Cousin

Am nächsten Morgen erschien eine Bedienstete, um mir beim Ankleiden und Zurechtmachen zu helfen. Lächerlich. Dennoch schien es angebracht, wenigstens zu versuchen, sich wie eine Arameri zu benehmen, also biss ich mir auf die Zunge, während sie viel Aufhebens um mich machte. Sie schloss meine Knöpfe und zupfte ständig an meiner Kleidung herum, als ob ich dadurch eleganter aussehen würde. Dann bürstete sie mein kurzes Haar und half mir dabei, mich zu schminken. Bei Letzterem brauchte ich allerdings wirklich Hilfe, da Darrefrauen keine Kosmetik benutzen. Ich konnte mich einer gewissen Fassungslosigkeit nicht erwehren, als sie den Spiegel herumdrehte und ich mich in voller Kriegsbemalung sah. Es sah nicht schlecht aus. Nur ... seltsam.

Ich muss wohl allzu finster dreingeblickt haben, weil die Dienerin ängstlich wurde und dann in einer großen Tasche, die sie mitgebracht hatte, herumkramte. »Ich habe genau das Richtige«, sagte sie und zog etwas heraus, das auf den ersten Blick wie eine Partymaske aussah: eine Art Brillengestell aus Draht war an einem satinüberzogenen Stab angebracht. Aber die Maske war seltsam, sie schien fast nur aus einem Paar hellblauer Federn zu bestehen, die wie die Augen einer Pfauenfeder aussahen.

»Alle Damen von hohem Geblüt benutzen so was«, sagte die Dienerin eifrig. »Sie sind jetzt in Mode. Seht.« Sie hob das Gestell vor ihr Gesicht, so dass die blauen Augen ihre eigenen, grauen überlagerten. Sie blinzelte und senkte das Gestell wieder — und plötzlich waren ihre Augen hellblau und von langen, exotischen, dicken schwarzen Wimpern umrahmt. Ich starrte verblüfft, und dann fiel mir auf, dass die Augen in dem Gestell jetzt grau und ausdruckslos waren, umgeben von den ziemlich gewöhnlichen Wimpern der Dienerin. Sie hielt das Gestell wieder vor ihre Augen, und alles war wieder beim Alten.

»Seht Ihr?« Sie hielt mir den Stab hin. Jetzt konnte ich die winzigen, schwarzen und kaum sichtbaren Siegel erkennen, die an seinem Rand eingraviert waren. »Blau würde wunderbar zu dem Kleid passen.«

Ich wich zurück und brauchte noch ein paar Sekunden, bevor ich in der Lage war, zu sprechen. »W-wessen Augen waren das?«

»Was?«

»Die Augen, die Augen. Woher stammen sie?«

Die Dienerin starrte mich an, als ob ich gefragt hätte, wo der Mond herkommt. »Ich weiß nicht, Mylady«, sagte sie nach einer Verwirrtheitspause. »Ich könnte Nachforschungen anstellen, wenn Ihr es wünscht.«

»Nein«, sagte ich ganz leise. »Nicht nötig.«

Ich dankte der Dienerin für ihre Hilfe, lobte ihre Geschicklichkeit und ließ sie wissen, dass ich während meines weiteren Aufenthaltes in Elysium keine Ankleidezofe mehr benötigen würde.

Ein weiterer Diener erschien kurz darauf und überbrachte mir eine Nachricht von T’vril: Wie erwartet hatte Relad meine Bitte, sich zu treffen, abgelehnt. Da wir Ruhetag hatten und keine Konsortiumssitzung stattfand, bestellte ich Frühstück und eine Abschrift der neuesten Finanzberichte aus den mir unterstellten Nationen.

Während ich die Berichte las, aß ich rohen Fisch und gedünstete Früchte. Eigentlich mochte ich das Essen der Amn, aber sie schienen nie zu wissen, was man kochen sollte und wovon man lieber die Finger ließ. Dann schaute Viraine vorbei. Angeblich, um zu sehen, wie es mir ging, aber ich hatte immer noch das Gefühl, dass er etwas von mir wollte. Dieses Gefühl verstärkte sich, als er in meinem Zimmer auf und ab ging.

