26. Kapitel


Auf der Rhabwar hatte Hewlitt den Empathen dabei beobachten können, wie dieser, über dem Teller schwebend, terrestrische Spaghetti – das nichtcinrusskische Lieblingsgericht Priliclas -, zu langen, gelben Strängen geflochten und mit seinem winzigen Mund aufgesogen hatte. Genausowenig war ihm entgangen, daß Naydrad beim Essen nicht die Hände zu benutzen pflegte, sondern die Hälfte ihres schmalen, kegelförmigen Kopfs solange in dem von ihr bevorzugten geraspelten, öligen Grünzeug vergrub, bis die Schüssel leer war. Hewlitt hatte sogar mitbekommen, wie sich der Gestaltwandler Danalta entweder auf etwas gesetzt oder sich gegen etwas gelehnt hatte, das er zu verdauen gedachte, bis nur noch die ungenießbaren Reste übriggeblieben waren. Da er schon zuvor auf Station sieben den Eßtisch mit Bowab, Horrantor und Morredeth geteilt hatte, überraschte es ihn kaum, daß er dem Padre ohne die leiseste Spur des Unbehagens bei der Nahrungsaufnahme zusehen konnte.


Lioren benutze beim Essen die Finger von zweien seiner oberen beweglichen Gliedmaßen, wobei die kleinen Hände in silberfarbenen Einweghandschuhen steckten, die – wie Hewlitts Messer und Gabel – in einem Zubehörpäckchen auf dem Tablett des Essensspenders mitgeliefert worden waren. Wenn der Padre das Essen zur Mundöffnung führte, fielen seine Bewegungen präzise und beinahe anmutig aus. Die schwammigen braunen und gelben Klumpen, die er verzehrte, waren Hewlitt viel zu fremd, als daß er sich hätte vorstellen können, aus welchem Material sie bestanden, oder um von ihnen angewidert zu sein.


Er hoffte, daß dies für Lioren umgekehrt genauso zutraf, zumal ihm das synthetische Steak sehr gut schmeckte. Doch wie der Padre wirklich empfand, konnte Hewlitt nicht einmal erahnen, da Lioren seit Betreten des Speisesaals noch kein Wort von sich gegeben hatte.


»Nun haben wir zwar gegessen, aber bis jetzt noch kein bißchen gearbeitet«, stellte Hewlitt fest und warf einen Blick in Richtung des nahen Eingangs. Dort teilte sich eine hereinkommende Gruppe Kelgianer in zweiHälften, um der massiven Gestalt eines Tralthaners Platz zu machen, der gerade die Kantine verlassen wollte. »Oder haben Sie bei jemandem etwas gespürt, was ich verpaßt haben könnte?«


»Nein«, antwortete Lioren und aß weiter. Der Padre wirkte verärgert und ungeduldig. Seit sie zu essen angefangen hatten, waren mehr als zweihundert Mitarbeiter an ihrem Tisch vorbeigegangen, -geschlittert, -geschlängelt oder -getrampelt. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß sich der Padre genauso wie er allmählich fragte, ob es sich bei der vermeintlichen Fähigkeit, ehemalige Viruswirte erkennen zu können, um nicht viel mehr als um reine Einbildung oder gar Selbsttäuschung handelte.


Als sich das Schweigen in die Länge zog, sagte Hewlitt: »Vielleicht funktioniert dieses Gefühl der geistigen Verbindung, oder worum es sich dabei auch immer handelt, nur zwischen Tarlanern, Terrestriern und Katzen, die sich bereits gut kennen. Vielleicht sind uns all diese Wesen einfach nicht vertraut genug, um den Unterschied zwischen vorher und nachher zu bemerken. Fürchten Sie nicht, daß wir hier nur unsere Zeit vergeuden?«


»Nein«, antwortete Lioren genauso knapp wie kurz zuvor. Es dauerte noch eine Weile, bis er seinen Teller leer gegessen hatte, dann erst fuhr er fort: »Die Dienstpläne des Personals sind so aufgestellt, daß der Speisesaal niemals überfüllt ist, auch wenn Ihnen Augen und Ohren etwas anderes sagen. Dennoch sind nie mehr als fünf Prozent der warmblütigen Sauerstoffatmer gleichzeitig anwesend. Die illensanischen Chloratmer, die Hudlarer sowie die bei extrem niedrigen Temperaturen lebenden Methanarten und all die anderen exotischen Lebensformen verfügen ebenso wie die Patienten über eigene Versorgungseinrichtungen. Sie verwechseln das Ausbleiben von positiven Ergebnissen mit Mißerfolg, Hewlitt.«


