30. Kapitel


Einen Moment lang fror Hewlitt so sehr, als befände er sich ohne den Schutzanzug wieder auf der SNLU-Station, und er fragte sich, warum ihm die Schweißperlen, die ihm auf der Stirn standen, nicht wie Hagelkörner herunterfielen. Alle Augen des Padre waren auf ihn gerichtet, und er wußte nicht, ob die folgenden Worte Liorens seiner Ungeduld entsprangen oder der Notwendigkeit, das Thema aus therapeutischen Gründen zu wechseln.


»Versuchen Sie bitte, alle anderen Probleme erst einmal zu verdrängen«, riet ihm der Padre. »Sie sind im Begriff, Ihrem ersten Telfi zu begegnen; bedauerlicherweise einem, der im Sterben liegt. Zum einen benötigen Sie dazu einige zusätzliche Informationen und zum anderen müssen Sie ein paar Vorsichtsmaßnahmen beachten. Beides ist für Ihre eigene Sicherheit bestimmt und um zu vermeiden, Patient Cherxic noch mehr zu belasten. Hören Sie mir also bitte genau zu und wenn möglich, ohne irgendwelche Fragen zu stellen… «


Lioren fuhr damit fort, die Bedingungen auf Telfi zu beschreiben, einem Planeten, der sich in etwa fünfzig Millionen Kilometern Entfernung, stets eine Seite seiner Sonne zugewandt, um sein Zentralgestirn drehte. Die Flora auf diesem Planeten setzte sich ausnahmslos aus mineralienartigen Pflanzen zusammen. Die extrem hohen Temperaturen und Strahlenemissionen wären für alle anderen intelligenten Spezies der Föderation tödlich gewesen, so daß der Planet – mit Ausnahme für die telfischen Bewohner selbst – im wahrsten Sinne des Wortes die reinste Hölle darstellte.


Bei den Telfis handelte es sich um tierähnliche Wesen, die sich auf der Tagseite des Planeten entwickelt hatten und zum Überleben die von der Sonne gelieferte hohe Hitze und harte Strahlung benötigten. Neben einer eigenen Sprache verfügte diese Spezies zusätzlich über telepathische Fähigkeiten, die zwar auch zwischen den Einzelwesen angewandt wurden, insbesondere aber zwischen den Teilwesen einer sogenannten Gesamtgestalt, die körperlich eng miteinander verbunden waren.Ihre Zivilisation war sehr alt und zu Beginn ihres Raumfahrtzeitalters schon sehr weit fortgeschritten. Die für sie notwendigen Umweltbedingungen in einem Schiff zu reproduzieren war sehr schwierig, und obwohl das Ausmaß an Funktionsstörungen und Verlusten unter telfischen Besatzungsmitgliedern im Vergleich zum üblichen Föderationsstandard verhältnismäßig hoch war, konnte sie dieser Umstand nicht von interstellaren Raumflügen abhalten. Die Telfis waren schon vor längerer Zeit der galaktischen Föderation beigetreten, um die damit verbundenen wirtschaftlichen und kulturellen Vorteile einer Mitgliedschaft zu nutzen, wozu auch der häufige Gebrauch der medizinischen Einrichtungen gehörte.


Unter der Voraussetzung, daß ein telfisches Schiffmit Verletzten an Bord schnell genug im Orbit Hospital eintraf, konnte man dort durchaus Hilfe gewähren. Wenn allerdings der Strahlenabsorptionsmechanismus eines verletzten Telfi zusammenbrach – zumeist ausgelöst durch einen plötzlichen Strahlenentzug oder eine katastrophale Übersättigung von harter Strahlung -, dann blieben dem Krankenhaus höchstens einhundert Stunden vom Eintreten des Unglücksfalls bis zur Einleitung der Behandlung. Dazu gehörte, daß der Strahlencocktail in der erforderlichen Dosierung und Dauer reproduziert werden mußte, da dies eine unabdingbare Voraussetzung für den Genesungsprozeß des Verletzten war.


Die Notwendigkeit, diese Vielfalt heilender atomarer Strahlen für die Telfis zu reproduzieren, war der einzige Grund, weshalb das Orbit Hospital einen kleinen Atomreaktor unterhielt, der inmitten modernster Kernfusionsanlagen eher wie ein Museumsstück wirkte. Über die Jahre hinweg hatte das Krankenhaus nicht nur gelernt, wie man telfische Unfallopfer behandeln konnte, sondern auch Patienten, die an den telfischen Entsprechungen für Atem- und Darmbeschwerden und gynäkologischen Krankheiten litten. Aus naheliegenden Gründen mußten für solche Behandlungen häufig nicht nur Ärzte, sondern auch Physiker und Ingenieure herangezogen werden.


