25. Kapitel


O'Mara schwang sich auf dem Sessel herum, damit er den in der Tür stehenden Padre besser sehen konnte, und fragte ihn: »Verbergen Sie etwas vor uns, Padre?«


Lioren verdrehte ein Auge in Richtung des Psychologen und hielt die anderen drei auf Hewlitt gerichtet, als er antwortete: »Jedenfalls nicht bewußt. Für mich kommt das alles genauso überraschend wie für Sie. Ihre Anweisung lautete, daß die Mitarbeiter des psychologischen Teams das hier geführte Gespräch zur späteren Analyse draußen mit anhören sollten. Da ich von der AUGL-Station vorzeitig zurückgekehrt bin, habe ich auch Patient Hewlitts Schilderung seiner Gefühle bezüglich der Katze mitbekommen. Ich… ich brauche erst mal etwas Zeit, um darüber nachzudenken.«


»Dann tun sie das«, ermunterte ihn O'Mara. »Aber versuchen Sie bitte, beim Sortieren Ihrer Gedanken nichts wegzulassen.«


»In Ordnung.« Lioren schien sich durch die letzte Bemerkung des Chefpsychologen nicht sonderlich beleidigt zu fühlen, es sei denn, das Verdrehen eines Auges an die Decke galt auf Tarla bereits als abfällige Geste. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Während meiner Tätigkeit hier am Hospital empfinde ich sehr oft unterschwellige und zumeist kaum zu beschreibende Gefühle für meine Schützlinge, sowohl für die Patienten als auch für die Mitarbeiter; umgekehrt gilt übrigens häufig dasselbe. Obwohl wir Tarlaner körperlichen Kontakt zwischen fremden Wesen abstoßend finden, so halte ich es doch für notwendig, jemandem einfach die Hand zu halten oder ihn zu streicheln, um Gefühle zu vermitteln, die für die betroffenen Personen zu schwierig auszudrücken sind. Bevor Hewlitt von der Existenz einer von ihm empfundenen Bindung zwischen ihm und seiner Katze erzählte und mir klar wurde, daß zwischen uns beiden und der ehemaligen Patientin Morredeth eine ähnliche Verbindung besteht, habe ich die ganze Angelegenheit überhaupt nicht für wichtig gehalten. Doch jetzt stellt sich alles gänzlich anders dar, denn anscheinend bin ich zu einemneuen Wirt für die Virenkreatur geworden. Ich weiß sogar, wie und wann diese Übertragung stattgefunden haben muß.


Damals ist mir an dem Zwischenfall natürlich nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Die Beschädigung des Fells ist für eine junge Kelgianerin eine doppelte Tragödie. In den Augen dieser Spezies handelt es sich nicht nur um eine häßliche körperliche Entstellung, durch die eine zukünftige Paarung praktisch ausgeschlossen ist, sondern auch um eine ernsthafte Beeinträchtigung ihres wichtigsten Kommunikationsmittels. Von dem Zeitpunkt an, an dem Patientin Morredeth erfuhr, daß es sich um einen dauerhaften Zustand handeln würde, bedurfte sie dringend seelischen Beistands. Wie die meisten zivilisierten Planetenbevölkerungen verfügen auch die Kelgianer über verschiedene religiöse Überzeugungen, deren Grundzüge mir einigermaßen vertraut sind, doch Morredeth billigte keine davon. Während meiner täglichen Besuche konnte ich ihr deshalb nur ganz allgemein Trost spenden und mich mit ihr unterhalten. Dazu gehörte natürlich auch der neueste Krankenhausklatsch über irgendwelche Patienten oder Mitarbeiter, um sie von ihren eigenen Problemen abzulenken. Viel habe ich allerdings nicht damit erreicht, denn die Patientin fiel stets in einen Zustand tiefster Depressionen zurück. Erst bei dem Treffen, das direkt nach dem unfreiwilligen körperlichen Kontakt mit Patient Hewlitt stattfand, legte sie ein völlig verändertes Verhalten an den Tag.«


Lioren hielt kurz inne, und bei der freudigen Erinnerung an dieses Ereignis geriet sein großer, spitz zulaufender Körper unter dem umhangähnlichen Mantel leicht ins Zittern, eher er sich wieder beruhigte.