»Ich verstehe. Sie wollen mir also mit anderen Worten sagen, daß ich geduldiger sein muß und wir so weitermachen sollten wie bisher, richtig?« »Nein«, antwortete Lioren abermals. »Wir sind nicht…«


Plötzlich wurde er unterbrochen, weil der Bildschirm des Eingabegeräts für die Speisenauswahl rot blinkte und aus dem Lautsprecher eine forschklingende Stimme ertönte, die eine übersetzte Mitteilung wiederholte:


»Gäste, die fertig gegessen haben, werden gebeten, den Tisch umgehend zu räumen, damit er von nachfolgenden Kantinenbesuchern benutzt werden kann. Ihre Zeit ist um. Sie werden gebeten, berufliche oder private Gespräche, die nicht beendet werden konnten, umgehend einzustellen oder woanders weiterzuführen. Gäste, die fertig gegessen haben, werden gebeten…«


»Wenn wir nichts essen, dürfen wir hier nicht länger bleiben!« rief Lioren über den Lärm hinweg. »Je länger wir hier bleiben, desto mehr nimmt die Lautstärke zu, und den Wartungsdienst darum zu bitten, den Lautsprecher abzuklemmen, würde zu viel Zeit beanspruchen. Natürlich könnten wir ständig die Tische wechseln und jedesmal wieder Mahlzeiten bestellen, aber ehrlich gesagt, bin ich nicht mehr hungrig genug, um so etwas allzu lange durchzustehen.«


»Ich auch nicht«, pflichtete ihm Hewlitt bei.


»Dann schlage ich vor, daß wir den von mir verdächtigten Patienten Besuche abstatten«, fuhr der Padre fort. »Der erste liegt übrigens auf Station sieben und wurde gleich nach Ihrer Entlassung eingeliefert. Oberschwester Leethveeschi erwartet mich bereits. Es sei denn, sie gehören zu diesen Wesen, die nach einer großen Mahlzeit erst einmal ins Koma fallen müssen oder dringend Schlaf brauchen.«


Dieses Mal war Hewlitt an der Reihe, ›nein‹ zu sagen.


Die automatische Durchsage endete im selben Augenblick, als Sie vom Tisch aufstanden, der daraufhin sofort von zwei haarigen Orligianern, die Rangabzeichen von Chefärzten trugen, in Beschlag genommen wurde, aber keiner der beiden strahlte dieses undefinierbare Gefühl aus, das besagte, ein ehemaliger Wirt der Virenkreatur gewesen zu sein.


Als Hewlitt und Lioren gerade gehen wollten, kam Prilicla durch den Eingang hereingeflogen und blieb direkt über ihnen schweben. Zwar unterhielt er sich kurz mit beiden, erkundigte sich aber lieber erst gar nicht danach, wie es ihnen ergangen war, weil er ihre leichte Enttäuschung längstwahrgenommen hatte. Sie verharrten noch eine Weile vor dem Eingang und beobachteten, wie er sofort zu einer Gruppe Aliens hinüberflog, die sich um einen in der Nähe befindlichen Tisch versammelt hatten. Dort unterhielt er sich unter irgendeinem Vorwand mit den Anwesenden auf augenscheinlich freundschaftlicher Ebene, auch wenn er in Wirklichkeit nur versuchte, einen oder auch mehrere Geister ausfindig zu machen, die nicht nur eine, sondern zwei Quellen emotionaler Ausstrahlung besaßen. Höchstwahrscheinlich besaß dieser zerbrechliche und kleine Empath tatsächlich an jedem Tisch dieses riesigen Raums Freunde. In Anbetracht des mangelnden Durchhaltevermögens des Cinrusskers wünschte ihm Hewlitt in Gedanken viel Glück bei seinem Vorhaben und hoffte nur, daß Prilicla das finden würde, wonach er suchte, bevor er vor Überanstrengung womöglich eine Bruchlandung hinlegen würde.


Plötzlich unterbrach Prilicla seine Unterhaltung, um ihm zuzurufen: »Danke, Freund Hewlitt!«


Ein paar Minuten später befand sich Hewlitt zusammen mit Lioren in einem der überfüllten Hauptgänge, dennoch konzentrierten sich seine Gedanken nur teilweise darauf, Zusammenstöße mit anderen Wesen zu vermeiden.