»Es ist interessant, dass Ihr ein so aktives Interesse an Regierungsgeschäften zeigt«, sagte er, als ich einen Stapel Papiere beiseitelegte. »Die meisten Arameri machen sich nicht einmal die Mühe, die Grundbegriffe der Wirtschaft zu erlernen.«

»Ich herrsche — herrschte — über eine arme Nation«, sagte ich und deckte die Reste meines Frühstücks mit einem Tuch ab. »Diesen Luxus konnte ich mir nie erlauben.«

»Ah ja. Aber Ihr habt doch bereits Schritte unternommen, um diese Armut abzustellen, nicht wahr? Ich hörte, wie Dekarta heute Morgen darüber einen Kommentar verlor. Ihr habt die Euch unterstellten Königreiche angewiesen, die Handelsbeziehungen mit Darr wieder aufzunehmen.«

Ich hielt mitten im Teetrinken inne. »Er beobachtet, was ich tue?«

»Er beobachtet all seine Erben, Lady Yeine. Es gibt zurzeit kaum etwas anderes, das ihn unterhält.«

Ich dachte an die magische Kugel, die man mir gegeben hatte und mit der ich am Abend zuvor Kontakt zu meinen Ländern aufgenommen hatte. Ich fragte mich, wie schwer es wohl wäre, eine Kugel zu erschaffen, die sich bei der beobachteten Person nicht bemerkbar machte.

»Habt Ihr jetzt schon Geheimnisse?« Viraine zog wegen meines Schweigens amüsiert die Augenbrauen hoch. »Besucher in der Nacht, geheime Verabredungen, Verschwörungen im Gange?«

Ich hatte nie ein angeborenes Talent zum Lügen gehabt. Als meine Mutter das erkannte, brachte sie mir glücklicherweise andere Taktiken bei. »Das wäre hier doch scheinbar völlig normal«, sagte ich. »Obwohl ich bisher noch nicht versucht habe, jemanden zu töten. Ich habe die Zukunft unserer Zivilisation nicht zu meinem Vergnügen zu einem Gladiatorenkampf gemacht.«

»Wenn diese Kleinigkeiten Euch beunruhigen, Lady, dann werdet Ihr hier nicht lange durchhalten«, sagte Viraine. Er ging zu einem Sessel mir gegenüber, setzte sich hinein und legte die Fingerspitzen aneinander. »Möchtet Ihr einen Rat? Von jemandem, der hier auch einmal ein Neuankömmling war?«

»Eure Beratung ist mir willkommen, Schreiber Viraine.«

»Lasst Euch nicht mit den Enefadeh ein.«

Ich wusste nicht, ob ich ihn anstarren sollte oder ob es besser wäre, Unwissenheit vorzutäuschen und ihn zu fragen, was er damit meint. Ich blieb beim Anstarren.

»Si’eh scheint Zuneigung für Euch entwickelt zu haben«, sagte er. »Er tut das manchmal, wie ein Kind. Und wie ein Kind ist er anhänglich, er bereitet Freude und Ärger, und es ist leicht, ihn zu lieben. Tut es nicht.«

»Mir ist klar, dass er nicht wirklich ein Kind ist.«

»Ist Euch klar, dass er im Laufe der Jahre ebenso viele Menschen getötet hat wie Nahadoth?«

Ich konnte nicht verhindern, dass ich zusammenzuckte. Viraine lächelte.

»Er ist ein Kind, wohlgemerkt nicht vom Alter, aber vom Gemüt her. Er handelt impulsiv. Er hat die Kreativität eines Kindes ... und die Grausamkeit eines Kindes. Und er ist von Nahadoths Geblüt und hat seine Seele. Denkt darüber einmal nach, Lady. Der Lord der Finsternis, die Verkörperung all dessen, was wir, die wir Bright dienen, fürchten und verachten. Si’eh ist sein erstgeborener Sohn.«

Ich dachte darüber nach. Aber seltsamerweise stand nur eins klar vor meinem geistigen Auge: Si’ehs völlige Zufriedenheit, als ich meinen Arm in der ersten Nacht um ihn legte. Erst später wurde mir klar, dass ich bereits begonnen hatte, Si eh zu lieben, vielleicht sogar in genau dem Moment. Ein Teil von mir gab Viraine recht: Eine solche Kreatur zu lieben war jenseits von dumm und grenzte an Lebensmüdigkeit. Ich tat es trotzdem.

Viraine sah, wie ich schauderte. Voller Fürsorglichkeit kam er zu mir und berührte meine Schulter. »Ihr seid nicht nur von Feinden umgeben«, sagte er leise, und ich war so verunsichert, dass ich einen Moment lang in seinen Worten Trost fand.

»T’vril scheint Euch ebenfalls zu mögen, obwohl das bei seinem Hintergrund kein Wunder ist. Und Ihr habt mich, Yeine. Ich war ein Freund Eurer Mutter, bevor sie Elysium verließ — ich kann auch der Eure sein.«

Hätte er diese letzten Worte nicht ausgesprochen, hätte ich ihn möglicherweise als Freund in Betracht gezogen.