»Auch wenn ich hier der Krankenhausgeistliche bin, so habe ich doch Schwierigkeiten damit, irgendein Vorkommnis, selbst wenn es einem hin und wieder völlig unerklärlich vorkommen mag, als übernatürlich anzusehen. Da ich aber zu dem Zeitpunkt noch nichts von der Existenz dieser intelligenten Virenkreatur wußte, begann selbst ich allmählich an Wunder zu glauben. Morredeths Verhalten nach ihrer Heilung kann man wirklich nicht mehr als ganz normal bezeichnen, weil sie vor Freude undErleichterung fast durchgedreht zu sein schien. Ich hatte die beschädigte Stelle ihres Fells schon zuvor einmal berührt oder, besser gesagt, leicht gestreichelt, um ihr Trost zu spenden. Als Morredeth wieder gesund war, bestand sie aber darauf, die Freude mit ihr zu teilen, indem ich die Beweglichkeit ihres wiederhergestellten Fells mit meinen Händen selbst überprüfen sollte. Dabei muß es passiert sein.


Das Fell war wirklich ungeheuer beweglich, und zwar so sehr, daß sich lange Büschel davon um meine Finger wickelten. Einen Augenblick lang wurde eine meiner mittleren Hände fest gegen die Haut gepreßt, und ich hatte Angst, mich loszureißen, weil ich befürchtete, dabei einige Strähnen des nachgewachsenen Fells herauszureißen. Danach habe ich zwar bemerkt, daß meine Handfläche feucht war, doch war ich mir nicht sicher, ob es sich dabei um meinen eigenen oder um den Schweiß der Patientin handelte. Natürlich hatte ich erst recht keine Ahnung, daß eine solch plötzlich auftretende Feuchtigkeit mit demÜbertragungsmechanismus dieser Kreatur in Verbindung stehen könnte. Sekunden später zog ich meine Hand ohne Probleme von ihrem Fell zurück, beglückwünschte Patientin Morredeth zu ihrer Heilung und machte mich dann auf den Weg zu anderen Patienten.«


»Haben Sie denn sonst nichts gespürt?« erkundigte sich Hewlitt, bevor jemand anders etwas sagen konnte. »Ich meine, haben Sie sich irgendwie besser gefühlt oder gesünder oder zumindest irgendwie anders? Oder haben Sie gar keine Veränderungen wahrgenommen?«


O'Mara warf Hewlitt einen mürrischen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Lioren zuwandte und knurrte: »Das wären auch meine Fragen gewesen. Also, wie sieht's damit aus, Padre?«


»Ich kann mich an keine ungewöhnlichen Gefühle erinnern«, antwortete Lioren. »Das Gefühl, das ich jetzt in unmittelbarer Nähe zu einem Exwirt der Virenkreatur empfinde, wurde damals vielleicht durch meine Erleichterung und Freude über Morredeths Heilung in den Hintergrund gedrängt. Was meine Gesundheit angeht, so ist diese sowieso ganz hervorragend, und deshalb kann ich mich körperlich kaum besser fühlen.Was allerdings meinen seelischen Gesundheitszustand betrifft, so bin ich mir da weniger sicher, und anscheinend sind die Heilfähigkeiten unseres Leibarztes auf diesem Gebiet stark begrenzt.«


Hewlitt fragte sich, welches psychologische Problem ein solch integres und selbstloses Wesen, dessen Beliebtheitsgrad bei den Patienten und dem Krankenhauspersonal nur noch durch Prilicla übertroffen wurde, beschäftigen könnte. Noch während er überlegte, ob er sich trauen sollte, diese Frage zu stellen, wurde die Antwort darauf von dem Chefpsychologen höchstpersönlich geliefert.


»Padre, Sie sind von jeder Schuld am Tod der Cromsaggi freigesprochen worden, und ich hoffe, daß Ihr Unterbewußtsein dieses Urteil endlich mal akzeptiert. Aber wo wir gerade bei diesem Thema sind: Auf Cromsag sind Sie ernsthaft verletzt worden und mußten von einem Schiffsarzt operiert werden, der mit der tarlanischen Physiologie nicht sonderlich gut vertraut war, so daß Sie einige kleine Narben zurückbehalten haben. Sind die noch sichtbar?«


»Das weiß ich nicht, weil ich mir meinen Körper nur sehr selten genauer ansehe. Narzißmus ist für uns Tarlaner ein Fremdwort. Soll ich meinen Mantel ablegen?«


»Ja, das wäre wohl angebracht«, forderte ihn O'Mara auf.