»Ich habe eben über etwas nachgedacht, was mir ein wenig zu schaffen macht«, sagte er.


Liorens Antwort wurde nicht übersetzt.


»Und zwar wundere ich mich über diese merkwürdige Fähigkeit, durch die wir uns gegenseitig als ehemalige Wirtskörper erkennen«, fuhr er fort. »Als ich mir vor ein paar Minuten Sorgen um Prilicla gemacht habe und ihm in Gedanken viel Glück gewünscht habe, reagierte er auf das Gefühl, obwohl er ziemlich weit von uns entfernt gewesen ist und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war. Eigentlich ist daran nichts Seltsames gewesen, weil die emphatischen Fähigkeiten des Cinrusskers selbst bei solch einer relativ großen Entfernung noch sehr ausgeprägt sind. Aber was ist mit unserer eigenen Fähigkeit? Könnte es sich dabei nicht ebenfalls um eine abgeschwächte Form der Empathie handeln, die zwarimmerhin für eine Wiedererkennung ausreicht, ansonsten aber nicht viel bewirken kann? Und wenn das so ist, aus welcher Entfernung können sich ehemalige Wirte gegenseitig erkennen? Brauchen sie dazu Blickkontakt? Wirkt sich ein räumliches Hindernis negativ aus? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir bei einem Experiment behilflich zu sein?«


»Ich weiß es nicht, und diese Antwort gilt für alle sechs Fragen«, erwiderte der Padre. »Wie soll dieses Experiment überhaupt aussehen?«


Nachdem Hewlitt ihm erklärt hatte, was er von ihm wollte reagierte Lioren anfangs etwas ungehalten. »Aber das ist doch kein Experiment, sondern ein Spiel für Kleinkinder!« Schließlich beruhigte er sich und fuhr fort: »Andererseits: was soll's? Immerhin würde es uns nützliche Erkenntnisse liefern. Wenn ich einwillige mitzumachen, dann dürfen Sie aber niemandem verraten, daß ich mich – ein gereifter Erwachsener, der sich immerhin das Recht erworben hat, den Blauen Mantel zu tragen -, auf dieses Spiel eingelassen habe.«


»Jetzt beruhigen Sie sich mal, Padre«, besänftigte ihn Hewlitt. »Mir wäre es auch ziemlich peinlich, wenn andere erfahren, daß ich in diesem Alter Verstecken gespielt habe. Jedenfalls schlage ich vor, daß Sie sich verstecken sollten und nicht ich, da Sie die besseren Schlupfwinkel kennen…«


Sie gingen gerade einen langen Korridor entlang, der in einer T-förmigen Einmündung endete, wo der Komplex mit den Rampen, Treppen und Aufzügen untergebracht war, durch die man auf die oberen und unteren Ebenen gelangen konnte. In den Wänden befanden sich etliche Türen, die zu verschiedenen Stationen, Lager- und Vorratsräumen sowie zum Wartungstunnelsystem führten. Hewlitt sollte sich drei Minuten lang umdrehen, damit Lioren genug Zeit blieb, sich zu verstecken - entweder ganz in der Nähe oder weiter entfernt den Gang hinauf. Dabei gab es lediglich zwei Spielregeln zu beachten; zum einen, daß sich der Padre in einer leeren Abteilung verstecken sollte anstatt auf einer Station, weil sie sonst nur unnötig ins Gerede gekommen wären und die Gefahr bestanden hätte, den Stationsablauf zu stören, und zum anderen, daß Hewlitt dasVersteck allein durch den Einsatz des Instinkts, der Empathie oder dessen, was er sonst noch von dieser Virenkreatur geerbt haben könnte, ausfindig machen sollte, ohne hinter die Türen gucken zu dürfen.


Als nach zwanzig Minuten, in denen er vor potentiellen Verstecken gestanden und versucht hatte, Liorens Gegenwart im Geiste aufzuspüren, wobei er etliche Fragen und spöttische Bemerkungen von Passanten einfach überhört hatte, und sämtliche Möglichkeiten erschöpft waren, benutzte er enttäuscht den Kommunikator.