»Ich danke Euch, Schreiber Viraine«, sagte ich. Dieses eine Mal setzte sich, den Göttern sei Dank, meine Darr-Natur nicht durch. Ich versuchte, ehrlich zu klingen. Versuchte, nicht die Ablehnung und mein Misstrauen zu zeigen, die ich sofort empfand. Da er sehr erfreut dreinschaute, schien es mir gelungen zu sein.

Er ging, und ich saß nach seinem Besuch lange Zeit schweigend da und dachte nach.

Kurz darauf wurde mir klar, dass Viraine mich vor Si’eh gewarnt hatte, nicht vor Nahadoth.

Ich musste mehr über meine Mutter in Erfahrung bringen.

Viraine hatte behauptet, dass er ihr Freund gewesen war. Nach allem, was ich über meine Mutter wusste, konnte das nur eine Lüge sein. Viraines seltsame Mischung aus Fürsorge und Lässigkeit, seine kaltschnäuzige Hilfe und der falsche Trost — nein.

Meine Mutter hatte immer Menschen geschätzt, die im Umgang mit anderen geradeheraus waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie zu jemandem wie Viraine freundlich gewesen wäre, geschweige denn, ihm nahegestanden hätte.

Aber ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, mehr über meine Mutter herauszufinden. Die offensichtliche Informationsquelle war Dekarta, aber ich hatte wenig Lust, ihn vor dem ganzen Salon nach intimen Einzelheiten über die Vergangenheit meiner Mutter zu befragen. Ein privates Treffen, aber ... ja. Das würde gehen.

Allerdings noch nicht sofort. Erst musste ich mehr Klarheit darüber haben, warum er mich überhaupt nach Elysium geholt hatte.

Dann blieben noch andere Familienmitglieder der Zentralfamilie übrig, einige davon waren so alt, dass sie sich bestimmt noch an die Tage erinnerten, als meine Mutter noch Erbin war. Aber T vrils Warnung war mir noch im Gedächtnis: Alle Familienmitglieder, die wirklich Freunde meiner Mutter gewesen waren, befanden sich auf Geschäftsreise; zweifellos, um sicheren Abstand zu der Schlangengrube Elysium zu halten. Niemand, der hiergeblieben war, würde ehrlich mit mir sein. Sie waren Dekartas Leute — oder Seiminas oder Relads.

Ah, das war doch eine Idee. Relad.

Er hatte meine Bitte, sich zu treffen, abgelehnt. Das Protokoll schrieb vor, dass ich es nicht noch einmal versuchte — aber das Protokoll war eine Richtline und galt nicht uneingeschränkt, und innerhalb der Familie war das Protokoll immer das, was die Familienmitglieder daraus machten. Vielleicht wusste ein Mann, der daran gewöhnt war, mit jemandem wie Scimina umzugehen, eine direkte Annäherung zu schätzen. Ich ging los und suchte T’vril.

Ich fand ihn in einem geräumigen, aufgeräumten Büro in einer der unteren Palastetagen. Die Wände leuchteten hier unten, obwohl draußen helllichter Tag war. Das lag daran, dass die unteren Etagen sich unter dem Teil des Palastes befanden, der am meisten Ausdehnung hatte, und deshalb in ewigem Schatten lagen. Ich bemerkte, dass ich nur Bedienstete auf diesen Etagen sah, die meisten trugen ein Blutsiegel, das wie ein einfacher schwarzer Balken aussah.

Das waren, wie ich inzwischen dank Viraines Erklärungen wusste, entfernte Verwandte. Sie waren seit sechs Generationen nicht mehr Teil der Zentralfamilie.

T’vril gab einer Gruppe seiner Mitarbeiter Anweisungen, als ich eintraf. Ich blieb kurz vor der offenen Tür stehen und hörte untätig zu, ohne ihn zu unterbrechen oder mich bemerkbar zu machen. Er sagte zu einer jungen Frau: »Nein. Es wird keine weitere Warnung geben. Wenn das Signal ertönt, hast du nur eine Chance. Bist du immer noch in der Nähe des Schachtes, wenn er kommt ...« Er sagte nichts weiter.

Das verbissene Schweigen, das seinen Worten folgte, erregte schließlich meine Aufmerksamkeit. Es schien hier um mehr zu gehen als die üblichen Anweisungen, ein Zimmer zu reinigen oder das Essen schneller zu liefern. Ich trat näher an die Tür, um zuzuhören, doch dann bemerkte mich einer von T’vrils Leuten. Er gab T’vril wohl irgendein Zeichen, denn T’vril schaute sofort in meine Richtung. Einen halben Atemzug lang starrte er mich an, dann sagte er zu seinen Leuten: »Danke, das wäre dann alles.«

Ich trat beiseite, damit die Gruppe Bediensteter sich auflösen und durch die Tür davongehen konnte, was sie mit flinker Tüchtigkeit und ohne viel Geplapper taten, wie ich wenig überrascht feststellte. T’vril erschien mir als jemand, der alles fest im Griff hatte. Nachdem das Zimmer sich geleert hatte, verbeugte T’vril sich vor mir und schloss hinter uns aus Rücksichtnahme auf meine Stellung die Tür.