Zwei von Liorens mittleren Händen tauchten aus Schlitzen seines langen, blauen Mantels hervor und machten sich daran, die Verschlüsse zu öffnen.


Hewlitt war das etwas peinlich. Er blickte hilfesuchend zu Prilicla, der direkt neben ihm schwebte, und flüsterte zu ihm hoch: »Soll ich mich umdrehen?«


»Nein, Freund Hewlitt«, beruhigte ihn der Empath. »Tarlaner können mit dem terrestrischen Nacktheitstabu überhaupt nichts anfangen, und der blaue Mantel, den er trägt, ist zum einen ein Symbol für seinen Beruf und seine akademische Würde, und zum anderen verbergen sich darin etliche Innentaschen. Und jetzt sehen Sie genau hin. Freund Lioren hat sich mehrmals umgedreht, und ich habe keine einzige Narbe entdeckenkönnen.«


»Weil es offensichtlich keine mehr gibt«, stellte Lioren verdutzt fest, wobei sich seine vier Augen nach unten bogen und an ihren Stielen wie reife Früchte baumelten. »Die Operation ist damals trotz der gebotenen Eile sehr ordentlich durchgeführt worden, so daß die Narben kaum zu sehen waren, aber jetzt sind sie sogar völlig verschwunden.«


O'Mara nickte. »Augenscheinlich hat unser kleines Virus seine übliche Visitenkarte hinterlassen: einen perfekt geheilten und gesunden Körper. Das ist genau die Bestätigung, die wir brauchen, um zu wissen, daß Sie ein Wirt gewesen sind, und vielleicht sind Sie es sogar immer noch.« Der Major blickte zu Prilicla hinauf. »Na, was ist? Ist unser kleiner Hausarzt noch in seiner Praxis oder schon auf dem Weg zu einem anderen Patienten?«


»Offenbar ist er nicht mehr da«, antwortete der Empath. »Vom Padre geht nur eine Quelle emotionaler Ausstrahlungen aus, und diese stammt von ihm selbst. Falls eine andere Intelligenz anwesend wäre, würde ich sie bei dieser kurzen Entfernung auf jeden Fall bemerken.«


»Sind Sie sich wirklich sicher?« hakte O'Mara nach. »Demnach gehen Sie also davon aus, daß Sie dieses Wesen immer entdecken würden, ungeachtet der Spezies seines Wirtskörpers, richtig?«


»Ja, Freund O'Mara. Ich käme gar nicht darum herum. Auf emotionaler Ebene könnte es seine Gegenwart vor mir niemals verbergen, genausowenig wie es mir entgehen würde, wenn Ihnen ein zweiter Kopf wüchse …«


O'Mara lächelte tatsächlich zum ersten Mal. »In diesem medizinischen Irrenhaus könnte das durchaus von Vorteil sein.«


»…bei einer Person wie Freund Conway, der gleichzeitig über den Verstand von acht oder neun verschiedenen Wesen zu verfügen glaubt, bin ich mir allerdings weniger sicher«, fuhr der Empath fort. »Dadurch wird die emotionale Ausstrahlung ziemlich verworren, so daß ihr ein gewisser Zweifel anhaftet.«


»Diagnostiker Conway ist auf gar keinen Fall ein ehemaliger Wirt«,mischte sich Hewlitt ein.


»Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen«, pflichtete ihm Lioren bei.


»Da bin ich aber heilfroh!« seufzte Murchison erleichtert und lachte. »Mit einem mehrfach geistig abwesenden Mann verheiratet zu sein ist schon schlimm genug.«


Der Chefpsychologe klopfte einmal ungeduldig mit der Hand auf den Schreibtisch. »Wir schweifen vom Thema ab. Aus naheliegenden Gründen müssen wir das Aufspüren des gegenwärtigen Aufenthaltsortes dieser Kreatur als eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit behandeln… «


So naheliegend sind die Gründe für mich gar nicht, dachte Hewlitt, doch hatte er kaum eine Chance, Fragen zu stellen.


