstes begeben wir uns auf die SNLU-Station«, verkündete er. »Die SNLUs sind sehr zarte Methanwesen mit einer kristallinen Gewebestruktur, die auf helles Licht und steigende Umgebungstemperatur extrem empfindlich reagiert. Die für uns erforderlichen Schutzfahrzeuge sind stark isoliert und etwas unbeweglich, aber mit Außensensoren und fernbedienbaren Greifarmen ausgestattet.Aufgrund der extremen Hörempfindlichkeit ist es notwendig, die nach außen gehenden akustischen Signale zu reduzieren und die hereinkommenden zu verstärken, deshalb ist es sehr leise auf dieser Station. Sie können sich meinem Patienten ruhig nähern, wenn ich Sie mit ihm bekanntmache. Danach müssen Sie uns beide aber allein lassen. Sie können sich dann mit den drei anderen Patienten, die dort zur Zeit sonst noch behandelt werden, unterhalten, wie Sie es schon auf der Chalderstation getan haben. Um die Steuerung Ihres Schutzfahrzeugs brauchen Sie sich nicht zu kümmern, weil es vom Personalraum aus von einem Mitarbeiter ferngesteuert wird.«
Hewlitt schwieg beharrlich, da er sich noch immer maßlos darüber ärgerte, daß Lioren ihm Informationen vorenthielt, nur damit er sich keine unnötigen Sorgen machte.
»Wie Sie gleich feststellen werden, kühlt bei den auf der SNLU-Station herrschenden Umweltbedingungen selbst das heißblütigste Temperament rasch ab«, fügte Lioren weise hinzu.