»Wie kann ich Euch helfen, Cousine?«, fragte er.


Ich wollte ihn nach dem Schacht fragen und worum es dabei ging. Dann auch nach dem Signal, worum es dabei ging — und warum sein Personal so aussah, als ob er gerade eine Hinrichtung angekündigt hätte. Es war allerdings offensichtlich, dass er es vorzog, nicht darüber zu sprechen. Seine Bewegungen wirkten leicht gekünstelt, als er mich auf einen Stuhl vor seinen Schreibtisch winkte und mir einen Wein anbot. Ich sah, dass seine Hand zitterte, während er ihn eingoss, bis er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, und die Karaffe abstellte.

Er hatte mein Leben gerettet, und dafür schuldete ich ihm Höflichkeit. Also sagte ich nur: »Was glaubt Ihr, wo Lord Relad sich jetzt gerade aufhält?«

Er öffnete den Mund, um zu antworten und hielt dann stirnrunzelnd inne. Ich sah, dass er in Erwägung zog, mir mein Vorhaben auszureden, sich dann aber dagegen entschied. Er klappte seinen Mund zu und sagte dann: »Höchstwahrscheinlich auf der Sonnenbank. Er verbringt den größten Teil seiner Freizeit dort.«

T’vril hatte mir das am Tag zuvor während meiner Führung durch den Palast gezeigt. Die obersten Etagen von Elysium gipfelten in einer Vielzahl von Plattformen und luftigen Türmen, von denen die meisten Wohnungen und Unterhaltungsräume für Vollblut-Arameri enthielten. Das Solarium war einer dieser Unterhaltungsräume: ein riesiger Raum mit Glasdach, voll tropischer Pflanzen, kunstvoller Sofas, Grotten und Pools zum Baden oder für ... andere Dinge. T’vril war mit mir während der Führung nicht allzu weit hineingegangen, aber ich hatte durch die Palmwedel hindurch eine Bewegung wahrgenommen und einen unmiss- verständlichen Aufschrei der Begeisterung. Ich hatte T’vril nicht gedrängt, mich näher hinschauen zu lassen, aber wie es schien, hatte ich jetzt keine andere Wahl.

»Danke«, sagte ich und stand auf.

»Wartet«, sagte er und ging hinter seinen Schreibtisch. Er durchwühlte einige Schubladen, richtete sich dann auf und hielt ein kleines, hübsch bemaltes Keramikfläschchen in den Händen. Er gab es mir.

»Versucht, ob das hilft«, sagte er. »Er könnte sich eimerweise davon kaufen, wenn er wollte, aber er mag es, bestochen zu werden.«

Ich steckte das Fläschchen in die Tasche und prägte mir die Information ein. Aber die ganze Unterhaltung warf eine neue Frage auf. »T’vril, warum helft Ihr mir?«

»Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete er und klang plötzlich erschöpft.

»Es ist offensichtlich zu meinem Nachteil — das Fläschchen hat mich ein Monatsgehalt gekostet. Ich habe es aufbewahrt, bis ich einmal einen Gefallen von Relad benötige.«

Ich war jetzt reich, deshalb notierte ich in meinem Gedächtnis, drei dieser Fläschchen zu bestellen und sie T’vril als Entschädigung zu schicken. »Warum dann?«

Er sah mich lange an, vielleicht, weil er sich über die Antwort erst selbst klar werden musste. Schließlich seufzte er. »Weil es mir nicht gefällt, was sie Euch antun. Weil Ihr wie ich seid. Ich weiß es wirklich nicht.«

Wie er? Ein Außenseiter? Er war hier aufgewachsen und hatte genauso viel Verbindung zur Zentralfamilie wie ich, aber er würde in Dekartas Augen nie ein wahrer Arameri sein. Oder meinte er, dass ich die einzige andere anständige, ehrliche Seele an diesem Ort war? Falls das der Wahrheit entsprach.

»Habt Ihr meine Mutter gekannt?«, fragte ich.

Er sah überrascht aus. »Lady Kinneth? Ich war noch ein Kind, als sie uns für Euren Vater verließ. Ich kann nicht sagen, dass ich noch viel von ihr weiß.«

»An was erinnert Ihr Euch?«

Er lehnte sich an den Schreibtischrand, verschränkte die Arme und dachte nach. In dem elysiumeigenen Licht glänzte sein geflochtenes Haar wie ein Kupferseil. Die Farbe hätte vor Kurzem noch unnatürlich auf mich gewirkt. Jetzt lebte ich unter Arameri und verkehrte mit Göttern. Meine Maßstäbe hatten sich geändert.