»… für diese Suche steht uns – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, Prilicla – ein empathischer Spürhund zur Verfügung, der ihre Gegenwart feststellen kann, wenn sich der Wirtskörper in Hörweite befindet und zu keinem Diagnostiker gehört. Außerdem haben wir zwei ehemalige Wirte, die diejenigen Wesen identifizieren können, die bereits in Besitz genommen worden sind, wenn sie sich in Sichtweite befinden. In beiden Fällen muß die exakte Entfernung noch berechnet werden. Alle ehemaligen sowie der gegenwärtige Wirt müssen umgehend aufgespürt werden. Wir sind uns ziemlich sicher, daß Hewlitts einziger körperlicher Kontakt innerhalb des Hospitals mit Patientin Morredeth stattgefunden hat, von der wiederum der Padre die Virenkreatur empfangen hat, bevor diese in einen anderen Patienten eingedrungen ist… «


»Bei allem Respekt, aber es muß sich dabei nicht unbedingt um einen Patienten handeln«, korrigierte ihn Lioren.


O'Mara nickte grimmig und fuhr dann fort: »Padre, ich habe nicht vergessen, daß es zu Ihrem Job gehört, sowohl den Mitarbeitern als auch den Patienten seelischen Beistand zu leisten. Sie müssen noch einmal mit allen reden, und denjenigen ausfindig machen, der sich das Virus von Ihnen eingefangen hat, und, falls es bei der betreffenden Person nicht mehr vorhanden ist, mit allen sprechen, mit denen diese danach in Kontaktgekommen ist, bis sie den aktuellen Wirt aufgespürt haben. Melden sie den Aufenthaltsort sofort dieser Abteilung, und fordern Sie gleichzeitig die Unterstützung des Monitorkorps für die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen an. Stellen Sie den Ort unter Quarantäne, und bleiben Sie dort mit dem betreffenden Wesen, bis Doktor Prilicla eintrifft, damit er die Anwesenheit der Virenkreatur bestätigen kann.


Falls Sie nichts dagegen haben, kleiner Freund, möchte ich gern, daß Sie parallel dazu eine zweite Suche aufnehmen, und zwar zunächst auf den Stationen der warmblütigen Sauerstoffatmer, in der Hauptkantine und auf der Freizeitebene. Wer auch immer diese Virenkreatur als erster entdeckt, und ganz unabhängig davon, in welchem Wirtskörper sie sich gerade befindet, sie muß isoliert werden, damit wir die notwendigen Schritte einleiten können, die sie daran hindern, ein anderes Opfer aufzusuchen. Sie, Prilicla, werden dann versuchen, das Wesen mit projizierender Empathie zu besänftigen, bis uns eine bessere Kommunikationsform eingefallen ist. Auf keinen Fall dürfen Sie sich dabei körperlich überanstrengen. Wir brauchen Sie nämlich noch als kombiniertes Such- und Kommunikationsgerät und nicht als Patienten.«


»Ich bin kräftiger, als ich auf den ersten Blick aussehe, Freund O'Mara«, merkte Prilicla an. »Naja, wenigstens etwas kräftiger.«


Die Terrestrier im Raum lachten, selbst O'Mara, der dann fortfuhr: »Aus zwei Gründen möchte ich, daß Hewlitt und der Padre als Team zusammenarbeiten. Einer davon ist, daß ich das von Ihnen beschriebene, nur sehr vage und vielleicht auch unzuverlässige Gefühl des Wiedererkennens, das zwischen ehemaligen Wirtskörpern besteht, nicht genau verstehe. Wenn Sie nun beide zusammenarbeiten, ist die Möglichkeit, eine solche Verbindung zu versäumen, meines Erachtens sehr viel geringer. Das zweite ist, daß ein ehemaliger Patient, der frei im Krankenhaus herumläuft – insbesondere einer, der sich im Orbit Hospital nicht genau auskennt und auch zu wenig Erfahrung hat, um Unfälle mit ETs zu vermeiden -, sehr bald wieder als Patient auf eine Station eingeliefert werden würde, es sei denn, er hat einen… nun ja… einen Schutzengel. Ausdiesem Grund werden wir Sie jetzt in eine Unterkunft umquartieren, die ganz in der Nähe von Liorens Quartier liegt. Hat einer von Ihnen etwas gegen diese Regelung einzuwenden?«


Hewlitt schüttelte den Kopf und beobachtete den Padre, der zwei seiner Augen senkte; eine Geste, die wahrscheinlich ebenfalls sein Einverständnis mit O'Maras Vorschlag ausdrücken sollte.