»Das Teilwesen, das wir besuchen werden, ist der letzte noch lebendePatient von insgesamt dreien, die sich bei einer Funktionsstörung ihres Schiffs verletzt haben. Die technischen Einzelheiten will ich uns lieber ersparen, da wir beide sowieso nicht viel davon verstehen. Cherxic war ein Teilwesen der Gesamtgestalt, die auf die Bedienung des Schiffes spezialisiert war. Da er kein funktionierendes Mitglied seiner Gruppe mehr ist, haben die anderen die Reihen so gut wie möglich geschlossen und jeglichen körperlichen, verbalen und telepathischen Kontakt mit Cherxic abgebrochen, um…«


»Haben Sie nicht eben noch behauptet, daß es sich bei den Telfis um eine zivilisierte Spezies handelt?« unterbrach ihn Hewlitt.


»Ja«, antwortete Lioren, wobei er mit den Augen und den mittleren Händen schnell die Verschlüsse von Hewlitts Schutzanzug überprüfte. »In Ordnung. Die Schutzhandschuhe und die darunter befindlichen Stoffhandschuhe brauchen Sie nicht anzulegen, da wir sie während des Besuches bei Cherxic nicht benötigen, aber überprüfen Sie die Sichtblende ihres Helms lieber doppelt, während ich mich umziehe. Die Lichtstrahlung ist auf der Telfi-Station nämlich das reinste Teufelszeug.«


»Der Anzugstoff scheint sehr dünn zu sein«, merkte Hewlitt mit kritischem Blick an.


»Die Materialien, aus denen sowohl der Anzug als auch die Sichtblende sind, wurden vom Planeten Telfi importiert, wo man sie zum Schutz für außerplanetarische Besucher entwickelt hat«, klärte ihn der Padre auf. »Weder Sie selbst noch einer Ihrer zukünftigen Nachkommen, die Sie vielleicht noch hervorbringen werden, müssen sich Sorgen machen.«


Hewlitt schluckte schwer und versuchte, mit fester Stimme zu reden, als er sagte: »Wenn wir tatsächlich Virenembryos in uns tragen, müßte Prilicla sie dann nicht wahrnehmen können?«


»Ja, vorausgesetzt, daß sie sich in einem Entwicklungsstadium befinden, wo sie sich ihrer eigenen Existenz bereits bewußt sind.«


Noch bevor Hewlitt etwas entgegnen konnte, fuhr Lioren fort: »Weder Patient Cherxic noch irgendein anderer Telfi würde in solch einer tragischenZeit daran denken, um die Anwesenheit eines Familienangehörigen oder Freundes zu bitten. Bei vollem Bewußtsein langsam sterben zu müssen ist für jede Lebensform eine schreckliche Erfahrung, und da die Telfis ihre telepathischen Fähigkeiten bis zum Ende bewahren, möchten sie diese nicht mit ihren Artgenossen teilen. Selbst bei nachlassendem Bewußtsein spürt ein Telfi heftige Schmerzen, begleitet von Angst, die nicht gebändigt oder verheimlicht werden kann, weil ein Telepath außerstande ist, seine Gefühle zu verheimlichen. Für ein Wesen, das von Geburt an daran gewöhnt ist, in engem körperlichen und geistigen Kontakt mit seinen Mitwesen zu stehen, bedeutet dieser Zustand eine unbekannte und schreckliche Isolation; eine Einsamkeit, die dermaßen groß ist, daß Nichttelepathen sich das kaum vorstellen können. Folglich sind nur Nichttelepathen wie wir in der Lage, einem sterbenden Telfi Trost zu spenden. Dies erreichen wir am besten dadurch, indem wir uns mit ihm per Translator unterhalten, seinen letzten Gedanken zuhören und ihm ermöglichen, die körperliche Nähe eines anderen empfindungsfähigen Wesens noch einmal zu spüren, denn er weiß, daß wir Mitgefühl haben, seinen Schmerz aber nicht spüren können.«


Hewlitt schämte sich ein wenig dafür, daß seine egoistische Angst größer gewesen war als sein Mitleid für dieses Wesen, dem er gleich begegnen würde. »Wie sehen Telfis eigentlich aus? Und als Sie eben von körperlicher Nähe gesprochen haben, was genau haben Sie damit gemeint?«