»Sie war wunderschön«, sagte er. »Nun, alle Mitglieder der Zentralfamilie sind wunderschön; was die Natur ihnen versagt, gibt ihnen die Magie. Aber bei ihr war es mehr als das.« Er runzelte die Stirn. »Sie erschien mir immer ein wenig traurig. Ich habe sie nie lächeln sehen.«

Ich erinnerte mich an das Lächeln meiner Mutter. Sie hatte wesentlich öfter gelächelt, als mein Vater noch lebte, aber manchmal hatte sie mich auch angelächelt. Ich schluckte, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden, und hustete, um es zu verdecken. »Ich kann mir vorstellen, dass sie nett zu Euch war. Sie mochte Kinder schon immer.«

»Nein.« T’vrils Ausdruck war nüchtern. Er hatte wahrscheinlich bemerkt, dass ich kurz die Fassung verloren hatte, aber zum Glück war er zu diplomatisch, um darauf einzugehen. »Sie war höflich, sicherlich, aber ich war nur ein Halbblut, das von Bediensteten aufgezogen wurde. Es wäre seltsam gewesen, wenn sie uns gegenüber Freundlichkeit oder gar Interesse gezeigt hätte.«

Ich konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. In Darr hatte meine Mutter immer dafür gesorgt, dass die Kinder unserer Bediensteten Geschenke zum Geburtstag und zur Lichtweihe bekamen. Während der heißen, schwülen Darr-Sommer hatte sie den Dienern gestattet, ihre Ruhestunden in unserem Garten zu verbringen, wo es kühler war. Sie hatte unseren Haushofmeister wie ein Familienmitglied behandelt.

»Ich war noch Kind«, wiederholte T’vril. »Wenn Ihr bessere Erinnerungen möchtet, solltet Ihr Euch an die älteren Bediensteten wenden.«

»Gibt es jemanden, den Ihr besonders empfehlt?«

»Sie werden alle mit Euch reden. Wer sich allerdings am besten an Eure Mutter erinnert — das kann ich Euch nicht sagen.« Er zuckte mit den Schultern.

Nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, aber immerhin etwas, auf das ich später zurückkommen konnte. »Ich danke Euch nochmals, T’vril«, sagte ich und ging, um Relad zu suchen.

In den Augen eines Kindes ist die Mutter eine Göttin. Sie kann wunderbar oder furchtbar sein, wohlwollend oder voller Zorn, aber sie gebietet in jedem Fall Liebe. Ich bin überzeugt, dass dies die größte Macht des Universums ist.

Meine Mutter ...

Nein. Noch nicht.

Im Solarium war die Luft schwülwarm und von dem Duft blühender Bäume durchzogen. Einer von Elysiums Türmen überragte die Bäume — der zentralste und höchste, dessen Eingang irgendwo zwischen den sich windenden Pfaden liegen musste. Anders als die anderen Türme verjüngte sich dieser sehr schnell bis auf wenige Fuß im Durchmesser — und war damit zu eng, um große Wohnungen oder Räume zu beherbergen. Vielleicht diente er nur zur Dekoration.

Wenn ich meine Lider halb geschlossen ließ, konnte ich den Turm ignorieren und mir vorstellen, in Darr zu sein. In meinem Land waren die Wälder dicht, feucht und dunkel wie Geheimnisse, voll Gestrüpp und winziger, versteckter Kreaturen. Trotzdem waren die Geräusche und Gerüche ähnlich genug, um mein Heimweh zu lindern. Ich blieb dort, bis Stimmen in der Nähe meine Illusion verblassen ließen.

Rapide verblassen ließen — eine der Stimmen war die von Scimina.

Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, aber sie war ganz in der Nähe.

Irgendwo in den Nischen vor mir, verborgen hinter einem Dickicht aus Gebüsch und Bäumen. Der mit weißen Kieselsteinen belegte Pfad unter meinen Füßen führte in diese Richtung und würde sich wahrscheinlich bis dorthin verzweigen, so dass jeder sehen würde, wenn ich mich näherte.

Zur Hölle damit, entschied ich.

Mein Vater war vor seinem Tod ein großartiger Jäger gewesen. Er hatte mir beigebracht, meine Füße im Wald abzurollen, damit gefallenes Laub möglichst wenig raschelte. Außerdem wusste ich, dass ich mich ducken musste, weil es der menschlichen Natur entspricht, Bewegungen auf Augenhöhe wahrzunehmen, aber das, was sich darüber oder darunter befindet, wird oft nicht bemerkt. In einem Wald in Darr wäre ich auf den nächsten Baum geklettert, aber ich konnte schlecht diese dürren, laublosen Dinger erklimmen. Also nach unten.