»Ich habe absolut nichts wahrgenommen«, sagte er. »Kommen Sie bitte heraus, ich weiß wirklich nicht, wo Sie sind.«


Lioren tauchte hinter einer Tür auf, die Hewlitt erst einige Minuten zuvor in Gedanken abgetastet hatte, und eilte auf ihn zu. »Ich auch nicht, obwohl ich gehört habe, wie Sie vor meinem Versteck einen Moment lang stehengeblieben sind«, meinte der Padre. »Das Geräusch von terrestrischen Schritten ist nämlich praktisch nicht zu verwechseln. Doch kaum habe ich Sie eben gesehen, hatte ich wieder dieses Wiedererkennungsgefühl.«


»Mir ging's genauso«, pflichtete ihm Hewlitt bei. »Aber warum müssen wir uns dabei sehen können?«


Der Padre gab ein glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und erwiderte: »Das weiß wohl nur Gott allein und vielleicht noch diese Virenkreatur.«


Den ganzen Weg bis zu seiner alten Station zerbrach sich Hewlitt schweigend den Kopf darüber. Abgesehen davon, sich per Kommunikator bei O'Mara zu melden, um ihm die neue Information weiterzugeben, schien der Padre keine Lust auf eine weitere Diskussion über dieses Thema zu haben. Wahrscheinlich drehten sich seine Gedanken in erster Linie um die Probleme des Patienten, den er gerade besuchen wollte.


»Patient Hewlitt, was machen Sie denn hier?« begrüßte ihn Leethveeschi erstaunt, als er kurz darauf das Personalzimmer betrat.


Wie er wußte, gehörten die regelmäßigen Besuche des Padre längst zum Stationsalltag, doch klang die Oberschwester so, als wäre sie über dieGegenwart eines ehemaligen Patienten, der sich als ein Störfaktor erwiesen hatte, nicht sonderlich erfreut. Während Hewlitt noch immer nach einer passenden Antwort suchte, übernahm Lioren diese Aufgabe bereits für ihn. Dabei fiel ihm zwar auf, daß der Padre nicht wirklich log, aber mit der Wahrheit recht sparsam umzugehen wußte.


»Mit Ihrer Erlaubnis, Oberschwester, wird er mich begleiten, damit er die Patienten beobachten und mit ihnen sprechen kann, um mir mit nichtmedizinischem Rat zur Seite zu stehen. Ich versichere Ihnen, daß er mit niemandem reden wird, dessen Behandlungsmethode oder Gesundheitszustand eine Unterhaltung nicht zuläßt. Darüber hinaus garantiere ich Ihnen, daß Ihnen der ehemalige Patient Hewlitt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten wird.«


Ein Teil von Leethveeschis Körper zuckte in der Chlorhülle, was vermutlich eine nonverbale Geste der Zustimmung war. Dann sagte sie: »Ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Das, was Sie mit Patientin Morredeth erlebt haben, Expatient Hewlitt, hat Sie wahrscheinlich dazu veranlaßt oder auch nur darin bestärkt, sich für eine Ausbildung zum geistlichen Berater zu entscheiden. Das ist sehr lobenswert, und Sie haben einen hervorragenden Mentor gefunden.«


»Der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin, ist, daß wir…«, begann Hewlitt.


»Das zu erklären würde sicherlich zu lange dauern«, unterbrach ihn Leethveeschi. »Im Moment habe ich wirklich nicht die Zeit, den theologischen Ausführungen oder Bekenntnissen eines Aliens zuzuhören, so interessant das alles auch sein mag. Sie können sich ja mit dem einen oder anderen Patienten darüber unterhalten, aber bitte sorgen Sie dafür, daß keine weiteren Wunder bei uns geschehen.«


»Das verspreche ich Ihnen«, antwortete Hewlitt lächelnd, während er dem Padre auf die Station folgte.


Nachdem sie sowohl Leethveeschi als auch alle anderen diensthabenden Schwestern und Pfleger im Personalraum von ihrer Liste potentieller Exwirte gestrichen hatten, taten sie dasselbe mit dem Patienten, dem Lioreneinen Besuch abstattete. Bei diesem bedauernswerten Geschöpf handelte es sich um einen Melfaner namens Kennonalt, dessen Stützgestell von beängstigend vielen Biosensoren und medizinischen Geräten umgeben war. Was dem Melfaner fehlte, konnte er nicht genau feststellen, zumal Lioren ihm klar zu verstehen gegeben hatte, daß die Unterhaltung mit Kennonalt rein privat sei und Hewlitt die Zeit lieber damit verbringen solle, die anderen Patienten zu überprüfen, bis er sich wieder zu ihm gesellen würde.