»Gut«, sagte O'Mara. »Aber Sie sollten nachdenken, bevor Sie allem so schnell zustimmen. Ich möchte, daß Sie beide jeden wachen Moment mit dieser Suche verbringen. Prilicla ist sich nicht sicher, ob er auch bei den Diagnostikern in der Lage ist, ,die Virenkreatur von den anderen Wesen zu isolieren, da ihnen gleichzeitig mehrere Schulungsbänder in den Köpfen herumspuken. Knöpfen Sie sich also diese Herrschaften als erstes vor.


In drei Stunden findet eine Besprechung auf Ebene dreiundachtzig statt, Lioren weiß in welchem Raum. Aufgrund des Problems mit dem Energieerzeugungssystem des Krankenhauses werden all diese hohen Kreaturen dort anwesend sein. Warten Sie vor dem Eingang, sehen Sie sich die Diagnostiker beim Hineingehen gut an, und melden Sie mir dann umgehend Ihre Beobachtungen. Sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, Hewlitt, wird Ihnen der Padre bestimmt behilflich sein. So, das war's dann mit dem nichtmedizinischen Teil der Besprechung, es sei denn, Sie beide haben noch etwas dazu beizutragen.«


»Moment noch«, sagte Hewlitt. »Das Problem mit der Energieversorgung, das Sie eben erwähnt haben, bereitet mir nämlich einige Sorgen. Beim Anflug der Rhabwar wurde uns doch mitgeteilt, daß der Hauptreaktor …«


»Wenn Sie meinen, sich deswegen Sorgen machen zu müssen, dann tun Sie das«, fiel ihm O'Mara ins Wort. »Dabei handelt es sich aber um ein technisches Problem, um dessen Lösung wir uns jetzt nicht auch noch den Kopf zerbrechen können, schließlich haben wir schon genug medizinische Probleme am Hals.«


Er deutete mit dem Kopf in Richtung Tür.Angst ist immer noch das vorherrschende Gefühl, dachte Hewlitt, während er wieder einmal zu Fuß durch das dreidimensionale Labyrinth der überfüllten Korridore des Orbit Hospitals ging. Damals bei seiner Ankunft war es ihm gar nicht bewußt gewesen, wie angenehm und sicher es doch sein konnte, in einem von einer hudlarischen Schwester gelenkten G-Schlitten transportiert zu werden, um den jeder lieber einen möglichst großen Bogen machte. Dementsprechend war ihm nun durchaus bewußt, daß er das, was er gegenwärtig erlebte, eigentlich als viel furchterregender hätte empfinden müssend Doch traten keine Konfrontationen mit fremden Wesen ein, die in körperlichen und möglicherweise lebensbedrohlichen Zusammenstößen hätten enden können, weil immer eine tarlanische Hand fest auf seiner Schulter lag, die ihn aus allen schwierigen Situationen zu lenken wußte. Den Grund, weshalb er so furchtbar ängstlich und dennoch nicht vor Angst gelähmt war, konnte er allerdings selbst nur sehr schwer begreifen.


Daß sich bei ihm kein blankes Entsetzen einstellte, mußte nach seinem Dafürhalten an Lioren liegen. Der Padre redete nämlich über sämtliche gehenden, kriechenden oder sich schlängelnden Horrorgestalten, an denen sie vorbeikamen, geradewegs so, als wären sie gemeinsame Bekannte. Häufig tat er dies sogar in einer Art und Weise, die, hätte es sich nicht um allgemein bekannten Krankenhaustratsch gehandelt, die Grenzen der Vertraulichkeit zu überschreiten drohte. Wenn man lustige Geschichten über Horrorgestalten erzählt bekam, verloren diese natürlich ihre furchteinflößende Wirkung, und Hewlitt fragte sich, ob er diese Kreaturen endlich als das zu begreifen begann, was sie waren. Anstatt sie lediglich anzusehen und am liebsten davonlaufen zu wollen, entwickelte er ihnen gegenüber sogar wachsende Neugier.