Als ich näher kam — nur bis auf Hörreichweite, noch näher und man würde mich sehen —, kauerte ich mich am Fuße eines Baumes zusammen, um zu lauschen.

»Na komm, Bruder, das ist doch nicht zu viel, oder?« Sciminas Stimme, warm und schmeichelnd. Unwillkürlich zitterte ich bei ihrem Klang vor Angst und Wut gleichzeitig. Sie hatte es unterhaltsam gefunden einen Gott wie einen abgerichteten Hund auf mich loszulassen. Es war lange her, dass ich jemanden so abgrundtief gehasst hatte.

»Alles, was du willst, ist zu viel«, sagte eine neue Stimme — männlich, Tenor mit einem gereizten Unterton. Relad? »Geh fort und lass mich nachdenken.«

»Du kennst diese Dunkelrassen, Bruder. Sie haben keine Geduld und keinen Verstand. Sie sind immer erbost über Dinge, die vor Generationen geschehen sind ...« Den Rest ihrer Worte verstand ich nicht mehr. Ich konnte ab und zu Schritte hören, was bedeutete, dass sie auf und ab ging — auf mich zu und von mir weg. Wenn sie in die andere Richtung ging, war es schwer, sie zu hören. »Sieh nur zu, dass deine Leute die Liefervereinbarung unterzeichnen. Sie wird dir und ihnen nur Gewinn bringen.«

»Das, meine süße Schwester, ist eine Lüge. Du würdest mir nie etwas anbieten, das nur meinem Vorteil dient.« Ein resigniertes Seufzen, ein Gemurmel, das ich nicht verstand, dann: »Geh weg, sagte ich. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Wenn man sich deine Vergnügungen vor Augen hält, ist das kein Wunder.« Seiminas Stimme hatte sich verändert. Sie war immer noch gebildet, hell und freundlich, aber die Wärme war weg, da Relad offensichtlich die Absicht hatte, sie abzuweisen. Ich staunte, wie eine so kleine Verändung einen derartigen Unterschied machen konnte. »Wie du wünschst, ich komme wieder, wenn du dich besser fühlst. Ach übrigens, hast du unsere neue Cousine schon kennengelernt?«

Ich hielt den Atem an.

»Komm her«, sagte Relad. Es war klar, dass er mit jemand anderem sprach, vielleicht einem Diener. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er diesen herrischen Ton Scimina gegenüber anschlagen würde. »Nein. Aber wie ich höre, hast du versucht, sie umzubringen. Ist das weise?«

»Habe doch nur gespielt. Ich konnte nicht widerstehen — sie ist ein so ernsthaftes kleines Ding. Weißt du, sie glaubt wirklich, dass sie eine Mitbewerberin um die Position unseres Onkels ist.«

Ich versteifte mich. Scheinbar tat Relad das auch, weil Scimina hinzufügte: »Ach. Hast du es etwa nicht bemerkt?«

»Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen. Der alte Mann liebte Kinneth. Und das Mädchen bedeutet uns nichts.«

»Du solltest wirklich mehr über die Familiengeschichte lesen, Bruder. Das Muster ...« Und sie ging in die andere Richtung.

Ärgerlich. Aber ich wagte es nicht, näher heranzuschleichen, weil mich nur eine dünne Wand aus Zweigen und Blättern von ihnen trennte. Ich war so nah, dass sie mich atmen hören konnten, wenn sie angestrengt lauschten. Ich verließ mich allein darauf, dass sie in ihre Unterhaltung vertieft waren.

Einige Kommentare gingen hin und her, die meisten konnte ich nicht verstehen. Dann seufzte Scimina. »Nun ja. Du musst das tun, was du für richtig hältst, Bruder, und ich werde wie immer dasselbe tun.«

»Viel Glück.« War dieser leise Wunsch ernst gemeint oder sarkastisch? Ich vermutete das Zweite, aber irgendetwas daran wies auf das Erstere hin. Ohne ihn zu sehen, konnte ich das nicht sagen.

»Dir auch, Bruder.« Ich hörte das Klappern ihrer Absätze, das sich schnell entfernte.

Ich saß lange an den Baum gelehnt da und wartete darauf, dass meine Nerven sich beruhigten, bevor ich versuchte, zu gehen. Genau wie meine Gedanken, aber das dauerte länger, da sie nach dem, was ich gehört hatte, wie wild durcheinanderwirbelten. Sie glaubt wirklich, dass sie eine Mitbewerberin ist. Hieß das, ich war es nicht? Relad dachte offensichtlich, dass ich es war, aber auch er fragte sich, genau wie ich: Warum hatte Dekarta mich nach Elysium geholt?