Folglich ging er gemächlich im Zickzack die Station auf und ab. Es war ein Spaziergang durch vertrautes Territorium, wenngleich er sich nicht sicher war, ob diese Vertrautheit auch auf die Patienten zutraf, denn er hatte immer noch große Probleme damit, einen Tralthaner, Kelgianer, Melfaner oder wen auch immer vom anderen zu unterscheiden. Die meisten von ihnen schienen froh über die Gelegenheit zu sein, sich unterhalten zu können. Andere wiederum wirkten eher zurückhaltend, oder sie ignorierten ihn einfach, und einer wurde gerade behandelt und durfte nicht gestört werden. Aber Hewlitt hatte die Gelegenheit, sie alle genau anzusehen; Patienten und Krankenpfleger gleichermaßen, und das sehr eingehend und in weit mehr Zeit, als er gebraucht hätte, um sie als ehemalige Wirte ausschließen zu können. Sein letzter Besuch galt einer Tralthanerin und einem Duthaner, die am Eßtisch für ambulante Patienten Scremman spielten. Noch während er sie ansprach, hatte er sie als ehemalige Wirtskörper bereits ausgesondert.


»Sie sind doch Horrantor und Bowab, nicht wahr?« begrüßte er die beiden. »Geht es Ihnen gut?«


»Ach, demnach müssen Sie Patient Hewlitt sein, richtig?« erkundigte sich die Tralthanerin. »Meine Gliedmaße heilt, danke der Nachfrage, und Bowab geht es sehr gut, sowohl gesundheitlich als auch bei diesem verflixten Spiel hier. Wie schön, Sie mal wiederzusehen. Erzählen Sie uns was von sich. Haben die Ärzte herausgefunden, was Ihnen fehlt?«


»Ja«, antwortete Hewlitt, und er wählte die Worte mit Bedacht, als er fortfuhr: »Ich habe keine Beschwerden mehr und fühle mich gesundheitlich sehr gut. Aber wie man mir gesagt hat, handelte es sich bei mir um einhöchst ungewöhnliches Krankheitsbild. Deshalb wurde ich darum gebeten, noch eine Weile hierzubleiben und dabei zu helfen, ein paar letzte offene Fragen bezüglich meines Falls zu klären. Das bei der mir geleisteten Hilfe abzulehnen wäre mir sehr schwer gefallen.«


»Sind Sie demnach jetzt so etwas wie ein gesundes Versuchsexemplar?« erkundigte sich Bowab mit besorgter Stimme. »Das klingt aber gar nicht gut. Hat man denn mit Ihnen irgend etwas Schlimmes angestellt?«


Hewlitt lachte. »Nein, und alles ist nur halb so tragisch, wie es sich vielleicht anhört. Ich habe jetzt mein eigenes Quartier im Personalbereich. Das ist zwar nur ein kleines Zimmer, das normalerweise von zweiNidianern bewohnt wird, aber ich kann mich im ganzen Krankenhaus frei bewegen, solange der Padre bei mir ist. Er ist nämlich sozusagen mein Aufpasser, damit ich mich nicht verlaufe oder von jemandem überfahren werde. Ich soll mich mit Leuten unterhalten und deren Fragen beantworten. Das ist alles, was man von mir will.«


»Sie sind schon immer ein merkwürdiger Patient gewesen, aber das, was Sie über Ihre Genesung berichten, kommt mir noch merkwürdiger vor«, bemerkte Bowab.


»Jetzt mal im Ernst!« sagte Horrantor energisch. »Wenn Sie lediglich mit Leuten reden und deren Frager beantworten, dann reden diese vermutlich auch mit Ihnen oder unterhalten sich in Ihrer Gegenwart miteinander. Erzählen Ihnen diese Leute aus Versehen oder aus Unkenntnis darüber, daß Sie nicht dem Klinikpersonal angehören, auch Sachen, die Sie eigentlich nicht wissen sollten? Wenn das der Fall ist und es Ihnen gestattet ist, Fragen zu beantworten, würden Sie dann auch eine unserer Fragen beantworten?«


Das klingt aber schon etwas ernster als die normale Wißbegier eines Patienten nach dem neuesten Krankenhaustratsch, dachte Hewlitt, und er hielt es für angebracht, Vorsicht walten zu lassen.


»Wenn es mir möglich ist, klar«, antwortete er.