Vielleicht handelte es sich bei diesem ungewohnten und anhaltenden Interesse an den Extraterrestriern im Orbit Hospital um eine Art ansteckende Neugier, die ihm die Virenkreatur hinterlassen hatte. Gerade als er diesen Gedanken dem Padre gegenüber äußern wollte, bogen sie in einen langen Seitenkorridor ab, der – ganz im Gegensatz zu ihrer eigenenGemütsverfassung ruhig und leer war.


»Das hier sind die Personalunterkünfte«, erklärte ihm Lioren. »Normalerweise ist es nicht so ruhig, aber im Moment sind die Bewohner entweder im Dienst oder schlafen. Das hier ist Ihr neues Quartier. Ich komme lieber nicht mit hinein, denn der Raum reicht kaum für eine Person, trotzdem ist er einigermaßen komfortabel. Nur zu, gehen Sie hinein, und sehen Sie sich um.«


Von der Fläche her war das Zimmer sogar ein bißchen größer als die Kabine auf dem Schiff, mit dem Hewlitt einst zum Orbit Hospital transportiert worden war. Mit Erleichterung stellte er fest, daß die Beleuchtung in die relativ niedrige Zimmerdecke eingelassen war, da er mit den Haaren daran entlangstreifte.


»Die Betten sind doch viel zu klein für mich«, beschwerte er sich. »Da passe ich mit meinen langen Beinen niemals rein.«


»Normalerweise wird diese Unterkunft von zwei Nidianern bewohnt, die gerade draußen im All an einem mehrwöchigen Kurs für Schiffsbergungen teilnehmen«, klärte ihn der Padre auf, wobei er sich so weit nach vorn beugte, daß er ein Auge und einen Arm in den Raum schieben konnte. »Keine Sorge, die Betten kann man so verrücken, daß sie an den Fußenden zusammengeschoben werden können. Hinter der braunen Tür befindet sich übrigens ein Multispezies-Bad, das dem auf Station sieben sehr ähnlich ist. Die Wanddekorationen empfinden Sie hoffentlich nicht als allzu geschmacklos. Bei den beiden ursprünglichen Bewohnern dieser Kabine handelt es sich nämlich um männliche Wesen, die offensichtlich weibliche Motive irgendwelchen Landschaftsmalereien vorziehen.«


Hewlitt sah sich die Bilder von rotbepelzten Teddybären in vermeintlich aufreizenden Posen an und hätte beinahe laut losgelacht. »Ich kann daran nichts Anstößiges entdecken«, meinte er schmunzelnd.


»Gut, dort drüben in der Ecke befindet sich übrigens das Steuerpult«, erklärte ihm Lioren. »Der Sitz ist höhenverstellbar, die Tasten sind für Terrestrier groß genug, und der Bildschirm läßt sich auf Ihre visuellen Erfordernisse exakt abstimmen. Sie können die üblichen Unterhaltungs-,Bibliotheks- und Schulungsprogramme abrufen, und die gelben Knöpfe auf dem grünen Rechteck sind für die Speisekarte und die Auswahlanleitung des Essensspenders. Haben Sie eigentlich auch solch einen Hunger wie ich? Kommen Sie mit in den Speisesaal, oder wollen Sie sich lieber erst noch etwas ausruhen?«


»Ja… ich… Ach, ich weiß nicht recht. Ich würde mich gern weiter mit Ihnen unterhalten, kommen Sie doch einfach herein, oder, besser gesagt, quetschen Sie sich herein. Soll ich uns etwas zu essen bestellen? Was können Sie denn empfehlen?«


Lioren zögerte, bevor er antwortete: »Bis morgen wird Ihr Automat so umprogrammiert worden sein, daß er die terrestrischen Standardgerichte liefern kann.


Zwischen nidianischem und terrestrischem Essen kann man praktisch kaum einen Geschmacksunterschied wahrnehmen; für einen Tarlaner sind jedoch beide Ernährungsformen gleichermaßen ekelerregend. Deshalb würde ich den Speisesaal bevorzugen, was Sie an meiner Stelle bestimmt auch tun würden. In der Kantine ist die Speisekarte für sämtliche Spezies sehr viel umfangreicher, so daß auch Sie keine Probleme haben werden, etwas Geeignetes für sich zu finden.«


Dieses Mal zögerte Hewlitt. »Ist dort sehr viel Betrieb? Ich meine, noch schlimmer als in den Korridoren? Und… ahm… na ja, welches Verhalten wird dort von einem erwartet?«