»Wir werden jetzt bis zur Schleusenkammer gehen, die zum Telfi-Schiff führt«, sagte Lioren, ohne Hewlitts Frage zu beantworten. »Folgen Sie mir. Sie brauchen keine Angst zu haben, denn wo wir hingehen, ist die Strahlenemission ungefährlich.«


Die Luftschleuse klappte auf und enthüllte einen Bordtunnel, dessen Ende wie eine viereckige Sonne glühte. In der Zeit, in der sie ihn durchquert hatten, hatten sich Hewlitts Augen an das grelle Licht gewöhnt, aber trotz seiner Sichtblende mußte er die Augen zusammenkneifen, um die Einzelheiten erkennen zu können. Die Geräte, die aus den Wänden und der Decke hervorragten, nahm er nur verschwommen wahr – und das sowohl in optischer als auch in geistiger Hinsicht -, doch in der Mitte derSchleusenkammer war ein G-Schlitten festgebunden, auf dem zwei lange, offene Metallkästen standen. Hewlitt folgte dem Padre und blieb mit ihm neben den beiden Kästen stehen. Ihm fiel dabei auf, daß Särge offenbar auf allen Welten gleich aussahen, wenngleich die Tatsache, daß diese Wesen anscheinend in ihre letzte Ruhestätte gelegt worden waren, bevor sie klinisch tot waren, nach seinem Dafürhalten von einem gewissen Mangel an Sensibilität zeugte.


»Diese beiden sind klinisch tot«, korrigierte ihn Lioren mit leiser, mißbilligender Stimme, die Hewlitt deutlich werden ließ, daß er zuvor laut nachgedacht haben mußte. »Sie sind beide innerhalb weniger Minuten nach meinem ersten Besuch gestorben. Man hat sie hier in der Schleusenkammer in der Nähe des Bordtunnels gelassen, damit die physische Anwesenheit ihrer Körper dem noch lebenden Teilwesen ihrer ehemaligen Gesamtgestalt keinen Kummer bereitet. Außerdem ist es so für die Pathologie bequemer, die Leichen abzutransportieren. Da die Telfis ihre Toten lediglich in der Erinnerung ehren, sind die Leichen dem Krankenhaus für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt worden, allerdings unter der Voraussetzung, daß die sterblichen Überreste auf die Oberfläche irgendeiner Sonne befördert werden. Bei den raumreisenden Gestaltwesen der Telfis hat sich dieser einheimische Brauch so eingebürgert. Entschuldigen Sie mich bitte kurz, denn ich muß mich erkundigen, ob es überhaupt noch möglich ist, Cherxic zu besuchen. Vielleicht ist er bereits gestorben… Ach, und bitte denken Sie daran, daß der Tod während einer Unterhaltung mit einem Telfi nie angesprochen werden darf.«


»In Ordnung, und trotzdem habe ich noch eine Frage: Eben haben Sie gesagt, daß die körperliche Nähe zu…«


»Padre Lioren und Patient Hewlitt, ein DBDG-Terrestrier, möchten mit dem verletzten Teilwesen Cherxic Kontakt aufnehmen«, sagte Lioren in den Kommunikator. »Wäre das wohl möglich?«


In Hewlitts Hörmuschel knisterte so etwas wie eine lang anhaltende statische Entladung, die der Translator folgendermaßen übersetzte: »Sowohl Sie Lioren, als auch der Fremde namens Hewlitt sindwillkommen. Ein kurzer Besuch ist möglich. Bitte warten Sie.«


Der Padre trat näher an Hewlitt heran und betrachtete mit ihm gemeinsam einen der toten Telfis. Als Lioren sprach, war seine Stimme von tiefem Bedauern durchdrungen. »Der Telfi leidet schon sehr lange unter seiner Einsamkeit, doch können wir beide wenigstens etwas dazu beitragen, ihm sein Los zu erleichtern.«


Nach dem, was ihm alles über diese exotische strahlenverspeisende Spezies zu Ohren gekommen war, hätte Hewlitt niemals damit gerechnet, daß diese Wesen so gewöhnlich aussehen würden.