Darüber konnte ich später nachdenken. Eins nach dem anderen.

Langsam erhob ich mich und wollte vorsichtig meinen Rückweg durch das Unterholz antreten — aber bevor ich dazu kam, teilten die Zweige sich keine fünf Fuß vor mir, und ein Mann stolperte hindurch. Blond, groß, gut gekleidet und mit einem Vollblut-Zeichen: Relad. Ich erstarrte, aber es war zu spät. Ich stand genau in Sichtweite und war mitten im Davonkriechen erwischt worden. Aber zu meinem absoluten Erstaunen sah er mich nicht. Er ging hinüber zu einem Baum, öffnete seine Hose und begann, seine Blase mit lautem Seufzen und Stöhnen zu entleeren.

Ich starrte ihn an und war mir nicht sicher, was mich mehr abstieß: seine Entscheidung, in aller Öffentlichkeit zu urinieren, wo andere seinen Gestank tagelang riechen konnten, seine völlige Selbstvergessenheit oder mein eigener Leichtsinn.

Allerdings war ich bisher noch nicht erwischt worden. Ich hätte mich wieder ducken und hinter einem Baum verstecken können und wäre wahrscheinlich unbemerkt davongekommen. Aber vielleicht bot sich hier eine Gelegenheit. Ein Bruder Seiminas würde Direktheit von seinem neuesten Rivalen sicherlich zu schätzen wissen.

Also wartete ich, bis er fertig war. Er drehte sich um, wollte gehen und hätte mich wahrscheinlich immer noch nicht gesehen, wenn ich mich in dem Moment nicht geräuspert hätte.

Relad schreckte zusammen, drehte sich herum und blinzelte mich drei Atemzüge lang aus trüben Augen an, bevor einer von uns sprach.

»Cousin«, sagte ich schließlich.

Er stieß einen langen Seufzer aus, der schwer zu deuten war. War er ärgerlich? Resigniert? Vielleicht beides. »Ach so. Du hast gelauscht.« »Ja.«

»Bringt man euch das in eurem Dschungel so bei?«

»Das und noch mehr. Ich dachte, ich sollte bei dem bleiben, was ich am besten kann, Cousin, da es bisher niemand für angebracht hielt, mir zu sagen, wie man die Dinge auf Arameri-Weise handhabt. Ich hatte gehofft, dass du mir dabei helfen könntest.«

»Dir helfen ...« Er lachte und schüttelte dann den Kopf. »Na, dann komm. Du magst eine Barbarin sein, aber ich möchte mich wie ein zivilisierter Mann hinsetzen.«

Das klang vielversprechend. Relad erschien jetzt schon vernünftiger als seine Schwester, aber das war auch nicht weiter schwer. Erleichtert folgte ich ihm durch das Unterholz auf die Lichtung. Es war ein schöner, kleiner Ort, so sorgfältig landschaftlich gestaltet, dass er natürlich wirkte, bis auf die Tatsache, dass er zu perfekt war. Ein großer Felsbrocken, der genau die richtige Form hatte, um als Liegestuhl zu dienen, nahm die eine Seite des Platzes ein. Relad, der ohnehin nicht ganz sicher auf seinen Füßen war, ließ sich mit einem tiefen Seufzer hineingleiten.

Auf der anderen Seite befand sich eine Badewanne, in der höchstens zwei Leute bequem Platz fanden. Dort saß eine junge Frau: hübsch, nackt und mit einem schwarzen Balken auf der Stirn. Eine Dienerin also. Sie sah mir in die Augen und schaute dann mit vornehmer Ausdruckslosigkeit fort. Eine weitere junge Frau, die ein so durchsichtiges Gewand trug, das sie auch nackt hätte sein können, kauerte bei Relads Sessel und hielt ein Tablett mit einem Becher und einer Flasche hoch. Nun wunderte es mich nicht mehr, dass er sich hatte erleichtern müssen, die Flasche war nicht gerade klein und fast leer. Es war erstaunlich, dass er noch geradeaus laufen konnte.

Für mich gab es keine Sitzgelegenheit, also verschränkte ich die Hände hinter meinem Rücken, stand da und schwieg höflich.

»Nun gut«, sagte Relad. Er nahm ein leeres Glas und musterte es, als ob er die Sauberkeit überprüfen wollte. Es war offensichtlich schon benutzt worden. »Was im Namen der unbekannten Dämonen willst du?«

»Wie ich bereits sagte, Cousin: Hilfe.«

»Warum sollte ich dir helfen wollen?«

»Vielleicht könnten wir uns gegenseitig helfen«, antwortete ich. »Ich habe kein Interesse daran, Großvaters Thronfolgerin zu werden. Aber ich wäre durchaus bereit, einen anderen Kandidaten unter den richtigen Umständen zu unterstützen.«

Relad nahm die Flasche, um das Glas zu füllen, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er ein Drittel verschüttete. Welch eine Verschwendung. Ich musste dem Drang widerstehen, sie ihm abzunehmen und richtig einzuschenken.