»Horrantor ist gemein und hinterhältig, und sie läßt ihrer Phantasie wiedereinmal freien Lauf«, mischte sich Bowab erneut ein. »Deshalb schlägt sie mich auch andauernd beim Scremmanspielen. Wir haben zufällig einiges von dem mitbekommen, worüber sich die Schwestern unterhalten haben. Sobald sie aber bemerken, daß wir zuhören, stellen sie ihre Gespräche sofort ein. Wahrscheinlich handelt es sich nur um ganz gewöhnlichen Tratsch, wie er unter Personalangehörigen üblich ist, oder vielleicht auch nur um ein absolutes Mißverständnis unsererseits, weil wir lediglich ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen haben… Möglicherweise steckt aber doch mehr dahinter, und das macht uns wirklich Sorgen.«


»Gegen Klatsch und Tratsch ist sicherlich nichts einzuwenden, solange alles in Grenzen bleibt und keine unnötigen Ängste geschürt werden. Also, wie lautet nun Ihre Frage?«


Einen Moment lang blickten sich Bowab und Horrantor schweigend an, dann sagte der Duthaner: »Nach dem, was mir die Oberschwester vor ungefähr zehn Tagen erzählt hat, hätte ich längst für die restliche Genesungsphase in ein Krankenhaus meines Heimatplaneten verlegt werden müssen. Wegen der großen Nachfrage nach den einmaligen medizinischen Einrichtungen des Orbit Hospitals wird hier eigentlich nie unnütze Zeit mit Patienten vergeudet, die einigermaßen wiederhergestellt sind. Als ich aber gestern Leethveeschi gefragt habe, warum ich immer noch hier sei und ob sie mir irgend etwas verheimliche, hat sie mir geantwortet, daß zur Zeit kein geeignetes Transportmittel zur Verfügung stehe, das mich nach Hause bringen könne, und daß es keine gesundheitlichen Probleme für mich gebe, um die ich mir Sorgen machen müsse.


Fast zur selben Zeit, also vor knapp zwei Wochen, hat Chefarzt Medalont den Auszubildenden an Horrantors Bett einen Vortrag gehalten«, fuhr Bowab fort. »Er erzählte den Anwesenden, daß die Patientin soweit wiederhergestellt sei, um umgehend entlassen werden zu können. Das hätte eigentlich binnen weniger Tage geschehen sollen, weil die Besatzungsmitglieder der meisten Versorgungs- und Transportschiffe, die manchmal vier- oder fünfmal in der Woche hierherkommen, einersauerstoffatmenden Warmblüterspezies angehören und laut Föderationsgesetz dazu verpflichtet sind, die Mehrheit der transportfähigen warmblütigen Sauerstoffatmer unterzubringen. Bedenken Sie, daß Traltha und Dutha zentrale Handelswelten sind, die praktisch für alle direkt auf dem Weg liegen. Aber die Begründung, die Leethveeschi Horrantor für deren Aufenthaltsverlängerung genannt hatte, war genau dieselbe, die sie mir gegeben hatte, daß nämlich hinsichtlich der für mich erforderlichen Umweltbedingungen kein geeignetes Transportmittel zu Verfügung stehe.«


»Vergessen Sie nicht, ihm über die Notfallübung zu berichten«, erinnerte ihn Horrantor.


»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Bowab. »Also, vorgestern ist nämlich ein zwanzig Mann starkes Wartungsteam über unsere Station hergefallen. Leethveeschi hat das Ganze als eine Evakuierungsübung für den Notfall deklariert. Dabei trennten die Wartungsleute erst einmal die Betten der am ernsthaftesten erkrankten Patienten von den Wandbefestigungen und rüsteten die Gestelle mit zusätzlichen Sauerstoffbehältern und Gravitationsgittern aus. Dann wurden luftdichte Schutzzelte verteilt und man transportierte uns von der Station zu dem Gang, der zur Schleuse fünf führt, bis man uns schließlich wieder zurückbrachte. Leethveeschi stoppte die Zeit und ermahnte die Wartungsleute, daß der ganze Ablauf schneller werden müsse. Danach entschuldigte sie sich bei uns für die Unannehmlichkeiten und sagte, daß wir unser Spiel fortsetzen könnten und uns ansonsten keine Sorgen zu machen brauchten. Noch während die Leute des Wartungsdienstes die Station verließen und sich über den unverschämten Ton der Oberschwester beklagten und vor allem über den ungerecht hohen Leistungsstandard, den ihre Vorgesetzten von ihnen verlangten, obwohl es eine Katastrophenübung dieses Ausmaßes seit ungefähr zwanzig Jahren nicht mehr gegeben habe, konnten wir einige merkwürdige Wortfetzen aufschnappen, die uns sehr beunruhigt haben.