Mit Ausnahme eines zusätzlichen Paars Vorderglieder, die aus dem Halsansatz wuchsen, ähnelten die Telfis großen terrestrischen Eidechsen, die vom knolligen Kopf bis zum spärlichen Schwanz knapp anderthalb Meter lang waren. Die Leichname lagen auf dem Bauch, so daß die beiden kleinen lidlosen Augen und der geschlossene Mund die einzigen sichtbaren Gesichtsmerkmale waren. Die vier kurzen Gehgliedmaßen lagen flach am Körper an, während die beiden längeren Greiforgane über Kreuz nach vorn ausgestreckt waren, damit das Kinn auf dem Kreuzungspunkt ruhen konnte. Die blaßgraue Haut war überall gesprenkelt und geädert, wodurch sie Statuen aus unpoliertem Marmor glichen.


Obwohl Hewlitt sich daran erinnerte, daß man die Toten ruhen lassen und nichts Nachteiliges über sie sagen sollte, platzte es automatisch aus ihm heraus: »Die Hautfarbe sieht ja furchtb… ahm… wirklich sehr interessant aus. Man könnte fast sagen schön, wenn man farbenblind wäre.«


»Sie dürfen das Cherxic gegenüber niemals erwähnen, wenn Sie ihm begegnen«, ermahnte ihn der Padre in scharfem Ton. »Für einen Telfi ist blasse Haut nämlich weder interessant noch schön, sondern nur ein Symptom für fortgeschrittenen Strahlenhunger und den lebensbedrohlichen Ausfall des Absorptionsmechanismus. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann können Sie die Leichen ruhig anfassen. Legen Sie Ihre flache Hand irgendwo auf die Körperoberfläche.«


Nachdem sich Hewlitt mit seiner Bemerkung über die vermeintlich schöne Haut der Leichen etwas weit aus dem Fenster gelehnt hatte, fühlteer sich nun dem Padre gegenüber verpflichtet, einen der toten Telfis zu berühren. »Der fühlt sich ja ganz warm an«, staunte er.


»Da er keine Energie mehr absorbiert, hat sein Körper die Raumtemperatur angenommen«, erklärte der Padre. »Für Cherxic ist es nachher übrigens am angenehmsten, wenn man seinen Kopf sanft und langsam streichelt. Körperlicher und verbaler Kontakt ist zwar nur ein dürftiger Ersatz für die Gestalttelepathie, aber beides scheint dem Patienten Trost zu spenden.«


Hewlitt hörte auf, die blasse Eidechsenhaut zu streicheln, und ließ seine Hand darauf ruhen. »Moment mal! Ich habe Ihnen schon vorher diese Frage zu stellen versucht: Wollen Sie mir damit allen Ernstes sagen, daß Sie auch Cherxic mit der bloßen Hand berührt haben, genauso wie Sie Morredeths Fell angefaßt haben?«


»Ja«, antwortete der Padre. »Aber das ist kein Grund, sich darüber so aufzuregen. Physiologisch gesehen sind die Telfis keine geeigneten Wirtskörper für die Virenkreatur. Schließlich wäre es fast dasselbe, als würde sie versuchen, einen Atomreaktor zu infizieren.«


Allmählich ging Hewlitt ein Licht auf. »Ich habe Ihnen bereits erzählt, daß dieses Wesen eine Kernexplosion überlebt hat, und der Krankenhausreaktor funktioniert doch auch nicht mehr richtig und ist sozusagen sehr krank …«


Dann bemerkte Hewlitt, daß das Licht, das ihm aufgegangen war, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich schien, denn die große Innenluke der Schleuse öffnete sich und enthüllte die Gestalt eines Telfi. Dahinter befand sich eine weitere, transparente Tür, die den Blick auf das Schiffsinnere freigab. Er kam zu der Überzeugung, daß es sich um einen gesunden Telfi handeln mußte, weil das Wesen trotz der unbeschreiblich grellen Beleuchtung überhaupt kein Licht reflektierte. Sowohl dieser als auch die anderen Telfis, die Hewlitt hinter der durchsichtigen Luke entdecken konnte, wirkten auf ihn wie ein Haufen beweglicher schwarzer Löcher in Eidechsenform.


Und jeden einzelnen Telfi, den er sehen konnte, erkannte Hewlitt sofortals einen ehemaligen und einen davon sogar als den gegenwärtigen Wirtskörper der Virenkreatur.


Es ertönte eine knisternde Explosion statischer Entladungen als das Wesen, das in der offenen Luke stand, näherkam und sagte: »Ich bin das Teilwesen Cherxic. Bitte berühren Sie mich, meine lieben Fremdweltler, möglichst immer nur einer zur gleichen Zeit. Unser Schiff wird in Kürze zum Planeten Telfi zurückkehren, und es gibt wichtige Informationen, die ich Ihnen vorher noch mitteilen muß.«


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