»Sämtliche warmblütigen Sauerstoffarmer des Personals essen dort, wenn auch nicht, was Sie sicherlich freuen wird, alle zur gleichen Zeit. Sie sitzen, knien oder stehen um Tische herum und nehmen so ihre Mahlzeiten zu sich, wobei ein jeder darauf bedacht ist, anderen nicht in die Quere zu kommen. Falls wir einen freien Tisch in der Nähe des Eingangs finden – und das sollte kein Problem sein, weil das der unbeliebteste Bereich ist -, dann wird es uns sogar möglich sein, während des Essens zu arbeiten.«


»Arbeiten?« fragte Hewlitt verdutzt; in letzter Zeit passierte ihm einfach häufig zu viel in viel zu kurzen Abständen. »Wie denn das?«»Indem wir unsere jüngst entdeckte Fähigkeit des Wiedererkennens trainieren und das Klinikpersonal beim Hereinkommen oder Weggehen unter die Lupe nehmen, um nach Beweisen für eine ehemalige Inbesitznahme durch die Virenkreatur zu suchen. Selbst wenn die Ergebnisse negativ ausfallen sollten, handelt es sich dabei um eine effektive Methode, eine große Anzahl von Klinikmitarbeitern bei der künftigen Suche auszuschließen, so daß wir uns während der uns zur Verfügung stehenden Zeit mehr auf die Patienten und das diensthabende Personal konzentrieren können. Der gegenwärtige Wirt muß gefunden werden, und das so schnell wie möglich. Daß eine solche Virenkreatur in einem Multispezies-Krankenhaus ausgebrochen ist… darüber darf man eigentlich gar nicht nachdenken.«


»Aber warum denn nicht?« hakte Hewlitt nach. »Soweit ich weiß, hat diese Kreatur bislang niemandem Schaden zugefügt, sondern allenfalls das Gegenteil bewirkt. Das Orbit Hospital hat die Aufgabe, Wesen zu heilen, und die Virenkreatur macht dasselbe. Warum sind alle nur so furchtbar besorgt? Eigentlich wollte ich schon O'Mara danach fragen, aber er hat mir ja keine Gelegenheit mehr dazu gegeben, und auf der Rhabwar sind alle der Frage ausgewichen.«


Lioren ging in den Korridor zurück und wartete, bis Hewlitt die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, bevor er sagte: »Bedauerlicherweise kann ich Ihnen auch keine Antwort darauf geben.«


»Aber warum denn, verflucht noch mal!« fauchte Hewlitt wütend. »Schließlich bin ich kein Patient mehr, dem man irgendwelche medizinischen Geheimnisse vorenthalten muß.«


»Weil wir einfach keine einleuchtende Antwort für Sie parat haben«, erwiderte Lioren. »Außerdem ist es besser für Sie, wenn wir Sie mit unseren Zweifeln und Ängsten nicht unnötig belasten.«


»Ich persönlich bevorzuge es, mich lieber etwas unwohl in meiner Haut zu fühlen, als in Unkenntnis gehalten zu werden«, meinte Hewlitt.


»Und ich persönlich bevorzuge es, das Schlimmste zu erwarten unddabei das Beste zu hoffen. Das bedeutet, daß ich niemals enttäuscht bin, wenn am Ende das Erreichte nur knapp an einer totalen Katastrophe vorbeigeht oder, wie es in unserem Fall durchaus sein kann, wenn unsere Besorgnis völlig unbegründet ist. Wir dürfen uns nicht unnötig Angst machen. Und die Antwort auf Ihre vorherige Frage lautet, daß es keine gibt.«


»Keine was?« fragte Hewlitt verblüfft.


»Na, keine Tischmanieren oder sonstige Verhaltensregeln«, stellte der Padre klar. »Niemand wird sich in der Kantine um die Art Ihrer Nahrungsaufnahme scheren, noch wird man es Ihnen verübeln, wenn Sie es bewußt vermeiden, einen Gesprächspartner während einer Unterhaltung anzusehen, weil Sie nicht dabei zuschauen wollen, wie sich einige von uns eklige Speisen in die Mundöffnungen schieben. Und nun, Patient Hewlitt, müssen wir sowohl arbeiten, als auch essen.«


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