Also lautet unsere Frage: Was genau verheimlichen die vor uns?« beendete Bowab seine Ausführungen.


»Ich weiß es nicht…«, antwortete Hewlitt und fügte leise hinzu:»…jedenfalls nicht genau.«


Das entsprach durchaus der Wahrheit. Dennoch erinnerte er sich an die Rückreise mit der Rhabivar und an die Warnmeldung, die von der Anmeldezentrale gesendet worden war; nämlich daß alle Raumschiffe vorläufig außerhalb der inneren Leitbaken in Position zu gehen hätten, wenn sie keine Verletzten beförderten, die dringend versorgt werden müßten. Als Grund war ein nicht näher bestimmtes technisches Problem angeführt worden, mit dem sich der Wartungsdienst umgehend befassen werde, wenngleich diese Warnmeldung für das Ambulanzschiff Rhabivar offensichtlich nicht gegolten hatte.


Hewlitt fühlte sich nicht ansatzweise so locker, wie er sich anhörte, als er weitersprach: »Bislang sind mir zwar keinerlei Gerüchte über eine Evakuierung zu Ohren gekommen, aber ich werde mich trotzdem mal umhören und mich überall erkundigen. Wäre es nicht möglich, daß Sie das Gespräch, von dem Sie zufällig einiges mitgehört haben, mißverstanden haben? Schließlich führen alle öffentlichen Einrichtungen mit einem solch intensiven Personalaufwand von Zeit zu Zeit Notfallübungen durch. Na ja, und als jemand gemerkt hat, daß im Orbit Hospital seit zwanzig Jahren keine mehr stattgefunden hat, ist von der Krankenhausverwaltung wahrscheinlich entschieden worden, eine solche Übung lieber gestern als heute durchführen zu lassen, und natürlich waren die rangniedrigen Angestellten wieder einmal die Hauptleidtragenden.


Also könnte es doch durchaus sein, daß Leethveeschi recht hat und es nichts gibt, worüber Sie beunruhigt sein müßten«, fügte er hinzu, wobei er in Gedanken die Daumen drückte.


»Das ist genau das, was wir uns auch immer sagen, aber nachdem wir nun schon so lange miteinander Scremman spielen, fällt es uns schwer, überhaupt noch etwas zu glauben, was der andere erzählt«, wandte Horrantor ein.


»Wo wir gerade beim Thema sind, möchten Sie mitspielen?« wollte Bowab wissen. »Einer von uns könnte Sie kurzfristig als politischen Berater einkaufen, der die Seite wechseln will und …«Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Hewlitt, wie der Padre langsam die Station entlangging. Lioren bewegte sich im Zickzack und sah nach den Patienten oder wechselte mit Ihnen ein paar Worte, so wie er es selbst kurz zuvor getan hatte.


»Tut mir leid, diesmal geht's nicht«, lehnte er schließlich das Angebot dankend ab. »Ich muß gleich gehen.«


Nachdem er sich von seinen beiden ehemaligen Mitpatienten verabschiedet hatte und sich schließlich mit Lioren draußen auf dem Korridor befand, sagte er: »Ich habe bei den Patienten und beim Personal nichts wahrgenommen. Und wie ist es Ihnen ergangen, Padre?«


»Auch nicht anders«, antwortete Lioren.


»Aber ich habe ein interessantes Gerücht vernommen«, fuhr Hewlitt fort und berichtete über Horrantors und Bowabs Beobachtungen und den Wortlaut der Warnmeldung, die von der Rhabwar empfangen worden war. Er wußte, daß Lioren ihm keine Märchen erzählen würde, und wenn der Padre ihm nicht die Wahrheit sagen durfte, dann würde er seine Fragen geflissentlich überhören. »Sind Ihnen auch irgendwelche Gerüchte über eine Evakuierung zu Ohren gekommen? Und wenn ja, wissen Sie, was da vor sich geht?«


Es dauerte eine Weile, ehe Lioren antwortete: »Als nächstes begeben wir uns zu demDiagnostikertreffen auf Ebene dreiundachtzig.«


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