»Du bist für mich nutzlos«, sagte er schließlich. »Du würdest mir nur im Weg stehen — oder noch schlimmer, mich ihr gegenüber verletzlich machen.« Wir brauchten nicht klarzustellen, wer mit »ihr« gemeint war.

»Sie kam hierher, um sich wegen einer ganz anderen Sache mit dir zu treffen«, sagte ich. »Glaubst du, es war Zufall, dass sie mich in dem Zusammenhang erwähnte? Mir scheint, dass eine Frau nicht einen Rivalen mit dem anderen erörtert — es sei denn, sie hofft, die beiden gegeneinander auszuspielen. Vielleicht sieht sie uns beide als Bedrohung an.«

»Als Bedrohung?« Er lachte und warf dann das Glas voll was- immer-es-war weg. Er konnte es so schnell nicht probiert haben. »Bei den Göttern! Du bist genauso dumm wie hässlich. Und der alte Mann glaubt wirklich, dass du ihr ebenbürtig bist? Unfassbar.«

Eine heiße Welle durchfuhr mich, aber ich hatte in meinem Leben schon Schlimmeres gehört, also blieb ich ruhig. »Ich will ihr nicht ebenbürtig sein«, sagte ich schärfer, als es mir lieb war, aber ich glaubte nicht, dass ihn das kümmerte. »Ich will nur aus diesem gottvergessenen Palast lebend herauskommen.«

Er warf mir einen Blick zu, von dem mir schlecht wurde. Er war nicht zynisch oder gar hämisch, nur entsetzlich nüchtern. Du wirst hier nie herauskommen, sagte der Ausdruck in seinen Augen und dem müden Lächeln. Du hast keine Chance.

Anstatt dies allerdings auszusprechen, sprach Relad mit einer Sanftheit, die mich noch mehr aus der Fassung brachte als sein Hohn. »Ich kann dir nicht helfen, Cousine. Aber ich werde dir einen Ratschlag geben, wenn du ihn hören willst.«

»Gerne, Cousin.«

»Die bevorzugte Waffe meiner Schwester ist Liebe. Wenn du jemanden oder etwas liebst, sei vorsichtig. Sie wird dich dort angreifen.«

Ich runzelte verwirrt die Stirn. Ich hatte keine Liebhaber in Darr und auch keine Kinder in die Welt gesetzt. Meine Eltern waren bereits tot. Ich liebte natürlich meine Großmutter und meine Onkel, Cousinen und einige Freunde, aber ich konnte nicht erkennen, wie ...

Ah. Es wurde sonnenklar, wenn man darüber nachdachte. Darr selber. Es gehörte nicht zu Seiminas Gebieten, aber sie war eine Arameri; nichts war außerhalb ihrer Reichweite. Ich würde Möglichkeiten finden müssen, um mein Volk zu beschützen.

Relad schüttelte den Kopf, als ob er meine Gedanken lesen konnte. »Du kannst das, was du liebst, nicht schützen, Cousine — nicht für immer. Nicht völlig. Deine einzige wirkliche Verteidigung ist, gar nicht erst zu lieben.«

Ich schaute ihn finster an. »Das ist unmöglich.« Wie konnte ein Mensch so leben?

Er lächelte, und das jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Wie dem auch sei. Viel Glück.«

Er winkte die Frauen heran. Beide erhoben sich von ihren Plätzen, gingen zu seinem Sofa und erwarteten seine Befehle. Dann bemerkte ich es: Beide waren groß, patrizisch, auf die flache, eckige Amn-Weise hübsch und dunkelhaarig. Sie sahen nicht exakt wie Scimina aus, aber eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden.

Relad betrachtete sie mit einer solchen Bitterkeit, dass er mir einen Moment lang leid tat. Ich fragte mich, wen er geliebt und verloren hatte. Und ich fragte mich, wann ich beschlossen hatte, dass Relad für mich ebenso nutzlos war, wie ich für ihn. Es war besser, allein zu kämpfen, als sich auf diese leere Hülle zu verlassen.

»Danke dir, Cousin«, antwortete ich und neigte meinen Kopf. Dann überließ ich ihn seinen Fantasien.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer machte ich kurz bei T’vrils Büro Halt und gab ihm das Keramikfläschchen zurück. T’vril legte es wortlos beiseite.

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